The Sky in your Eyes - Kira Mohn - E-Book
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The Sky in your Eyes E-Book

Kira Mohn

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Beschreibung

Sehnsuchtsort Island. Die neue zweibändige Reihe der Spiegel-Bestsellerautorin. Islands Winternächte sind lang. Doch Elín mag die Dunkelheit. Allein am Strand, unter dem endlos weiten Sternenhimmel, kann sie fast vergessen, was ihr Ex-Freund über sie gesagt hat. Über ihren Körper. Über ihr Gewicht. Bis die Selbstzweifel wieder so laut werden, dass nicht einmal das Tosen der Wellen sie übertönen kann. Als sie bei einem Kochkurs Jón kennenlernt, ist sie deshalb mehr als verunsichert. Jón ist attraktiv, charmant und witzig – und interessiert sich für sie. Elíns Herz schlägt in seiner Nähe schneller, trotzdem erstarrt sie bei jeder Berührung. Denn wie kann sie sich noch einmal fallen lassen? Wenn der Aufprall am Boden alles zerstören würde, was von ihr übrig ist … Ein zarter Liebesroman rund um die Themen Bodyshaming und Selbstfindung. Dunkle Nächte und tanzende Nordlichter. Band 1 der Island-Reihe, das Winterbuch.

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Seitenzahl: 395

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Kira Mohn

The Sky in your Eyes

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Selbst in der dunkelsten Nacht kann der Himmel leuchten

Islands Winternächte sind lang. Doch Elín mag die Dunkelheit. Allein am Strand, unter dem endlos weiten Sternenhimmel, kann sie fast vergessen, was ihr Ex-Freund über sie gesagt hat. Über ihren Körper. Über ihr Gewicht. Bis die Selbstzweifel wieder so laut werden, dass nicht einmal das Tosen der Wellen sie übertönen kann. Als sie bei einem Kochkurs Jón kennenlernt, ist sie deshalb mehr als verunsichert. Jón ist attraktiv, charmant und witzig -und interessiert sich für sie. Elíns Herz schlägt in seiner Nähe schneller, trotzdem erstarrt sie bei jeder Berührung. Denn wie kann sie sich noch einmal fallen lassen? Wenn der Aufprall am Boden alles zerstören würde, was von ihr übrig ist

Ein zarter Liebesroman rund um das Thema Bodyshaming und Selbstfindung.

Der Auftakt der zweibändigen Island-Reihe.

Vita

Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeit lang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autoren-Label Ink Rebels aus der Taufe. Mit der Leuchtturm-Trilogie erschien sie erstmals bei KYSS, mit der Kanada-Reihe gelang ihr der Einstieg auf die Spiegel-Bestsellerliste. In ihren neuen Büchern The Sky in your Eyes und The Sea in your Heart entführt sie ihre Leser*innen nun in die beindruckende Landschaft Islands. Kira wohnt mit ihrer Familie in München, ist auf Facebook und Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Leser*innen aus.

Für alle, die sich schon einmal gefragt haben, ob sie gut genug sind.

Du bist es.

Kapitel 1

Um die Reynisdrangar ranken sich viele Legenden. Trolle seien es einst gewesen, die ihren Berg verlassen haben. Manche erzählen sich, es habe einen Kampf zwischen ihnen gegeben, andere wiederum sind überzeugt, dass ein Trollmann und ein Trollweib gemeinsam ins Meer stapften, um ein Schiff zu kapern. Einig jedoch sind sich alle Geschichten in einem: Das Licht der Sonne beendete ihr Abenteuer. Sie versteinerten zwischen den Fluten, und nun verharren sie hier, auf ewig getrennt von ihrem Berg, und nicht wenige erzählen sich, man könne sie darüber manchmal jammern und seufzen hören.

Im Licht der Sterne sind die seltsam geformten Felsnadeln gut zu erkennen, die sich vor der Küste von Vík í Mýrdal inmitten des wilden und aufgewühlten Atlantiks erheben.

Ich habe keine Ahnung, wie lang ich bereits hier stehe, schwarzer Sand zu meinen Füßen, die Hände in den Jackentaschen vergraben, während der Wind mir die Tränen in die Augen treibt.

Daníels letzte Worte hallen durch meinen Kopf, und ihre Wucht durchbricht wie jedes Mal die wattige Betäubung, in der ich mich in den letzten Wochen halbwegs eingerichtet habe, krallt sich in meine Eingeweide und lässt mich wünschen, ich könnte mich irgendwo zusammenrollen.

Die Wellen türmen sich heute besonders hoch auf, brechen an den Klippen und stürmen gegen den Strand. Das anbrandende Wasser dröhnt in meinen Ohren, mein Gesicht ist mittlerweile starr vor Kälte.

Alles ist Kraft, Bewegung, Schmerz, und das sternenübersäte Firmament bildet einen seltsamen Gegensatz dazu. Dort oben ist nichts, nur millionenfaches Gefunkel, und ich wünschte, ich würde einen Ort in mir finden, der dem Himmel ähnlich ist.

Fern. Unberührbar.

Doch meine Gefühle sind wie die Wellen; sie wüten, lehnen sich auf, überschwemmen mich – sollte es nicht so langsam mal weniger wehtun?

Abstoßend.

Ich atme aus und strecke den Rücken durch, ein kläglicher Versuch, mich gegen die Säure zu schützen, die dieses Wort in meinem Inneren verspritzt. Irgendwann gebe ich auf und mache mich auf den Rückweg, mit hochgezogenen Schultern und steifen Schritten. Unter meinen Füßen knirschen vereiste Steinchen, und kurz vor der Straße gerate ich auf dem stacheligen Strandgras kurz ins Rutschen.

Die Hügel, gegen die sich die Häuser von Vík schmiegen, heben sich kaum vor dem Nachthimmel ab, ihre Konturen verschwimmen vor meinen Augen. Noch immer kann ich das Meer hören, allgegenwärtig in Vík í Mýrdal. Das Geräusch der Brecher verstummt nie.

Die Straßenlaternen zeichnen Lichtkegel auf das Pflaster. Es ist gerade einmal Viertel vor acht, doch die Sonne ist schon vor einer knappen Stunde untergegangen. Anfang Oktober sind immer seltener Touristen unterwegs, die zumeist ohnehin nur für eine Nacht in Vík bleiben, bevor sie weiter die Ringstraße entlangfahren. Es ist eiskalt, und die Windböen sind wie mit Nadeln gespickt – selbst die Hoffnungsvollsten sitzen an einem solchen Abend lieber vor dem warmen Ofen, statt auf Nordlichter zu warten.

Und nur die Hoffnungslosen sind noch unterwegs.

Kapitel 2

Als ich vorhin zum Strand ging, saß mein Vater mit seiner Zeitung im Wohnzimmer, während meine Mutter mit den Vorbereitungen fürs Abendessen beschäftigt war. Noch bevor ich meine Schuhe ausgezogen habe, streckt sie jetzt den Kopf aus der Küchentür in die Diele hinaus. «Elín?»

Ich ringe mir ein Lächeln ab. Sie kann nichts dafür, dass es an diesem Abend nicht einmal dem Meer gelungen ist, die drückenden Gedanken aus meinem Kopf zu vertreiben.

«In fünf Minuten können wir essen.»

«Alles klar. Ich komme gleich.»

Noch fühle ich mich nicht bereit, einmal mehr so zu tun, als sei es völlig normal, dass ich wieder am heimischen Abendbrottisch sitze, obwohl ich doch eigentlich bereits ausgezogen war. Ich steige die Treppe nach oben und schließe die Tür meines Zimmers hinter mir.

Der riesige Kleiderschrank, in dessen Schubladen sich schon meine Babysöckchen befanden, ist aus dunklem Holz. Das Licht der Deckenlampe scheint er einfach zu verschlucken, trotz des ovalen Spiegels in seiner mittleren Tür. An den Rändern ist dieser Spiegel schon vor Jahren blind geworden, und im unteren Drittel finden sich die Spuren der Sticker, die ich als kleines Mädchen auf das Glas geklebt habe, um jeden Blick auf das eigene Spiegelbild unmöglich zu machen. Ich habe versucht, es meiner Mutter zu erklären, während sie schimpfend versuchte, die vielen Aufkleber wieder abzurubbeln.

«Du bildest dir das ein, Elín», hat meine Mutter damals gesagt und den Lappen ungeduldig in die Schale mit Seifenwasser getaucht. «Du bist ein nettes Mädchen, und niemand sagt gemeine Sachen über dich. Du darfst nur nicht immer so schüchtern sein. Lach einfach mit.»

Ich habe mir ihren Rat zu Herzen genommen. Im Laufe der Zeit gelang es mir immer besser, mitzulachen, wenn jemand etwas Gemeines sagte – nein, es gelang mir sogar, lauter zu lachen. Irgendwie hat es sogar funktioniert – zumindest, bis ich Daníel traf.

Inzwischen ist mir klar, dass Daníel nicht die Liebe meines Lebens war, aber Herrgott, alles, was mit ihm zusammenhängt, tut weh. Die Erinnerung an unsere erste Zeit zusammen ist schmerzhaft und gleichzeitig schön; die Erinnerungen an später allerdings – an seine Blicke, an all die Dinge, die er gesagt hat –, diese Erinnerungen fühlen sich an wie Brenneisen in meinem Hirn.

«Elín! Kommst du zum Essen runter?»

Die Stimme meiner Mutter dringt durch die geschlossene Tür, und mir wird nach einem Blick auf die Uhr bewusst, dass ich seit über zehn Minuten auf die zu dicke Frau mit den langen dunklen Locken im Spiegel meines Kleiderschranks starre.

«Elín?»

«Ich komme schon!»

Meine Eltern sitzen an dem runden Holztisch vor der Glastür, die auf die Terrasse hinausführt, und mit einem Lächeln nehme ich meinen Platz zwischen ihnen ein. Wie früher. Nur dass ich mittlerweile gelegentlich das Kochen übernehme.

Da sich heute jedoch meine Mutter um das Essen gekümmert hat, gibt es Forelle mit Rahmsoße und Kartoffeln, was wiederum bedeutet, dass sich auf meinem Teller neben den Kartoffeln nur ein kleiner Berg Gemüse befindet. In Scheibchen geschnittene Möhren, Erbsen aus der Tiefkühltruhe und Mais aus dem Glas, alles in Butter und Soße ertränkt.

«Wann beginnt eigentlich dieser Kurs, Elín?», fragt meine Mutter und klingt dabei so sanft, wie sie meistens klingt. Es kommt selten vor, dass sie wütend wird. Man muss dafür schon mindestens den alten Kleiderschrank, der bereits ihrer Mutter gehörte, mit Stickern verunstalten.

«Nächste Woche. Jeden Freitag um halb acht.»

«Was denn für ein Kurs?», will mein Vater wissen.

«Elín hat das doch erzählt, sie macht einen Computerkurs. Für ihre Arbeit», antwortet meine Mutter.

«Ach, stimmt ja», erwidert mein Vater in diesem besonderen Ton, halb ertappt, halb nachsichtig, mit dem er sich seine Vergesslichkeit gleich selbst zu verzeihen scheint.

«Ich finde das wirklich gut.» Meine Mutter trennt von der Forelle sorgfältig Kopf, Schwanz und Flossen ab und schiebt alles an den Tellerrand. «Und es ist sehr großzügig von Jóhann, dass er dir diesen Kurs ermöglicht.»

Wie sie wohl reagieren würde, wüsste sie, dass es sich bei dem angeblichen Computerworkshop, den ich demnächst im Auftrag meines Chefs besuchen werde, in Wirklichkeit um einen Kochkurs handelt? Noch dazu um einen veganen Kochkurs.

Vermutlich wird mir diese Lüge in den nächsten Wochen irgendwann um die Ohren fliegen, aber aktuell habe ich einfach keine Kraft, mich den Fragen meiner Mutter zu stellen, die ein solcher Kurs bei ihr mit Sicherheit aufwerfen würde.

Aber wozu bezahlst du jemanden, um kochen zu lernen? Du kannst doch kochen?

Oder: Findest du nicht, dass du es mit deiner Ernährung ein wenig übertreibst?

Vielleicht auch: Wieso um alles in der Welt musst du denn jetzt plötzlich vegan essen? Du bist nicht dick, Elín. Nur kräftig gebaut. Und wer dich nicht so liebt, wie du bist, der hat dich nicht verdient.

Ich habe meinen Eltern nicht viel über die Trennung von Daníel erzählt, doch als ich vor einigen Wochen hier ankam, verheult und mit einer hastig gepackten Tasche, muss ich wohl ein paar Dinge erwähnt haben, die sie zu Recht darauf schließen ließen, dass mein kräftiger Körperbau eine Rolle dabei gespielt hat.

Mein Vater hat nur gebrummt und mich in seine riesige Umarmung gebettet, meine Mutter allerdings war fuchsteufelswild. Sie hat Daníel gemocht, aber hätte er sich in den Tagen nach meiner Ankunft blicken lassen, hätte sie ihn mit Sicherheit hochkantig rausgeworfen. Vermutlich täte sie das auch jetzt noch.

All das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sie kein Verständnis für einen Kochkurs aufbringen würde. Sie hat das Kochen von ihrer Mutter gelernt und ihr Wissen an mich weitergegeben. Ein paar Rezepte mehr stehen wohl mittlerweile im Familienkochbuch, doch sie hatte nie das Bedürfnis, völlig neue Kapitel hinzuzufügen.

Ich schon. Trotzdem stand ich inzwischen schon mehrfach kurz davor, diese ganze Kochkurs-Geschichte wieder zu stornieren. Beim Anmelden war ich noch völlig sicher gewesen. Daníel hätte sich darüber nur lustig gemacht, aber nachdem er ja nun meiner Vergangenheit angehörte, wollte ich ab sofort genau das tun, worauf ich Lust habe. Und ich koche gern. Mehr noch – ich liebe es!

Leider wechseln sich solche Höhenflüge aktuell ständig mit niederschmetternden Frustphasen ab, und wenn ich mich mal wieder in einem Tief befinde … um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, wie ich damit klarkomme, sollte ich die einzige dicke Frau in einem Kochkurs sein.

Sicherheitshalber habe ich bis auf Sophia niemandem davon erzählt, nur für den Fall, dass ich doch noch einen Rückzieher mache.

«Hummelchen, möchtest du vielleicht ein Stück von dem Fisch probieren?» Mein Vater hat das obere Filet säuberlich von der Mittelgräte gelöst und weist nun mit der Messerspitze darauf.

«Das würde ich, wenn ich nicht Vegetarierin wäre», sage ich, und ich sage es freundlich, obwohl es ein dauerndes Reizthema zwischen meinem Vater und mir ist. Er wird es nie verstehen.

Mein Vater hat dementsprechend wieder mal diesen Ton in seiner Stimme, als er sagt: «Ja, weiß ich. Aber früher war das doch dein Lieblingsfisch.»

Dieser Ton, aus dem ein hauchzarter Vorwurf herauszuhören ist.

«Es ist immer noch mein Lieblingsfisch, ich mag ihn nur eben nicht mehr tot», erwidere ich.

Kurz scheint mein Vater zu überlegen, welche Antwort er darauf geben soll, dann wendet er sich mit einem so übertriebenen Seufzen seinem Teller zu, dass ich lachen muss.

Eigentlich könnte ich doch einfach für immer hierbleiben. Mir in Vík eine Wohnung suchen. Gelegentlich bei meinen Eltern vorbeischauen. Noch vor einigen Monaten wäre mir dieser Gedanke vollkommen absurd erschienen, im Moment allerdings …

Ich spieße ein Karottenstück auf die Gabel und lasse geduldig mehrere Sekunden lang das Fett zurück auf den Teller tropfen.

Nicht, dass das etwas nutzen würde.

In den letzten Jahren habe ich unzählige Versuche gestartet abzunehmen. Es ging mir nie darum, nur Gewicht zu verlieren, ich wollte dünn sein, richtig dünn, und irgendwann habe ich dafür solche Dinge wie Gesundheit oder Nachhaltigkeit in den Wind geschossen und mich stattdessen auf Heilsversprechen wie fünfzehn Kilo weniger in zwei Monaten konzentriert.

Umsonst. Natürlich nahm ich ein paar Kilogramm ab, doch man sah es kaum, und sobald ich in meinen Bemühungen auch nur ein paar Tage nachließ – weil meine Mutter mir androhte, mich zum Arzt zu schleifen, wenn ich mit der Apfelessig-Kur weitermachte oder mir vor Hunger so schlecht war, dass ich morgens kaum noch aus dem Bett kam –, wurden die verschwundenen Kilos auch auf der Waage wieder sichtbar. Es ist, als würde ich mit aller Kraft an einem Seil ziehen, das ein schweres Gewicht oben hält. Jeden Moment droht es mir aus den Händen zu rutschen, wenn ich nicht jeden Funken Energie und Konzentration dafür aufbringe, und sobald ich mal müde bin oder erschöpft oder einfach nur gedankenlos … Genauso wenig, wie ich im Sommer braun werde, bin ich in der Lage, meiner Idealfigur nennenswert näher zu kommen. Meine Haut bleibt hell, und mein Körper bleibt weich. Rund. Kräftig gebaut.

«Was gibt’s zum Nachtisch?», fragt mein Vater, noch bevor ich meinen Teller ganz geleert habe.

«Rhabarberkuchen», erwidert meine Mutter. «Er ist noch im Ofen.»

«Ich nehme auch ein Stück», sage ich.

Mein Vater sieht auf. Er und meine Mutter mustern mich, als sei höchst ungewiss, was ich als Nächstes Verrücktes tun werde. Normalerweise verzichte ich auf den Nachtisch, aber hey, wenn ich schon den Rest meines Lebens in Vík verbringe, kann ich dabei wenigstens Rhabarberkuchen essen.

Ich lehne mich zurück, während meine Mutter die Teller aufeinanderstapelt und damit in die Küche geht.

«Soll ich dir helfen?» Mein Vater steht ebenfalls auf und eilt ihr hinterher.

Ein paar stille Sekunden lang betrachte ich die benutzten Servietten, die auf dem Tisch zurückgeblieben sind, bevor ich aufstehe, um sie einzusammeln.

Ich könnte eine Art lustige Eigenbrötlerin werden. Mit vielen Katzen, einem Schaukelstuhl im Vorgarten und irgendwelchen Hobbys, über die alle im Dorf tratschen können.

Kochen zum Beispiel. Sie würden tratschen, aber mit Sicherheit würden sie trotzdem alle kommen, wenn ich zum Essen einlade, so wie immer. Sie würden kommen, und ich würde lauter lachen als sie alle zusammen.

Kapitel 3

Meine Eltern wohnen in einem dunkelroten Wellblechhaus mit weißen Fensterrahmen. Unter der Woche ziehe ich jeden Morgen gegen halb acht die Haustür zu und fahre mit meinem Wagen die halbe Stunde nach Sólvík, Felder und Hügel zu meiner Linken und Felder und das Meer zu meiner Rechten. Dort arbeite ich in einer Anwaltskanzlei als Sekretärin, und jeden späten Nachmittag fahre ich die Strecke wieder zurück. Auch Sólvík liegt nahe am Meer, ist jedoch um einiges größer als mein winziges Heimatdorf. Jetzt, Anfang Oktober, ist gerade erst die Sonne aufgegangen, wenn ich dort ankomme, und sie verschwindet bereits wieder, wenn ich losfahre, doch mein Lichtblick ist Dr. Jóhann Ólafursson, dem die Kanzlei gehört. Daníel hat ihn mal kennengelernt und mochte ihn nicht. Ein staubtrockener Aktenschnüffler, war seine Meinung über ihn, und ich weiß noch, wie sehr mich dieses Urteil geärgert hat, vor allem weil ich ihm vorher schon so oft von Jóhann vorgeschwärmt hatte.

Wie auch immer, ohne Jóhann sähe meine Zukunft um einiges schwärzer aus. Obwohl Sekretärin nie mein Traumberuf war, wäre ich dank meines Gehalts immerhin in der Lage, mir eine eigene Wohnung zu leisten. Sobald ich eine finde. Vielleicht hat Daníel ja das an Jóhann gestört. Dass mich mein Job zumindest finanziell unabhängig von ihm gemacht hat.

«Elín, hallo.»

Wie so oft ist Jóhann schon da, als ich an diesem Montagmorgen pünktlich um acht die Kanzlei betrete.

«Guten Morgen.»

Die Türen zu seinem Büro sind geöffnet, und ich sehe ihn hinter seinem Schreibtisch sitzen, während ich meine Jacke in den Garderobenschrank hänge, ein kleiner grauhaariger Mann im ewig gleichen grauen Anzug.

«In der Küche steht Kaffee», sagt er.

Wenn Jóhann bei meinem Eintreffen bereits vor seinen Unterlagen sitzt, ist dies unser tägliches Begrüßungsritual. Und das passiert oft. Ich habe den Verdacht, dass er bisweilen auf dem Sofa in seinem Büro übernachtet.

Die Anwaltskanzlei Jóhann Ólafursson ist nicht besonders groß, und zu meinen Aufgaben gehört nicht nur die Buchhaltung, die Koordination von Terminen und jegliche Korrespondenz, sondern auch der Empfang und die Betreuung von Klienten und Gästen inklusive eines frischgebrühten Kaffees. Morgens allerdings ist es fast immer Jóhann, der ihn aufsetzt, und wenn ich die Kanzlei betrete, vermitteln das warme Licht der dezent verborgenen Lampen und der Duft nach frischem Kaffee etwas ausgesprochen Behagliches.

«Möchtest du auch noch einen?», frage ich.

«Bitte.»

Ich gehe in die Küche, um zwei Tassen aus dem Schrank zu holen. Das ist ein Spleen von Jóhann: für jeden neuen Kaffee immer auch eine frische Tasse. Im Laufe eines Tages trinkt Jóhann jede Menge Kaffee, und abends steht eine ganze Batterie von Tassen in der Spülmaschine.

Jóhann sieht von seinen Akten auf, als ich ihm den Kaffee auf den Schreibtisch stelle und nach zwei leeren Tassen greife.

«Danke, Elín. Gegen zehn kommt Magnús vorbei.»

«Soll ich dafür etwas vorbereiten?»

«Ja, bitte leg doch die Unterlagen vom Fall Helga Haukursdottír raus.»

Mit einem Nicken verlasse ich das Büro und ziehe dabei beide Türen hinter mir zu: erst die schwere, gepolsterte Tür, dann die normale Tür zwischen dem kurzen Verbindungsgang und dem Vorraum, in dem mein Schreibtisch hinter einem Empfangstresen steht.

Magnús, Jóhanns Sohn, war in den letzten Wochen häufiger in der Kanzlei. Er hat gerade fertig studiert – in Yale, wie mir Jóhann stolz berichtet hat –, und arbeitet sich derzeit zusammen mit seinem Vater in die aktuellen Fälle ein. Worauf das hinauslaufen wird, kann ich mir denken, und obwohl Magnús ganz okay zu sein scheint, tut es mir leid. Ich hoffe, Jóhann wird sich nicht gleich ganz von der Kanzlei zurückziehen.

Als um kurz nach zehn Uhr Magnús hereinkommt, habe ich nicht nur sämtliche Akten zum Fall Helga Haukursdottír, sondern auch zum Fall Mikael Kristjánsson herausgesucht, beides langwierige Scheidungen, bei denen sich die Beteiligten wegen immer wieder neuer Dinge in die Haare kriegen.

«Hi, Elín.»

Magnús’ Gesicht ist gerötet. Er befreit sich von Mütze, Schal und Handschuhen und schält sich aus seiner Daunenjacke, bevor er sich auch noch den Fleecepullover über den Kopf zieht, um alles völlig selbstverständlich über den Empfangstresen zu legen. Mit beiden Händen streicht er sich die dunklen, nun zerzausten Haare aus der Stirn.

«Verflucht kalt, was? Wenn das jetzt schon so ist, kann das ja noch was werden.»

«Schnee wurde auch schon vorhergesagt», erwidere ich. «Guten Morgen.»

Er nickt mir zu, während er die Verbindungstür zum Büro seines Vaters ansteuert. «Ist er allein?»

«Ja, er erwartet dich.»

«Alles klar. Krieg ich einen Kaffee?»

«Natürlich, kommt gleich.»

Ich stehe auf, sobald sich die Tür hinter Magnús geschlossen hat, und räume zunächst einmal seine Sachen in den Garderobenschrank. Dann kümmere ich mich um Kaffee, Milch, Zucker und ein paar Kekse – mittlerweile weiß ich, was Magnús mag.

Die beiden Männer sitzen einander gegenüber, zwischen sich den Schreibtisch und die Köpfe tief über Akten gebeugt, als ich das Büro betrete. Sie unterbrechen sich nicht in ihrem Gespräch, während ich alles auf dem kleinen Tisch ablade, der vor dem Sofa steht.

Jóhann sieht kurz auf. «Vielen Dank, sehr freundlich», sagt er zerstreut, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Unterlagen lenkt. «Magnús, du musst auf jeden Fall beachten …»

Leise ziehe ich mich wieder zurück.

Es ist kurz nach halb eins, als Jóhann mich bittet, Essen zu bestellen, und als ich um zwei von meiner Mittagspause zurückkehre, die ich wie so oft in einem Café in der Nähe verbracht habe, ist die Verbindungstür noch geschlossen.

In einer knappen Stunde hat Jóhann einen Termin mit einem Klienten, und weil ich weiß, dass er solche Dinge gern mal vergisst, wenn er mit etwas anderem beschäftigt ist, klopfe ich unmittelbar, nachdem ich den Anrufbeantworter abgeschaltet habe, gegen die schwere Tür zu seinem Büro.

«Jóhann? Denkst du an den Termin mit Sara Aronsdottír?»

Magnús hat es sich mittlerweile mit einigen Aktenordnern auf dem Sofa bequem gemacht, während Jóhann sich darin unterbricht, vor seinem Sohn auf und ab zu laufen.

«Natürlich. Vielen Dank.»

«Elín, bring doch noch mehr Kaffee, ja?», sagt Magnús. «Ich schlaf sonst ein.»

Das trägt ihm einen indignierten Blick seines Vaters ein, den er mit einem Grinsen erwidert.

In der Küche frage ich mich, wie es wohl werden wird, sobald Magnús morgens in der Kanzlei sitzt. Jóhann ist ein ruhiger, liebenswürdiger Mann, und ich bewundere ihn für seine Gelassenheit und seinen messerscharfen Verstand. Magnús dagegen ist in seinem Auftreten mitunter ein wenig großspurig und irgendwie … ich will es nicht selbstherrlich nennen, aber Jóhann käme zum Beispiel nicht im Traum darauf, mir morgens einfach seinen Mantel entgegenzuwerfen, statt ihn selbst aufzuhängen.

Gedankenlos vielleicht? Das passt eher.

Als ich kurz darauf ein weiteres Mal gegen die Tür klopfe, um für Kaffeenachschub zu sorgen, stehen beide neben dem Schreibtisch. Magnús überragt seinen Vater um einen ganzen Kopf, und der Blick, mit dem sie mich mustern, hat etwas Erwartungsvolles.

«Elín, bleib doch bitte einen kurzen Moment.» Jóhann macht eine Handbewegung zu Magnús hin, als würde er ihn mir erstmals vorstellen. «Du hast es dir sicher ohnehin schon gedacht – Magnús wird die Kanzlei bis zum Ende des Jahres übernehmen. Danach werde ich mich nicht ganz verabschieden, aber ab dem ersten November wird er vorerst an drei Tagen in der Woche meinen Platz einnehmen.» Er wirft Magnús einen Blick zu. «Und ich bin sicher, du wirst es gut machen.»

In seiner Stimme schwingt Rührung mit, eine Emotion, die ich bisher nicht mit dem normalerweise stets sachlich auftretenden Jóhann in Verbindung gebracht habe, und die mich vielleicht deshalb prompt ebenfalls ergreift.

«Ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit», wende ich mich zunächst an Magnús. «Aber ich gebe zu …», mein Blick wandert zu Jóhann, «… ich werde dich vermissen.»

Das klingt nicht so souverän, wie ich mir meine Reaktion auf diese Eröffnung in den letzten Wochen zurechtgelegt habe, doch es ist die Wahrheit.

«Deine Kompetenz und dein Fachwissen werden Magnús den Einstieg erleichtern», sagt Jóhann, und Stolz flackert in mir auf. Er hat nie etwas anderes angedeutet, doch in diesem Augenblick aus seinem Munde zu hören, wie sehr er meine Arbeit schätzt, ist etwas Besonderes.

«Ich freue mich ebenfalls auf unsere Zusammenarbeit.» Magnús streckt mir die Hand hin. «Ich denke, wir werden ein gutes Team.»

«Bestimmt», erwidere ich.

«Nun», setzt Jóhann an, und ohne dass er mehr sagen müsste, weiß ich, dass er weiterarbeiten möchte.

Wehmut überkommt mich, als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, obwohl es ja noch kein endgültiger Abschied war. Jóhann zukünftig nicht mehr über die Akten gebeugt zu sehen, wird ungewohnt sein, doch warum sollte es nicht auch mit Magnús gut funktionieren? Er mag ein wenig forsch auftreten, aber es wird sich sicher alles einspielen, sobald ich ihn erst einmal besser kennengelernt habe.

Es ist kurz nach halb vier, als die Telefonanlage aufleuchtet. Jóhann ist in der Leitung. «Elín, bringst du bitte Magnús’ Jacke rein? Und seine anderen Sachen auch?»

«Natürlich.»

Ein paar Sekunden lang mustere ich das Protokoll, an dem ich gerade gearbeitet habe.

Ernsthaft jetzt? Was kommt als Nächstes? Werde ich Magnús irgendwann noch in den Mantel helfen und ihm die Mütze höchstpersönlich auf den Kopf setzen müssen?

Ich schiebe die Unterlagen zur Seite, um zum Garderobenschrank zu gehen, und während ich Jacke, Pullover, Handschuhe und Mütze herausnehme, beschleicht mich die Vorahnung, dass es doch eine Weile dauern könnte, bis ich mich an Magnús gewöhnt habe.

Kapitel 4

«Natürlich gehst du hin! Und ich wette, nachher erzählst du mir, dass es lustig war.» Sophia hat eine Stimme, bei der ich sogar am Telefon immer auch ihr Lächeln heraushöre, selbst wenn sie – wie in diesem Moment – ziemlich energisch klingt. Sie ist meine beste Freundin, auch wenn wir uns nur noch selten sehen, seit sie mit ihrer Familie vor sieben Jahren nach Paris gezogen ist. «Dieser Kochkurs ist eine tolle Idee, Elín. Dann kommst du endlich mal wieder raus und lernst ein paar neue Leute kennen. In den letzten Wochen hat sich ja alles immer nur um Daníel gedreht – und in den Monaten davor eigentlich auch. Es ist gut – nein, es ist sogar wichtig, dass du dich jetzt mal um dich kümmerst.»

Ich strecke die Beine auf meinem Bett aus und ziehe das Kopfkissen hinter mir ein Stück nach oben. Es ist Freitagabend, kurz nach sechs, und langsam müsste ich mich fertig machen, wenn ich pünktlich zu diesem Kurs kommen will. Das Problem ist nur: Aktuell wäre mir viel mehr danach, zu Hause zu bleiben.

«Wahrscheinlich wirke ich dort wie eine Säuferin auf einer Weinverkostung», sage ich. «Alle werden sich fragen, warum jemand wie ich auch noch einen Kochkurs besucht.»

«Quatsch! Es geht um vegane Ernährung, das klingt doch fast wie ein Sportprogramm. Aus dir spricht dein innerer Daníel, das ist dir klar, oder?» Sophias Stimme wird eindringlicher. «Elín – du hast diesen Typen in den Wind geschossen, jetzt muss es dir nur noch gelingen, seine Gemeinheiten aus deinem Kopf zu kriegen.»

«Er hat mich in den Wind geschossen, Sophia», erinnere ich sie.

«Ce crétin.» Ich höre sie durchatmen. «Aber nur, weil er dir zuvorgekommen ist, heißt das ja nicht, dass du ihm noch nachhängen musst.»

«Tu ich nicht.»

«Tust du doch.»

«Zumindest besteht nicht die Gefahr, dass ich zu ihm zurückgehe, sollte er es sich noch einmal anders überlegen. Was sowieso nicht geschehen wird», setze ich hinzu.

«Gut. Dann sieh zu, dass du jetzt auch noch seine miesen Sprüche zum Teufel schickst.»

«Na ja. Letztlich hat Daníel nur ausgesprochen, was alle denken.»

«Und was denken alle?», erwidert Sophia angriffslustig.

Ich mustere meinen Körper, der nur aus weichen Kurven besteht. «Dass ich dick bin.»

«Blödsinn! Du bist nicht dick! Du siehst toll aus!»

Ich verkneife mir ein Seufzen. Ich weiß, Sophia meint es gut, aber für sie ist das Wort dick einfach eine Beleidigung, und deshalb bin ich es nicht. Realität hin, Realität her.

«Niemand denkt, dass du dick bist», fügt Sophia hinzu. «Du hast einfach eine völlig verzerrte Wahrnehmung.»

Für jemanden wie sie ist es leicht, so etwas zu sagen, sie gehört nämlich zu den Frauen, die Frauen wie mir als Vorbild unter die Nase gerieben werden. Wenn du mehr Sport machen und weniger essen würdest, könntest du genauso gut aussehen.

Darauf hat mich nicht nur Daníel häufiger hingewiesen.

«Du hörst dich an wie meine Mutter», sage ich und gebe mir Mühe, unbeschwert zu klingen. «Als Nächstes kommst du noch mit kräftig gebaut. Ich bin dick, fertig. Bringt doch nichts, sich etwas vorzumachen.»

«Elín, ich würde dich wirklich niemals dick nennen. Keiner würde das, abgesehen von Idioten wie Daníel. Weißt du, was das eigentliche Problem ist? Das Problem ist dieses unmögliche Frauenbild, das unsere Gesellschaft hat. Instagram und Pinterest und Facebook und die Werbung! Guck dir all diese Frauen da doch mal an. Da kriegt jeder Komplexe!» Sophias Lieblingsthema. Sie studiert Gender Studies und arbeitet nebenbei für ein feministisches Satiremagazin. «Es ist ein Unding, dass eine Frau im 21. Jahrhundert noch immer in erster Linie an ihrem Äußeren gemessen wird», redet sie weiter. «Als wäre eine perfekte Figur das Allerwichtigste. Elín, du bist nicht dünn, okay. Aber muss denn jeder dünn sein?»

«Leider bin ich nun mal nicht nur nicht dünn, sondern fett», erwidere ich und fühle mich eine halbe Sekunde lang geradezu revolutionär – zumindest bin ich ehrlich mir selbst gegenüber –, bevor der Frust mich überfällt.

«Elín, jetzt hör aber auf – du bist nicht fett! Du tust ja gerade so, als seiest du … was weiß ich, ernsthaft adipös oder so! Nur weil man ein paar Kleidergrößen über dem Durchschnitt liegt, ist man noch lange nicht dick. Und überhaupt – wer hat dich fett genannt?», schießt Sophia zurück.

Ich benötige ein paar Sekunden, um eine Antwort auf diese simple Frage zu finden, und als ich sie habe, will ich sie nicht aussprechen.

«Daníel, oder? Immer nur Daníel.»

Sophias Stimme klingt weich. Ich stelle mir vor, wie sie ausrasten würde, würde ich ihr an dieser Stelle erzählen, dass er mir mal vorwarf, ich sei so fett wie eine Seekuh. Es sei nur ein Witz gewesen, hat er später gemeint. Kein Grund, gleich wieder beleidigt zu sein.

Das mit der Seekuh gehört zu den Dingen, die ich gern tief in mir vergraben würde, die dazu jedoch zu stachelig sind. Eine Weile dachte ich, gemeiner könne es nun nicht mehr werden, aber da hatte ich mich getäuscht. Ich massiere mir die Schläfen, um die schon wieder aufsteigende Scham und den Schmerz bei dem Gedanken an die Nacht unserer Trennung etwas erträglicher zu machen.

«Geh zu diesem Kochkurs», sagt Sophia in die Stille hinein, die zwischen uns entstanden ist. «Du hast dich echt darauf gefreut. Also guck dir das Ganze wenigstens an. Wenn du dich heute Abend nicht wohlfühlst, kannst du es immer noch lassen.»

Ich versuche vergebens, einen Satz zusammenzubauen, der nicht nur mich selbst, sondern auch Sophia davon überzeugt, dass dieser Kurs einfach eine saublöde Idee war.

«Elín, du liebst das Kochen! Wie oft hast du mir das schon gesagt?»

«Ja, schon», seufze ich. «Aber das ist – warum ausgerechnet Kochen? Warum kann ich nicht das Tanzen lieben? Oder meinetwegen das Stricken? Keiner würde mir in einem Strickkurs vorwerfen, dass ich nur deshalb dick bin, weil ich stricke.»

Sophia seufzt. «Keiner wirft dir überhaupt irgendetwas vor. Ich meine – es ist ein veganer Kochkurs. Die Wahrscheinlichkeit, dass da nette Leute rumhängen, ist viel höher als bei einem Kurs, wo du … über Kierkegaard diskutierst oder was weiß ich. Schrumpfköpfe bastelst. Da sitzen heute Abend bestimmt lauter Hippie-Weltretter rum.»

Ich muss lächeln.

«Und günstig war der Kurs auch nicht, oder?»

Damit hat Sophia leider recht.

«Kriegst du dein Geld zurück, wenn du einfach nicht hingehst?»

«Wahrscheinlich nicht.»

«Es wäre also auch noch die totale Geldverschwendung.»

«Hmpf», brumme ich unwillig.

«Und vielleicht ist der Kursleiter dein Traummann.»

«Die Kursleiterin heißt Embla. Und das Letzte, wonach ich gerade suche, sind irgendwelche Traummänner.»

«Vielleicht ist Embla ja deine Traumfrau?»

«Das bist du schon», erwidere ich. «Okay, hör auf, ich fahre hin. Was macht eigentlich dein Traummann? Wie geht’s … wie hieß er noch … Édouard?»

«Lenk nicht ab. Du fährst hin. Versprochen?»

«Versprochen.»

«Okay, dann schwöre.»

«Sophia, das ist albern.»

«Schwöre.»

«Ist ja gut. Ich schwöre», sage ich. «Es ist trotzdem albern.»

«Egal», erwidert Sophia unbekümmert. «Hauptsache, du fährst.»

Kapitel 5

Zwanzig Minuten später sitze ich in meinem Auto, und meine Mutter hat mir viel Erfolg bei meinem Computerlehrgang gewünscht. Der Kurs findet in Sólvík statt, und während der Fahrt schwöre ich mir ungefähr hundertmal, nie wieder irgendjemandem irgendetwas zu schwören.

Wäre es noch hell, ließen sich die Farben der blauen, grünen, roten und weißen Hausdächer auseinanderhalten, die sich verstreut über einen Hügel hinaufziehen. An der Straße, die am Strand vorbeiführt, gibt es eine Flaniermeile mit einer Handvoll Cafés und Restaurants, und das von ihnen ausgehende Licht leuchtet bis zum Meer hinunter.

Das Restaurant, in dem der Kochkurs stattfindet, liegt im Ortskern. Es handelt sich um einen ziemlich teuren Laden namens Reynir, ein hohes weißes Wellblechhaus mit mehreren Anbauten, dunkel umrahmten Fenstern und einem schwarzen Spitzdach. Eine Treppe mit schmiedeeisernem Geländer führt zur Eingangstür hinauf, doch ich muss ein gutes Stück weiterfahren, bevor ich endlich einen Parkplatz finde. Ein paar Minuten später ziehe ich die schwere Tür zum Restaurant auf. Stimmengewirr empfängt mich, Gelächter und der Duft von leckerem Essen.

Vorsichtig bewege ich mich zwischen den besetzten Tischen auf einen breiten Gang neben der Bar zu und komme dabei an einer Treppe vorbei, die zu einem weiteren Stockwerk führt. Auch von oben ist das Klirren von Gläsern und das Klappern von Besteck zu hören.

«Entschuldigung?», wende ich mich an eine Frau in weißer Schürze, die mit einem Tablett voller Gläser unterwegs ist. «Ich …»

Sie lässt mich erst gar nicht ausreden. «Zum Kochkurs bei Embla? Einfach hier durch den Gang. Ganz hinten rechts.» Die letzten Worte ruft sie mir schon über die Schulter hinweg zu.

Okay, also los. Ich straffe die Schultern und laufe hinter einem Kellner her, der gerade mit einigen Speisekarten im Arm unter einem geschwungenen Bogen in den Gang hineintritt. Er beachtet mich nicht, legt nur die Mappen auf eine schmale Anrichte, wo zwischen Unmengen an Salz- und Pfefferstreuern noch weitere Stapel liegen, und verschwindet nach links. Schwingtüren klappen hinter ihm auf und wieder zu. Durch zwei runde Fenster kann ich einen Blick in den dahinter liegenden Raum werfen. Arbeitsflächen aus Edelstahl, riesige Dunstabzugshauben über ebenso riesigen Gasherden, auf denen dampfumwaberte Töpfe stehen, die allesamt größer sind als das Ungetüm, das meine Mutter zum Garen von Miesmuscheln verwendet.

Es fällt mir schwer, den Blick abzuwenden. In einer solchen Profiküche herumwirbeln, alle Töpfe gleichzeitig im Blick behalten, umgeben vom Duft luftiger Soufflés und würziger Soßen – Sophia findet es verrückt, dass ich bei dieser Vorstellung Herzrasen vor Freude bekomme. In ihrer Welt rangiert Kochen knapp hinter Fensterputzen. Ich seufze leise, während ich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Gang vor mir richte. Ganz hinten rechts, hat die Kellnerin gesagt.

Dort ist eine weitere Tür, und als ich diese öffne, erwartet mich eine sehr viel kleinere Ausführung der Küche von eben. Derselbe glänzende Edelstahl und mit Sicherheit ähnlich hochwertiges Equipment, doch statt langer Reihen von Gasherden, die sich im Dampf verlieren, finden sich hier mehrere Kochinseln hintereinander. An den Wänden stehen Spülbecken und Edelstahlschränke, überall spiegelnde Flächen, und nicht einmal eine einsame Gabel liegt irgendwo herum.

Eine Gruppe Frauen hält bereits Gläser in den Händen, Köpfe drehen sich zu mir um, während ich die Tür in meinem Rücken schließe. Nur ein Blick reicht, um festzustellen, dass fast jede von ihnen dünner ist als ich, und die beiden, die es nicht sind, sind ungefähr doppelt so alt. Natürlich. Die meisten von Sophias Hippie-Weltrettern sehen aus, wie einem Werbeprospekt für Fitnessbänder oder fettarmen Omega-3-Joghurt entsprungen. Einige lächeln mir zu, und ich lächle zurück, obwohl ich in dieser Sekunde am liebsten einfach wieder verschwinden würde.

«Hallo.» Eine große Frau mit unfassbar vielen Sommersprossen und einem geflochtenen dunkelbraunen Zopf löst sich aus der Runde und geht mit ausgestrecktem Arm auf mich zu. In der anderen Hand hat sie ein Klemmbrett. «Ich bin Embla. Schön, dass du hier bist.»

«Hallo.» Ich ergreife die dargebotene Hand. «Ich heiße Elín.»

«Elín …» Embla überprüft ihre Liste und nickt zufrieden. «Wir sind fast vollzählig. Ein paar Minuten warten wir noch, dann fangen wir an. Wir haben viel vor heute», fügt sie mit einem Lächeln hinzu. «Du kannst deine Sachen dort drüben ablegen. Möchtest du etwas trinken? Auf dem Tisch stehen Gläser und Getränke, bedien dich einfach.»

«Alles klar, danke.»

In mir tobt der ewige Kampf, auf jedes Flüstern lauschen und gleichzeitig stoisch die Ohren verschließen zu wollen, während ich meine Jacke auf einen Kleiderberg lege. Mit einem Wasserglas wende ich mich kurz darauf den anderen zu. Lächeln.

In der Regel fühle ich mich ziemlich erwachsen. Wenn ich in der Kanzlei mit Klienten rede, wenn ich am Schaukelstuhl meiner Mutter die abblätternde Farbe abbeize und ihn nach dem Lackieren neu versiegele, oder wenn ich mir den Motor meines Wagens ansehe, weil er mal wieder seltsame Geräusche beim Fahren macht. Wenn ich mich allerdings unter Menschen befinde, die ich nicht gut kenne und die mich prüfend mustern, fühle ich mich plötzlich sehr jung.

Die Gruppe öffnet den Kreis bereitwillig, als ich mich zu ihnen geselle. Embla unterhält sich mit einer blonden Frau, die ihre Haarmähne zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat.

«… interessiere mich für vegane Ernährung in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen. Es ist mir einfach wichtig, ausgewogen und bewusst zu essen», sagt die Blondine gerade.

Vegane Hippies, denke ich. Na klar, Sophia. Die Frau ist durchtrainiert und durchgestylt und wirkt mehr wie ein Selbstoptimierungsprofi als wie eine Träumerin.

«Eine Freundin von mir isst seit einem Jahr vegan, und sie sagt, sie habe sich noch nie so gut gefühlt», wirft eine andere Frau ein. «Und sie sieht wirklich toll aus. Einfach so fit und energiegeladen.»

«Tierisches Eiweiß übersäuert den Körper», wirft die Blondine neben Embla ein. «Ein guter Freund von mir ist zum Beispiel völlig übersäuert, aber er weigert sich trotzdem, auf Wurst zu verzichten. Ich hoffe ja, dass ich hier ein paar Tipps bekomme, wie ich ihn überzeugen kann.»

«Auf jeden Fall wirst du jede Menge leckerer Rezeptideen mit nach Hause nehmen», sagt Embla, weil die Frau sie mit ihren letzten Sätzen direkt angesprochen hat. «Das Thema Übersäuerung allerdings spielt in diesem Kurs keine große Rolle. Es ist …»

«Hi.»

Alle wenden sich dem Mann zu, der diese Begrüßung ausgesprochen hat und der eben dabei ist, die Tür wieder zu schließen. Das Gespräch erstirbt für den Moment. Er ist groß und schlank, hat ein ausgesprochen attraktives Gesicht und einen Dreitagebart. Die dunkelblonden Haare sind straff zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengedreht. Einer seiner Mundwinkel verzieht sich zu einem schiefen Lächeln, doch er macht keine Anstalten, näherzutreten. Im Gegenteil – fast scheint es, als wolle er in dieser Sekunde die Tür erneut öffnen und wieder gehen. Kommt mir bekannt vor.

«Jón», sagt Embla und grüßt ihn wie einen alten Bekannten. «Schön, dass du da bist. Damit wären wir komplett.»

Jóns Hand löst sich vom Türgriff.

Er ist also der letzte Teilnehmer und damit der einzige Mann im Kurs. Sonderlich erfreut darüber wirkt er nicht. Ich schätze mal, allen anwesenden Frauen dürfte das anders gehen, wenn ich von den Blicken ausgehe, die noch immer an ihm kleben.

Embla instruiert ihn ähnlich wie mich eben, und als er seine Jacke ausgezogen hat, klatscht sie in die Hände. «Wenn dann alle so weit sind, würde ich gern mit einer Vorstellungsrunde beginnen und damit, die Erwartungen zu sammeln, die ihr an diesen Kurs richtet.»

Wir folgen ihr zurück zu dem Tisch, auf dem sich auch die Getränke befinden und an dem Embla sich jetzt niederlässt. Sie entfernt das oberste Blatt von ihrem Klemmbrett und greift nach einem Kugelschreiber.

Embla ist mir sympathisch. Sie hat eine unaufgeregte, herzliche Art, und das ist vermutlich auch der Grund, warum ich einen der beiden Plätze neben ihr ansteuere.

Sobald ich sitze, wird mir mein Fehler bewusst.

Vorstellungsrunde. Hoffentlich beginnt Embla nicht bei mir, sondern auf ihrer anderen Seite.

«Nun denn.» Embla lehnt sich entspannt zurück. «Wie ihr schon wisst, bin ich Embla Ingvarsdottír, und ich freue mich darauf, euch in den nächsten Wochen näher kennenzulernen.»

Mit ein paar Sätzen fasst Embla ihren bisherigen Werdegang zusammen, erwähnt, dass sie nach ihrer Ausbildung zur Köchin noch ein Jahr das Le Cordon Bleu in Paris besucht hat und schon sehr früh wusste, dass sie in ihrer Küche auf tierische Bestandteile verzichten will.

«Und jetzt bin ich gespannt darauf, was ihr euch von einem veganen Kochkurs versprecht. Elín, möchtest du vielleicht beginnen?»

Verflixt. Die Blicke der anderen lassen meine Kehle enger werden.

«Sicher.» Ich räuspere mich. «Also, ich bin Elín, und ich liebe es zu kochen, ähm … ich probiere gern neue Rezepte aus, und …» Denken die alle gerade Ja, das sieht man? Die blonde Frau mit dem Pferdeschwanz lächelt irgendwie süffisant. «Jedenfalls freue ich mich, hier zu sein», ende ich lahm.

«Würdest du mir noch verraten, warum du dich für einen veganen Kochkurs entschieden hast und was du dir von diesem Kurs wünschst?», hakt Embla nach.

Ach ja, klar. Vergessen.

«Ich interessiere mich dafür, weil ich nicht will, dass Tiere wegen mir sterben müssen.» Das klingt jetzt irgendwie naiv. «Und ich hoffe, dass ich in diesem Kurs ein paar neue Inspirationen finde», füge ich deshalb hastig hinzu.

«Danke, Elín.» Embla hat sich eine Notiz gemacht und wendet sich mit einem Lächeln der Frau neben mir zu.

«Hallo», erklärt diese forsch. «Ich heiße Freyja, und ich ernähre mich schon seit zwei Jahren vegan, aber ich bin immer auf der Suche nach neuen Rezepten. Außerdem macht es mir einfach Spaß, andere Leute zu treffen, die ähnlich ticken wie ich. In meinem Umfeld gibt es nicht viele, die meine Einstellung nachvollziehen können, abgesehen von meiner Tochter.»

«Schön, danke, Freyja.»

Embla gibt das Wort weiter, und eine nach der anderen stellt sich um Längen souveräner vor als ich. Die blonde Pferdeschwanz-Frau heißt Katrín. Sie ist ausgerechnet Fitnesstrainerin, besitzt in Sólvík ein Sportstudio und möchte Leute, die zu ihr kommen, kompetent über die Vorteile einer gesunden Ernährung beraten können. «Außerdem spielt natürlich auch der ökologische Aspekt der veganen Ernährung eine Rolle», setzt sie am Ende ihres kleinen Vortrags noch hinzu.

Verdammt, das alles hätte ich doch auch sagen können. Wie oft habe ich meiner Mutter erklärt, ich würde aus ethischen, ökologischen und auch gesundheitlichen Gründen vegetarisch essen? Und jetzt sitze ich hier und sage nur blöde: Weil ich nicht will, dass Tiere wegen mir sterben müssen. Als wäre ich zu dumm, um über meinen eigenen Horizont hinauszuschauen, und würde meine Tage damit zubringen, Angorakaninchen zu streicheln und Katzenbilder im Netz zu liken.

«Ich heiße Jón, und ich habe diesen Kurs von meiner Schwester zum Geburtstag geschenkt bekommen.»

Ich sehe auf. Jóns Vorstellung kommt meiner eigenen in puncto Planlosigkeit bisher am nächsten.

«Um ehrlich zu sein, habe ich bisher keinen blassen Schimmer von diesem ganzen Veganerding.»

Jetzt lächelt er entschuldigend, und damit hat er sie endgültig alle. Völlig egal, was er als Nächstes sagen oder tun wird. Mit diesem Lächeln dürfte er sich vermutlich sogar ein Schinkensandwich auswickeln.

«Aber man soll ja offen für Neues sein – das stand zumindest auf meiner Geburtstagskarte.»

Er lacht, und es fällt mir schwer, meinen Blick von ihm abzuwenden. Zum ersten Mal fallen mir seine Augen auf – sie sind trotz seiner hellen Haare so dunkel wie Schokolade. Zartbitterschokolade.

Ich bin nicht die Einzige, die ihn noch immer verstohlen mustert, obwohl die Frau neben ihm sich bereits als Birta vorstellt. Jón erwidert keinen der Blicke, sondern richtet seine Aufmerksamkeit auf Birta und danach auf die nächste Frau, die zum Sprechen ansetzt. Mit Sicherheit weiß er, dass er so ziemlich den Mittelpunkt unserer Runde bildet, doch es scheint ihn nicht zu interessieren. Ist das echt? Oder verbirgt er sein Ego nur sehr gut?

«Vielen Dank», sagt Embla, als auch die Letzte – eine Frau namens Ísabella – ausgeführt hat, was sie sich von diesem Kurs verspricht. Während wir uns vorgestellt haben, hat Embla sich gelegentlich Notizen gemacht. «Ich fasse eure Erwartungen mal zusammen: In erster Linie geht es euch um neue Rezeptideen, die am besten auch Leute überzeugen sollten, die veganem Essen eher skeptisch gegenüberstehen. Außerdem wüsstet ihr gern, wodurch ihr beim Kochen Zutaten wie Milch, Butter oder Eier ersetzen könnt. Und dann ist bei mehreren noch die Frage nach dem berühmten Vitamin B12 aufgetaucht.» Embla zwinkert in die Runde. «Ich kann euch schon mal beruhigen: Man kann sich vegan problemlos ausgewogen genug ernähren. Der größte Teil dieser Fragen wird sich im Laufe des Kurses ganz von selbst klären, versprochen.»

Stühle scharren, als die meisten es Embla gleichtun, die jetzt aufsteht.

«Für heute beginnen wir zunächst einmal mit einem Überblick, was die Grundausstattung in einer veganen Küche betrifft. Ihr werdet sehen, es ist ganz leicht, seine Vorräte so aufzustocken, dass ihr jederzeit in der Lage seid, ein leckeres Essen auf den Tisch zu bringen. Und danach bleibt noch genügend Zeit, um ein simples Rezept auszuprobieren: veganes Rührei. Für die ganz Experimentierfreudigen unter euch sogar mit veganen Baconstreifen. Folgt mir bitte.»

Gehorsam traben wir Embla hinterher, die einen der Edelstahlschränke öffnet und damit beginnt, uns Getreidesorten, Hülsenfrüchte, Nüsse, diverse Pflanzenmilchvarianten, unfassbar viele Öle und noch mehr Gewürze vorzustellen. Zu vielen Zutaten hat sie auch gleich ein paar Zubereitungstipps und Rezeptideen parat, und einige beginnen, sich Notizen zu machen. Als Nächstes führt Embla uns zu einem riesigen Kühlschrank, um uns einen Eindruck der unglaublichen Vielfalt an Gemüse und Obst zu vermitteln.

In meinem Kopf beginne ich, inspiriert von Emblas Vorschlägen, erste Menüs zusammenzustellen. Ich könnte … Autsch!

«Verzeihung.»

Jón ist zurückgetreten, weil er Embla beim Öffnen einer Schranktür im Weg stand, und mir dabei voll auf den Fuß getrampelt.

«Schon in Ordnung, nichts passiert», erwidere ich automatisch, obwohl meine Zehen sich anfühlen, als sei ein Elefant darüber gestolpert. Ein Elefant mit Dreitagebart, ausgeprägten Wangenknochen und Zartbitterschokoladen-Augen.

Ähm.

Was, bitte, denke ich da für einen Blödsinn?

Die Sekunden scheinen sich zu dehnen, bevor es mir endlich gelingt, unseren Blickkontakt zu unterbrechen und den Versuch zu starten, mich wieder auf Embla zu konzentrieren.

Wieso, bitte, guckt der mich so lange an?

Weil er dich dick findet, flüstert mein Hirn gehässig.

Halt die Klappe, Hirn!

Etwa eine Viertelstunde später schließt Embla den Deckel einer Gefriertruhe voller Tiefkühlgemüse und strahlt uns an. «Genug zur Theorie – kochen wir! Findet euch bitte jeweils zu zweit an einem Herd zusammen.»

Zu zweit, das ist gut. So kann ich ganz entspannt zumindest eine der anderen Frauen besser kennenlernen. Und das nächste Mal weiß ich dann schon, zu wem ich mich stellen kann.

Ich steuere eine freie Kochinsel an und drehe mich erwartungsvoll und mit meinem nettesten Lächeln um, nur um auf ein Kinn mit Dreitagebart zu starren. Hastig hebe ich meinen Blick um ein paar Zentimeter und bleibe einmal mehr an diesen verflixten Schokoladenaugen hängen.

«Hi.» Jón grinst mich an. «Dann wollen wir mal, oder?»

Kapitel 6

Jón begutachtet den Gasherd, während ich noch dabei bin, mich zu sammeln. Damit, dass ich ausgerechnet mit dem einzigen Kerl im Kurs kochen muss, hätte ich im Traum nicht gerechnet. Klar, ich stand ihm am nächsten, und auch er scheint hier niemanden zu kennen, aber trotzdem: Dass mir jetzt ein extrem attraktiver Mann beim Kochen auf die Finger sieht, passt mir nicht wirklich – vor allem weil ich deshalb schon wieder an Daníel denken muss.

Nicht dass Jón Daníel ähneln würde. Daníel hat dunkle, kurze Haare, ist kleiner und eher drahtig, wo dieser Jón muskulös zu sein scheint. Außerdem lächelt Jón, wenn er mich ansieht, und Daníel hat mich das letzte Mal so angelächelt, als … ich weiß nicht. Ist wohl zu lange her.

Ich versuche, die Gedanken abzuschütteln. In den letzten Monaten unserer Beziehung ist es mir in Daníels Nähe zunehmend schwerer gefallen, mich auf das zu konzentrieren, was ich gerade tun wollte. Stattdessen habe ich ständig nur darüber nachgedacht, was in ihm vorgeht und dabei auf seine Sticheleien gewartet. Ich habe keine Lust, mir auch noch den Kochkurs von ihm verderben zu lassen.

«Veganes Rührei, hm?», sagt Jón jetzt. «Was meinst du, woraus besteht das? Karotten?»

«Tofu», ruft Embla, die Jóns Frage aufgeschnappt hat. «Die Grundzutat ist Tofu. Eine Packung von dem einfachen und eine halbe Packung Räuchertofu. Und außerdem holt ihr euch bitte Bratöl, Kurkuma, eine Zwiebel, fünf Pilze, eine kleine Zucchini und Kala Namak aus den Schränken. Salz und Pfeffer stehen schon vor euch.»

«Hast du dir das alles gemerkt?», fragt Jón, während wir uns gemeinsam dem Gedränge nähern, das vor den Schränken entsteht. «Ich nämlich nicht. Was war das Letzte? Kallamakak?»

«Ziemlich nah dran», erwidere ich. «Kala Namak. Schwefelsalz. Wie wäre es, wenn du dich um Pilze, Zucchini und Zwiebeln kümmerst, und ich suche den Rest zusammen.»

«Geht klar.»

Er steuert den Kühlschrank an, und ich atme einmal tief durch, froh, kurz allein zu sein. Hör endlich auf, alles so kompliziert zu machen. Jón ist einfach nur jemand, mit dem du heute kochst, mehr nicht.

«Veganes Rührei aus Tofu und Schwefelsalz», sagt Jón, als er mit dem Gemüse in einer Schale zurück zu unserem Herd kommt. «Klingt ja extrem lecker, was?»

Er grinst, doch die Skepsis in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Seine Schwester hat mit ihrem Geschenk wohl eher nicht ins Schwarze getroffen.

Eine Antwort scheint er nicht zu erwarten, weshalb ich auf Emblas Anweisungen hin mit den Vorbereitungen beginne, während Jón danebensteht.

«Was möchtest du übernehmen?», frage ich schließlich, weil er auch dann noch keine Anstalten macht, nach einem Messer zu greifen, nachdem ich bereits die Zucchini gewaschen und die Pilze abgerieben habe.