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Olivia Dade

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Beschreibung

Ein hinreißend komischer, sensibler und emotionaler Liebesroman rund um die Themen Fankultur und Body Positivity Charmant, eitel und einfach gestrickt. So kennt die Öffentlichkeit Marcus Caster-Rupp, den Star der weltweiten Hit-Serie Gods of the Gates. Niemand ahnt, dass er privat mit seiner Legasthenie kämpft – und der Tatsache, dass er die Entwicklung der Serie hasst. Seinen Frust schreibt er sich anonym auf einem Fanfiction-Forum von der Seele. Doch sollte das irgendjemand herausfinden, ist er in Hollywood erledigt. April Whittier ist ein Hardcore-Gods-of-the-Gates-Fan, schreibt Fanfiction und kreiert eigene Kostüme zu der Show. Bisher hat sie das nie jemandem erzählt, aber sie will sich nicht mehr verstecken. Und so postet sie ein Foto von sich in einem Kostüm auf Twitter. Nur leider lassen die Trolle nicht lange auf sich warten, und es hagelt bösartige Kommentare wegen Aprils Plus-Size-Figur. Doch dann geschieht das Unglaubliche. Marcus Caster-Rupp schaltet sich ein, verteidigt sie und lädt sie auf ein Date ein. DER Marcus Caster-Rupp. Und ihr Date hat ungeahnte Folgen … Band 1 der Fandom-Trilogie, ein Liebesroman rund um Fankultur und Body Positivity.   «Diese kluge, originelle Liebesgeschichte ist nuanciert, unerschrocken und zutiefst romantisch.» Publishers Weekly   «Das Buch jongliert gekonnt mit popkulturellen Anspielungen und Metatext.» New York Times   «Liebe, Geheimnisse und Stars – dieser Roman wird Ihr Herz im Sturm erobern.» CNN.com

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Seitenzahl: 568

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Olivia Dade

The Stories we write

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Ulrike Gerstner

 

Über dieses Buch

Jede Geschichte hat zwei Seiten …

 

Charmant, eitel und einfach gestrickt. So kennt die Öffentlichkeit Marcus Caster-Rupp, den Star der weltweiten Hit-Serie Gods of the Gates. Niemand ahnt, dass er privat mit seiner Legasthenie kämpft – und der Tatsache, dass er die Entwicklung der Serie hasst. Seinen Frust schreibt er sich anonym auf einem Fanfiction-Forum von der Seele. Doch sollte das irgendjemand herausfinden, ist er in Hollywood erledigt.

April Whittier ist ein Hardcore-Gods-of-the-Gates-Fan, schreibt Fanfiction und kreiert eigene Kostüme zu der Show. Bisher hat sie das nie jemandem erzählt, aber sie will sich nicht mehr verstecken. Und so postet sie ein Foto von sich in einem Kostüm auf Twitter. Nur leider lassen die Trolle nicht lange auf sich warten, und es hagelt bösartige Kommentare wegen Aprils Plus-Size-Figur.

Doch dann geschieht das Unglaubliche. Marcus Caster-Rupp schaltet sich ein, verteidigt sie und lädt sie auf ein Date ein. DER Marcus Caster-Rupp. Und ihr Date hat ungeahnte Folgen …

 

Hollywood-Glamour trifft auf Body Positivity

«Nuanciert, unerschrocken und zutiefst romantisch.» Publishers Weekly

Vita

Olivia Dade war schon immer ein Bücherwurm. Als Kind las sie jedes Buch, das sie nur finden konnte. Liebesromane waren und blieben dabei ihr liebstes Genre. Als Erwachsene hat sie einen Abschluss in Geschichtswissenschaften gemacht und arbeitete in unterschiedlichen Berufen wie Highschoollehrerin und Bibliothekarin, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Aktuell lebt sie zusammen mit ihrem schwedischen Ehemann und der gemeinsamen Tochter in der Nähe von Stockholm. Mehr Informationen finden sich auf ihrer Homepage (oliviadade.com), auf Twitter (@OliviaWrites) tauscht sie sich gern mit ihren Leser:innen aus.

 

Schon damals, als Ulrike Gerstner sich im besten Kindergartenalter das Lesen selbst beibrachte, war irgendwie klar: Die macht bestimmt mal was mit Büchern – und dabei ist es geblieben. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Anglistik (und einigen Jahren in der Freiberuflichkeit) führte sie ihr Weg schnurstracks ins Lektorat des LYX-Verlags, wo sie das Büchermachen über zehn Jahre professionell betrieben hat. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und arbeitet wieder auf eigene Faust als Übersetzerin und Lektorin.

Für alle, die je daran gezweifelt haben, so wie ich: Jemand, der so aussieht wie du, wird begehrt. Jemand, der so aussieht wie du, wird geliebt. Jemand, der so aussieht wie du, kriegt auch sein Happy End. Ich schwöre es.

1

Während die Kamera lief, tat Marcus alles, um das Offensichtliche nicht zugeben zu müssen: Das hier war eine wirklich dämliche Art zu sterben.

Also ließ er auf Anweisung des Regisseurs ein kehliges Heulen erklingen und ritt abermals mitten hinein in das Chaos des Krieges; der metallische Geschmack von Adrenalin lag auf seiner Zunge, als er durch die dichten Wolken der Nebelmaschinen galoppierte. Brüllende Stuntleute rauschten auf ihren Pferden an ihm vorbei, während sein eigenes rhythmisch weitertrabte. Matsch – oder, dem Geruch nach zu urteilen, irgendeine finstere Mischung aus Matsch und Pferdescheiße – spritzte gegen seine Wange. Der Kamerawagen raste ihm voraus, und der schwenkbare Arm auf dem SUV fing all seine Hingabe und seine Verzweiflung ein.

Zugegeben, Marcus fand das Skript der aktuellen Staffel ziemlich übel. Aber das hier, das liebte er. Wie echt sie alles wirken lassen konnten. Mit dem enormen Budget der Serie konnte man gigantische Nebelmaschinen ranschaffen, all die Seilkameras aufspannen, Stuntmenschen anheuern und sein Reittraining bezahlen. Unzählige Hektar an der spanischen Küste wurden nur zu einem einzigen Zweck abgesperrt: um die finale epische Schlacht der Serie abzudrehen. Und es erlaubte ihnen, die ganze Sache Woche um Woche um endlos zähe Woche zu proben und zu filmen, um am Ende genau die gewünschten Aufnahmen im Kasten zu haben.

Es war eine Qual. Ziemlich oft sogar. Aber weil die Crew, die hinter den Kulissen agierte und aus fast tausend Vollprofis bestand, alles so gründlich, so überzeugend vorbereitet hatte, fiel es ihm leichter, sich nicht in negativen Gedanken zu verlieren. Das diffuse Chaos um ihn herum half ihm dabei, in seine Rolle zu schlüpfen, auch wenn er die Schauspielkünste, die eine solch erfolgreiche Serie und jene Szene im Speziellen von ihm verlangten, eigentlich sowieso mühelos abrufen konnte.

Es gab keinen Schnitt, als Dido – beziehungsweise Carah, seine talentierte Kollegin seit inzwischen mehr als sieben Jahren, als damals die Vorproduktion der Serie begann – durch den Nebel trat, an exakt der Stelle, an der sie es geprobt hatten, und mit einem Schwert direkt auf ihn zielte. Die Produzenten der Show hatten sich für die Schlacht-Sequenzen möglichst lange, fortlaufende Aufnahmen gewünscht.

«Ich bin hier, um Rache zu nehmen, Aeneas der Verräter!», rief Dido, ihre Stimme rau und brüchig vor Zorn. Und außerdem vor echter Erschöpfung, vermutete er.

In sicherer Entfernung brachte er sein Pferd zum Stehen und saß ab. Er schritt zu ihr, schlug ihr Schwert mit einer schnellen Bewegung zur Seite und packte ihre Schultern.

«Und ich bin deinetwegen hier, meine Geliebte!» Er umfasste ihr Gesicht mit einer schmutzigen Hand. «Sobald ich erfahren hatte, dass du wieder am Leben bist, bin ich hierhergeeilt. Nicht einmal die Rückkehr der Toten aus dem Tartaros konnte mich aufhalten. Nichts und niemand außer dir bedeutet mir etwas. Lass die Welt brennen. Ich will dich, dich allein, und ich würde selbst den Göttern trotzen, um dich zu besitzen.»

Dass diese Drehbuch-Sätze der Entwicklung der Charaktere über die letzten Staffeln hinweg komplett widersprachen – ganz zu schweigen von den Büchern, die die Serie inspiriert hatten –, darüber würde er sich keine Gedanken machen. Nicht jetzt.

Für einen Moment entspannte sich Carah unter seiner Berührung und schmiegte ihr Gesicht an seine Handfläche.

Zu diesem Zeitpunkt des langen Drehtages stank sie. So wie er. So wie alle anderen. So wie das mit Pferdeäpfeln übersäte Feld. Matsch hatte sich an Stellen festgesetzt, an die er lieber gar nicht denken mochte. Um also elend und müde auszusehen, so als hätte er bis hierher sämtlichen Widrigkeiten erfolgreich getrotzt, musste er sich nicht wirklich anstrengen.

Dido stieß ihn von sich.

«Du bist ein Halbgott», erinnerte sie ihn höhnisch lächelnd. «Mit einer anderen verheiratet und nebenbei noch ein Ehebrecher. Du lagst bei meiner Schwester – und als sie von meiner Rückkehr aus dem Hades erfuhr, hat sie sich in ihr Schwert gestürzt, weil sie diese Schande nicht ertragen konnte. Ich kann nur hoffen, dass auch sie sich heute erhebt und ihre eigene Rache zu nehmen vermag.»

Er neigte den Kopf voll Scham, eine Empfindung, die er nur allzu leicht abrufen konnte. «Ich glaubte, dich für immer verloren zu haben. Lavinia mag dem Namen nach mein Eheweib sein, aber ihr gehört nicht mein Herz. Und Anna …» Er runzelte die Stirn, eine Bitte um Vergebung trotz seines offensichtlichen Verrats. «Sie war bloß ein trübes Spiegelbild von dir. Nicht mehr.»

Der Gedanke kam gänzlich ungebeten. Unapologetic Lavinia Stan[*]wird so was von in die Luft gehen, wenn sie diese Szene sieht.

«Du hast bereits die Sterblichen betrogen, und jetzt hintergehst du auch noch die Götter.» Mit einer raschen Bewegung hob sie ihr Schwert vom Boden auf. «Aber ich werde meine Rache zuerst nehmen. Alle anderen werden sich damit begnügen müssen, dir erst im Jenseits Qualen zuzufügen.»

Ihr Griff um das Schwert war fest und sicher, und sie schwang es ohne Schwierigkeiten. Trotz des schweren bronzenen Knaufs bestand die Klinge aus stumpfem, leichtem Aluminium, um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten – so wie seine im Moment. Das durchdringende Geräusch von Metall auf Metall erklang, als sie den Tanz begannen, den sie wochenlang geübt hatten.

Seine Bewegungen waren fließend und kamen wie von selbst, es war das Ergebnis endloser Wiederholungen. Der Kampf-Choreograf hatte jeden Schritt sorgfältig geplant, um die Einseitigkeit des Duells hervorzuheben: Dido wollte ihn verletzen, doch er versuchte, sie zu entwaffnen, ohne dass sie verwundet wurde.

Dido trieb ihn mit einem heftigen Stoß nach hinten. «Kein Mann wird mich je besiegen!», stieß sie rau hervor.

Weitere Pferde galoppierten vorbei. Entflohene aus der Unterwelt, teilweise vom Rauch verborgen, bissen, traten und richteten ihre Schwerter gegen die sterblichen und unsterblichen Feinde, die sie zurück in den Tartaros schicken wollten. Stöhnen, Tod und Geschrei umgaben ihn während seines eigenen Kampfes.

Fechtschritt, auf Dido zu. Fechtschritt. Fechtschritt. Parieren ihres wilden Schwungs.

«Das mag die Wahrheit sein.» Er zeigte ein Lächeln, scharf und raubtierhaft. «Aber wie du uns beide eben erinnert hast: Ich bin mehr als nur ein Mann.»

Das war eine unbeholfene Anspielung auf die berühmten Sätze aus dem zweiten Gods-of-the-Gates-Buch und der zweiten Staffel der Serie: Als Dido in seinen Armen lag, hatte sie gemurmelt, dass kein Mann sie je zu verführen vermochte. Ich bin mehr als nur ein Mann, hatte er erwidert. Danach hatten sie die Dreharbeiten unterbrochen, weil Carahs Körperdouble für den Rest der Szene übernahm.

Weitere Schwertschwünge. Manche pariert, manche nicht. Und schließlich kam der verhängnisvolle Moment: Er wehrte ihre letzte leidenschaftliche Attacke ab und trieb sie damit unabsichtlich auf das mit einer grünen Spitze versehene Gummischwert von einem seiner Männer.

Die Visual-Effects-Abteilung würde das mit dem Blut und dem Schwert hinterher noch anpassen. Das Publikum bekam später eine tödliche Wunde zu sehen, wo sich gerade nur schlammige Seide befand.

Dann Tränen. Und letzte geflüsterte Worte.

Er kniete auf dem Feld nieder, und Dido starb in seinen Armen.

Nachdem sie dahingeschieden war, warf er noch einen letzten tränenfeuchten Blick auf die Schlacht, die um ihn herum tobte. Er erkannte, dass die Streitkräfte aus dem Tartaros dabei waren zu verlieren. Seine Männer benötigten seine Hilfe nicht länger. Also bettete er Dido sanft auf die Erde neben sein eigenes Schwert – ein Geschenk von ihr während ihrer Zeit in Karthago –, lief erhobenen Hauptes mitten hinein in das Chaos und ließ zu, dass einer der Feinde ihn tödlich verwundete.

«Wir sehen uns auf den elysischen Feldern wieder, meine Geliebte», murmelte er mit seinem letzten Atemzug.

In diesem Moment existierte Marcus nicht mehr. Es gab nur noch Aeneas, desorientiert, einsam, sterbend und doch voller Hoffnung.

«Schnitt!», rief der Regisseur, der Befehl wurde wie ein Echo von den Crew-Mitgliedern wiederholt. «Ich glaube, wir haben diesmal alles, was wir brauchen. Die Szene ist im Kasten!»

Regisseur und Produktionsleiter wandten sich ab, um etwas zu besprechen, und Marcus kam wieder zum Vorschein. Er blinzelte so lange, bis er sich wieder wie er selbst fühlte. Sein Kopf schien über seinen Schultern zu schweben, schwerelos und leer; das geschah manchmal, wenn er sich völlig in einer Rolle verloren hatte.

Das war eine ganz eigene Art von Glück. So lange hatte er für dieses Gefühl gelebt und gearbeitet.

Aber es war nicht genug. Nicht mehr.

Carah erholte sich schneller als er. Sie rappelte sich aus dem Schlamm auf und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. «Das wurde verdammt noch mal Zeit.» Sie streckte ihm eine Hand hin. «Wenn ich Matsch in meiner Arschritze will, würde ich mir eine dieser Ganzkörper-Detox-Behandlungen gönnen. Und das Zeug riecht wenigstens nach Teebaumöl oder Lavendel und nicht nach Pferdescheiße.»

Er lachte und ließ sich von ihr auf die Füße helfen. Seine Lederrüstung schien genauso viel zu wiegen wie Rumpelstilzchen, das Friesenpferd, das der Stallmeister jetzt wegführte. «Falls es dich irgendwie tröstet, du hast so einen gesunden Gerade-frisch-erstochen-Glanz.»

«Tja, dann war es wohl ein Fehler, dass sie die Nahaufnahmen vorhin schon gemacht haben.» Sie schnüffelte an ihrer Achsel, rümpfte die Nase und zuckte resigniert mit den Schultern. «Scheiße, ich brauche eine Dusche, und zwar pronto. Wenigstens sind wir für heute fertig.»

Carah brauchte im Grunde nie viel Input für eine Unterhaltung. Deshalb nickte er einfach.

«Nur noch eine Szene», fuhr sie fort. «In ein paar Tagen muss ich noch mal ins Studio, für meine Schwerttraining-Montage. Was ist mit dir?»

Marcus überlegte, ob die Worte, die sich in seinem Kopf formten, wirklich wahr sein konnten.

Aber ja, sie stimmten: «Nein, das war’s für mich. Meine Unsterblichkeitsszene haben sie schon vor der ‹Schlacht der Lebenden und Toten› gefilmt.»

Für ihn würde diese Szene heute seine letzte Erinnerung an den Dreh von Gods of the Gates sein, doch das Fernsehpublikum würde Aeneas’ Aufstieg zu vollem Gottstatus als letzten Eindruck von seiner Rolle erleben. Ambrosia, Nektar und ein ordentlicher Schluck aus dem Fluss Lethe anstelle von Blut, Schmutz und Verzweiflung.

Nach diesem besagten Schluck würde Aeneas sowohl Dido als auch Lavinia vergessen. Genauso wie die arme Anna.

Und sobald die finale Staffel gelaufen war, würden die Fans R.J. und Ron – die Hauptdrehbuchautoren, Produzenten und Macher der Serie – auf Conventions und im Internet auseinandernehmen. Aus gutem Grund. Die abrupte Kehrtwende, die Aeneas’ Charakter hingelegt hatte, war nur einer der unzähligen erzählerischen Ausfälle in den letzten Episoden. Marcus konnte sich gut vorstellen, wie viele entrüstete Fanfiction-Storys nach dem Finale erscheinen würden, um die Geschichte wieder zu richten.

Hunderte, wenn nicht gar Tausende.

Er selbst würde mindestens ein oder zwei davon verfassen, als Book!AeneasWouldNever, mit der Hilfe von Unapologetic Lavinia Stan.

Durch die letzten Rauchschwaden hindurch begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Schwerter auf dem Boden. Reste von zerrissenen Kostümen. Eine Plastikwasserflasche, die hoffentlich vor der Kamera verborgen geblieben war, lag hinter einem Dummy, der wie ein totes Mitglied aus Aeneas’ Flotte gekleidet war.

Sollte er ein Erinnerungsstück vom Set mitnehmen? Wollte er das überhaupt? Gab es etwas auf diesem stinkigen Feld, das nicht nur die mehr als sieben Jahre Arbeit bei der Serie erfassen konnte, sondern auch akzeptabel genug roch, um es daheim aufzustellen?

Nein. Nichts.

Nachdem er Carah ein letztes Mal fest umarmt hatte, machte er sich mit leeren Händen auf den Weg zu seinem Wohnwagen. Doch er wurde von einer Hand, die auf seine Schulter klopfte, aufgehalten, als er kaum ein Dutzend Schritte hinter sich gebracht hatte.

«Warte kurz, Marcus!», befahl eine nur allzu vertraute Stimme.

Als Marcus sich umdrehte, winkte Ron einige Kameras – die aus irgendeinem Grund wieder drehten – heran und rief auch Carah und die Crew-Mitglieder, die am nächsten standen, zurück.

Mist. In seiner Erschöpfung hatte er dieses kleine Ritual völlig vergessen. Angeblich sollte damit jeder Hauptdarsteller der Serie, der seinen letzten Tag am Set hatte, noch mal besonders geehrt werden. In Wirklichkeit war es Hinter-den-Kulissen-Bonusmaterial, das das Publikum dazu bringen sollte, DVDs oder Blu-Rays der Show zu kaufen oder zumindest mehr dafür zu bezahlen, diese Extras streamen zu können.

Rons Hand lag noch immer auf seiner Schulter. Marcus hatte sie nicht abgeschüttelt, aber er lenkte seinen Blick für einen Moment Richtung Boden. Er ordnete seine Gedanken und wappnete sich.

Bevor er sich endgültig verabschieden konnte, musste er noch eine weitere Rolle spielen. Eine, die er seit einem Jahrzehnt perfektioniert hatte und die er nach all der Zeit unbedingt hinter sich lassen wollte.

Marcus Caster-Rupp.

Freundlich. Eitel. So unterbelichtet wie das vernebelte Schlachtfeld um ihn herum.

Er war wie ein gut trainierter Golden Retriever: stolz auf die wenigen Tricks, die er auf wundersame Weise gelernt hatte.

«Als wir anfingen, nach unserem Aeneas zu suchen, wussten wir, dass wir einen athletischen Schauspieler brauchten. Jemanden, der überzeugend einen Anführer der Männer und einen Liebhaber der Frauen darstellen konnte. Und darüber hinaus …» Ron hob eine Hand, kniff in Marcus’ Wange und hielt lange genug fest, um womöglich die Hitze der plötzlichen Zornesröte zu spüren. «… wollten wir ein hübsches Gesicht. Und wir hätten kein hübscheres finden können, selbst wenn wir noch zehn Jahre weitergesucht hätten.»

Die Crew lachte.

Marcus’ Magen zog sich zusammen.

Ein weiteres Kneifen, und er zwang sich zu einem selbstgefälligen Grinsen. Zwang sich, sein Haar zurückzuwerfen, die Rüstung abzulegen und den unsichtbaren Zuschauern seinen angespannten Bizeps vorzuführen, während er sich aus Rons Reichweite schob. Der Showrunner und die Crew drängten Marcus, etwas zu sagen, eine Rede zu halten, um all die Jahre, die er bei der Serie verbracht hatte, zu würdigen.

Er sollte spontan reden. Würde dieser beschissene Tag denn niemals enden?

Doch seine Rolle umschloss ihn wie eine Umarmung. Vertraut, wenngleich zunehmend einengend. Innerhalb dieser Grenzen wusste er zumindest, was er zu tun hatte. Was er zu sagen hatte. Wer er zu sein hatte.

«Fünf Jahre ist es her …» Er wandte sich zu Ron. «Halt, warte, wie lange drehen wir jetzt schon zusammen?»

Sein Boss lachte nachsichtig. «Sieben.»

«Dann ist es sieben Jahre her.» Marcus zuckte unverdrossen mit den Schultern und strahlte in die Kamera. «Vor sieben Jahren haben wir mit den Dreharbeiten begonnen, und ich hatte keine Ahnung, was auf uns alle zukommen würde. Ich bin sehr dankbar für diese Rolle und für unsere Zuschauer. Da ihr ein …»  – er zwang sich dazu, es auszusprechen – «… hübsches Gesicht brauchtet, bin ich heilfroh, dass meines das hübscheste war, das ihr finden konntet. Ich bin nicht überrascht, aber froh.»

Er zog eine Augenbraue hoch, stemmte die Fäuste zu einer heroischen Pose in die Hüften und wartete auf das Gelächter. Das er diesmal bewusst und absichtlich hervorgerufen hatte.

Dieses kleine bisschen an Kontrolle half ihm, seinen Magen zu beruhigen – wenn auch nur ein wenig.

«Ich bin außerdem froh, dass ihr so viele andere hübsche Gesichter finden konntet, die an meiner Seite aufgetreten sind.» Er zwinkerte Carah zu. «Nicht so bezaubernd wie meins, aber gut aussehend genug.»

Weiteres Gelächter von der Crew und ein Augenrollen von Carah.

Jetzt konnte er gehen. Das war alles, was die Leute hier von ihm erwarteten – von seinen engsten Kollegen und einigen wenigen Crew-Mitgliedern einmal abgesehen.

Allerdings musste er noch eine Sache loswerden, denn es war trotz allem sein letzter Tag. Das war das Ende von sieben verdammten Jahren seines Lebens. Einer Zeit voll endloser, harter Arbeit, Herausforderungen und Erfolgen. Voll jener Freude, die dieser Job mit sich brachte. Und einer Zeit, in der er sich endlich, endlich erlaubt hatte, diese Erfolge als wertvoll und als die seinen zu betrachten.

Er konnte inzwischen reiten, als hätte er es schon sein ganzes Leben lang getan.

Die Schwertmeisterin hatte ihm verraten, dass er vom kompletten Cast am besten mit einem Schwert umgehen konnte und die flinksten Füße von allen Schauspielern hatte, die ihr je begegnet waren.

Und schließlich hatte er sogar gelernt, mit einer solchen Leichtigkeit Latein auszusprechen, dass selbst seine Eltern diese Leistung anerkannten – obwohl sie es als bittere Ironie empfanden.

Während seiner Zeit bei Gods of the Gates war er für fünf wichtige Schauspielpreise nominiert worden. Gewonnen hatte er natürlich keinen einzigen davon, aber er wollte daran glauben – nein, er glaubte, dass die Nominierungen nicht einfach ein hübsches Gesicht belohnten, sondern auch Talent würdigten. Die emotionale Tiefe einer Figur. Das Publikum mochte ihn für einen schauspielernden Idioten halten, der so etwas wie Intelligenz nachäffen konnte, auch wenn er selbst keine besaß. Doch er wusste, wie viel Arbeit er in sein Handwerk und seine Karriere gesteckt hatte.

Nichts davon wäre ohne die Crew der Serie möglich gewesen.

Er drehte sich von der Kamera weg, um ein paar dieser Menschen anzusehen und die Veränderung seiner Miene zu verstecken. «Abschließend will ich noch allen danken, die hinter den Kulissen der Serie tätig sind. Es gibt fast eintausend von euch, und ich … ich kann nicht –» Die aufrichtigen Worte verknoteten seine Zunge, und er hielt für einen Moment inne. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei irgendeiner anderen Show eine engagiertere, kompetentere Truppe gibt. An alle Produzenten, Stuntmen, Aufnahmeleiter, Dialekttrainer, Szenen- und Kostümbildner, Haar- und Make-up-Artists, Visual- und Special-Effects-Leute und all die anderen: Danke! Ich, ähm, schulde euch mehr, als ich es mit Worten ausdrücken kann.»

So. Es war vollbracht. Er hatte es geschafft, alles Wichtige zu sagen, ohne dabei allzu sehr ins Stocken zu geraten.

Er würde dieses Ende später betrauern und sich seine nächsten Schritte überlegen. Jetzt wollte er sich nur noch waschen und ausruhen.

Nach einer letzten Runde peinlichen Beifalls, ein paar Rückenklopfern, Umarmungen und Händegeschüttel machte er sich aus dem Staub. Erst zu seinem Wohnwagen für eine schnelle Katzenwäsche und dann zu seinem schlichten Hotelzimmer, wo eine sehr, sehr lange und wohlverdiente Dusche auf ihn wartete.

Zumindest hatte er geglaubt, er könnte so einfach verschwinden, bis Vika Andrich ihn kurz vor dem Eingang zur Hotellobby einholte.

«Marcus, haben Sie eine Minute?» Ihre Stimme klang seltsamerweise ganz entspannt, obwohl sie in mittelhohen Pumps über den Parkplatz gejoggt kam. «Ich habe ein paar Fragen zu der großen Sequenz, die Sie gerade drehen.»

Es überraschte ihn nicht allzu sehr, sie hier in Spanien anzutreffen. Ein- oder zweimal im Jahr tauchte sie dort auf, wo auch immer sie das Set aufgebaut hatten. Sie sammelte dann sowohl alle möglichen Eindrücke vor Ort als auch Interviews, und die Artikel auf ihrem Blog erfreuten sich jedes Mal großer Beliebtheit. Selbstverständlich wollte sie persönlich über das Ende der Dreharbeiten der Serie berichten.

Im Gegensatz zu anderen Reportern respektierte sie stets seine Privatsphäre, wenn er sie darum bat. Er mochte sie sogar. Da lag nicht das Problem.

Aber ihre übrigen Eigenschaften machten sie sowohl zu seiner liebsten Entertainmentbloggerin-Schrägstrich-Paparazza als auch zu seiner unliebsamsten: Sie war freundlich. Witzig. Und es war einfach, sich in ihrer Gegenwart zu entspannen. Viel zu einfach.

Sie war obendrein schlau. Schlau genug, um etwas … Seltsames … an ihm entdeckt zu haben.

Er schenkte ihr ein breites Lächeln und blieb stehen, nur Zentimeter von der Freiheit entfernt. «Vika, Sie wissen doch, dass ich Ihnen nichts darüber verraten darf, was in dieser Staffel passiert. Aber falls Sie denken, dass Ihre Leser mich mit Schlamm bedeckt sehen wollen», er zwinkerte, «und wir beide wissen, dass sie das wollen, dann machen Sie gern ein oder zwei Bilder.»

Er warf sich in Pose, präsentierte ihr seine Schokoladenseite und ließ sie einige Fotos schießen.

«Ich weiß, Sie dürfen mir keine Details verraten», sagte sie, während sie die Bilder prüfte, «aber vielleicht könnten Sie die sechste Staffel in drei Worten beschreiben?»

Er tippte sich gegen das Kinn und runzelte die Stirn. Er tat so, als ob er für einen Augenblick tief in Gedanken versunken wäre.

«Oh, ich weiß!» Er strahlte sie mit einem zufriedenen Lächeln an. «Letzte. Staffel. Überhaupt. Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter.»

Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn einen Wimpernschlag zu lange.

Im nächsten Moment musste er blinzeln, geblendet vom Strahlen ihres unschuldigen Lächelns.

«Ich schätze …» Sie brach ab, lächelte aber nach wie vor. «Ich schätze, ich muss einen der anderen Schauspieler fragen, inwiefern das Ende der Serie sowohl von E. Wades Büchern als auch von Homers Aeneis abweicht. Aeneas hat in beiden Geschichten schlussendlich Dido geheiratet. Aber vielleicht hat man sich in der Serie ja für einen alternativen Ansatz entschieden.»

Homer? Was zum Teufel?

Und Dido war schon lange, laaaaaange tot am Ende der Aeneis. Auf den letzten Seiten des dritten Gods-of-the-Gates-Buchs war sie zwar noch am Leben, aber definitiv nicht mehr an Aeneas interessiert. Obwohl Marcus vermutete, dass sich das noch ändern könnte, falls Wade die letzten beiden Romane der Reihe schließlich doch noch fertigschreiben würde.

Irgendwo stieß Vergil wahrscheinlich gerade lateinische Flüche aus, während er sich im Grab umdrehte; und E. Wade kämpfte auf ihrem großzügigen Anwesen auf Hawaii mit einem nervös zuckenden Augenlid.

Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn, wobei er geistesabwesend den Dreck unter seinen Nägeln registrierte. Verdammt noch mal, irgendjemand musste solche gravierenden Fehler doch richtigstellen.

«Die Aeneis wurde nicht …» Bei seinen ersten Worten zog Vika ihre Augenbrauen in die Höhe, ihr Handy begann mit der Aufnahme, und er durchschaute den Trick. Oh ja, er durchschaute ihn. «Die Aeneis habe ich leider nicht gelesen. Ich bin sicher, dass Homer sehr talentiert ist, nur habe ich mit Büchern allgemein nicht viel am Hut.»

Der letzte Teil war zumindest früher einmal wahr gewesen. Bevor er Fanfiction und Hörbücher für sich entdeckt hatte, hatte er außer seinen Drehbüchern kaum gelesen – und auch die hatte er nur so lange angerührt, bis er den Text gut genug kannte, um ihn aufzunehmen. Diese Aufnahme spielte er dann in Dauerschleife ab und hörte sich die Worte immer und immer wieder an.

Vika tippte auf ihren Handy-Bildschirm, und der Mitschnitt stoppte. «Danke, Marcus. Es war sehr nett, dass Sie mit mir gesprochen haben.»

«War mir ein Vergnügen, Vika. Viel Erfolg noch mit Ihren Interviews.» Mit einem letzten selbstverliebten Lächeln erreichte er das Hotel und schlurfte dann Richtung Fahrstuhl.

Nachdem er eingestiegen war und den Knopf für seine Etage gedrückt hatte, lehnte er sich schwer gegen die Aufzugwand und schloss die Augen.

Bald würde er sich mit seiner selbstinszenierten Rolle auseinandersetzen müssen. Wo sie lästig wurde, wo sie ihm nützlich gewesen war und wo sie ihm jetzt noch von Vorteil sein konnte – und sollte er sich ihrer entledigen wollen, musste er sich fragen, ob es die Konsequenzen wert wäre, die das sowohl für sein Privatleben als auch seine Karriere hätte.

Aber nicht heute. Verdammt, war er müde.

Zurück in seinem Hotelzimmer, fühlte sich die Dusche genauso gut an, wie er es gehofft hatte. Nein, sogar besser.

Anschließend fuhr er seinen Laptop hoch und ignorierte die Skripte, die ihm seine Agentin geschickt hatte. Sich das nächste Projekt auszusuchen – hoffentlich eines, dass seine Karriere in eine neue Richtung lenken würde – konnte warten, ebenso wie sein Twitter- und Instagram-Account.

Das Einzige, was noch passieren musste, ehe er etwa eine Million Jahre schlafen würde, war: Unapologetic Lavinia Stan eine Nachricht schicken. Oder Ulsie, wie er angefangen hatte, sie zu nennen, sehr zu ihrem Missfallen. Ulsie ist ein guter Name für eine Kuh. Und zwar ausschließlich für eine Kuh, hatte sie geschrieben. Aber sie hatte ihn nicht aufgefordert, damit aufzuhören. Also hatte er nicht aufgehört. Dieser Spitzname, den allein er benutzte, verschaffte ihm mehr Befriedigung, als er eigentlich sollte.

Er loggte sich auf dem Lavineas-Server ein, bei dessen Einrichtung er vor einigen Jahren geholfen hatte, damit ihn die lebhafte, talentierte und wahnsinnig treue Aeneas/Lavinia-Fanfic-Community nutzen konnte.

Auf AO3 versuchte er sich hin und wieder noch an Aeneas/Dido-Fanfiction, aber es wurde inzwischen immer weniger. Vor allem seit Ulsie die wichtigste Betaleserin und Korrektorin für alle Storys von Book!AeneasWouldNever geworden war.

Da sie in Kalifornien lebte, würde sie wohl noch bei der Arbeit sein. Sie könnte nicht umgehend auf seine Nachricht reagieren. Aber wenn er ihr nicht heute noch schrieb, hätte er ihre Antwort nicht direkt am nächsten Morgen in seinem Postfach – und genau das brauchte er. Mehr und mehr, mit jeder Woche, die verging.

Bald, sehr bald, würden Ulsie und er wieder in derselben Zeitzone sein. Im selben Land.

Nicht dass die Distanz wirklich von Bedeutung war, schließlich hatten sie sich noch nie persönlich getroffen.

Aber es war eben doch von Bedeutung. Irgendwie war es wichtig.

Fußnoten

[*]

Am Ende des Buches findet sich ein Glossar.

GODS OF THE GATES (BUCH 1) E. Wade

 

Die literarische Sensation, die als Inspiration für die weltberühmte TV-Serie dient

 

E-Book: $8.99

Taschenbuch: $10.99

Hardcover: $19.99

Hörbuch: $25.99

 

Wenn die Götter Krieg spielen, wird die Menschheit verlieren

 

Einmal zu oft musste Juno zusehen, wie Jupiter mit einer sterblichen Frau anbandelt – doch als sie ihn verlässt, kocht sein göttliches Temperament über. Ungeachtet der Konsequenzen schleudert er Blitze auf die Erde, die so mächtig sind, dass selbst die Unterwelt erbebt. Risse entstehen, die bis in den Tartaros, das Heim der bösartigsten Toten, reichen. Befreit aus ihrer ewigen Verdammnis, kehren sie auf die Erde zurück. Sie fordern Jupiter heraus – und stürzen die Menschheit ins Verderben.

Jupiter will seine grausame Macht bewahren und die Sterblichen retten, die er so gern in sein Bett lockt, jedoch nicht respektiert. So befiehlt er seinen göttlichen Gefährten, die neuen Pforten zur Unterwelt, die er in seiner gewissenlosen Wut erschaffen hat, zu bewachen. Aber die Unsterblichen kümmern sich lieber um ihre äonenlangen Fehden als um ihre Pflicht. Um die Menschheit zu retten, müssen daher auch Halbgötter und Sterbliche Wache an den Toren halten.

Unglücklicherweise hat Juno ihre ganz eigenen Pläne. Sie will den Tartaros unbewacht lassen. Denn: Die Menschheit soll zur Hölle fahren!

2

Dreck. Und noch mehr Dreck.

Aber dieser spezielle Dreck würde eine Geschichte erzählen, wenn April nur genau genug hinhörte.

Durch ihre Schutzbrille betrachtete sie die letzte Bodenprobe des Geländes und verglich die verschiedenen Brauntöne mit ihrer Farbkarte. Dann notierte sie den Wassergehalt, die Plastizität, die Beschaffenheit, Korngröße und -form sowie alle anderen relevanten Daten der Probe auf ihrem Feldformular.

Keine Farbveränderungen. Auch kein eigentümlicher Geruch, was sie nicht überraschte. Der von Lösungsmitteln wäre süßlich, wohingegen Benzin – na ja, nach Benzin stank. Eben wie alle Kohlenwasserstoffe. Blei hingegen würde einfach nach Dreck riechen. Genauso wie Arsen.

Nachdem sie die behandschuhten Finger am Oberschenkel ihrer Jeans abgewischt hatte, schrieb sie ihre Beobachtungen auf.

Normalerweise würde sie sich mit ihrem Assistenten Bashir über die nervigsten Kollegen oder den letzten Reality-Show-Marathon unterhalten. Aber um diese Zeit am Nachmittag waren beide zu müde für belangloses Geplauder, also beendete April schweigend ihr Protokoll, während Bashir das Etikett für das Probenglas beschriftete und das Formular zur Ergebnisdokumentation ausfüllte.

Nachdem April das Glas mit Erde befüllt und erneut ihre Hand an der Jeans abgewischt hatte, brachte sie den Aufkleber auf dem Gefäß an, ließ es in einen Zip-Beutel gleiten und stellte es in die mit Eis gefüllte Kühlbox. Noch eine letzte Unterschrift, um zu bestätigen, dass sie die Probe dem wartenden Labor-Kurier ausgehändigt hatte, und sie konnten für heute Schluss machen. Gott sei Dank!

«Das war’s?», fragte Bashir.

«Das war’s.» Sie sahen zu, wie der Kurier mit der Kühlbox verschwand. April stieß den Atem aus. «Ich kann hier aufräumen, wenn du dich ein paar Minuten ausruhen willst.»

Er schüttelte den Kopf. «Ich helf dir.»

Abgesehen von ihrer dreißigminütigen Mittagspause, hatten sie seit sieben Uhr morgens konzentriert durchgearbeitet, also fast neun Stunden. Ihr taten in ihren staubbedeckten Arbeitsstiefeln die Füße weh, ihre Haut brannte von der Sonne, und Flüssigkeitsmangel ließ ihren Kopf unter dem Schutzhelm schmerzhaft pochen. Sie war mehr als bereit für eine schöne, lange Dusche in ihrem Hotelzimmer.

Ihre Wange juckte, wahrscheinlich von einem Schmutzfleck. Das war schlecht, da es sich bei Boden-Haut-Kontakt, wie es in der Fachsprache hieß, um einen Expositionspfad handelte. Oder, wie April es nannte: keine gute Idee.

Sie öffnete ihre Wasserflasche, benetzte ein Papiertuch und wischte sich über die Wange, bis sie sich wieder sauber anfühlte.

«Du hast da …» Bashir kratzte mit seinem Finger an einer Stelle in der Nähe seiner Schläfe. «… noch was.»

«Danke.» Trotz der Kopfschmerzen war ihr Lächeln aufrichtig. Sie konnte die Anzahl ihrer echten Freunde in dieser Firma an einer Hand abzählen, und Bashir war einer davon. «Das war gute Arbeit heute.»

Sie rieb noch ein letztes Mal über ihr Gesicht, und Bashir nickte bestätigend – anscheinend war sie allen Dreck losgeworden. Dann landete das benutzte Papiertuch auf Nimmerwiedersehen im selben Müll wie ihre gebrauchten Handschuhe.

Der Boden hier war auf mehr als nur eine Weise verschmutzt. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts war auf diesem Gelände eine Pestizidfabrik betrieben worden, die die Umgebung mit Blei und Arsen vergiftet hatte. Deshalb hatte April die vergangenen Wochen damit verbracht, Bodenproben zu nehmen und sie auf beide Chemikalien zu prüfen. Sie wollte keine von beiden auf ihrer Haut haben. Eigentlich auch nicht auf ihrer Jeans, aber Papiertücher waren einfach lästig.

«Hab ich dir das eigentlich schon erzählt?» Während April ihre Unterlagen zusammensuchte, ließ Bashir ein verschmitztes Grinsen aufblitzen. «Letzte Woche hat Chuck der Neuen erklärt, dass man in einem potenziell kontaminierten Gebiet unter keinen Umständen Wasser trinken darf. Weil es unprofessionell ist und gegen Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien verstößt.»

Gemeinsam starrten sie auf die rote Kühlbox mit den Wasserflaschen, die April am Morgen auf die Ladeklappe ihres Trucks gestellt hatte.

«Chuck ist ein selbstgefälliger zweiundzwanzigjähriger Blödmann, der so gut wie keine Zeit im Außeneinsatz verbracht hat.» Angesichts ihrer deutlichen Ansage weiteten sich Bashirs Augen. «Er hat keine verdammte Ahnung, wovon er redet, und trotzdem erklärt er allen, wie sie ihre Arbeit erledigen sollen.»

Bashir schnaubte. «Nicht nur unsere Arbeit.»

«Oh Gott.» April verdrehte ihre Augen gen Himmel. «Hat er dir schon wieder einen Vortrag über Hummus gehalten?»

«Ja, obwohl ich nicht mal viel Hummus esse und mir Kichererbsen echt egal sind. Ich glaube, er geht einfach davon aus, weil …» Bashir deutete auf sich selbst. «Du weißt schon.»

Zusammen trugen sie die Unterlagen zum Firmentruck.

«Ich weiß», seufzte sie. «Bitte sag nicht, dass er dich überreden wollte, den …»

«Genau, den Schokoladen-Hummus zu probieren», bestätigte Bashir. «Mal wieder. Und falls du gern mehr über dessen Ballaststoffe und Proteingehalt erfahren möchtest oder vielleicht darüber, wie diese Version eine gigantische Verbesserung gegenüber dem traditionellen Hummus – dem Hummus deines Volkes, wie er gesagt hat – ist: Ich bin jetzt bestens informiert, und es wäre mir eine Freude, mein neu gewonnenes Wissen mit dir zu teilen.»

Er hielt ihr die Tür zur Beifahrerseite auf, und sie befestigte die Unterlagen an ihrem Klemmbrett.

«Oh Mann, es tut mir so leid.» Sie zog eine Grimasse. «Falls es dich irgendwie tröstet, er hat auch eine sehr genaue Vorstellung darüber, wie sich seine wenigen weiblichen Kolleginnen kleiden sollten, um mehr Aufträge zu ergattern.»

In einer kleinen Firma wie ihrer waren alle angehalten, sich um Kunden zu bemühen. Sie sollten sie in Mittagspausen und bei Geschäftstreffen umwerben, sie auf Kongressen und Konferenzen zu Reinigungstechnologien beiseiteziehen. April musste die Leute davon überzeugen, sie ernst zu nehmen und ihrem Unternehmen viel Geld für ihre geologische Expertise zu zahlen.

Um optimale Ergebnisse zu erzielen, musste sie auf eine bestimmte Weise aussehen. Auf eine bestimmte Weise klingen. Und sich stets so professionell präsentieren wie nur möglich.

Optimierung war in den letzten Jahren zu einem Schimpfwort geworden.

Der Ruf konnte in ihrer Branche ein zerbrechliches Gut sein. Er konnte ruiniert werden. Zum Beispiel durch die Enthüllung, dass eine scheinbar seriöse und erfahrene Kollegin sich gern als ihr Lieblingscharakter aus einer TV-Serie verkleidete und den Großteil ihrer Freizeit damit verbrachte, sich über erfundene Halbgötter auszutauschen.

Bashir verdrehte die Augen. «Natürlich hat er Vorstellungen zu deiner Kleidung. Das hast du dem Management erzählt, oder?»

«Ungelogen fünf Minuten später.»

«Sehr gut.» Bashir lief neben ihr her zurück zum Tisch mit den Proben. «Hoffentlich schmeißen sie ihn bald raus.»

«Er hat keine Ahnung. Er hat weniger als keine Ahnung, wenn das irgendwie möglich ist.» Sie zupfte an ihrem Shirt, um zu demonstrieren, dass es feucht an ihr klebte. «Ich mein, guck, wie viel wir heute geschwitzt haben.»

«Reichlich.» Er warf einen Blick auf sein eigenes schweißgetränktes orangefarbenes Shirt. «Ekelhaft viel.»

Sie hielt vor dem Tisch an und schüttelte den Kopf. «Irgendjemand muss es der Neuen noch mal richtig erklären. Wenn sie nicht wegen Dehydrierung im Krankenhaus landen will, sollte sie Wasser mitnehmen.»

Bashir neigte den Kopf. «Du musst es wissen.»

«Ich muss es wissen.»

Und das tat sie. Fast ein Drittel ihrer gesamten Arbeitszeit als Geologin hatte sie damit verbracht, im Windschatten von Bohrgeräten, wie sie auch hier eines hatten, über Bodenproben zu brüten, die protokolliert, in Gläsern gesammelt und zu Laboruntersuchungen weggeschickt werden mussten. Lange Zeit hatte sie diesen Prozess, die Herausforderungen und sogar die körperlichen Anstrengungen geliebt, die solche Außeneinsätze mit sich brachten. Ein Teil von ihr liebte es immer noch.

Aber nicht alles von ihr. Nicht genug.

Als sie den Tisch auf die Seite gelegt hatten und seine Beine einklappten, hielt Bashir inne. «Du gehst wirklich, oder?»

«Yup.» Heute war ihr letzter Tag im Außeneinsatz, ihre letzte Woche als Angestellte in einer Privatfirma und das letzte Mal, dass sie Dreck von ihrer Jeans waschen würde. «Ich werde dich vermissen, aber es war an der Zeit. Nein, es war eigentlich schon lange überfällig.»

In weniger als einer Woche würde sie von Sacramento nach Berkeley umziehen. Und in weniger als zwei Wochen würde Zukunfts-April ihren neuen Job bei der staatlichen Aufsichtsbehörde in Oakland anfangen. Sie würde dann die Arbeit von Leuten wie Gegenwarts-April beaufsichtigen, was bedeutete: mehr Meetings und Dokumentenprüfung und weniger Außeneinsätze.

Sie war so was von bereit – aus so vielen Gründen, persönlicher wie professioneller Natur.

Sobald Bashir und sie all ihr Material in den Truck verladen hatten, setzte sie ihre normale Brille auf und legte ihre Schutzausrüstung ab. Mit einem erleichterten Seufzer schnürte sie die staubigen Stiefel auf und deponierte sie in einer Plastiktüte. Anschließend schlüpfte sie in ihre abgetragenen, aber sauberen Sneaker. Bashir tat neben ihr das Gleiche.

Dann war alles erledigt. Endlich, endlich erledigt. Jetzt brauchte sie eine Dusche, einen Cheeseburger und mindestens fünf Liter eiskaltes Wasser. Und ein bisschen Lavineas-Fanfiction, ein paar Gruppenchats auf dem Server und PNs mit Book!AeneasWouldNever. Hoffentlich hatte BAWN geschrieben, während sie gearbeitet hatte.

Doch zuerst musste sie sich von Bashir verabschieden.

«Ich weiß nicht, ob du schon Pläne fürs Wochenende hast, aber Mimi und ich würden dich gerne zum Abendessen einladen. Um auf deinen neuen Job anzustoßen und Abschied zu nehmen.» Obwohl sie seit Jahren zusammengearbeitet hatten, war er immer noch so schüchtern, dass er nervös herumzappelte, während er die Einladung aussprach. «Sie weiß, dass du meine Lieblingskollegin bist.»

Das beruhte auf Gegenseitigkeit, und seine Frau Mimi war ebenfalls eine gute Freundin für April.

Trotzdem wussten die beiden nicht alles über sie. Insbesondere hatten sie keine Ahnung, dass sie die meisten ihrer Abende damit verbrachte, tief in das Gods-of-the-Gates-Universum einzutauchen: Sie twitterte über ihr OTP, ihr One True Pairing, das einzig wahre Traumpaar. Sie las und schrieb Fanfiction, fungierte als Betaleserin für die Geschichten anderer, chattete auf dem Lavineas-Server und arbeitete mit enormer Begeisterung und deutlich weniger Talent an Kostümen für ihr Lavinia-Cosplay.

Ein zufälliges Bild von einer Convention oder ein klitzekleiner Versprecher, und schon würde ihr Ruf darunter leiden. Sie könnte als albernes Fangirl abgestempelt werden, schneller als sie eine Bodenprobe nahm.

Deshalb hatte sie bisher auch noch nie eine Gods-of-the-Gates-Convention besucht. Sie hatte ihren Freunden bei der Arbeit nichts von ihrem Fan-Dasein erzählt. Nicht mal den Freunden, die sie so sehr mochte wie Bashir.

Die Kollegen bei ihrer neuen Stelle wiederum …

Der Unterschied in der Arbeitskultur könnte deutlicher nicht sein. Das Persönliche und das Professionelle schienen in der Aufsichtsbehörde untrennbar miteinander verbunden. Auf erfreuliche Art.

Wenn sie in weniger als zwei Wochen dort eintraf, würde sie das fünfte Mitglied in dem Geologen-Team werden. Die dritte Frau. Als sie letzte Woche da war, um ein paar Formalitäten zu erledigen, boten ihr die anderen Frauen, Heidi und Mel, ein Stück vom Kuchen an, den die Kollegen anlässlich des zehnjährigen Pärchen-Jubiläums der beiden mitgebracht hatten.

Mel und die zwei Jungs aus dem Team – Pablo und Kei – spielten sogar zusammen in einer Band. Einer verdammten Band. Sie traten anscheinend bei Pensionierungsfeiern und ähnlichen Veranstaltungen auf, bei denen man ihrer eigentümlichen Begabung für Folk Music nicht erfolgreich entgehen konnte.

Sie sind furchtbar, hatte Heidi geflüstert, den Mund halb hinter einer Wasserflasche versteckt. Aber sie haben so viel Spaß daran, dass wir nichts sagen.

In diesem Moment, in diesem tristen Büro, hatte sich etwas in April gelöst, das so lange so angespannt gewesen war, dass es beinahe gerissen wäre. Alle verbliebenen Zweifel waren plötzlich verschwunden.

Es war die richtige Entscheidung, den Job zu wechseln, trotz eines geringeren Gehalts. Trotz der Immobilienpreise in der Bay Area. Trotz der Mühen eines Umzugs.

In ihrem neuen Job würde sie nicht Teile von sich selbst verstecken müssen, aus Angst vor der Missbilligung der anderen. Ab nächster Woche gehörte Optimierung nicht länger zu ihren Sorgen.

Eigentlich …

Eigentlich kümmerte es sie bereits jetzt nicht mehr.

«Danke für die Einladung, Bashir.» Sie umarmte ihn, und er klopfte ihr dabei zögerlich auf den Rücken. «Ich bin dieses Wochenende leider schon verplant. Ich muss in die neue Wohnung und den Umzug vorbereiten. Allerdings bin ich Ende nächster Woche wieder in der Stadt, vielleicht können wir das Dinner dann nachholen?»

Als sie sich aus der Umarmung löste, lächelte er zufrieden zu ihr hinab. «Aber sicher. Ich kläre mit Mimi ihre Termine ab und schreibe dir später noch mal. Wir sind heute bei ihrer Familie zum Essen. Sie wohnen nicht weit weg von hier, daher mache ich mich direkt auf den Weg dorthin.»

Scheiß auf Optimierung, dachte sie.

«Ich werde den Abend wohl damit verbringen, mir einen Burger aufs Zimmer zu bestellen und Fanfiction zu Gods of the Gates zu schreiben!», teilte sie ihm mit. «Deine Feierabendpläne klingen definitiv aufregender.»

Einen kurzen Augenblick blinzelte er, dann ließ er ein schiefes Grinsen aufblitzen. «Das sagst du nur, weil du meine Schwiegereltern nicht kennst.»

Sie lachte. «Okay.»

«Bei unserem Abendessen will ich mehr über deine Schreiberei erfahren.» Er neigte den Kopf und musterte sie neugierig. «Mimi liebt diese Serie. Vor allem den gut aussehenden Kerl.»

«Marcus Caster-Rupp?» Im Grunde könnte jeder der Schauspieler gemeint sein, aber Caster-Rupp war zweifellos der hübscheste von allen. Und der langweiligste. So langweilig, dass sie sich manchmal wunderte, wie jemand, der so aufregend aussah, so entsetzlich einschläfernd sein konnte.

«Ja, genau der.» Er blickte schmerzerfüllt gen Himmel. «Er steht auf ihrer Freebie-Liste. Du weißt schon, sollte sie ihm jemals begegnen, darf sie … na ja. Jedes Mal, wenn wir uns eine Folge anschauen, betont sie das.»

April tätschelte seinen Arm. «Sie wird ihn niemals in echt treffen. Keiner von uns wird das, es sei denn, wir ziehen nach L. A. und fangen an, lebenswichtige Organe zu verkaufen, um uns einen Haarschnitt leisten zu können.»

«Hmm», seine Miene hellte sich auf, «das stimmt.»

Bevor sie das Gelände verließen, bedankten sie sich bei der Bohr-Crew. Danach verabschiedete sie sich abermals von Bashir, er stieg in sein Auto, und sie schwang sich hinter das Lenkrad des Trucks. Mit einem letzten Hupen machte sich April auf den Weg zum Hotel, während er zu seinen Schwiegereltern aufbrach.

Es fühlte sich an, als würden mit jeder Meile, die sie zurücklegte, unsichtbare Fesseln zerreißen, und sie blieb mit einer seltsamen, schwindelerregenden Leichtigkeit zurück. Gut, in ihrem Schädel brummte immer noch ihr ganz persönliches Bohrgerät, aber die Kopfschmerzen waren nichts, was sich nicht mit ein paar Gläsern Wasser richten ließe, kein Problem.

Und was machte es schon, dass ihre Jeans dreckverschmiert war? Nicht einmal kontaminierte Erde konnte die freudige Wahrheit überdecken.

Sie erhaschte einen Blick auf sich im Rückspiegel. Ihr Lächeln war so breit, dass sie in einem Zahnpasta-Werbespot hätte auftreten können.

Und das war kein Wunder. Gar kein Wunder.

Das war ihr letzter Tag im Dreck gewesen.

Die Zukunft begann jetzt.

· • ·

Zurück im Hotel, stopfte sie ihre Jeans in eine Plastiktüte und zog sich aus. In der Dusche schrubbte sie sich unter dem heißen Wasser, bis ihre Haut rot wurde.

Danach fühlte sie sich in ihrem sauberen Flanellpyjama wie in eine Wolke gehüllt. Sie stürzte ein Glas Wasser hinunter und las BAWNs letzte Nachricht. Endlich hatte er sich entschieden, wie er seine nächste Geschichte schreiben wollte. Die Themenvorgabe vom Montag für die kommende Aeneas-und-Lavinia-Woche verlangte einen Showdown zwischen Aeneas’ beiden Geliebten, und BAWN hatte tagelang darüber gegrübelt, wie man das am besten darstellen könnte.

Da sich die beiden Frauen bisher weder in den Büchern noch in der Serie über den Weg gelaufen sind, könntest du dir eine fluffige Alternate-Universe-Geschichte ausdenken. Das mache ich auch, hatte sie ihm heute Morgen vor der Arbeit geschrieben, wohl wissend, wie er auf einen solchen Vorschlag reagieren würde. Oder – und ich glaube, dass diese Idee für dich funktionieren würde – vielleicht könnte Aeneas von dem Showdown träumen? Dann könntest du kanontreu und bei seiner Perspektive bleiben. Was denkst du?

Letztere Option bot eine Fülle an Möglichkeiten für Drama und Angst, also hatte er sich selbstverständlich dafür entschieden. BAWN war wirklich ein einfühlsamer Autor, aber, das musste April zugeben: Einige seiner Texte waren echt deprimierend.

Mittlerweile allerdings nicht mehr ganz so sehr wie am Anfang. Damals quollen selbst seine Aeneas/Lavinia-Geschichten über von Schuld und Scham des Helden in Bezug auf Dido – sie lasen sich wie eine Mischung aus Grabgesängen, Scheiterhaufen und Klageliedern. Bei Aprils erster richtiger Unterhaltung mit BAWN auf dem Lavineas-Server hatte sie ihm, nur halb im Scherz, vorgeschlagen, einige seiner Storys mit dem Tag ‹Trübsal ahoi› zu kennzeichnen.

Schon für seine mentale Gesundheit war es besser, sich auf Storys zu konzentrieren, die Lavinia und Aeneas als Traumpaar zeigten. Eindeutig. Hin und wieder ein paar fluffige Texte zu schreiben, würde ihm ganz gewiss nicht schaden.

Heute Abend jedoch hatte sie keine Zeit, das Evangelium des Fluffs zu predigen. Als sie damit fertig war, ihre eigene Idee für eine süße AU-Geschichte – Lavinia und Dido treffen als Teenager in einem Quiz-Wettbewerb aufeinander, wobei ihre Gefühle für Aeneas das Frage-Antwort-Spiel mit jeder Runde angespannter und schräger werden lassen – zu beschreiben, stand sie kurz davor, den Mut zu verlieren. Schon wieder.

Bereits vor Monaten, als sie sich für den neuen Job beworben hatte, hatte sie die Entscheidung getroffen, sich nicht länger aus Angst vor der Missbilligung fremder Leute zu verstecken. Das galt auch für ihr Fan-Dasein.

Auf Twitter hatte sie ihre Cosplay-Fotos stets bearbeitet und ihr Gesicht unkenntlich gemacht, um berufliche Katastrophen zu vermeiden. Allerdings hatte sie ihren Twitter-Namen aus einem anderen Grund nicht mit den anderen Lavineas-Fans geteilt.

Wegen ihres Körpers.

Sie hatte nicht gewollt, dass ihre Online-Freunde und -Freundinnen ihren Körper in diesen Lavinia-Kostümen sahen. Vor allem der eine, dessen Meinung ihr mehr bedeutete, als sie eigentlich sollte.

Dafür dass diese Fan-Community Güte, Charakter und Intelligenz so entschieden über Aussehen stellte, fand sich in Lavineas-Fanfiction eine enttäuschende Fülle an Fatshaming. Nicht in BAWNs Texten, das musste sie ihm lassen. Aber in einigen seiner Lieblingsgeschichten, bei denen er ein Lesezeichen gesetzt und die er ihr weiterempfohlen hatte, kam es vor.

Nachdem sie ihr ganzes Leben gegen ihn gekämpft hatte, liebte April ihren Körper mittlerweile. Alles davon. Vom rothaarigen Scheitel bis hin zu den sommersprossigen, knubbligen Zehen.

Sie hatte dasselbe niemals von anderen Menschen erwartet. Das tat sie auch heute nicht. Aber sie hatte keine Lust mehr, sich zu verstecken, und sie hatte sowieso die Nase voll von kontaminierten, schmutzigen Hosen und von Kollegen, die sie immer auf Abstand hielt.

Dieses Jahr würde sie am größten Treffen ihrer Fangemeinde, der Con of the Gates, teilnehmen, die – passenderweise – immer in Sichtweite der Golden Gate Bridge stattfand. Zahllose Blogger und Reporter tauchten auf dieser Veranstaltung auf, und sie schossen Fotos, von denen sich am Ende immer einige viral verbreiteten, in Zeitungen veröffentlicht wurden oder über den Fernsehbildschirm flimmerten.

Es würde sie nicht kümmern. Nicht mehr. Wenn sich ihre Kollegen offen über ihre schlechte Folk-Band unterhalten konnten, dann konnte sie sich genauso gut über ihre Passion für die beliebteste Fernsehserie schlechthin auslassen.

Und wenn sie auf die Convention ging, könnte sie ihre Fan-Freunde endlich persönlich treffen. Vielleicht würde sie sogar BAWN gegenüberstehen, trotz seiner Schüchternheit. Sie würde ihnen allen die Gelegenheit geben, zu beweisen, dass sie die Botschaft ihres OTPs verstanden hatten.

Falls sie das nicht hatten, würde es ganz schön wehtun. Da konnte sie sich nichts vormachen.

Vor allem falls BAWN nur einen Blick auf sie werfen würde und dann …

Okay, es hatte keinen Sinn, sich über eine Zurückweisung Gedanken zu machen, die noch gar nicht stattgefunden hatte.

Im allerschlimmsten Fall müsste sie sich neue Freunde suchen. Eine andere Fan-Community, die akzeptierte, wer und was sie war. Es würde einen anderen Betaleser für ihre Storys geben, dessen Nachrichten ihr morgens einen Sonnenstrahl schickten und sie nachts wie eine warme Daunendecke einhüllten.

Es würde einen neuen Mann geben, den sie von Angesicht zu Angesicht in ihrem Leben – und vielleicht sogar in ihrem Bett – haben wollte.

Also musste sie es heute Abend tun, bevor sie die Nerven verlor. Es war nicht der letzte Schritt, nicht einmal der schwerste. Aber es war der erste.

Ohne groß darüber nachzudenken, öffnete sie einen Thread auf Twitter, der seit heute Morgen ziemlich aktiv war. Der Gods-of-the-Gates-Account hatte die Fans aufgefordert, ihre besten Cosplay-Fotos zu posten, und die Zahl der Antworten belief sich auf mehrere Hundert. Ein paar Dutzend Bilder zeigten Leute ihrer Statur, und April las die Kommentare zu diesen Tweets ganz bewusst nicht.

Auf ihrem Telefon hatte sie ein Selfie von ihrem neuesten Lavinia-Kostüm. Das Foto war unbearbeitet, ihr Gesicht und ihr Körper waren deutlich zu sehen. Ihre Kollegen, sowohl jetzige als auch zukünftige, würden sie erkennen. Ihre Freunde und Familie ebenfalls. Das Nervenaufreibendste von allem jedoch war: Falls sie ihm ihren Twitter-Namen verriet, würde Book!AeneasWouldNever sie zum ersten Mal sehen.

Tief einatmen.

Sie postete das Bild. Dann legte sie schnell ihr Handy weg, fuhr den Laptop runter und bestellte etwas vom Zimmerservice, weil sie es sich verdient hatte. Nach dem Abendessen begann sie mit ihrer fluffig-modernen Alternate-Universe-Story, damit BAWN ihr dazu übers Wochenende Rückmeldung geben konnte.

Kurz bevor sie ins Bett gehen wollte, hielt sie es nicht mehr aus.

Mit dem Finger in Position, bereit zum Blockieren, checkte April ihre Twitter-Benachrichtigungen.

Was zum Teufel? Was zum Teufel?!

Sie war viral gegangen. Zumindest für ihre bescheidenen Maßstäbe. Hunderte von Leuten hatten ihr Foto kommentiert, und jede Sekunde kamen mehr hinzu. Sie konnte die Benachrichtigungen gar nicht schnell genug lesen, wobei sie manche davon überhaupt nicht anschauen wollte.

Sie hatte gewusst, wie ein bestimmter Teil des Gods-of-the-Gates-Fandoms reagieren würde. Deshalb überraschte es sie nicht, verstreut zwischen bewundernden und ermutigenden Antworten auch ein paar hässliche Threads zu finden.

Sieht so aus, als hätte sie Lavinia gegessen, schien der beliebteste dieser Tweets zu sein.

So etwas versetzte ihr einen Stich, ganz klar. Allerdings konnte ein Unbekannter aus dem Internet ihr nicht ernsthaft wehtun. Nicht so, wie es Familie und Freunde und Kollegen könnten.

Trotzdem hatte sie nicht vor, sich derartig giftigen Bemerkungen länger als nötig auszusetzen. Es würde vielleicht ein wenig dauern, doch sie wollte jeden Troll blockieren.

Dennoch … Grundgütiger! Woher kamen denn bitte die ganzen Leute?

Es kostete sie Zeit, die Hater aus einem bestimmten Thread zu blockieren, genauso wie gewisse Schlüsselwörter aus dem Nutzvieh-und-Zootier-Bereich stumm zu schalten – zumindest für den Augenblick.

Als sie fertig war, hatte sie jede Menge neuer Benachrichtigungen, die größtenteils jedoch freundlich wirkten. Trotzdem wollte sie sich Twitter erst am nächsten Morgen wieder widmen.

Bis sie ganz oben eine Nachricht bemerkte, die nur wenige Sekunden zuvor eingetroffen war.

Der Account trug eine strahlend blaue Blase mit einem Haken darin. Ein offizieller, verifizierter Account also.

Marcus Caster-Rupps Account.

Der Typ, der Aeneas spielte – der fucking Aeneas –, hatte ihr geschrieben. Folgte ihr.

Und – er schien sie …

Nein, das konnte nicht stimmen. Sie musste halluzinieren.

Sie kniff die Augen zusammen. Blinzelte. Las es noch einmal. Ein drittes Mal.

Aus ihr unbekannten Gründen schien er sie …

Nun, es schien, als hätte er sie eingeladen. Auf ein Date.

«Ich habe so was schon mal als Fanfiction gelesen», flüsterte sie.

Dann klickte sie auf den Thread, um herauszufinden, was zum Teufel hier gerade passiert war.

LAVINEAS-SERVER,Privatnachrichten, vor zwei Jahren

Unapologetic Lavinia Stan: Ich habe gesehen, dass du einen Betaleser für deine Storys brauchst. Ich weiß, wir schreiben nicht die gleiche Art von Geschichten, aber falls du bereit wärst, meine auch betazulesen, bin ich interessiert.

 

Book!AeneasWouldNever: Hi, ULS. Danke für deine Nachricht.

 

Book!AeneasWouldNever: Es wäre vielleicht ganz gut, eine andere Sicht auf meinen Text zu bekommen. Also ich jedenfalls würde in unseren unterschiedlichen Stilen einen Vorteil sehen, keinen Nachteil. Es wäre wunderbar, wenn du mir bei meinen Fanfics hilfst, und ich lese deine Geschichten natürlich sehr gern als Beta.

 

Unapologetic Lavinia Stan: Oh, yay!

 

Unapologetic Lavinia Stan: Mein erster Vorschlag: Benutz den Tag «Trübsal ahoi!», damit deine armen Leser nicht versehentlich ihren ganzen Jahresvorrat an Taschentüchern innerhalb einer Geschichte verbrauchen. [*räuspert sich*] [*schnäuzt Nase*] [*starrt dich bedeutungsschwanger an*]

 

Book!AeneasWouldNever: Tut mir leid?

 

Unapologetic Lavinia Stan: Die gute Nachricht: Die Taschentuchindustrie ist gerettet!

 

Unapologetic Lavinia Stan: Die andere gute Nachricht: Deine Texte haben eine solche emotionale Wucht, dass es mir möglich war, mehrere ausgetrocknete Salzwasserseen wieder zu füllen.

 

Book!AeneasWouldNever:

Das ist etwas Gutes?

 

Unapologetic Lavinia Stan: Das ist etwas Gutes!

3

Natürlich hast du dich für die Variante entschieden, die nicht nur kanontreu ist, sondern auch noch vor Möglichkeiten strotzt, Seelenqualen zu schildern. Natürlich.

Marcus schnaubte und setzte sich im Bett auf.

Kaum hatte er in der frühmorgendlichen Dämmerung seines vorhangbewehrten Hotelzimmers die Augen aufgeschlagen, schon hatte er sich sein Handy gegriffen. Noch ehe sich sein Blick richtig klären konnte, hatte er bereits nach Nachrichten von Ulsie auf dem Lavineas-Server geschaut.

Obwohl man fairerweise sagen musste, dass diese unscharfe Sicht auch einfach ein Zeichen seines fortgeschrittenen Alters sein konnte. In ein paar Monaten wurde er vierzig, und vielleicht benötigte er mittlerweile Gleitsichtgläser. Denn selbst mit einer speziellen Schriftart und größerem Zeilenabstand fiel es ihm nicht immer leicht, am Bildschirm zu lesen.

Irgendwann Ende letzten Jahres hatte er endlich auch Ulsie gefragt, wie alt sie war.

Sechsunddreißig, hatte sie umgehend geantwortet.

Angesichts dieser Information hatte er einen verblüffend tiefen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, und er hoffte inständig, dass sie nicht log. Einige aus ihrer Gruppe hatten zwar gerade erst die Highschool beendet, aber er war sich fast sicher gewesen, dass Ulsie und er ungefähr im gleichen Alter waren – immerhin hatten sie schon mal gemeinsam überlegt, sich dem Akte-X-Fandom anzuschließen, da sie beide als Jugendliche für Scully und Mulder geschwärmt hatten. Trotzdem war die ausdrückliche Bestätigung, dass er keine privaten Nachrichten mit einem Beinahe-Teenager austauschte … gut.

Nicht dass es jemals irgendwelche Zweideutigkeiten zwischen ihnen gegeben hätte, weder öffentlich noch privat. Aber trotzdem.

Ulsies letzte Nachricht war erst vor wenigen Minuten eingegangen. Er war überrascht, dass sie noch wach war. Aber er war froh. Sehr froh.

Er schob sich ein Kissen in den Rücken und lehnte sich gegen das lederne Kopfteil. Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas, das neben seinem Bett stand, und lächelte immer noch über ihre bissige Bemerkung.

Er benutzte die Spracheingabe-Funktion seines Handys, um ihr eine Antwort zu schicken. Zumindest schreibe ich jetzt meistens Happy Ends. Sei nicht so streng mit mir. Wir können nicht alle Meister des Fluffs sein. Kurz darauf fügte er hinzu: Gehst du jetzt schlafen? Oder willst du noch über deine Geschichte sprechen und ein bisschen brainstormen? Falls du schon irgendwas geschrieben hast, schau ich mir das gern an.

Um genau zu sein, würde er es sich von seinem Computer laut vorlesen lassen. Bei kurzen Nachrichten kam er ohne technische Hilfsmittel zurecht, aber ausführlichere Textpassagen zu entziffern, kostete ihn zu viel Zeit. Vor allem wenn man bedachte, wie voll seine Drehpläne in letzter Zeit gewesen waren.

Im Prinzip hatte er im Moment wenig zu tun. Und bis am Nachmittag sein Flug zurück nach L. A. ging, hatte er nichts weiter geplant, außer das Frühstücksbuffet des Hotels zu plündern und ins Fitnessstudio zu gehen. Wenn er wollte, könnte er ihre Fanfic also wirklich mit eigenen Augen lesen. Doch über die Jahre hatte er gelernt, dass es keinen Grund gab, sich unnötig abzumühen oder sich Frust und Scham auszusetzen. Nicht wenn sich für sein relativ verbreitetes Problem relativ einfache Lösungen anboten.

Während er auf ihre Antwort wartete, checkte er seine Mails. Über Nacht hatte er anscheinend eine vertrauliche Mitteilung von R.J. und Ron erhalten, adressiert an die ganze Crew und den gesamten Cast.

In den vergangenen Tagen haben mehrere Blogs und Medienkanäle von Gerüchten über die Unzufriedenheit der Darsteller angesichts der Ausrichtung der letzten Staffel berichtet. Sollte jemand, der diese Mail hier liest, die Quelle solcher Gerüchte sein, möchten wir eins klarstellen: Das ist ein nicht hinnehmbarer Bruch sowohl unseres Vertrauens als auch des Vertrags, den ihr alle unterschrieben habt, als ihr für die Serie verpflichtet wurdet.

Wie üblich beinhaltet euer Job Diskretion. Wenn es euch nicht gelingt, diese notwendige Diskretion zu leisten, wird das Konsequenzen haben, wie in euren Verträgen festgehalten ist.

Okay, das war deutlich genug: Redet ihr außer der Reihe über die Show, müsst ihr mit Arbeitslosigkeit, einer Klage oder gar beidem rechnen. Mindestens einmal pro Staffel bekamen sie eine solche E-Mail, und jedes Mal war sie ähnlich formuliert.

Aber seit den letzten Staffeln hatte sich etwas verändert: Jetzt brachten ihn diese Nachrichten zum Schwitzen. Um seiner Kollegen willen. Und auch seinetwegen.

Würde Carah ihren Hass auf Didos Handlungsbogen in der finalen Staffel irgendwann jemandem außerhalb der Besetzung wie üblich mit zahlreichen Schimpfwörtern mitteilen? Hatte Summer sich enttäuscht darüber geäußert, wie abrupt die Liebesgeschichte zwischen Lavinia und Aeneas endete, auf eine Weise, die vollkommen unvereinbar mit ihren Charakteren war. Oder Alex …

Scheiße, Alex. Er konnte manchmal so leichtsinnig sein. So impulsiv.

Hatte er sich bei jemand anderem außer Marcus darüber aufgeregt, wie das Finale die über mehrere Staffeln mühsam aufgebaute Charakterentwicklung von Amor komplett versaut hatte?

Trotz seiner eigenen Unzufriedenheit hatte Marcus zu niemandem außer Alex ein Wort darüber verloren, obwohl …

Okay, manch einer könnte vielleicht behaupten, dass er mit seiner Fanfiction auf AO3 und den Nachrichten auf dem Lavineas-Server sehr viel gesagt hatte.

Und mit manch einem meinte er Ron und R.J.

Sollten sie jemals etwas über Book!AeneasWouldNever herausfinden, dann gäbe es wohl kein vielleicht mehr. Sie würden ihn definitiv einer Vertragsverletzung für schuldig befinden, und er würde …

Verdammt, er würde alles verlieren, wofür er seit über zwanzig Jahren hart gearbeitet hatte. Eine Klage wäre in diesem Fall wirklich sein kleinstes Problem. Sein Ruf in der Branche wäre in Sekundenschnelle ruiniert. Kein Regisseur würde einen Schauspieler engagieren, der die Produktion hinter den Kulissen schlechtredete.

Seine Schauspielkollegen würden sich höchstwahrscheinlich ebenso hintergangen fühlen. Genauso wie die Crew.

Er sollte sein Fanfiction-Alter-Ego besser aufgeben. Das wusste er. Und das würde er auch, das würde er wirklich, wenn ihm das Schreiben nur nicht so viel bedeuten würde, wenn ihm die Lavineas-Server-Gruppe nicht so viel bedeuten würde, wenn ihm nur Ulsie …

Ulsie. Oh Gott, Ulsie.

Er wünschte sich fast so sehr, sie persönlich zu treffen, wie er sich einen klaren Plan für seine Karriere und sein öffentliches Leben wünschte. Unter diesen Umständen jedoch würde das niemals passieren. Also würde er das genießen, was sie haben konnten. Was sie hatten.

Und das würde er keinesfalls aufgeben. Zum Teufel mit den Vertragsverletzungen.

Nachdem er die Mail von R.J. und Ron gelöscht hatte, ignorierte er den Rest der Nachrichten in seinem Posteingang und öffnete stattdessen Twitter.

Seine Benachrichtigungen waren voll von Kommentaren zu den Fotos, die Vika über Nacht gepostet hatte, wobei er mehrmals als «dirty boy» bezeichnet wurde. Außerdem gab es ein paar Bitten um Retweets, Geburtstagsgrüße und einige beeindruckende Beispiele von Fan-Art.

Nichts, was er beantworten müsste oder wollte. Im Grunde benutzte er den Account fast ausschließlich zu PR-Zwecken; er retweetete besonders schmeichelhafte Bilder, außerdem Hinweise auf seine Convention-Auftritte und die neuesten Episoden. Gelegentlich antwortete er auf die Tweets seiner Gods-of-the-Gates-Kollegen, aber das war’s auch schon. Seine Rolle als «gut trainierter Golden Retriever» aufrechtzuerhalten, war in echt bereits anstrengend genug; er hatte nicht die Absicht, diese Vorstellung im Internet fortzusetzen – zumindest nicht, solange das nicht absolut notwendig wäre.

Sein richtiges Online-Leben spielte sich auf einer Website ab. Okay, auf zwei Seiten: dem Lavineas-Server und AO3.

Ulsie hatte noch nicht auf seine Nachrichten reagiert. Verdammt.

Er würde noch ein paar Minuten abwarten, bevor er aufgab und zum Frühstück aufbrach. Seufzend scrollte er weiter durch seine Twitter-Benachrichtigungen, bis er bei denen ankam, die vor etwa einer Stunde gepostet worden waren. Er zögerte, als er über ein ungewöhnliches Wort stolperte.

Ferse. Nein, Färse.

Färse?

Stirnrunzelnd hielt er inne. Las den ursprünglichen Tweet.

Er stand mit dem Foto einer hübschen, kurvigen Rothaarigen im Lavinia-Kostüm in Zusammenhang. Sie hatte es offenbar auf eine Aufforderung des offiziellen Gods-of-the-Gates-Accounts hin gepostet, der nach Bildern von Fan-Cosplays gefragt hatte. Dann hatte irgendein Vollpfosten einen Kommentar an den Tweet der Rothaarigen geheftet, in dem er sie mit einer Kuh verglich.

Er hatte außerdem Marcus markiert, anscheinend wollte er sich gemeinsam mit seinem Lieblingsschauspieler darüber lustig machen, dass eine Frau wie – Marcus schaute auf ihren Twitter-Namen – @Lavineas5Ever glaubte, sie könne Aeneas’ Herzensdame verkörpern.

Sie hatte nicht reagiert, aber weitere Fanboys hatten sich dem ersten angeschlossen – und, oh verdammt.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Er konnte das nicht einfach ignorieren.

Am liebsten wollte er antworten: Sie ist verdammt hübsch, und ich will nicht der Lieblingsschauspieler solcher Arschlöcher sein. Also hör auf damit, Gods of the Gates zu gucken, und fick dich.

Seine Agentin würde tot umfallen, die Produzenten würden explodieren. Seine sorgfältig aufgebaute Rolle würde in unzählige Stücke zerbrechen und vielleicht nicht zu reparieren sein.

Er rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel und dachte intensiv nach.

Nach ein paar Minuten diktierte er seine richtige Antwort. Ich erkenne Schönheit, wenn ich sie sehe – wahrscheinlich, weil ich sie jeden Tag im Spiegel betrachten kann. @Lavineas5Ever ist umwerfend, und Lavinia könnte sich keine bessere Würdigung wünschen.

Er wollte es dabei belassen. Wirklich.

Aber, Herrgott noch mal, dieser Typ war ein totaler Vollidiot.

Komm schon, Mann, twitterte @GodsOfMyTaints nur einen Moment später. Lass diesen heuchlerischen Ritter-in-glänzender-Rüstung-Scheiß. Du würdest dich dieser Kuh doch auf keine 5 Meter nähern.

Der Mistkerl hatte die arme @Lavineas5Ever nach wie vor in seinem Tweet markiert, und Marcus hoffte sehr, dass sie diese Unterhaltung längst auf stumm gestellt hatte. Aber falls nicht, durfte er es nicht dabei belassen. Das durfte er einfach nicht.