The Upper World – Ein Hauch Zukunft - Femi Fadugba - E-Book

The Upper World – Ein Hauch Zukunft E-Book

Femi Fadugba

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Beschreibung

Zwei Gangs, zwei Zeiten, zwei Welten und eine Chance

Esso, ein afrikanischstämmiger Teenager aus dem Süden Londons, gehört zwar keiner Gang an, doch er ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Weil er zugesehen hat, wie ein berüchtigtes Gangmitglied zusammengeschlagen wurde, muss er um sein Leben fürchten. Als er vor ein Auto läuft und bewusstlos wird, entdeckt er, dass er Zugang zu einer anderen Welt hat – er kann dort Szenen seines zukünftigen Lebens sehen. Und etwas, was er unbedingt verhindern möchte.
Im Jahr 2035 kämpft Rhia mit anderen Problemen: Sie ist ohne Eltern aufgewachsen, ihr Fußballtalent ist die einzige Chance auf eine bessere Zukunft. Da bekommt sie einen neuen Schultutor: Esso. Niemand weiß, wo er herkommt, doch er trägt ein Bild von Rhias Mutter bei sich. Und er erzählt ihr, dass er ihre Hilfe braucht: Rhia ist seine einzige Hoffnung, sein Leben zu retten, das seiner Freunde und das seiner großen Liebe Nadia …

Femi Fadugbas spektakuläres Debüt: ein hoch spannender Zeitreise-Thriller mit politischer Botschaft, der alle Genregrenzen sprengt

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Seitenzahl: 456

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EIN HAUCH ZUKUNFT

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright Text und Illustrationen © Femi Fadugba 2021

The moral right of the author has been asserted.

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Die Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel »THE UPPER WORLD« bei Penguin Books Ltd, einem Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe UK.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Alexandra Ernst

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung einer Vorlage von Puffin in der Penguin Random House Verlagsgruppe UK

Umschlagillustration: © Michael Rogers, 2021

kk · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27779-6V003 www.cbj-verlag.de

Inhalt

Teil 1 · Entfernung

Teil 2 · Zeit

Teil 3 · Materie

Teil 4 · Energie

Die Nachberechnung

Anhang

Teil 1 Entfernung

Aus dem Notizbuch von Blaise Adenon: 1. Brief

Lieber Esso,

es war einmal eine Gruppe Gefangener, die in einer Höhle lebten.

Ihr ganzes Leben lang knieten sie im kalten Dreck, den Felsen vor Augen, die Ketten so eng um den Hals gewickelt, dass sie sich nicht einmal umdrehen und nachsehen konnten, wo das bernsteingelbe Licht in der Höhle herkam.

Jeden Tag sahen sie die Schatten, die das verborgene Licht hinter ihrem Rücken warf, über die Felswand zucken und tanzen. Sie studierten die Schatten, gaben ihnen Namen, beteten sie an.

Dann, eines Morgens, konnte sich einer der Gefangenen befreien. Er drehte sich zu dem hellen Licht am weit entfernten Ende der Höhle um, und er starrte es voller Staunen an und wollte unbedingt wissen, woher es kam, wohin es führte.

Seine Freunde, die noch immer angekettet waren, warnten ihn: »Bleib hier, du Narr! Du weißt nicht, wohin du gehst! Du wirst sterben, wenn du zu weit von hier fortgehst!«

Aber er hörte nicht auf sie.

Als er die Höhle verließ, verstand er nichts von dem, was er sah, nicht die Bäume oder die Seen, nicht die Tiere und auch nicht die Sonne. Die Energie strömte hier draußen so frei, dass es sich beinahe … falsch anfühlte. Aber mit der Zeit begriff er seine neue Realität, und er erkannte, dass sein ganzes Leben und alles, was ihm bislang in der Höhle widerfahren war, nur ein Schatten dieses größeren Ortes gewesen war.

Und er nannte diesen Ort die Obere Welt.

Er rannte aufgeregt zurück in die Höhle, um seinen Freunden die frohe Botschaft zu bringen. Aber als er ihnen erzählte, was er in der Oberen Welt gesehen hatte, lachten sie ihn aus und nannten ihn einen Verrückten. Und als er ihnen anbot, sie von ihren Ketten zu befreien, drohten sie ihn umzubringen.

Ein Mann namens Sokrates – ein Mann, der wirklich gelebt hat – erzählte diese Geschichte vor mehr als 2300 Jahren in Athen. Die meisten Leute hielten sie bloß für ein wunderliches Märchen, eine Metapher dafür, wie einsam man sich fühlen kann, wenn man ins Unbekannte vordringt. Aber was die Menschen noch heute dabei übersehen, mein Kind, ist, dass Sokrates wirklich an die Obere Welt glaubte. Und dass er, als er den Menschen erzählte, was er dort oben gesehen hatte, hingerichtet wurde.

Kapitel 1

Esso · Jetzt

Es braucht schon eine beeindruckende Mischung aus Dämlichkeit und Pech, um mitten in einen Bandenkrieg zu geraten, obwohl man nicht einmal Mitglied einer Gang ist. Ich schaffte das in weniger als einer Woche. Und das war noch vor der Sache mit dem Zeitreisen.

Ich kniete mich hin und lehnte mich mit den Ellbogen auf die einzige Ecke der Matratze, wo das Laken noch ordentlich festgesteckt war. Ich war in meinem Zimmer, ich war müde und allein und ich hätte dringend etwas himmlische Unterstützung gebraucht. Aber ich konnte mich nicht entscheiden, wen ich um Hilfe bitten sollte: Jesus, seine Mum, Thor, den Propheten Mohammed (und den großen Mann, für den er arbeitet), diesen asiatischen Kahlkopf in dem orangefarbenen Betttuch, den Dad von Jesus, Kaiser Haile Selassie, die Voodoo-Puppe meines Großvaters, Morgan Freeman oder den schwarzen Monolith auf dem Mond aus diesem alten Film 2001. Also betete ich zum ganzen Team, nur um sicherzugehen.

»Ihr heiligen Avengers«, flehte ich in meine verschränkten Finger. »Zuallererst: Vergebt mir, dass ich am Montag ein solcher Scheißer war. Und dass ich meine Mum angelogen und ihr nicht erzählt habe, was passiert ist.«

Montag (vor vier Tagen)

Bevor am Montag alles den Bach runterging, habe ich tatsächlich etwas in der Schule gelernt. Und zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wie Schule eigentlich immer sein sollte.

Die Penny Hill Secondary School stand auf der Grenze zwischen Peckham und Brixton. In den 1940ern, als die Schule errichtet wurde, war das kein Thema, aber es wurde eins, als sie von den Jungs überrannt wurde. Mittlerweile gab es in der Penny Hill Kids zweier rivalisierender Banden, die gezwungen waren, jeden Tag sieben Stunden miteinander zu verbringen, während von uns anderen erwartet wurde, dass wir mit dieser Faust im Nacken etwas lernten.

Unser Klassenzimmer bestand aus vier Reihen mit jeweils acht Schreibtischen. Die Decke war ein paar Handbreit zu niedrig, sodass man sich fühlte wie eine Henne in einer Legebatterie, wenn man wie ich in der Mitte saß. Miss Purdy war Leiterin der Sportabteilung und unterrichtete außerdem Mathe. Und sie konnte wirklich unterrichten, will sagen: Sie wusste, wovon sie redete, und wir waren ihr nicht scheißegal. In ihrer Klasse gab es deshalb die wenigsten Prügeleien und die besten Noten. Selbst meine Hausaufgaben landeten hin und wieder mit einer Zwei auf meinem Schreibtisch. Mathe hatte schon immer einen gewissen Reiz auf mich ausgeübt. Mein naives Ich träumte davon, dass ich eines Tages einen Haufen Geld haben würde, und alles nur wegen Mathe.

Ich habe immer die einfache Tatsache respektiert, dass zwei plus zwei vier ist. Die meiste Zeit schaltete ich ständig zwischen meinen verschiedenen Stimmen hin und her: meiner afrikanischen Zuhause-Stimme, meiner coolen Straßengang-Stimme, meiner Lesestimme in Englisch und der Telefon-Stimme, die ich hervorhole, wenn die Telefongesellschaft jemanden schicken soll, der den Router repariert. Mir gefiel es, dass so was in Mathe keine Rolle spielte. Die Lehrerin konnte mich für einen totalen Arsch halten, wenn sie wollte, aber zwei plus zwei war trotzdem immer noch vier.

Was ich an jenem Montagmorgen nicht ahnen konnte war, dass die dreiseitigen Formen, die Miss Purdy ans Whiteboard malte, mir die Augen für alle vier Dimensionen öffnen würden. Wenn mir jemand erzählt hätte, dass ich mich bis zum Ende der Woche wie ein Hellseher-Superheld bewegen würde, hätte ich ihm ins Gesicht gesagt, dass er auf Crack ist, und ihm die leer stehende Wohnung in Lewisham gezeigt, wo er mit seinesgleichen rumhängen konnte.

»Heute beschäftigen wir uns wieder mit dem Satz des Pythagoras«, sagte Purdy und kreiste eine Gleichung ein, die sie gerade an die Tafel geschrieben hatte. »Mit diesem Satz werden wir die Länge der längsten Seite in dem Dreieck darunter berechnen.«

Purdy wartete mit verschränkten Armen, dass es in der Klasse ruhig wurde.

»Schschsch!«, sagte Nadia, ruckte mit dem Kopf zu den beiden tratschenden Mädchen hinter ihr und warf ihnen einen bösen Blick zu.

Nadia war nun wirklich keine Streberin, und sie war auch nicht immer mit Feuereifer im Unterricht dabei. Aber die Probeklausuren für die GCSE-Prüfungen standen bevor, und sie wollte sich eindeutig nicht von irgendwelchen Kids, denen alles sonst wo vorbeiging, die Noten versauen lassen.

Ich starrte in die Ferne und legte dabei den starrenden Schmollmund-Blick auf, den ich heute Morgen im Spiegel geübt hatte. Nadias Augen mussten auf ihrem Weg zurück zum Whiteboard an mir vorbeikommen und ich wollte einen möglichst guten Eindruck hinterlassen. Echt jetzt, es ist so was von peinlich, wie oft ich diese Dinge mache, nur wegen ihr. Ich verbringe etwa sechzig bis siebzig Prozent meiner Zeit in der Schule entweder damit, a) wie ein Depp ihren Hinterkopf anzustarren, b) ihr aus dem Augenwinkel Blicke zuzuwerfen oder c) einen Schmollmund zu ziehen und zu hoffen, dass sie mich bemerkt, was ich nie wirklich erkennen kann, weil ich ja wie ein Aftershave-Model in die Ferne starre.

Purdy wandte sich mit zwei verschiedenfarbigen Markern in der Hand zur Tafel. »Damit das alles nicht so abstrakt klingt, nehm ich mal ein Beispiel aus dem Leben. Sagen wir, ihr geht durch den Burgess Park. Ihr fangt hier am Südtor an zu laufen und müsst die Straße hoch bis ans Ende der Old Kent Road. Es gibt eigentlich nur zwei Wege, die ihr nehmen könnt: den ersten, an der Seite hoch und dann oben entlang, wahrscheinlich viel zu lang für euch coole Kids.«

Sie wartete, ob jemand – irgendjemand – lachen würde. Nach einer langen, kalten Dosis aus Schweigen fuhr sie fort. »Tja, ist wohl ein harter Montag. Also, wenn man den langen Weg nimmt, muss man auf dem Gehweg bleiben und ganz bis nach oben gehen und dann die ganze Strecke nach drüben. Aber die Alternative, die kürzere Strecke, führt quer über den Rasen.«

Als sie ein paar Schritte beiseitetrat, sahen wir, dass sie an zwei Seiten des Dreiecks Zahlen geschrieben hatte, an die längste Seite aber ein Fragezeichen. Ein gemeinschaftliches Seufzen ertönte im Raum, als uns klar wurde, dass sie einen von uns verhören und praktisch bis aufs Hemd nach der Antwort ausfragen würde.

»Fangen wir mit der kürzesten Seite des Dreiecks an. Kann mir jemand sagen, was herauskommt, wenn ich die Zahl Drei zum Quadrat nehme?«

Nadias Hand schoss hoch – die einzige Stecknadel im Heuhaufen – aber Purdy ignorierte sie. Sie musste uns anderen auch hin und wieder eine Chance geben. Deshalb pickte sie jemanden heraus, der ihr viel weniger Aufmerksamkeit schenkte.

»Rob, wie viel ist drei zum Quadrat?«

Man hätte glauben können, Miss Purdy wäre aus Glas, denn Rob starrte geradewegs durch sie hindurch.

Bitte sag mir, dass du weißt, dass drei mal drei neun ist, flehte ich innerlich. Neben Kato war Rob mein bester Freund, und ich wusste, dass Mathe nicht sein Ding war. Um ehrlich zu sein, war die ganze Schule nicht unbedingt Robs Ding. Aber wenn man ihn nach dem Unterschied zwischen UK Drill, NY Drill und Chicago Drill fragte, verwandelte er sich in Einstein. Und wenn man ihm eine Geschichte erzählte, die man in den Abendnachrichten gehört hatte, dann fand er unter Garantie irgendeine geniale Möglichkeit, dieses Ereignis mit den Illuminati in Verbindung zu bringen und ihrem Bestreben, Menschen mit (mehr oder weniger) dunkler Hautfarbe und Osteuropäer zu vernichten. Rob war selbst Pole, aber das allein sagte überhaupt nichts über ihn aus.

Kato, der neben Rob saß, flüsterte ihm zu: »Afghanistan, Rob! Die Antwort lautet: Afghanistan. Ich schwör’s!«

»Afghanistan«, plapperte Rob gehorsam nach und präsentierte Purdy seine stolze Miene.

Sie blinzelte ungefähr drei- oder viermal aus lauter Verwirrung. Seine Antwort war so dermaßen daneben, dass ihr die Worte fehlten. Sie konnte nicht anders, als den Mund zuzuklappen und den Blick abzuwenden.

Kato lachte sich schlapp und wischte sich mit den Ärmeln die Tränen aus den Augenwinkeln. Für diesen Kerl war alles eine Lachnummer. Vielleicht, weil ihm alles im Leben so leichtfiel.

Rob funkelte ihn an und zog verächtlich die Luft durch die Zähne, bis ihm die Spucke herauslief. Manchmal fragte ich mich, ob unsere fragwürdige Freundschaft in drei Teile zerbrechen würde, wenn ich mal länger als eine Woche nicht in der Schule wäre. Aber jeder in der Penny Hill hätte geschworen, dass wir unzertrennlich waren – der fröhliche Dreierpack: Kato, Esso und Rob. Selbst wenn nur einer von uns Mist baute, bekamen es alle drei ab. »Das waren Kato, Esso und Rob!«, hieß es dann. Als ob alle drei Namen in meinem Pass stünden.

»Esso?« In Purdys Augen stand Verzweiflung.

»Man muss doch nur die Zahl mit sich selbst malnehmen?«, sagte ich. Ich wollte eigentlich nicht, dass meine Antwort wie eine Frage klang, aber meine Stimme setzte hinter das letzte Wort unwillkürlich ein Fragezeichen. Sie legte den Kopf leicht schräg und wartete auf meine endgültige Aussage. »Also drei mal drei, das macht neun«, setzte ich hinzu.

Sie jagte mich durch alle Schritte der Gleichung, bis ich sie in ihren Augen ausreichend gewürdigt hatte. »Also ist c – die lange Seite – gleich fünf« sagte ich schließlich.

Ich hatte die Antwort schon in meinem Kopf bereitgelegt, und während sie alles an die Tafel schrieb, debattierte ich mit mir selbst, ob ich die Frage stellen sollte, die sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Miss Purdy hatte uns am Anfang des Unterrichts erzählt, dass Pythagoras vor 2500 Jahren auf seinen berühmten Satz kam. Vor 2500 Jahren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Papier damals noch nicht erfunden war. Aber wie?

Mein Problem war, dass es eben doch dumme Fragen gibt, egal, was Erwachsene sagen. Tatsächlich brachten mir die meisten meiner Fragen einen Blick ein, der mir bewies, dass ich eine saudumme Frage gestellt hatte. In der Schule fing ich mir von den Lehrern eine Abfuhr ein, wenn ich eine Frage stellte, die nicht auf dem Lehrplan stand. Und zu Hause passierte mir das Gleiche, wenn ich meiner Mum Fragen über meinen Dad stellte. Jeder Satz, der mit »Warum« oder »Wie« anfing, war offenbar schrecklich, jedenfalls für eine gewisse Person.

Aber sobald eine Frage in meinem Kopf Gestalt angenommen hatte, musste dieses Loch gefüllt werden. Es war von Vorteil, dass mich Miss Purdy immer noch anlächelte, und dass sie es für gewöhnlich schätzte, wenn wir Mittelbänkler die Hand hoben. Scheiß drauf, dachte ich und räusperte mich. Was kann schon passieren?

»Wie ist Pythagoras überhaupt auf diese Gleichung gekommen?« Ich gab mir alle Mühe, gleichgültig zu klingen, während der Krater, in den die fehlende Antwort gehörte, sich jede Sekunde vergrößerte.

Etwas schnickte mir gegen das Ohr. Kurz und knapp und knisternd. War das … ein Papierkügelchen?

»Streeeeeeeeber«, grölte Kato. Ich drehte mich zu ihm und sah, dass er seine Finger um die Augen legte wie ein Brillengestell.

Rob lachte auch, gefolgt von der hinteren Hälfte der Klasse. Ich brauche neue Kumpels, entschied ich. Aber dann drehte sich Nadia mit dieser Mischung aus Überraschung und Anerkennung im Blick zu mir um; sofort war alle Peinlichkeit vergessen. Ich setzte wieder meinen Schmollmund auf.

Miss Purdy verbrachte die nächsten fünf Minuten damit, uns zu erklären, wie Pythagoras seine Idee mit den Dreiecken zu einem mathematischen Gesetz ausgearbeitet hatte, das für den Rest der Ewigkeit Gültigkeit haben würde, und zwar überall im Universum.

Sobald Purdy mit ihrer Erklärung1 fertig war, hatte ich ein Gefühl, als ob sich in meinem Kopf ein rostiger Riegel gelöst hätte. Und erst zum zweiten oder dritten Mal überhaupt in meinem Leben hegte ich die Hoffnung, dass ich vielleicht – nur vielleicht – in einer Welt lebte, in der es einen Sinn gab.

Als sie mir den Rücken zukehrte, googelte ich auf meinem Smartphone »Pythagoras«. Es stellte sich heraus, dass der Mann – wie die meisten richtig schlauen Leute – nicht mehr alle Tassen im Schrank gehabt hatte. Glaubte man dem Internet, hatte er einen Kult gegründet, in dem alle Jünger schwören mussten, niemals schwarze Bohnen zu essen oder in Richtung der Sonne zu pissen. Oh, und sie alle beteten die Zahl Zehn an und glaubten, wenn man den Schleier von dem, was wir als Realität betrachteten, wegzog, fand man bei näherem Hinsehen nichts weiter als Mathematik, denn das war angeblich die Sprache, in der die Götter das Universum erschrieben hatten.

Es gab auch ein paar Links zu einem von seinen Anhängern, einem Typen namens Platon, und einem anderen, der Sokrates hieß, aber die klickte ich nicht an. Das wurde mir alles irgendwie zu abgedreht und ich steckte mein Smartphone weg. Ich hatte Glück, dass Purdy mich nicht erwischt hatte. Ich wollte die Pluspunkte, die ich bei ihr gesammelt hatte, nicht gleich wieder aufs Spiel setzen.

Und dann kam Gideon Ahenkroh ins Klassenzimmer.

Obwohl er die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen hatte, konnte man Gideons Augen sehen, die auf den Boden vor seinen Füßen geheftet waren, während er zu seinem Platz ging. Wie bei jedem Schüler der Penny Hill hing seine Hose so tief es nur irgend ging auf seinen Hüften. Bei den Mädchen und ihren Röcken war es ähnlich, nur in die andere Richtung.

Rob, Kato und ich wechselten einen Blick. Und dieser Blick besagte: Ich merke es auch. Da liegt was in der Luft. Gleich passiert etwas total Irres. Wir drehten uns schnell wieder nach vorn, um nichts zu verpassen.

»Gideon, du kommst zu spät. Schon wieder«, sagte Miss Purdy. »Und du weißt doch: Keine Mütze im Unterricht. Nimm sie ab und setz dich, es sei denn, du möchtest dem Büro des Schulleiters schon wieder einen Besuch abstatten.«

Als Gideon seine Kappe abnahm, erklang aus einunddreißig Mündern ein schallendes Gelächter. Überall auf seinem Kopf prangten centgroße kahle Stellen, und jede einzelne Stelle glitzerte, als ob er Glitter in sein Haaröl gemischt hätte. D, der hinter ihm saß, hatte den besten Blick auf die Zickzacklinien, die über Gideons Nacken verliefen.

Wenn der Spruch »stille Wasser sind tief« auf einen Roadman zutrifft, dann ist dieser Roadman D. D war nie auf Ärger aus, der Ärger war auf ihn aus. Wenn er etwas sagte, was nicht oft geschah, fingen die Leute entweder an zu lachen oder sie nickten zustimmend. Oder aber sie rannten um ihr Leben. Alle in South London waren sich einig darüber, dass D und sein kleiner Bruder Bloodshed – beide Mitglieder einer Gang aus Brixton namens T. A. S. – die beiden hellhäutigsten Schwarzen waren, die je erschaffen wurden. Es war, als hätte jemand Young M.A dazu überredet, mit Fredo Babys zu zeugen, und dann mithilfe eines Wissenschaftlers alle Spuren von Drake und Chris Brown aus ihrer DNA entfernt. D war der stämmigere der beiden Brüder und trotzdem satte einsachtzig groß. Selbst wenn er saß, füllte er allein jeden Raum.

»Mann, das ist vielleicht ’n beschissener Haarschnitt«, sagte D. »Sag Bescheid, wenn ich die Gang mal zu deinem Friseur schicken soll. Niemand außer mir darf dich so verunstalten.« Er sackte auf seinem Stuhl nach unten und lachte über seinen eigenen Witz, wobei sein Goldzahn aufblitzte. Nach kurzem Zögern lachten wir auch, das war sicherer.

Plötzlich kam mir eine Idee, wie ich noch einen drauflegen konnte. Ein Teil von mir dachte: Nein, Esso, sei nicht so fies. Gideon hatte auch so schon keinen guten Morgen. Lass ihn in Frieden. Ich starrte Nadias Hinterkopf an und wusste genau, sie würde mir dasselbe sagen. Aber die verbleibenden neunundneunzig Prozent von mir schrien: Mach schon, Kumpel. Gib den Leuten, was sie wollen. Das ist Gottes Plan.

»Wahrscheinlich hat seine Mum sie ihm geschnitten«, sagte ich. »Sie weiß, dass sie nichts abkriegt, also will sie dafür sorgen, dass es ihm genauso geht.« Eine viel lautere Lachsalve wogte durch das Klassenzimmer. Ich ging ein ziemliches Risiko ein, wenn man bedenkt, wie rausgewachsen mein Fade Haircut mit den Twists aussah. Aber selbst D nickte anerkennend. Mission erfüllt.

Bis zur neunten Klasse war mir nicht klar gewesen, wie viel lustiger man wird, wenn man Macht hat. Ich war nur noch ein paar Sprossen von der obersten Stufe der Hierarchie der Penny Hill entfernt, was bedeutete, es wurde von den Leuten erwartet, dass sie über meine Witze lachten, besonders dann, wenn sie lustig waren.

Nadia allerdings lachte nicht. Eigentlich hätte ich gerechterweise einen Teil ihrer Missbilligung abbekommen müssen, aber nein, sie richtete ihre gesamte Verachtung auf D und starrte ihn mit einem Blick an, der Vibranium hätte schmelzen können. Er grinste nur und warf ihr eine Kusshand zu.

Für mich war es immer zum Totlachen, wie sehr die beiden einander hassten. Ich weiß noch genau, wie Ds Handy einmal im Unterricht anfing zu klingeln und Nadia, die merkte, dass Miss Purdy nichts dagegen tun konnte, einfach zu D ging, ihm das iPhone aus der Hand riss und es aus dem Fenster warf. Aus dem ersten Stock. Sie blieb sogar stehen und sah zu, wie es über den Asphalt hüpfte wie ein Kieselstein übers Wasser. D bildete sich ein, er hätte Macht über alle, und Nadia dachte, sie schuldete niemandem etwas. Also … Milch und Orangensaft.

Nadia war offenbar nicht die Einzige, die das nicht lustig fand. Miss Purdy hatte die Arme vor der Brust verschränkt und Gideons Kopf lag auf seiner Brust. Armer Kerl, dachte ich und war überrascht, wie sehr ich meinen Scherz bereute.

Aber Gideon Ahenkroh hatte eigene Vorstellungen davon, wie die Sache enden sollte. Er schoss aus seinem Stuhl hoch und einen Sekundenbruchteil später fühlte ich einen harten Aufprall auf meiner Stirn. Mein Blick wanderte nach unten und fiel auf einen weiß-orangefarbenen Klebestift, der über den Boden rollte.

Hat mir Gideon gerade einen Klebestift an den Kopf geschmissen?

Ich sprang ebenfalls auf und jagte ihm nach. Gideon täuschte einen Ausfall nach links an und rannte dann nach rechts. Bis ich die Richtung gewechselt hatte, war er schon zur Tür hinaus.

»Wir seh’n uns, du Arsch!«, schrie ich ihm nach. Aus irgendeinem Grund wird meine Stimme beim Fluchen immer irgendwie schrill und amerikanisch. »Warum rennst du weg? Komm, dann erledigen wir das hier und jetzt, Bro!«

Ich hörte Rob und Kato hinter mir kichern. Sie wussten besser als jeder andere, dass ich Gideon kein Haar krümmen konnte. Ich hatte den Körperbau eines Bleistifts; die meisten Siebtklässler hätten mich locker vermöbeln können.

Ich drehte mich zu Miss Purdy um, deren Gesicht neonpink angelaufen war.

»Komm wieder rein und setz dich, Esso! Sofort!«

Und so bekam ich meinen ersten Verweis.

Und damit begann die verrückteste Woche meines Lebens.

Mittwoch (vor zwei Tagen)

Die Penny Hill Secondary School war zu geizig, um Briefe per Express zu verschicken. Und da ich den Verweis am Montag gekriegt hatte, wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass der Brief nicht vor Mittwochmorgen ankommen würde.

Am Mittwochmorgen sah ich, wie der Brief durch die Klappe in unserer Haustür geflogen kam, und schnappte ihn mir, noch bevor er auf dem Boden landete. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, ihn zu öffnen, sondern schob ihn nur ganz tief in den Müllcontainer draußen und ging einfach weiter. Mission erfüllt.

Na ja, fast. Der Postbote kam eine Stunde zu spät, was bedeutete, dass ich eine Stunde zu spät in die Schule kam.

Und schon hatte ich meinen zweiten Verweis.

Aber das erschütterte mich auch diesmal nicht besonders. Ich hatte ein System: Die Schule schickte den Brief an diesem Mittwochnachmittag ab, also kam er am Freitagmorgen an. Hoffentlich war der Postbote das nächste Mal pünktlich und warf die Post ein, bevor ich zur Schule musste. Aber selbst wenn nicht, meine Mum hatte Ende der Woche Nachtschicht, also konnte ich in der Mittagspause heimlaufen und ihn abfangen, bevor sie wieder aufstand.

Mum und ich kamen im Moment gut miteinander klar. Sie hatte mir ein bisschen was davon erzählt, was sie in meinem Alter angestellt hatte, und es war irgendwie cool, eine alberne Seite an ihr zu entdecken. Außerdem traute sie mir zu, dass ich die Wohnung in Ordnung hielt, dass ich nachts die Haustür zweimal zuschloss, und sie stellte keine Fragen mehr, wenn ich am Wochenende spät nach Hause kam. Warum sollte ich das aufs Spiel setzen? Zumal ich mir schon genau ausgerechnet hatte, wann der Brief kam und dass sie von der ganzen Sache nie etwas erfahren würde.

Am Mittwochabend beschloss ich, meine neu entdeckte Unbesiegbarkeit zu feiern, indem ich mit Spark im West End einkaufen ging. Seine neuen Air Max waren einfach krass. Wenn ich es mir recht überlegte, konnte ich mich gar nicht daran erinnern, wann ich Spark das letzte Mal in einem alten Paar Schuhe oder ohne einen schwarzen Trainingsanzug gesehen habe – die Ganzjahreskluft eines Roadmans.

Spark reichte die Sportschuhe Größe acht der Kassiererin bei NikeTown, die sofort die 160 Pfund in ihre Kasse tippte. Spark zog eine Kreditkarte aus der Tasche seiner Hose, die – auch nachdem er sie hochgezogen hatte – immer noch zu baggy für seine kurzen Beine war.

Nach der fünften Karte und dem achten Versuch gab das Kartenlesegerät auf. Es war ja auch nicht so leicht, sich die ganzen PINs zu merken, besonders, weil die meisten davon gar nicht Spark gehörten.

Die Kassiererin kicherte und schaute mich an. »Sieht so aus, als müssten Sie Ihrem kleinen Freund aushelfen.«

Als ihr das Wort »klein« über die Lippen kam, fiel meine Kinnlade nach unten.

Dann fing mein Herz an zu rasen.

Spark war mein Freund. Und er war nett, wenigstens zu mir. Er und ich wohnten im selben Wohnblock, seit wir sechs waren, was bedeutete, dass ich ihn gut kannte. Sehr gut sogar. Wenn meine Mum mir nicht immer wieder verboten hätte, mit ihm abzuhängen, wären wir jetzt Blutsbrüder. Ich hatte mal diesen Spruch gehört: Wir alle tragen einen Eimer auf unserem Kopf, und jeden Tag leeren die Leute ihre Scheiße hinein, ob es ihnen bewusst ist oder nicht. Die meisten von uns sind mit tiefen, breiten Eimern gesegnet, was bedeutet, dass es nicht ganz so dicke kommt, wenn wir mal die Beherrschung verlieren. Und dann gibt es Kids wie Kyle »the Spark« Redmond, die anstatt eines Eimers einen Teelöffel auf dem Kopf haben.

Ich verabredete mich nur ungefähr alle zwei Monate mit ihm, und normalerweise entfernten wir uns nie so weit aus unserem Viertel. Jetzt wusste ich auch wieder, warum.

Spark riss der Kassiererin den offenen Schuhkarton aus der Hand und schleuderte ihn quer durch den Laden. Ich griff blitzschnell ein; ich musste ihn vom Tresen wegzerren und aus dem Geschäft bringen, bevor er uns beiden den Abend verdarb.

Bis wir in der Tottenham Court Road ankamen, hatten sich uns fünfzehn von Sparks Kumpeln angeschlossen, alle von Kopf bis Fuß in Schwarz, und verstopften den ohnehin belebten Gehsteig. Schon bevor wir im NikeTown waren, hatte Spark mir gesagt, dass wir uns noch »mit ein paar Freunden« treffen würden, aber er hatte mir verschwiegen, dass er den ganzen Trupp herbeizitiert hatte. Alles Jungs aus Peckham – East Peckham, um genau zu sein, eine noch härtere Truppe als die T. A. S.-Boys, mit denen D unterwegs war. Ich hatte den einen oder anderen über die Jahre mal kennengelernt, aber offenbar keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, denn niemand kannte meinen Namen. Einer von ihnen, ein schielender Kerl mit einem Pflaster auf dem Kinn, starrte mich ständig an, als ob ich der Party-Crasher wäre. Ich stupste Spark an, der dem Kerl was ins Ohr flüsterte, woraufhin er mich ignorierte wie die anderen auch.

Leute, die nicht aus dem Viertel kommen, kennen gewöhnlich nur zwei Sichtweisen. Auf der einen Seite gibt es die, die ständig übertreiben. Diejenigen, die meinen, dass man im Kugelhagel steht, sobald man aus der Brixton Station kommt. Aber ich kenne jede Menge Typen, die ihr ganzes Leben lang in South London gelebt haben und noch nie ein Verbrechen mitangesehen haben. Tatsache ist, dass man hier mehr Leute mit Bibeln, Diplomen und Tüten voller Kochbananen trifft als Kriminelle mit Waffen, was auch der Grund ist, warum Mum hierhergezogen ist. Aber das andere Extrem sind diejenigen, die Roadmen bei uns viel weniger ernst nehmen als die Typen in den amerikanischen Rap-Videos. Vielleicht liegt es daran, dass die Mörder hierzulande fünfzehnjährige Kids in Trainingsanzügen sind. Oder vielleicht, dass diese Kids lieber Messer nehmen als Schusswaffen (und die Leute sich nicht klarmachen, was es heißt, einem Jungen so nah zu kommen, dass man ihn umarmen kann, und ihm dann ein Messer ins Herz zu stechen). Oder vielleicht sind sie auch der irrigen, aber weitverbreiteten Annahme erlegen, dass niemand mit einem britischen Akzent dermaßen abdrehen kann, trotz allem, was die Geschichte uns lehrt.

Egal, wer recht hat, die Regeln zum Überleben sind einfach und unveränderlich: Häng nicht mit einem Roadman ab. Und wenn du wie ich keine Wahl hast, weil du mit ihnen aufgewachsen bist und hin und wieder einen auf der Straße triffst: Sei dir ganz genau bewusst, was geht und was nicht geht.

Ich wusste selbst nicht genau, was ich von Spark und seinen Jungs halten sollte. Ein Teil von mir sah in ihnen nur vergeudetes Potenzial. Aber ein anderer Teil betrachtete sie als kostbare Edelsteine – deren Geschichten so rein und ursprünglich waren, dass, sobald einer von ihnen einen Song online stellte, sich in Lancashire Tausende von Kids einloggten und zuhörten. Die meisten, die in dieser Nacht durch die Straßen liefen, waren noch nicht ausgewachsen und hatten Pickel auf der Stirn. Aber trotzdem vertickten sie gemeinsam in einem Jahr vermutlich mehr verschreibungspflichtige Substanzen als jede Online-Apotheke. Das waren keine Jungen. Das waren keine Männer. Es waren Legenden der Straße.

Jeder hatte eine Geschichte, die ihn begleitete: Bewährungsauflagen, die ignoriert wurden; ein Überfall auf ein Crack-Haus; eine Meldung in den Abendnachrichten. Die Welt hatte sie schon vor Jahren auf die Müllhalden verbannt und nicht bedacht, dass irgendwann irgendjemand auf die Idee kommen könnte, mit dem ganzen rostigen Zeug, das dort herumlag, einen Speer zu bauen, dann eine Kanone, dann eine Festung. Ich muss zugeben, dass es sich gut anfühlte, mit dieser Festung aus Gangmitgliedern, die zu den härtesten in London gehörten, unterwegs zu sein. Behütet und gleichzeitig verdammt bedrohlich.

Trotzdem hätte ich mir auf der Stelle eine Ausrede einfallen lassen müssen, um abzuhauen. Ich hätte mal kurz nachdenken müssen, welche Wendung dieser Abend nehmen konnte, um zu einem Albtraum zu mutieren – dieser Abend, diese Woche, mein ganzes Leben. Ich hätte in den Bus steigen und nach Hause fahren sollen.

Aber ich tat es nicht. Denn als ich mit dieser aggressiven Truppe durch die Straßen zog, konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass Spark mich nicht für einen Streber hielt. Auch als wir noch klein gewesen waren und einen weichen Fußball gegen die Mauer des Parkplatzes getreten hatten, war alles andere unwichtig gewesen. Und wie jeder andere von seinen Kumpeln wusste auch ich an diesem Abend, dass Spark für mich sterben würde – ohne ein »Bitte« oder »Danke«. Es spielte keine Rolle, dass er der Kleinste von uns war, der mit dem zarten Gesicht. Ich blieb bei ihm, denn trotz all seiner Fehler war Spark der Typ, bei dem man bleiben wollte.

»Bro, wenn Finn erst gelernt hat, die Macht zu benutzen, dann geht er direkt auf die dunkle Seite. Ohne drüber nachzudenken.« Die Stimme kam aus der vorderen Reihe des Mobs.

Der Junge neben ihm dröhnte: »Ich bin so cool wie Boyega, Mann, voll auf Star Wars.«

»Scheiße, stellt euch das vor«, erwiderte der erste mit einem Lächeln auf dem Gesicht. »Man könnte mit der Macht den Leuten bei Cantor’s die Chicken Wings von den Tellern klauen.«

Die Hälfte der Meute kicherte, und der nächste Junge meldete sich zu Wort: »Oder mit Jedi-Tricks die Weiber dazu bringen, die Telefonnummer rauszurücken.«

Und der Nächste: »Oder einen mit dem Lichtschwert vom Auto aus kaltmachen.«

»Das wär’n cooler Film, Mann. Dafür würd ich Schlange stehen«, sagte derjenige, der das Gespräch angefangen hatte. Sein Lächeln verblasste und er blieb abrupt stehen. Gleichzeitig schlug er mit dem Arm dem Typen neben sich vor die Brust. »Hey, den Bruder da kenne ich.« Er kniff die Augen zusammen und schaute noch ein paar Sekunden länger hin. Dann deutete er mit dem Finger in die Richtung. »Das ist Bloodshed, der T.A.S.-Typ aus Brixton. Er und dieser Scheißkerl Vex haben letztens ’nen Kumpel von mir umgelegt, viel jünger als die.«

Der Junge mit den Mini-Speakern drehte die Musik leiser, als eine hochgewachsene Gestalt durch die Drehtür bei McDonalds kam. Ziemlich hellhäutig.

Bitte, lass das nicht Bloodshed sein, betete ich.

Bloodshed, ein Spitzname, über den man lachte – bis man erfuhr, wie er dazu gekommen war.

Als wir näher kamen, fiel mein Blick auf die unverkennbaren Tattoos auf seinen Fingern. Und wir alle sahen, wie sich Bloodsheds Gesicht vor Panik weitete.

Scheiße, dachte ich. Denk nach, Esso, denk nach! Ich scrollte in meinem Kopf durch die Möglichkeiten, die mir einfielen. Ich konnte weglaufen. Aber dann musste ich mit dem Geflüster und den verächtlichen Blicken leben, die mir folgen würden, sobald ich das Haus verließ. Ich konnte mich ans Ende der Gruppe zurückfallen lassen, mich ducken und beten, dass Logik, Mitgefühl oder irgendein Wunder verhindern würde, dass diese Jungs taten, was sie tun wollten.

Oder ich konnte lügen, lautete mein letzter, verzweifelter Gedanke.

»Nee, ich glaube nicht, dass er das ist«, sagte ich und senkte meine Stimme ein paar Nuancen. »Ich finde, wir sollten zum Leicester Square zurückgehen.«

Aber sie alle drängten vorwärts, als ob meine Worte nicht mehr gewesen wären als ein Schulterklopfen. Für sie war es leicht. Sie mussten ja auch nicht am nächsten Morgen in der Schule D gegenübertreten und erklären, warum wir seinen kleinen Bruder vermöbelt hatten. Sie waren hierfür geschaffen. Ich nicht. Ich hatte keine Kriegsverletzungen, hatte mir keinen Rang in der Gang erkämpft, verdiente mir nicht meinen Lebensunterhalt mit Dealen – und hatte auch keine Lust, das jemals zu tun.

»Was!«, brüllte der Erste in unserer Gruppe, als wir vor Bloodshed angekommen waren. Und dann kläfften alle, die neben und hinter mir standen, das Gleiche:

»Was!«

»Was!!«

»Was!!!«

Der Junge rechts von mir machte mit seinen Fingern ein Zeichen, das Bloodshed sofort erkannte. Und Bloodshed, der uns um einen halben Kopf überragte, sah aus wie ein Jagdhund, der in einen Zwinger voller halb verhungerter Pitbulls geraten war. Er war der Typ, der es locker mit fünf Gegnern gleichzeitig aufnehmen konnte. Aber nicht mit fünfzehn.

Spark war ans Ende der Gruppe zurückgefallen und hatte den Anfang der Action nicht mitbekommen. In seinem Gesicht sah ich die FOMO. Er rannte auf unseren dicht gedrängt stehenden Haufen zu, und als er am Rand angelangt war, blieb er nicht etwa stehen, sondern stieß sich ab, sprang hoch und flog mit einem ausgestreckten Arm auf Bloodshed zu.

Das Echo des Schlags vibrierte in meinen Knochen, und einen Moment lang herrschte ehrfürchtige Stille angesichts der Respektlosigkeit, die Spark seinem Opfer gerade entgegengebracht hatte.

»Was sagst du jetzt?«, höhnte Spark.

»Pussy!«, schrie jemand und versetzte Bloodshed einen schnellen Schlag gegen die Schläfe. Dann hieb eine Faust auf seinen Körper ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits zusammengerollt auf dem Boden lag. Und noch eine. Das Blut, das in Bloodsheds Gesicht zirkuliert war, sammelte sich in den Abdrücken von Fingerknöcheln auf seiner Stirn, sodass seine restliche Haut eine grünliche Sandfarbe bekam.

Sparks Kumpel, der mit den langen Dreadlocks, griff in die Tasche seines Gucci-Trainingsanzugs. Er grinste wie ein Mann, der seine Entscheidung längst getroffen hatte und damit äußerst zufrieden war, dem Universum aber ein paar Sekunden Zeit lassen wollte, um einen Grund zu finden, warum Bloodshed nicht Bekanntschaft mit seinem Klappmesser machen sollte.

Dieser Grund kam glücklicherweise in diesem Moment vorbei, und zwar in Gestalt von drei irrsinnig heißen Mädchen. Ihre Haut schimmerte, und sie zeigten, was sie hatten. An der Art, wie kunstvoll sie den Haaransatz gegelt hatten, merkte man gleich, dass sie aus dem East End kamen.

»Scheiiiiiiiße!«, schrien zwei Jungen gleichzeitig, was zu einer Kettenreaktion innerhalb der restlichen Gruppe führte. Die beiden größeren Mädchen machten gelangweilte Gesichter, aber die Kleinere konnte ihr breites Lächeln kaum verbergen. Alle wandten ihre Aufmerksamkeit von Bloodshed ab hin zu den Mädchen.

Alle bis auf mich. Was dazu führte, dass Bloodsheds Blick, mit dem er hektisch nach einem Ausweg suchte, auf mich fiel.

Verdammt noch mal!

Ich drehte ruckartig den Kopf zur Seite und betete, dass er mich nicht erkannt hatte. Aber ich wusste, das Gebet war vergebens. Wie hätte er mich auch nicht erkennen sollen? Ich war schließlich dabei gewesen, als D ihm das Radfahren beibrachte. Mir dämmerte, dass es nichts gab, was ich sagen oder tun konnte, um Bloodshed davon zu überzeugen, dass ich unschuldig war. Es gab keinen Ausweis, den ich zücken und ihm damit beweisen konnte, dass ich nur ein harmloser Zuschauer war. Keine Website, die ich teilen konnte und auf der stand, dass ich kein eingetragener Gangster war, sondern in der Regel ein unauffälliges, anonymes Leben führte. Bloodshed wusste lediglich, dass ich da war. Also war ich der Feind. So funktionierte das: War man zu lange in den Straßen unterwegs oder begleitete einen Roadman zur falschen Zeit am falschen Ort, dann wurde man diesen Geruch nie wieder los.

Bevor ich noch einen weiteren Gedanken zulassen konnte, hörte ich das Knacken, mit dem Bloodsheds Knöchel auf Sparks Kinn trafen. Dann sah ich zu, als Bloodshed wie ein Rammbock durch die Mauer der Jugendlichen vor ihm brach. Seine Schritte wurden länger und schneller und immer länger und machten jede Hoffnung der Gruppe zunichte, ihn noch zu erwischen. Spark hatte den meisten Grund, ihm nachzulaufen, aber er kauerte am Boden und hielt sich das Kinn, während er vor sich hin murmelte, dass Bloodshed ein toter Mann war und seine Jungs dazu.

Und Bloodshed würde schon bald genau das Gleiche über mich sagen.

1 Mehr darüber in Anhang I

Kapitel 2

Rhia · 15 JAHRE SPÄTER

Ich trat vor für den Freistoß, hielt dabei den Blick gesenkt und beobachtete die schlammigen Fußballschuhe der Torhüterin. Sie hatte die Arme ausgebreitet, um mir klarzumachen, dass sie bis in die Ecke des Tors springen konnte, wenn es nötig war. Aber ihre Füße verrieten sie: Sie standen flach und weit auseinander auf dem Boden, was bedeutete, dass sie nicht vorhatte, ihre Position zu verändern.

Es ist ganz leicht, einen schlechten Lügner zu entlarven. Man muss nur abwarten, bis derjenige in die Fallen tappt, die er sich selbst gestellt hat. Einen Stufe-Zwei-Lügner zu erwischen, erfordert etwas mehr Kunstfertigkeit. Hierzu muss man beobachten, ob die Person sich anders verhält, wenn man eine scheinbar vollkommen harmlose Frage stellt. Aber wenn einem ein wahrhaft großartiger Lügner ins Netz gehen soll (und ich rede hier von der Champions League, ein Lügner, der so in sein Lügengeflecht verstrickt ist, dass er selbst daran glaubt), dann muss man auf seine Füße achten. Füße lügen nicht. Egal, ob auf dem Spielfeld oder woanders, das ist ein Naturgesetz, das nicht gebrochen werden kann. Niemand macht sich die Mühe, beim Lügen auf seine Füße zu achten, weil in der Regel niemand nach unten sieht.

Als ich meiner Pflegeschwester Olivia davon erzählte, dachte sie, ich wolle sie veräppeln. Aber als sie sich am nächsten Morgen in der Schule bückte, um ihren Kugelschreiber aufzuheben, fiel ihr etwas Merkwürdiges auf: Alle Füße waren zur Tür hin ausgerichtet. Sie erzählte mir, es hätte so ausgesehen, als ob die Schuhe Kompassnadeln wären, die alle dahin deuteten, wohin sie eigentlich gehen wollten. Und auf dem Nachhauseweg sah sie, wie ein Polizist in der Rye Lane einen Jungen befragte. Der Polizist stand genauso breitbeinig da wie Bundessicherheitsbeamte – und ihr wurde klar, dass alle Sicherheitsbeamte auf diese Weise dastehen, selbst wenn sie Zivil tragen. Ein Wissen, das zu gegebener Zeit praktisch sein kann. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, kam an diesem Abend, bevor wir zu Bett gingen, eine Wiederholung der Sendung Wer wird Millionär, und Olivia behauptete, dass jedes Mal, wenn ein Kandidat eine Frage richtig beantwortete, er glückliche Füße bekam. Keine tanzenden Füße, denn man muss nachdenken, um zu tanzen, sondern glückliche Füße: diese ziellosen Kicks, die ganz von selbst kommen.

»Zwanzig Sekunden, Rhia!«, rief Gibbsy, der die violette Trillerpfeife schlaff zwischen den Lippen hing.

Der eisige Wind jagte harte Regentropfen waagerecht über das Feld, und die Tropfen stachen in meine Haut. Wie bei den meisten Trainingsspielen waren die Tribünen leer, aber auf dem Spielfeld kochten die Emotionen trotzdem hoch. Alle starrten mich an und spekulierten darüber, ob ich die Sache vermasseln würde. Sie hofften darauf.

Ich war den harten Wettkampf in Trainingsspielen gewohnt, aber nicht daran, dass sie wichtig für meine Zukunft waren. In wenigen Wochen würde ich erfahren, ob ich es in den Kader für die K.-o.-Runde des Academy-Cups geschafft hatte oder nicht, eine Aussicht, die jede restliche Sekunde des Trainings in eine Möglichkeit verwandelte, Leute zu beeindrucken – oder zu versagen. Und dieser Freistoß? Er konnte zwischen der ersehnten Erlösung oder dem Versauern auf der Reservebank entscheiden.

Der Ball lag kurz vor dem Strafraum, aber in einem ekelhaften Winkel links davon. »Wärmekarte«, sagte ich und betrachtete die Grafiken, die auf meinen Kontaktlinsen erschienen. Visuelle Analysen waren ein wichtiger Bestandteil unseres Trainings. Cantor’s (die Typen, die Hühner aus 3-D-Druckern erfunden und es dann geschafft hatten, ein Technik-Monopol zu errichten), stellten die besten AR-Simulatoren her und hatten gerade ein 32K-Update herausgebracht, das beinahe beängstigend scharf wirkte. Aber der einzige Fleck im Tor, der in der Simulation grün markiert war, lag in der oberen linken Ecke. Und mit diesem stürmischen Wind, der den Ball jederzeit vom Kurs abbringen konnte, musste mein Schuss mehr als perfekt sein. Die Linsen gaben mir noch eine Menge zusätzliche Daten: wie viele Bälle die Torhüterin bisher gehalten hatte, die Richtung und Stärke des Windes, die Schussneigung. Aber ich wusste, dass sie mir nicht alles verraten konnten.

»Noch zehn Sekunden«, sagte Gibbsy. Ihr unterstanden alle Mannschaften an der Akademie, Mädchen und Jungen. Sie leitete jedes Training, diktierte jedes Spiel, herrschte über jeden einzelnen Grashalm. Wichtiger noch, sie allein entschied, welche fünf von uns fünfundzwanzig Mädchen am Ende des Jahres in das Königreich der SE Donnettes Seniors aufstiegen. Allein der Gedanke, eines Tages einen signierten Brief mit dem Briefkopf »DONS F. C.« aufreißen zu dürfen und unten das monatliche Gehalt aufgeschrieben zu sehen, ließ mich gleich noch ein paar Zentimeter größer werden. Ein Vollzeitvertrag hätte bedeutet, dass ich mir keine Sorgen mehr über die Uni oder irgendwelche Prüfungsergebnisse machen musste, und auch nicht über die Nachhilfestunden, von denen mir die erste in genau dreißig Minuten bevorstand.

»Einen Vergleichsschuss abspielen«, verlangte ich. »Dreifache Geschwindigkeit.«

Ein Video erschien auf den Linsen – eine große Blonde mit »Kennedy« auf dem Rücken in einer Aufnahme aus der amerikanischen Liga, die schon Jahrzehnte zurücklag. Die Spielerin schoss den Ball von genau derselben Stelle aus wie ich. Zu sehen, wie ihr Ball butterweich ins Tor ging, war ermutigend; dass der Computer offensichtlich weit in die Vergangenheit gehen musste, um ein Beispiel zu finden, weniger.

»Noch fünf Sekunden.«

Ich wusste genau, was die Teampsychologin mir jetzt ins Ohr flüstern würde, dieses Selbsthilfe-Aufmunterungs-Gequatsche, das sie immer von sich gab: »Vergiss das Feld, Rhia. Vergiss das Gras, den Ball, vergiss alles. Der Volltreffer ins Schwarze ist in dir drin – wenn du den triffst, hat der Ball gar keine andere Chance, als zu folgen.«

Kannste vergessen, dachte ich. Ich musste ganz genau wissen, was um mich herum passierte, es dann auseinandernehmen und zu meinem Vorteil einsetzen.

Ich warf einen letzten Blick auf die Mauer.

»Drei!«

Die Flutlichter blendeten mich mit einem Mal, und mein Herz hämmerte so laut, dass ich das Blut durch die Gefäße in meinen Ohren rauschen hörte. Das könnte mein letzter Freistoß sein, erkannte ich. Das letzte Mal, dass Gibbsy mich überhaupt spielen lässt. Meine letzte Woche in diesem Verein. Meine Aufmerksamkeit verteilte sich auf tausend Zukunftsszenarien, in denen dieser Schuss ins Leere ging und alles um mich herum zusammenbrach. Würde mich Tony, mein Pflegevater, bei sich behalten, wenn ich diesen Schuss vermasselte? Was war mit Poppy? Würde sie um mich kämpfen? Oder würden sie wie alle anderen einfach …

»Zwei!«

Ein tiefer Atemzug fuhr in meine Lungen. Ich senkte den Kopf und sammelte meine Konzentration um den Ball. Ich wusste genau, wo der optimale Punkt saß, und dass alles anders werden würde, wenn ich dieses Tor machte.

»Eins!«

Ich machte den ersten Schritt und fiel dann in einen leichten Trott, während ich zum Schuss ansetzte. Einen Augenblick später küsste mein Vorderfuß den Ball, und ich sah ihm nach, wie er davonsegelte.

Angesichts der Tatsache, dass alle sechs Verteidigerinnen die Köpfe drehten, hatten sie wohl mit einem harten Ball gerechnet. Aber der Ball trudelte nach links, nur wenige Zentimeter über den Pferdeschwanz unserer Kapitänin Maria Marciel hinweg – und traf die Latte, die ihn mit einem weichen Wusch! ins Netz ablenkte.

Tor.

Direkt unter das Lattenkreuz.

»Verdammt herrlicher Schuss«, flüsterte ich mir selbst zu. Die Torhüterin stand immer noch breitbeinig da. Wie vorausgesehen, hatte sie nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt.

Gibbsy pfiff das Spiel ab; die melodische Abfolge der Pfiffe durchbrach die Stille auf dem Spielfeld. »Zwei zu eins«, verkündete sie den Endstand dieses Spiels. »Gute Arbeit, meine Damen«, setzte sie dann hinzu. Und ich war ganz ihrer Meinung.

Aber warum blieb es auf dem Feld so still? Selbst die Mädchen in meiner Gruppe, die eigentlich aus lauter Freude über unseren Sieg in letzter Minute hätten ausrasten müssen, reagierten kaum – na ja, abgesehen von dem Schulterzucken und dem Augenrollen.

Ich dachte an das letzte Jahr zurück, als ich für die Mannschaft in meiner alten Schule gespielt hatte, bevor die Schule dichtgemacht wurde und ich auf eine »bessere« Schule kam, ohne ein Sportprogramm für Mädchen, was dazu führte, dass ich mich nach einem Verein umsehen musste. Wenn ich damals nur ein halb so spektakuläres Tor geschossen hätte, hätten mich meine Mannschaftskameradinnen vor Begeisterung unter sich begraben. Aber, wie jeder mich immer wieder erinnerte, die SE Dons waren eine »professionelle Akademie«, keine Schulmannschaft. Hier durften nur Veteranen wie Maria Freistöße schießen – und auch verwandeln.

Nicht die Neue, die erst vor ein paar Monate dazugestoßen war und noch nie in ihrem Leben in einem Verein gespielt hatte.

Wenigstens Gibbsy schaute auf dem Weg zur Seitenlinie zu mir her und zupfte an ihrer Beanie-Mütze – mehr Anerkennung hatte ich von dieser Frau nicht zu erwarten. Ich nickte und lächelte sie eifrig an. Und als sich das Feld leerte, sammelte ich ein paar schlaffe Abklatscher ein, die ich mit Würde in Empfang nahm. Ich hatte keine Zeit, um meinen Triumph auszukosten oder rumzujammern. Vor mir lag ein Haufen Arbeit.

Der Regen besaß diese ärgerliche Qualität, bei der man nicht wusste, ob er gleich aufhören oder bis in alle Ewigkeit weiternieseln wollte. Ich zog meine Kapuze hoch und wischte einen Streifen der Ersatzbank trocken, ehe ich mich hinsetzte. Ein Mädchen nach dem anderen kam aus der Umkleidekabine und ging zum Parkplatz, wo sich die Mannschaft versammelte. Alle waren auf dem Weg zum wöchentlichen Gemeinschaftsabend, einem ausverkauften Konzert, das wir im Gemeindesaal von Deptford miterleben konnten, und zwar mithilfe derselben Kontaktlinsen, die mir gerade ermöglicht hatten, das Tor zu schießen.

Ich war erst einmal bei einem Gemeinschaftsabend gewesen, meinem ersten, nachdem ich hergekommen war. Ich hatte mich von dem Mini-Moshpit auf der Tanzfläche ferngehalten und ein paar Worte mit Mädchen gewechselt, mit denen man einigermaßen reden konnte. Aber in einer Gruppe kam meine Unbeholfenheit am ehesten zum Vorschein; und gleichzeitig verwandelten sich eigentlich freundliche Mädchen in einer Gruppe zu Ungeheuern. Noch ein Naturgesetz: Wo immer zwei oder mehr Jugendliche zu einem Wettbewerb zusammenkommen, versammeln sich auch erstaunliche Mengen an Schweiß und Grausamkeit.

Danach war ich nicht mehr dort, was mir den Ruf einbrachte, kein Team-Player zu sein. Nach zwei Monaten fiel mir auf, dass mir die Mittelfeldspielerinnen weniger Pässe zuspielten als den anderen …

Also schoss ich weniger Tore.

Weniger Tore bedeuteten, dass mich die Trainer weniger einsetzten. Und ohne große Umschweife wurde ich ins B-Team versetzt, obwohl ich die Torschützenliste angeführt hatte. Selbst der außergewöhnliche, spielentscheidende Treffer, der mir heute Abend gelungen war, ließ bei den anderen den Wunsch, es möge alles so bleiben, nur noch größer werden.

Das musste ich unbedingt ändern, also würde ich heute mit Begeisterung am Gemeinschaftsabend teilnehmen. Mehr noch, ich hatte mich freiwillig gemeldet, um zu helfen, diesen Abend zu organisieren. Ich musste bloß erst eine Stunde Mathe- und Physik-Nachhilfe hinter mich bringen.

Aber als das letzte Flutlicht schwarz geworden war und bereits zwanzig Minuten Unterrichtszeit vergangen waren, hatte sich mein neuer Tutor immer noch nicht blicken lassen.

Gerade, als ich mein Handy zückte, um dieses neue Ärgernis – eins von unzähligen in letzter Zeit – Olivia mitzuteilen, kam Maria angejoggt. Sie war bereits umgezogen. Ich hatte mitbekommen, dass sie und die Mädchen noch eine Weile auf dem Platz herumhängen wollten, bis es Zeit war, sich auf den Weg zum Gemeinschaftsabend zu machen – was nicht mehr allzu lange dauern würde.

»Hey, am Tor wartet jemand auf dich.« Sie deutete auf eine Gestalt in der Ferne.

»Na endlich«, murmelte ich.

Wenn mein Tutor rechtzeitig aufgetaucht wäre, hätte ich mich zwar beeilen müssen, aber ich hätte es vermutlich gerade noch geschafft, bevor der Abend so richtig losging. Meine neuen Berechnungen sagten mir, dass ich eine halbe Stunde zu spät kommen würde.

»Ach, übrigens«, sagte ich und biss mir auf den Fingernagel. Besser, Maria erfuhr es jetzt gleich als später. »Ich werde ein kleines bisschen zu spät kommen.«

»Oh«, sagte sie leicht verdattert. »Klar, kein Problem. Ich verstehe schon. Ganz wie du willst.« Sie wandte sich ab, drehte sich aber mit einem plötzlichen Strahlen im Gesicht noch einmal um. »Aber wenn du mehr als eine Viertelstunde zu spät kommst, sag mir doch bitte Bescheid, damit ich dich ersetzen kann.«

Die Betonung, die auf dem Wort »ersetzen« lag, war kaum zu überhören. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie solle zur Hölle fahren. Aber stattdessen präsentierte ich ihr ein Lächeln und sagte: »Keine Angst, das wird nicht passieren. Trotzdem danke.«

Ich ärgerte mich, als ich zum Tor ging. Ich war nicht sauer auf meine Pflegemutter Poppy, die mich für Extra-Nachhilfestunden eingetragen hatte; Pflege-Kids waren es gewohnt, mit Nachhilfe überschüttet zu werden. Außerdem – wenn ich meine GCSE-Prüfung nicht bestand, würde ich meinen SE-Dons-Vertrag verlieren. Und wahrscheinlich noch einiges mehr. Aber ausgerechnet heute musste mein neuer Tutor zu spät kommen. Zur allerersten Stunde. Obwohl ich in meiner Nachricht an ihn ausdrücklich »PUNKT 19 Uhr« geschrieben hatte. Das hatte einen Grund, verdammt noch mal!

Ich nahm mir eine Sekunde, um meinen Ärger hinunterzuschlucken. Meine Sozialarbeiterin hatte mir gesagt, dass mein neuer Tutor blind war. Ich hatte ihr versichert, dass ich sehr erwachsen mit der Situation umgehen und »über seine Blindheit hinwegsehen« würde. Was mir im Nachhinein betrachtet als ziemlich geschmacklose Bemerkung vorkam.

Er hatte einen frischen Haarschnitt und ein jungenhaftes Lächeln. Anfang bis Mitte dreißig, schätzte ich. Auf seiner Jacke stand in Großbuchstaben AVIREX quer über der Brust; Jacke und die Retro-Air-Max-Sportschuhe bestanden aus dem gleichen schwarzen Glattleder. Ich hatte förmlich vor Augen, wie er – wahrscheinlich vor mindestens zehn Jahren – ein Kompliment für dieses Outfit bekommen hatte und die Sachen seither ständig trug. Er drehte sich in meine Richtung, als meine Schritte lauter wurden.

»Hi«, sagte ich und wartete, bis ich noch etwas näher gekommen war, ehe ich hinzusetzte: »Ich bin Rhia.« Erst als ich das gesagt hatte, fielen mir seine Füße auf, die … irgendwie zapplig waren.

Olivia mutmaßte, dass diese ganze »Füße können nicht lügen«-Sache mit dem Foto meiner Mum in meiner Sockenschublade zu tun hatte – meiner richtigen Mum. Darauf war Mum etwa in meinem Alter und saß auf einer Parkbank. Sie hatte ein hübsches Kleid an und lächelte in die Kamera. Aber es war das, was unterhalb ihrer Knie passierte, was mich nicht losließ. Stundenlang versuchte ich, herauszufinden, was es war. Ihre rechte Ferse war auf dem Bild vom Boden abgehoben und verschwommen, als ob sie gerade mit dem Fuß gewippt hätte, als der Auslöser betätigt wurde. Und ihre Zehen, die sich unter ihren weißen Slippern abzeichneten, deuteten so weit von der Linse weg wie nur irgend möglich. Eine halbe Ewigkeit hatte ich damit verbracht, den unteren Teil des Fotos zu betrachten und mich zu fragen, was sie so beunruhigt hatte. Ich hatte jeden Park in London abgesucht, in der Hoffnung, diese besondere Bank ausfindig zu machen. Und nachdem eine bezahlte Suche im Darknet mir bestätigt hatte, dass sie für immer gegangen war (tot, wie mir jeder im Vorfeld bereits versichert hatte) – vom Antlitz der Erde ausgelöscht, einen Monat, nachdem sie mich geboren hatte –, war ich drauf und dran, aufzugeben, noch irgendetwas über sie zu erfahren.

Mein neuer Tutor stand erstarrt da, alle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet, und währenddessen hörte ich die immer größer werdende Gruppe Mädchen zusammen mit Maria auf dem Parkplatz kichern. Ich sah zu ihnen hin und bemerkte, dass sie uns beobachteten. Selbst vom Parkplatz aus war die Unbeholfenheit zu spüren.

So merkwürdig ich den Mann selbst fand, er tat mir auch leid. Zu einem nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt zwischen Pflegeeltern Nr. 7 und Nr. 9 war ich mit der Angst in Berührung gekommen, die einen überfällt, wenn man nicht weiß, was für einen ersten Eindruck man macht. Ich wusste, wie diese Angst den gesamten Körper lähmen konnte. Und dass es im Allgemeinen nicht hilfreich war, ausgelacht zu werden.

Ich wandte mich wieder meinem Tutor zu. »Und Sie sind …?«, fragte ich mit meiner freundlichsten Stimme.

»Entschuldige«, sagte er und streckte lächelnd die Hand aus. »Schön, dich kennenzulernen, Rhia. Du kannst mich Dr. Esso nennen.«

Kapitel 3

Esso · Jetzt

Donnerstag (vor einem Tag)

Mit der Manschette meines Hemdes über dem Daumen drückte ich auf die 4 der Steuerungstafel des Fahrstuhls und gab mir während der Fahrt Mühe, die Gerüche zu ignorieren, und auch die Geräusche, die von den Kabeln ausgingen. Nach ein paar Schritten durch den Gang im vierten Stock kam eine blaue Tür mit der Nummer 469 in Sicht. Ich seufzte und versank fast in meiner eigenen Erleichterung. Das Einzige, was mich heute Abend erwartete, war der Ingwerduft des gebratenen Tilapias, den Mum frisch zubereitet hatte. Nicht die Jungs oder der Stress, über sie nachzudenken.

D war nicht in der Schule gewesen, aber die Stille, die seine Abwesenheit mit sich brachte, hatte nur die Lautstärke der Gedanken in die Höhe geschraubt, die in meinem Kopf kreisten.

Hatte Bloodshed mich erkannt? Oder machte ich mir wegen dieser halben Sekunde, in denen ein Blickkontakt zwischen uns bestanden hatte, zu viele Sorgen? Bloodshed war doch bestimmt klar, dass es Sparks Jungs gewesen waren, die ihn verdroschen hatten, und nicht ich. Er würde mich doch für unschuldig halten, bevor er nicht sicher war, dass ich dafür verantwortlich war, oder?

Oder vielleicht hatten die Typen von der T. A. S. die ganze letzte Nacht darüber nachgedacht, wie sie es mir heimzahlen konnten. Es war doch nur eine Ohrfeige und ein paar Boxhiebe, hatte ich mir den ganzen Tag lang wieder und wieder vorgebetet. Aber ich wusste genau, wie leicht das Ego eines Roadmans verletzt werden konnte, und wenn irgendwas davon online ging, würde dieses Ego via Social Media noch tausendmal empfindlicher werden.

Ich hatte mir auch ständig ins Gedächtnis gerufen, dass D und ich immer gut miteinander ausgekommen waren; unsere Mums gingen sogar gemeinsam in die Kirche, als wir klein waren. Seine Familie wohnte in Rio Ferdinands altem Haus, und ich wusste noch, dass ich D zu Hause besucht hatte und immer total geschockt war, was für ein Weichei seine Mum war. Wenn D seinen kleinen Bruder gehänselt oder sich unten im Hof geprügelt hatte, musste sie nur einen Blick auf sein Babyfoto über dem Fernseher werfen, und schon nahm sie ihn in den Arm und gab ihm einen Kuss, als wäre er der dreizehnte Apostel.