The Way We Fall - Edinburgh-Reihe, Band 1 - Jana Schäfer - E-Book
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The Way We Fall - Edinburgh-Reihe, Band 1 E-Book

Jana Schäfer

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Beschreibung

Will you stay with me, if I fall? Das gemütliche Café inmitten der Gassen Edinburghs und ihre Schwester – Amelia sagt sich jeden Tag, dass sie für ein glückliches Leben nicht mehr braucht. Bis ausgerechnet der Bestsellerautor Jasper Haven einen Espresso bei ihr bestellt. Schnell merkt sie, dass sich hinter seiner unnahbaren Fassade mehr verbirgt. Spätestens bei einem gemeinsamen Roadtrip durch die schottischen Highlands lässt sich das Knistern zwischen ihnen nicht länger leugnen. Doch dann kommt Jaspers Vergangenheit ans Licht … ***Leseprobe aus Band 1 der berührenden Edinburgh-Reihe*** Als sich seine Lippen sanft auf meine legten, spürte ich in meinem Inneren ein Feuerwerk. Eine plötzliche Wärme durchflutete mich, füllte jeden Winkel meines Körpers aus und vertrieb den letzten Rest Dunkelheit. So fühlte es sich also an, lebendig zu sein. Kaum war mir der Gedanke durch den Kopf geschossen, löste Jasper sich von mir. Meine Augen flatterten und öffneten sich langsam. Atemlos starrte Jasper mich an. Sein Blick war unergründlich, doch in seinem Gesicht spiegelte sich dasselbe Erstaunen, das auch mich erfüllte. "Wow", hauchte ich, unfähig, Worte für das zu finden, was in mir vorging. Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen, und ich fragte mich, wie mein Herz sich jemals beruhigen sollte, wenn er mich so ansah. "Wenn das hier ein Fehler ist, dann fühlt es sich nach einem verflucht guten an", murmelte er.

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Seitenzahl: 484

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OriginalausgabeAls Ravensburger E-Book erschienen 2022Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg© 2022, Ravensburger Verlag GmbHText © 2022, Jana SchäferLektorat: Tamara ReisingerDieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg.Umschlaggestaltung: »das verlagsatelier« Romy Pohlunter Verwendung von Motiven von © ShustrikS, © Verbena, © sergio34,alle von ShutterstockAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-473-51109-9www.ravensburger.de

Für alle, die groß träumen und sich nicht unterkriegen lassen.Ihr seid großartig! Lasst euch niemals euren Mut nehmen.

PLAYLIST

Let me Down Slowly   Alec Benjamin

Can You Hold Me   NF, Britt Nicole

Chasing Cars   Snow Patrol

The Other Side   Ruelle

Fix You   Coldplay

I Want To Break Free   Queen

Lover   Taylor Swift

Falling Like The Stars   James Arthur

Let it Be   The Beatles

Older   Sasha Sloan

July   Noah Cyrus

Lost   Our Last Night

Scotland   The Lumineers

The Archer   Taylor Swift

1. KAPITEL

Amelia

Wenn ich die Welt mit Farben beschreiben müsste, wäre dieser Tag schwarzblau. Vielleicht auch eine Spur dunkelgrün. Auf jeden Fall wären es aber düstere Töne. Solche, die man auf Fotos mit einem Filter aufhellt, damit sie stattdessen strahlen und leuchten.

Selbst der Himmel draußen zeigte sich heute von einer düsteren Seite, die sämtliches Licht verschluckte.

Seufzend öffnete ich die Spülmaschine. Ein Schwall heißer Luft kam mir entgegen, und ich trat eilig einen Schritt zurück.

Das Café Daydream war wie ausgestorben. Meine Schicht ging offiziell noch eine Stunde, doch wenn weiterhin keine Gäste kamen, konnte ich genauso gut eine Stunde früher Schluss machen und heim zu Maisie gehen. Vorausgesetzt, der Gast an Tisch Nummer dreizehn bezahlte irgendwann und verschwand. Er saß inzwischen schon seit drei Stunden vor seinem Laptop und nippte ab und zu an einem Glas Wasser. Bis auf einen Espresso und ein Stück Zitronenkuchen hatte er nichts bestellt. Nichts.

Ich spürte, wie sich Ärger in mir breitmachte. Was glaubte der denn, wie wir das Daydream finanzierten? Jedenfalls nicht durch das Servieren von Leitungswasser. Wir waren hier schließlich in einem Café. Und nicht etwa in seinem Büro.

Entschlossen ging ich zu dem Tisch in der Ecke und machte mich mit einem Räuspern bemerkbar. An jedem anderen Tag wäre es mir vermutlich egal gewesen, aber die Vorstellung, dass ich jetzt Feierabend haben und bei meiner Schwester sein könnte, anstatt den einsamen Gast zu bedienen, machte mich ungeduldig.

»Möchtest du noch etwas?«

Keine Reaktion.

»Hallo?«, versuchte ich es erneut.

»Nein danke, ich arbeite.« Seine kühle Stimme strich über mich hinweg. Er schaute nicht einmal von seinem Laptop auf. Das Klackern der Tasten erfüllte den Raum und verwandelte sich in meinen Ohren zu einem provozierenden, spottenden Geräusch.

Ich atmete hörbar aus, aber er rührte sich nicht. Kein Zusammenzucken, kein entschuldigendes Lächeln, nichts. Mein Blick glitt über die dunkelbraunen Haare, die ihm lässig und scheinbar zufällig in die Stirn fielen. Fast so, als wüsste er gar nicht, dass er mit seiner Frisur einem Werbeplakat für den nächsten Friseursalon entsprungen sein könnte. Der Dreitagebart und die kantigen Gesichtszüge ergänzten den Möchtegern-wilder-Schönling-Look perfekt. Seine vollen Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst, der einzige Hinweis, dass er sehr wohl bemerkte, dass ich immer noch ungeduldig neben ihm stand. Ich schätze ihn auf Mitte zwanzig, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich.

Er saß mit gerunzelter Stirn da und starrte hoch konzentriert auf seinen Bildschirm, als beanspruchte das, was auch immer er da tat, seine ganze Aufmerksamkeit. Gut möglich, dass ihm nicht einmal auffiel, dass er inzwischen der einzige Gast war. Er schien seine Umgebung, das Café, das in den letzten Jahren zu meinem zweiten Zuhause geworden war, gar nicht richtig wahrzunehmen. Da war es wahrscheinlich auch zu viel verlangt, auf die einzige Bedienung im Raum zu achten, die sich an einem Donnerstagnachmittag durchaus bessere Dinge vorstellen konnte, als einem verirrten Gast beim Wassertrinken zuzusehen. Heimgehen, um mit ihrer Schwester einen Film zu schauen, zum Beispiel.

Mit einem ergebenen Seufzen drehte ich mich um und kehrte hinter die Theke zurück. Trotz allem war es mein Job, die Gäste zu bedienen. Oder sie in Ruhe zu lassen, wenn sie nichts wollten. Nicht selten fühlten sich die Leute im Café so wohl, dass sie die Zeit völlig vergaßen und stundenlang mit ihrem Kaffee am Tisch saßen und mit ihren Freunden redeten. Normalerweise war es auch genau das, was ich am Daydream so sehr mochte. Nur hatte ich heute schon einen ziemlich anstrengenden Tag hinter mir, weil am Morgen eine Geburtstagsgruppe ins Café geplatzt war und den Ort ordentlich aufgemischt hatte.

Um mir die Zeit zu vertreiben, räumte ich die Spülmaschine aus. Allerdings war ich damit viel zu schnell fertig. Nachdem ich auch noch mit einem Putzlappen über die Ablagen und die Vitrine, in der selbst gebackene Muffins und Scones standen, gewischt hatte, fiel mir keine Beschäftigung mehr ein. Ich könnte mir natürlich einen Besen schnappen und zwischen den Tischen und Stühlen – ein sorgfältig ausgewählter Mix aus hübschen Vintage-Möbeln – hindurchfegen. Aber das wäre unhöflich, und auch wenn der Fremde von mir aus gern gehen durfte, würde ich ihm nicht den Gefallen tun und unprofessionell werden.

Das Vibrieren meines Handys erlöste mich aus meinem pseudobeschäftigten Hin- und Hergehen hinter der Theke. Ich nahm den Anruf an, was ich bei gutem Betrieb nie tun würde, und grinste, noch bevor die fröhliche Stimme meiner besten Freundin erklang.

»Amelia! Du gehst ran. Das heißt dann wohl, dass du entweder früher gehen konntest oder das Café leer ist.«

»Leider ist Letzteres der Fall. Zumindest fast. Bis auf einen Kerl ist niemand hier, und ich bezweifle, dass bei dem Regenwetter heute noch jemand kommt.«

»Dafür wird morgen die Bude voll sein«, erwiderte Holly zuversichtlich. Mit ihrer unbeschwerten Art hellte sie meine Stimmung automatisch auf.

»Das fürchte ich auch. Chloé liegt mir seit Tagen mit der Lesung in den Ohren. Sie will Pizzabrötchen backen und Fingerfood organisieren. Gestern hat sie sogar irgendetwas von gefalteten Servietten in Buchform gefaselt. Wie auch immer das gehen soll.«

Meine Chefin war ganz aus dem Häuschen, seit sie erfahren hatte, dass Jasper Haven eine Lesung in unserem Café halten würde. Sie sah darin die perfekte Werbung und Aufmerksamkeit, die das Daydream anscheinend dringend brauchte. Dabei war es eigentlich die Ausnahme, dass es so wenige Besucher gab wie heute.

»Ich kann sie nur zu gut verstehen«, gab Holly lachend zurück.

»Kannst du nicht.« Holly hasste Basteln und Dekorieren wie die Pest. Still sitzen und sich konzentrieren war nicht ihr Ding. Sie musste ständig in Bewegung sein, liebte Unternehmungen und Abwechslung. In dieser Hinsicht hätten wir kaum unterschiedlicher sein können.

»Okay, kann ich nicht«, stimmte sie mir zu. »Aber dass dieser Autor kommt, ist eine ziemlich coole Sache. Der wird von den Medien ja ziemlich gehypt.«

»Du weißt ja, wie beeindruckend ich irgendwelche Medienstars finde«, gab ich schmunzelnd zurück.

»Du kannst sagen, was du willst, aber er hat es immerhin geschafft. Er ist ganz oben und einer der bekanntesten Fantasy-Autoren unserer Zeit. Er lebt seinen Traum.«

Ich seufzte. Mir entging der Unterton in ihrer Stimme keineswegs. Ich wusste genau, was sie mir damit sagen wollte. Holly verstand einfach nicht, warum ich immer noch bei meiner Tante lebte, anstatt wie sie in einer WG zu wohnen und zu studieren. Sie war direkt nach dem Schulabschluss von zu Hause ausgezogen und hatte mit ihrem Medizinstudium angefangen, während ich im Daydream jobbte und meine Freizeit mit Musik verbrachte.

Obwohl, eigentlich verstand sie es schon. Der Grund dafür war unmöglich nicht zu verstehen, aber Holly war überzeugt, dass ich damit einen Fehler machte. Nur war es kein Fehler, denn das würde bedeuten, dass ich die Wahl hätte, es anders zu machen, dass ich mich frei entscheiden könnte, nicht hierzubleiben, sondern zu gehen. Doch das konnte ich nicht. Diese Wahl war vor zwölf Jahren gestorben, als meine Eltern und Maisie in einen roten Wagen gestiegen waren, um einkaufen zu fahren, und nur meine kleine Schwester lebend zurückgekehrt war.

Zwei Tage lang hatte sie durchgehend geweint. Trotz meiner eigenen Trauer hatte ich versucht, sie zu trösten, hatte mich ganz auf sie konzentriert, weil sie alles war, was von meiner Familie übrig geblieben war. Abgesehen von unserer Tante Charlotte, die uns mit offenen Armen und voller Liebe aufgenommen hatte, obwohl wir sie damals nur ab und zu besucht hatten. Sie hatte alles getan, um Maisies und meinen Schmerz zu lindern. Doch auch wenn ich Charlotte sehr mochte und ihr dankbar war, sie konnte unsere Mutter nicht ersetzen. Während Maisie weiterhin zitterte und weinte, hatte ich sie festgehalten und ihr ein Versprechen gegeben: Ich bleibe bei dir. Egal, was passiert, wir haben uns.

Mit zehn Jahren hatte ich natürlich noch nicht ganz begreifen können, was der Tod unserer Eltern wirklich für uns bedeutete, aber ich wusste, dass sich von da an alles ändern würde. Mum hatte mir seit Maisies Geburt immer wieder gesagt, dass ich die Große von uns beiden war und auf sie aufpassen sollte. Und seit dem Tod meiner Eltern machte ich genau das. Ich passte auf Maisie auf, die seit dem Unfall nicht mehr dieselbe war. In den ersten Wochen hatte sie kein Wort gesprochen, was die Ärzte auf den Schock zurückführten. Doch aus den Wochen wurden Monate und schließlich Jahre, und Maisie sprach immer noch kaum. Sämtliche Therapien hatten fehlgeschlagen, und irgendwann hatten Charlotte und ich ihr Schweigen akzeptiert. Es wurde ein Teil von Maisie, und wir fanden unseren eigenen Weg, nonverbal miteinander zu kommunizieren.

»Bist du noch dran?« Hollys Stimme riss mich aus meinen Gedanken.

»Ja, sorry! Was machst du später?«

»Taylor wollte nachher noch vorbeikommen. Du bist natürlich ebenfalls herzlich willkommen. Wir könnten einen Filmabend machen?«

Ein Filmabend mit Holly und ihrem Freund Taylor? So sehr ich die beiden auch liebte, ich würde sicherlich nicht wie ein bedauernswertes fünftes Rad am Wagen in ihr Date platzen. Außerdem hatte ich Maisie versprochen, dass wir heute einen Film schauen würden. Das letzte Mal, dass wir zusammen einen Abend verbracht hatten, war ein paar Tage her, und ich wollte nicht, dass sie sich wieder nur in ihrem Zimmer verkroch und las. Seit sie in die Pubertät gekommen war, zog Maisie sich noch mehr zurück. Sie hatte zwar einige Freunde in der Schule, doch ich wusste, dass ihre stille Art nicht bei allen gut ankam.

»Danke, aber ich mach heute was mit Maisie. Vorausgesetzt, der Kerl geht irgendwann.«

»Der einsame Gast?«

»Ja, er sitzt seit über drei Stunden hier und tippt auf seinem Laptop herum. Gibt es für so etwas nicht die Unibibliothek? Oder ein eigenes Zimmer mit Schreibtisch? Und dann bestellt er nicht mal was! Er tut, als wäre ich Luft.« Meine Stimme war mit jedem Wort lauter geworden, dabei wusste ich selbst nicht, warum ich mich so aufregte. Im Grunde war es sein gutes Recht, so lange in unserem Café zu sitzen, wie er wollte, doch wer zwischen mir und meinem Feierabend stand, hatte nun mal schlechte Karten.

»Er sieht heiß aus, oder?«

»Was?! Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich ehrlich schockiert und verdrehte die Augen, als Holly leise auflachte.

»Erwischt. Du regst dich nur über ihn auf, weil er dich nicht beachtet.«

»Das stimmt nicht«, protestierte ich. »Ich denke nur, dass es ja wohl nicht zu viel verlangt ist, die Kellnerin, die kurz vor Ende der Öffnungszeiten fragt, ob er noch etwas möchte, zumindest anzuschauen. Vermutlich kommt er wegen seines Aussehens zu oft mit so einem Verhalten durch. Er ist nämlich nicht der erste attraktive Kerl, der sich als arroganter Idiot herausstellt.«

»Süße, du brauchst dringend etwas Ablenkung«, sagte Holly, und ich konnte ihr Grinsen deutlich vor mir sehen.

Diesen Einwand ließ ich unkommentiert. Holly kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich gerade ein genervtes Seufzen unterdrückte.

»Na ja, ich lass dich mal weiter Löcher in die Luft starren und melde mich später.«

»Ist gut. Bis dann.« Ich legte auf, drehte mich um und erstarrte. Vor mir stand der attraktive Gast mit einem selbstgefälligen Lächeln auf den Lippen.

»Der gut aussehende, arrogante Idiot würde dann gern zahlen.«

Ich öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte heraus. Ausgerechnet ich, die normalerweise immer eine Antwort parat hatte, war sprachlos.

»Sorry, ich wollte nicht … also.« Ich stockte und fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. Das war doch lächerlich! Ich räusperte mich. »Vier zwanzig.«

»Was?« Der Typ zog seine Augenbrauen hoch, und für einen Moment verschwand der arrogante Ausdruck aus seinem Gesicht. Ich unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Verwirrt gefiel er mir eindeutig besser.

»Du hattest einen Espresso und ein Stück Kuchen. Das macht vier Pfund zwanzig.«

»Oh, klar.« Seine Miene verschloss sich wieder, als er einen Fünf-Pfund-Schein auf die Theke warf.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie unfreundlich ich gewesen war. Mit dem Gedanken an Chloé, die uns ständig einbläute, dass die Kunden hier wie Könige behandelt werden sollten, setzte ich rasch ein Lächeln auf.

»Es tut mir …«

Grußlos drehte der Kerl sich um, als hätte er mich nicht gehört oder tatsächlich das Recht, einen beleidigten Abgang hinzulegen. Vielleicht war er aber auch einfach nur genervt. Oder es war ihm schlichtweg egal, was ich von ihm hielt.

Mit einem Seufzen griff ich nach dem Geld und legte es in die Kasse. Was für ein Mistkerl! Ich ertappte mich dabei, wie ich ihm nachstarrte, als er mit schnellen Schritten durch den Regen lief, der ihn keine Spur zu stören schien. Vielleicht waren ihm seine Frisur und die teuren Klamotten nicht ganz so heilig, wie es gewirkt hatte. Seinen Laptop hatte er in einem Rucksack verstaut, dem er offenbar zutraute, dem Wasser standzuhalten. Ich stieß ein leises Schnauben aus.

Es war doch immer wieder eine Überraschung, wie unterschiedlich die Leute waren, die ins Daydream kamen. Da das Café in einer Seitenstraße am Rande der Altstadt lag, verirrten sich nur selten Touristen hierher. Meistens waren es also Bewohner der Stadt, die hier reinstolperten. Von gestressten Anzugträgern, verliebten Pärchen und unhöflichen Gästen, die wortkarg ihre Bestellung aufgaben, war alles dabei. Ich sollte also daran gewohnt sein. Sollte so ein Erlebnis einfach wegstecken können. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Kerl noch mal hier auftauchte, war ohnehin ziemlich gering. Trotzdem hoffte ich, dass es auch tatsächlich so war. Meine Worte sollten schließlich Grund genug sein, sich ein anderes Café zum Wassertrinken zu suchen.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und schnappte mir den Besen, um endlich sauber zu machen und das Café zu schließen. Nachdem ich alle Stühle hochgestellt und den Boden gefegt hatte, war es halb sieben. Eine halbe Stunde nach offiziellem Schichtende. Ich seufzte. So viel zu früher Feierabend machen. Und morgen würde nicht besser werden. Unsere Chefin wollte zwar schon am Nachmittag schließen, allerdings nur, um rechtzeitig mit den Vorbereitungen für die Lesung anzufangen, die am Abend im Daydream stattfinden würde. Obwohl ich den Aufwand nicht ganz verstand, würde ich mitanpacken und helfen. Denn wenn Chloé meinte, wir müssten das Café neu dekorieren, damit der Autor sein Buch vorlesen konnte, dann würden wir das tun. Schließlich liebte ich meine Chefin und dieses Café. Das Daydream war meine eigene kleine Oase, in der mich der Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen und gebackenen Scones vergessen ließ, warum ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren nicht studierte, sondern bei meiner Tante lebte und jobbte. Warum sich mein Leben seit dem großen Einschnitt vor zwölf Jahren nicht mehr geändert hatte.

Schnell packte ich meine Sachen und verließ das Café. Draußen zog ich die Kapuze über meine Haare und vergrub mein Gesicht im Schal, doch der kalte Wind trieb mir den Regen gnadenlos in die Augen. Dabei liebte ich Regen. Ich mochte das schottische Wetter, auch wenn ich mich manchmal fragte, wie es sich wohl anfühlte, wenn tagelang nur die Sonne schien und die Temperaturen auf über dreißig Grad anstiegen.

Doch Maisie mochte keine weiten Reisen, und ich konnte mir nicht vorstellen, sie tage- oder gar wochenlang nicht zu sehen, also würde ich aus Edinburgh so schnell nicht wegkommen. Von Schottland ganz zu schweigen. Der Gedanke an meine kleine Schwester trieb mich an, und ich beschleunigte meine Schritte, um die nächste Bahn rechtzeitig zu erwischen.

Die Wohnung meiner Tante befand sich am Rande der Stadt. Sie war groß genug für uns drei, und auch wenn die Umgebung nicht die Schönste war, war sie in den letzten zwölf Jahren zu meinem Zuhause geworden. Inzwischen hatte ich mich auch an die alten, heruntergekommenen Backsteingebäude und den muffigen Geruch gewöhnt, der mir beim Betreten des Hausflurs entgegenschlug.

Als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, tropfte Regen von meiner Jacke auf die braune Fußmatte. Ich streifte meine Schuhe ab und betrat dann die Wohnung, die mich mit einer molligen Wärme empfing.

»Hi«, rief ich, und sofort kam Charlotte aus der Küche auf mich zu. Ihre braunen Haare trug sie zu einem Zopf zusammengebunden, was sie ungewohnt streng wirken ließ, und ihr Hosenanzug verriet mir, dass sie gerade erst von der Schule nach Hause gekommen war. Sie war mit Sicherheit die einzige Lehrerin in ihrem Kollegium, die sich für die Kinder anzog, als wollte sie mit ihnen zu einer Gerichtsverhandlung gehen.

»Du bist ja ganz nass.« Sie wartete, bis ich meinen Regenmantel ausgezogen hatte, bevor sie mich kurz in ihre Arme zog. »Ich wollte gleich etwas kochen, hast du Hunger?«

»Ein bisschen, ja. Wo ist Maisie?«, fragte ich und schaute mich um, als würde meine Schwester jeden Moment auftauchen.

Das Lächeln verschwand aus Charlottes Gesicht und wich einem besorgten Ausdruck. »In ihrem Zimmer.«

Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Maisie die meiste Zeit in ihrem Zimmer verbrachte. Trotzdem machte Charlotte sich ständig Sorgen um meine Schwester. Und um mich. Seit unsere Eltern ums Leben gekommen waren, kümmerte Charlotte sich um uns, als wären wir ihre eigenen Kinder. Wofür ich sie liebte. Aber manchmal übertrieb sie mit ihrer Sorge etwas.

»Ich schau nach ihr und frag, ob sie rauskommen will. Vielleicht können wir später alle zusammen einen Film ansehen.«

»Das wäre toll.« Charlotte nickte erleichtert und kehrte in die Küche zurück.

Vor Maisies Zimmer zögerte ich kurz. Sie war vermutlich am Lesen. Oder hörte Musik. Oder schrieb in eines ihrer vielen Notizbücher. Das tat sie meistens, wenn ich nicht da war. Sie lag im Bett und verschwand in anderen Welten. Ich atmete tief durch und klopfte an.

Keine Sekunde später flog die Tür auf.

Meine Schwester blickte mir aus warmen braunen Augen entgegen. Ihre rostroten Haare trug sie zu einem Dutt zusammengebunden, und wieder einmal dachte ich, dass sie mit ihrer elfengleichen Schönheit aussah, als wäre sie nicht von dieser Welt. Obwohl sie inzwischen sechzehn war, würde ich vermutlich nie aufhören, in ihr meine kleine Schwester zu sehen, der ich vor Jahren das Fahrradfahren und Schwimmen beigebracht hatte. In den letzten Monaten hatte sie sich still und heimlich zu einer Jugendlichen entwickelt, die sich immer mehr vor mir verschloss. Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie ich in diesem Alter gewesen war. Wie wenig ich die Welt verstanden hatte, geschweige denn wusste, was ich wollte. Im Grunde wusste ich das immer noch nicht. Doch die Vorstellung, dass Maisie dasselbe durchmachte, ohne mich miteinzubeziehen, schmerzte.

Ich streckte eine Hand aus, mit der Handfläche nach oben. Das machte ich immer, wenn ich nach Hause kam. Es war unser Ritual, um uns zu begrüßen und zu fragen, wie der Tag der anderen war. Maisie legte nach einem kurzen Moment ihre Hand auf meine, wobei sie ihre Handfläche nach unten drehte. Kein guter Tag also. Genau wie bei mir, aber das verschwieg ich lieber. Meine Probleme waren im Moment zweitrangig. Ich zog meine Hand wieder weg.

»War die Schule stressig?«, fragte ich.

Maisie zuckte mit den Schultern und machte eine wegwerfende Handbewegung. Offenbar wollte sie nicht weiter darüber reden. Und ich würde sie nicht drängen.

»Charlotte kocht gerade, sollen wir nachsehen, ob sie unsere Hilfe braucht? Und später könnten wir alle zusammen einen Film im Wohnzimmer anschauen, was meinst du?«, fragte ich.

Sie nickte, und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen. Endlich. Bevor ich aus dem Zimmer gehen konnte, hielt sie mich zurück und deutete auf die Musikanlage auf ihrer Kommode.

Ich seufzte. »Okay. Aber ich höre mir nicht schon wieder den gesamten Soundtrack von Wicked an.«

Maisies Lächeln wurde breiter, und ich spürte, wie sich meine schlechte Laune langsam in Luft auflöste. Maisie hatte diese Wirkung auf Menschen. Sie strahlte eine Leichtigkeit aus, die mir unerklärlich war. Vor allem, weil ich wusste, dass sie eine unglaubliche Schwere in sich trug. An dem Abend, als unsere Eltern ums Leben gekommen waren, war auch ein Teil von ihr gestorben – und mit ihm ihre Worte.

Manchmal kam mir der Gedanke, dass ich damals nicht nur meine Eltern, sondern auch Maisie verloren hatte. Doch das war nicht fair. Sie gab ihr Bestes. Wie wir alle.

Maisie drückte auf Play und eine männliche Stimme erklang, die ganz offensichtlich einen Fantasyroman vorlas. Zumindest kam bereits im ersten Satz das Wort »Drachenmagie« vor, was auch immer das heißen sollte. Anders als Maisie hatte ich nie viel gelesen, und obwohl ich ihre Begeisterung für düstere Fantasy-Geschichten nicht wirklich nachvollziehen konnte, tat ich ihr den Gefallen und legte mich zu ihr aufs Bett.

Während die Stimme weitererzählte, wanderte mein Blick zu der Lichterkette an der Wand. Darunter waren an einer Schnur mit winzigen Wäscheklammern verschiedene Fotos befestigt, die Maisie mit mir oder Klassenkameraden zeigten. Wir lächelten auf den Fotos und wirkten wie zwei fröhliche Mädchen. Ein Fremder würde vermutlich nie auf die Idee kommen, dass unsere Welt vor Jahren erschüttert worden war.

Ich schloss die Augen, lauschte Maisies regelmäßigen Atemzügen neben mir und der Stimme des Vorlesers, die angenehm warm klang. Holly irrte sich, wenn sie sagte, dass ich nicht genügend Abenteuer erlebte. Mein Leben war gut, so wie es war. Vielleicht nicht perfekt, doch welches war das schon?

2. KAPITEL

Amelia

Ich saß auf dem Bett, meine Gitarre auf dem Schoß, und zupfte gedankenverloren an den Saiten. Verzerrte, fast schon melancholische Töne entflohen dem Instrument. Dabei war der Abend fantastisch gelaufen. Wir hatten zu dritt gekocht und zum ungefähr hundertsten Mal Grease geschaut. Maisie hatte bei den Liedern mitgesummt, wie sie es bei ihren Lieblingssongs immer tat. Und als Charlotte uns Popcorn gemacht und es ins Wohnzimmer gebracht hatte, war es passiert. Ein leises Danke. Nur ein Wort, aber Charlotte und ich waren kurz erstarrt, bevor wir uns stumm angelächelt hatten. In solchen Momenten bildete ich mir gern ein, dass Maisie vielleicht doch Fortschritte machte, aber mir war klar, dass das nicht wirklich stimmte.

Ihre Mitschüler mochten sie zwar, doch Maisie hatte keine engen Freundschaften, da sie nicht von sich aus auf andere zuging. Die Lehrer lobten ihre schriftlichen Leistungen, die oft herausragend gut waren, bemängelten jedoch ihre nicht vorhandene mündliche Beteiligung.

Nach zwölf Jahren, unzähligen Therapiesitzungen und Förderstunden sprach sie immer noch kaum. Während meine Tante damit zu kämpfen hatte und Bücher über Traumata und psychische Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter las, hatte ich mich an Maisies Schweigen gewöhnt. Sie kommunizierte mit ihrem Körper, ihrer Mimik und ihren Augen. Ich wusste, wann sie einen schlechten Tag hatte, und kannte ihr Gute-Laune-Gesicht. Sie war mein Ein und Alles, und ich liebte sie genau so, wie sie war.

Und trotzdem. Eine seltsame Traurigkeit haftete in den Ecken meines Zimmers, nistete sich zwischen den bestickten Kissen und der Lichterkette über dem Bett ein und verkroch sich in meinem Bücherregal, in dem sich die wenigen Liebesromane, die ich besaß, stapelten.

Ich zupfte weiter auf der Gitarre herum, doch es half nichts. Dieses seltsame Gefühl ließ sich nicht vertreiben. Ich dachte zurück an den Filmabend. Vielleicht lag es gar nicht so sehr an Maisie, sondern daran, dass der Film mich mit seinen fröhlichen Songs sentimental gestimmt hatte. Manchmal ertrug ich zu viel Glücklichsein nur schwer, da es mir schonungslos vor Augen hielt, was ich – was wir – verloren hatten.

Seufzend legte ich die Gitarre weg, obwohl mich Musikmachen normalerweise beruhigte. Es war mein Mittel, abzuschalten, zu vergessen oder auch alles Angestaute herauszulassen. Die Wut, die Angst, die Erinnerungen. Nur heute wollte es mir einfach nicht gelingen, die niederdrückenden Gefühle abzuschütteln. Mein Blick fiel auf das Foto auf meinem Nachttisch. Es zeigte vier glücklich lächelnde Menschen. Ein Paar, das strahlte, als wäre es frisch verliebt, und zwei Mädchen. Die Ältere der beiden trug die Kleine huckepack und grinste vergnügt in die Kamera. Eine Familie.

Ich schluckte schwer.

Es war so lange her, dass wir eine Familie gewesen waren. Eine vollständige Familie mit einer Mum und einem Dad. Oft vergingen Tage, an denen ich kaum an sie dachte. Etwa, wenn ich den ganzen Tag im Café arbeitete, mit Holly durch die Stadt streifte oder abends mit Maisie irgendwelche Castingshows im Fernsehen anschaute. Dann vergaß ich, dass ich eine Waise war. Doch in den stillen Momenten, in denen ich mit mir und meinen Gedanken allein war, wurde die Vergangenheit lebendig, und die Sehnsucht traf mich mit voller Wucht. Dann vermisste ich Mums Geruch, von dem ich nicht einmal mehr wusste, ob ich mich wirklich an ihn erinnerte. Dann fehlte mir das dröhnende Lachen meines Dads und wie er mich durch die Luft gewirbelt hatte, wenn er vom Arbeiten nach Hause gekommen war.

Ich tastete nach meinem Handy und wählte Hollys Nummer, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Es nützte nichts, in Melancholie zu versinken und etwas zu vermissen, was nicht mehr da war.

Holly nahm nach dem zweiten Klingeln ab. »Amelia? Ist alles okay?«

»Ich schätze schon. Störe ich? Ich weiß, es ist schon spät, aber …«

»Heute ist einer dieser Tage«, stellte sie fest.

»Ja, heute ist einer dieser Tage.«

Holly und ich kannten uns seit der Grundschule; wir waren schon damals die dicksten Freunde gewesen. Und daran hatte sich nichts geändert. Ich musste ihr nichts erklären, nicht nur, weil sie mich gut genug kannte, sondern weil ich den Tag bei ihr verbracht hatte, als meine Familie ohne mich einkaufen gefahren war und das Unglück passierte. Sie war dabei gewesen, als ein Anruf von Charlotte kam und Hollys Mutter mich sofort ins Krankenhaus gebracht hatte. Danach hatte Holly jedes Mal nach mir gesehen, wenn ich in der Schule weinend aufs Klo gerannt war, weil die Trauer mich überwältigte. Ihre Eltern hatten mich immer willkommen geheißen und auch Charlotte ihre Unterstützung angeboten. Ohne Holly wäre ich heute nicht die Person, die ich war.

»Okay, erzähl mir etwas«, versuchte Holly, mich von meinen Gedanken abzulenken.

»Was willst du denn hören?«, fragte ich verblüfft.

»Erzähl mir, was damals in der Elften wirklich zwischen dir und Josh lief.«

»Was?« Ich unterdrückte ein Lachen und richtete mich im Bett auf.

»Ach, komm schon. Ihr seid für eine ganze Weile im Wald verschwunden, während der Rest der Klasse am Lagerfeuer saß. Erzähl mir nicht, dass ihr nur Händchen gehalten und Sterne gezählt habt.«

»Holly, das ist fünf Jahre her!«

»Weiß ich. Aber du weißt, dass ich auch auf ihn stand, also erzähl schon.«

»Ist Taylor bei dir?«

»Er schläft neben mir auf der Couch. Ist während des Films eingepennt. Jetzt lenk nicht ab.«

Ich lachte, als ich mir vorstellte, wie sie mit gerunzelter Stirn auf dem Sofa saß, während Taylor leise neben ihr schnarchte.

»Zwischen Josh und mir ist nie etwas gelaufen. Und willst du wissen, warum?«

»Weil du damals mit Callum aus der Zwölften zusammen warst?«, fragte sie, und ich hätte schwören können, das Grinsen in ihrer Stimme zu hören.

Ich runzelte die Stirn. »War ich das?« Ich dachte nicht besonders gern an die kurzlebigen, sogenannten Beziehungen aus der Schulzeit zurück.

Schließlich war ich damals nicht gerade die perfekte Freundin gewesen. Vermutlich, weil mir keiner der Typen wirklich etwas bedeutet hatte. Warum ich trotzdem mit ihnen zusammen gewesen war? Tja, das fragte ich mich inzwischen auch. Meine damalige Therapeutin, zu der ich für ein paar Monate gegangen war, hatte es Kompensation und Verlustbewältigung genannt, aber das hatte sie bei allem, was ich machte, getan.

»Wie auch immer«, sagte ich entschieden. »Ich hatte nichts mit ihm, weil ich wusste, dass du ihn gut fandest. Aber an dem Abend wollte er nur etwas mit mir besprechen, beziehungsweise herausfinden, ob Claire auf ihn steht.«

»Wie großzügig von dir, dass du ihn mir überlassen hättest«, erwiderte Holly lachend. »Und ja, ich erinnere mich … Er hat auf dieser Klassenfahrt mit Claire geschlafen, oder?«

»O Gott, ja! Das war ein Drama.« Ich stimmte in Hollys Lachen mit ein und spürte, wie sich die Traurigkeit aus dem Zimmer zurückzog.

Mit Holly zu reden, hatte immer etwas Aufmunterndes. Obwohl ich mich inzwischen besser fühlte, quatschten wir trotzdem noch eine ganze Weile weiter, tauschten Anekdoten aus meinem Tag im Café und ihrem Tag an der Uni aus, was heilsamer war als Tausend tröstende Sätze.

Als ich eine Stunde später auflegte, war mein Herz ruhig und meine Gedanken nicht länger dunkel. Ich kuschelte mich in die weiche Decke und versuchte, nicht an den morgigen Abend zu denken, der dank dieser verflixten Lesung lang und anstrengend werden würde. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Atmung.

Einatmen, eins, zwei, drei …

Ausatmen, eins, zwei, drei …

Meine Augenlider wurden schwer, und ich spürte, wie der Schlaf nach mir griff. Vielleicht würde ich diese Nacht sogar etwas Schönes träumen, dachte ich noch, und dann driftete ich weg.

Ich war spät dran, als ich mich am nächsten Nachmittag für die Arbeit im Café zurechtmachte. Mir war die Spätschicht zugeteilt worden, die normalerweise von dreizehn bis achtzehn Uhr ging, aber heute war alles etwas anders. Chloé hatte gesagt, ich bräuchte erst um fünfzehn Uhr zu kommen, wenn ich dafür bei den Vorbereitungen für die Lesung half und danach noch zum Aufräumen blieb.

Kurz bevor ich das Haus verließ, ging ich noch zu Maisie, die vor wenigen Minuten von der Schule gekommen war. Wie zu erwarten, saß sie auf ihrem Bett und las.

»Es wird spät bei mir, aber morgen können wir zusammen frühstücken und eine Runde durch den Park drehen, ja?«

Sie nickte kaum merklich und beugte sich wieder über eines ihrer Bücher.

Ich wandte mich zum Gehen und erreichte gerade die Haustür, als ich Schritte hinter mir hörte. Überrascht drehte ich mich zu Maisie um. »Was ist?«

Sie streckte mir ein Buch entgegen, und als mein Blick auf den Titel fiel, seufzte ich. Der Fall des roten Throns. Es war das neue Werk von Jasper Haven.

»Er soll es für dich signieren?«

Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

»Alles klar. Ich schau mal, was sich machen lässt.« Ich zwinkerte ihr zu und verließ mit schnellen Schritten die Wohnung.

»Amelia, gut, dass du da bist! Ein großer Blumenstraß muss arrangiert und auf den Tisch gestellt werden, an dem Mister Haven später sitzt. Und wir brauchen mehr Stühle. Im Keller sollten noch zwanzig Stück sein, am besten rücken wir die Tische an den Rand, um wirklich den ganzen Raum nutzen zu können. Und jemand muss die Eintrittskarten kontrollieren.« Chloé holte tief Luft, wofür ich ihr überaus dankbar war. Ich hatte schon befürchtet, sie würden jeden Moment kollabieren. Atemnot, wegen zu vieler Worte auf einmal. Bestimmt war so was schon vorgekommen.

Meine Chefin wedelte sich Luft zu, dabei waren es hier drin keine zwanzig Grad. Sie trug heute eine enge Hose, kombiniert mit einer weißen Bluse und einem dunklen Blazer, der ihre schlanke Figur betonte. Ihre kurzen Haare verliehen ihrem Look eine moderne Note, um die ich sie insgeheim beneidete. Mein Outfit war nämlich so ziemlich das Gegenteil.

Ich hatte meine roten Haare, die mir bis zur Taille reichten, zu einem hohen Zopf zusammengebunden, damit sie mir nicht ständig im Weg waren. Statt einer edlen Hose und einem schicken schwarzen Blazer trug ich einen braunen Cordrock und ein hellblaues Top, das mit kleinen Federn bestickt war. Darüber hatte ich eine Strickjacke angezogen, unter der mir von dem vielen Hin- und Herlaufen jedoch zunehmend wärmer wurde. Elegant und sexy funktionierte bei mir einfach nicht. Ich landete irgendwie jedes Mal bei bunt und verspielt. Holly sagte oft, dass mein fröhliches Äußeres meine inneren Abgründe kompensierte. Sie hätte sich vermutlich blendend mit meiner ehemaligen Therapeutin verstanden.

»Wir haben noch über eine Stunde Zeit bis zur Lesung. Wir kriegen das locker hin. Außerdem sieht es hier jetzt schon super aus«, beruhigte ich Chloé. Die letzten Gäste waren vor wenigen Minuten gegangen, nachdem wir sie erinnert hatten, dass das Café heute eine Stunde früher schloss. Seither halfen alle fleißig beim Umräumen.

Rachel, meine Arbeitskollegin, hatte heute Vormittag ganze Arbeit geleistet und Käsegebäck und Pizzabrötchen gebacken. Sie war es auch, die jetzt den Büchertisch im hinteren Teil des Cafés aufbaute, auf dem sie die vielen Exemplare von Jasper Havens neuestem Werk stapelte. Sein Manager oder Agent hatte die Kartons heute Morgen vorbeigebracht und offenbar erwartet, dass wir das übernahmen. Da ich kein besonders großer Fan von Fantasyromanen war, hatte ich keins seiner Bücher gelesen, aber Rachel schwärmte mir seit Tagen von ihm vor. Normalerweise las sie nur Liebesromane, aber bei Jasper Haven hatte sie wohl eine Ausnahme gemacht. Ich hatte den Verdacht, dass sie sich etwas in ihn verguckt hatte, wobei sie grundsätzlich sehr schnell ins Schwärmen geriet. Rachel war generell eine hoffnungslose Romantikerin – und das, obwohl sie vor einem Jahr ihre Verlobung aufgelöst hatte, nachdem ihr Freund sie betrogen hatte.

»Du hast recht«, gab Chloé zu. »Es sieht super hier aus. Trotzdem, die Tische …«

»Rücken wir beiseite«, unterbrach Rachel unsere Chefin, die schon wieder eine Spur zu schnell sprach. »Entspann dich, Amelia und ich machen das schon.«

»Alles klar. Danke. Ihr seid die Besten! Ich wüsste gar nicht, was ich ohne euch machen würde.« Chloé drückte erst mir und dann Rachel einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich abwandte und Taylor einen misstrauischen Blick zuwarf, der gerade mit Holly zusammen das Gebäck auf Porzellanplatten anrichtete.

»Die beiden werden mich noch dafür hassen, dass ich sie überredet habe, heute zu helfen«, murmelte ich.

»Quatsch, wenn die Lesung erst mal begonnen hat, werden sie den Stress vergessen haben«, erwiderte Rachel fröhlich, als würde Chloés Hektik gänzlich an ihr abprallen.

Gemeinsam rückten wir die Tische beiseite, bevor wir in den Keller gingen, um die restlichen Stühle zu holen. Nachdem wir alles aufgestellt hatten, verteilten wir noch Blumenvasen überall dort, wo es einen stilvollen Eindruck machte.

Eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung stellte Taylor sich an die Tür und ließ die ersten Gäste herein. Während er die Karten kontrollierte und das Café sich langsam füllte, prüfte ich noch mal das Büfett, das wir vor der Theke aufgebaut hatten; zur Feier des Tages standen sogar Sekt und Wein auf der Karte.

»Ich muss mal kurz raus. Die Luft hier drin erdrückt mich noch«, rief ich Rachel wenig später zu, als sie freudestrahlend mit einem Kuchen aus der Küche kam. Es war noch nicht allzu voll, und ich hoffte, draußen kurz tief durchatmen zu können, bevor es richtig losging.

»Ist gut.« Sie strich sich eine herausgerutschte blonde Strähne hinter das Ohr und schaute sich verstohlen um, als erwartete sie, dass ihr Traumprinz jede Minute hier auftauchen würde.

Ich seufzte leise und bahnte mir einen Weg nach draußen. Rachel war fünf Jahre älter als ich, aber manchmal führte sie sich auf wie eine quirlige Teenagerin. An sich störte mich das auch nicht, und ich hatte sie wirklich gern. Sie konnte nur manchmal etwas … na ja, viel sein.

Draußen angekommen, schlug mir ein kalter Wind entgegen, doch immerhin war es trocken. Ich sog gierig die frische Luft ein, als wäre ich drinnen wirklich kurz vorm Ersticken gewesen. Ein junges Paar schob sich an mir vorbei und steuerte auf das Café zu. Ich lächelte ihnen kurz zu und setzte mich dann in Bewegung. Nur ein paar Minuten Ruhe, dann würde ich zurückgehen und versuchen, den Abend zu genießen, wie Rachel es mir immer wieder gesagt hatte. Vor und nach der Lesung würde ich zwar Sekt ausschenken und den Leuten Häppchen anbieten, die im Preis der Eintrittskarte mitinbegriffen waren. Doch während der Lesung sollte ich für ein paar Minuten ebenfalls entspannen können.

Trotzdem ertappte ich mich bei dem Wunsch, das gut besuchte Café einfach zurückzulassen und es mir stattdessen mit einem Buch im Bett gemütlich zu machen. Manchmal konnte ich Maisie verdammt gut verstehen. All das Reden und Unter-Leuten-Sein konnte anstrengend sein. Aber so verlockend es auch war, ich würde nicht wieder anfangen, mich zurückzuziehen. Das hatte ich hinter mir.

In Gedanken versunken lief ich die Straße entlang. Zu spät bemerkte ich den Fremden, der mir entgegenkam, und rannte prompt in ihn hinein. Erschrocken fuhr ich zurück, als er laut fluchte.

»Scheiße, kannst du nicht aufpassen?« Dunkle Augen starrten mich finster an.

Ich wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, als ich ihn erkannte. Das durfte doch nicht wahr sein! »Du schon wieder.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wich noch einen Schritt zurück.

»Sollte ich dich kennen?« Er runzelte die Stirn und musterte mich forschend, als suchte er in meinem Gesicht nach einem Hinweis.

»Ernsthaft jetzt? Du weißt nicht einmal mehr, wer ich bin? Ach, warum bin ich überhaupt überrascht? Ich habe dich gestern im Café bedient. Du weißt schon, die Kellnerin, die die Frechheit besaß, dich beim Arbeiten und Wassertrinken zu unterbrechen.« Keine Ahnung, woher diese Worte kamen, doch ich war der betreffenden Region meines Gehirns überaus dankbar.

Seine Augenbrauen schossen nach oben. »Wow. Das muss dir echt nahegegangen sein, dass ich meinem Laptop schöne Augen gemacht habe anstatt dir.«

»Was? Ich wollte nicht, ich …« Mist. Das war’s dann wohl mit der Schlagfertigkeit.

Der Kerl lachte leise auf, und das Geräusch kam so unerwartet, dass ich ihn verwundert anstarrte. Es war ein dunkles, warmes Lachen, mit dem ich nicht gerechnet hätte.

Eine Sekunde lang war sein Gesicht wie verwandelt. Sein Blick wurde weich, und als er lächelte, wirkte er tatsächlich freundlich. Doch einen Wimpernschlag später verschloss sich seine Miene wieder, und die Herzlichkeit erlosch, als hätte jemand das Licht ausgeknipst.

»Schon gut. Das nächste Mal bestelle ich einen zweiten Espresso.« Er zwinkerte mir zu und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter die Straße entlang.

Verwirrt starrte ich ihm nach. Das nächste Mal?

Ich blieb noch ein paar Minuten so stehen. Irritiert und irgendwie neben der Spur. Als sich mein Kopf wieder einschaltete, eilte ich zurück ins Daydream. Chloé würde mich umbringen, wenn ich zu lange wegblieb und nur Rachel da war, um die Gäste zu empfangen.

»Sorry, Leute!« Ich gesellte mich zu Holly und Rachel, die gerade neue Sektgläser auf dem Büfett füllten. Zum Glück war noch nicht so viel los.

»Schon gut, wenn du noch Nachschub von den Pizzabrötchen holen könntest?« Holly deutete auf einen leeren Teller.

»Klar«, erwiderte ich.

Ich verschwand hinter der Theke und in die Küche, um den Teller aufzufüllen. Rachel drängte sich kurz darauf hektisch an mir vorbei. Vermutlich holte sie Getränke-Nachschub. Als ich zurück zur Theke ging, schlug mir lautes Stimmengewirr entgegen. Ich war zwar nur ein paar Minuten weg gewesen, doch das Café hatte sich in der Zeit ziemlich gefüllt – und es kamen mit jeder Minute mehr Gäste.

»Du hast nicht gesagt, dass es so hektisch werden würde.« Holly stöhnte. Sie stand inzwischen allein hinter dem Büfett, schenkte Getränke nach und beantwortete die Fragen der Gäste, die im Grunde alle nur wissen wollten, ob Jasper Haven am Ende Bücher signieren würde.

»Ich weiß, sorry. Aber ihr rettet uns damit echt.« Mein Blick huschte zu Taylor, der immer noch im Eingangsbereich die Karten kontrollierte. Fast alle Stühle waren bereits besetzt, und es kamen immer noch neue Leute.

So voll hatte ich das Café noch nie erlebt.

»Ich hätte nie gedacht, dass so viele Leute zu einer Lesung gehen.« Atemlos kam Rachel neben uns zum Stehen und stellte eine weitere Kiste Sekt ab.

»Ich auch nicht, aber für das Café ist das wirklich super.«

»Ist es. Vor allem, weil …« Mitten im Satz brach Rachel ab. Wie hypnotisiert starrte sie in die Ecke, in der sie den Tisch mitsamt Büchern und Blumenvase arrangiert hatte und wo Chloé vermutlich gerade mit Jasper Haven sprach.

Noch bevor ich aufschauen konnte, erklang seine Stimme. Sie war tief und warm und erfüllte das gesamte Café, in dem schlagartig Stille einkehrte, als er alle begrüßte und darum bat, Platz zu nehmen. Langsam richtete ich mich auf. Mein Blick huschte quer durch den Raum und traf auf dunkle Augen. Seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen, als er mir zuzwinkerte, bevor er sich wieder dem Publikum zuwandte.

Rachel neben mir schnappte leise nach Luft, aber ich beachtete sie nicht. Nein, ich war zu sehr damit beschäftigt, nach einem Loch im Boden zu suchen, in dem ich versinken konnte.

Warum zur Hölle musste ausgerechnet der Kerl, mit dem ich bereits zweimal aneinandergeraten war, Großbritanniens gefeierter Bestsellerautor Jasper Haven sein? Und warum hatte ich das nicht früher bemerkt und mir damit eine gigantische Blamage erspart?

3. KAPITEL

Jasper

Sämtliche Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich konnte es förmlich spüren, wie sie mich musterten. Bewundernd, interessiert, gierig.

Ihre Blicke brannten auf meiner Haut, doch ich vergaß sie, als ich mich auf die Buchstaben vor mir konzentrierte. Sie reihten sich verlässlich aneinander, verbanden sich zu Wörtern und Sätzen und erzählten eine Geschichte. Das war es, was die Leute von mir wollten. Geschichten. Erzählungen, die sie für ein paar Stunden ihr unbedeutendes Leben vergessen ließen. Sie wollten sich in den Helden wiederfinden und glauben, dass sie ähnlich mutig oder stark sein könnten. Sie wollten eine Illusion. Eine Flucht vor ihren Sorgen und Zweifeln, die sie jeden Tag zu erdrücken drohten. Und ich würde sie ihnen geben.

Ich würde sie in andere Zeiten und Welten entführen, bis sie vergaßen, dass unsere Welt vor die Hunde ging, weil die eigenen Scheißprobleme immer größer wirkten als die der anderen.

Ich würde sie mit meiner Stimme locken und verzaubern, bis sie in Worten ertranken und sich darin verloren.

Ich würde ihnen eine Auszeit von ihrem Alltag verschaffen – und das liebten sie. Das brauchten sie. Wir alle taten das. Aus diesem Grund würde Kunst sich selbst in Krisenzeiten noch verkaufen.

Räuspernd richtete ich mich etwas auf und konzentrierte mich wieder ganz auf den Moment. Wie jedes Mal bei einer Lesung nahm ich alles überdeutlich genau wahr. Das erwartungsvolle Luftholen der Gäste, das Kratzen eines Stuhlbeins über den Boden, das Surren einer verirrten Fliege.

Einmal noch tief durchatmen, dann würde ich die Worte lesen, auf die alle warteten.

»Die Schatten der Nacht krochen bereits die Burgmauern hinauf, als Ian McPhee sich lautlos aus den Armen seiner Geliebten löste.«

Mein Blick flog über die Seiten, dabei kannte ich die Worte, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Nächtelang hatte ich über dem Manuskript gebrütet, ganze Kapitel verworfen und neu getippt, Szenen verändert, korrigiert und erneut gelöscht. Der Autor in mir war Perfektionist. Er gab keine Ruhe, bis jeder Satz stimmte und ich dieses gewisse Gefühl beim Lesen empfand, das ich unmöglich in Worte fassen konnte, obwohl genau das – Gefühle in Worte zu fassen – doch eigentlich meine Stärke war.

Während ich las, veränderte sich die Stimmung im Raum. Ich musste nicht aufschauen, um es zu bemerken. Die Leute hörten auf, sich auf ihren Stühlen zu bewegen oder von einem Fuß auf den anderen zu treten. Stille breitete sich aus, die nur von meiner Stimme durchbrochen wurde.

Und während ich die Menschen mit in eine andere Welt nahm, verstummten auch meine Gedanken. Ich verlor mich mit ihnen, denn was niemand wusste, was ich niemals sagte, war, dass ich nicht schrieb, um den Lesern eine Flucht vor ihrem Leben zu ermöglichen. Ich schrieb, weil ich meine eigenen Gedanken nicht ertragen konnte, weil sie in meinem Kopf explodierten und nichts als Zerstörung und Chaos hinterließen. Ich erschuf Welten, weil ich meine Welt nicht aushielt. Ich schrieb, um nicht wahnsinnig zu werden. Um der Vergangenheit zu entkommen, die mich immer wieder einholte, ganz egal, wie viele Nächte ich am Laptop saß und Worte tippte. Ich schrieb, um zu überleben. Diese Geschichte war nicht ihre Flucht. Sie war meine.

4. KAPITEL

Amelia

Jasper Haven war vielleicht ein unhöflicher Idiot, aber er war ein verflucht guter Schriftsteller. Ich wünschte, die Lesung würde mich kaltlassen und seine warme Stimme mich nicht in ihren Bann ziehen. Ich wehrte mich gegen die Bilder, die seine Worte heraufbeschworen, und leugnete die Gänsehaut, die über meine Arme kroch, als seine Stimme lauter wurde. Doch das magische Gefühl, von ihm in eine andere Welt entführt zu werden, ergriff mich trotzdem. Es füllte den Raum aus und verzauberte jeden einzelnen Gast. Anders konnte ich es nicht beschreiben. Die Blicke der Leute veränderten sich, während er sprach. Ich konnte sehen, wie sie an seinen Lippen hingen, als würden sie ihm ewig zuhören wollen. Nachdem er geendet hatte, herrschte einen Moment lang Stille im Café. Dann brach ein Applaus aus, der mich schlagartig zurück in die Realität katapultierte.

Jasper grinste, während ein Mann – vermutlich sein Agent – einen Stapel Bücher auf seinen Tisch stellte und sich neben Jasper in einen Sessel setzte, um ihm ein paar Fragen über das Buch zu stellen.

Die Magie verflog, als auf Jaspers Lippen das distanzierte, kühle Lächeln erschien, das ich bereits kannte. Der arrogante Kerl, der es nicht für nötig hielt, einer Kellnerin Beachtung zu schenken, kehrte zurück. Schnaubend wandte ich mich ab.

»Es war unglaublich, oder?« Rachel strahlte mich aus ihren blauen Augen verzückt an.

»Zumindest kann er lesen«, gab ich schulterzuckend zurück.

»Zumindest kann er … wow, Amelia. Selbst du kannst nicht leugnen, dass dieser Mann ein Wahnsinnstalent hat.«

»Kann schon sein.« Ich hatte wirklich keine Lust, über ihn zu sprechen.

»Also ich fand ihn klasse«, wandte Holly ein und fiel mir damit prompt in den Rücken.

Ich warf ihr einen bösen Blick zu, während ich mir inständig wünschte, dass das Interview – und damit der Abend – bereits vorbei wären. »Dabei liest du doch überhaupt keine Fantasyromane«, sagte ich.

»Na und? Ich kann seine Art zu schreiben ja trotzdem toll finden. Was ist überhaupt mit dir los? Erst hast du dich über den Gast gestern aufgeregt, und jetzt passt dir Jasper Havens Auftritt nicht. Ist alles okay?« Holly musterte mich prüfend, aber ich wich ihrem Blick aus.

»Ach«, fing ich an, während ich kurz zu Jasper schaute, der gerade die letzte Frage beantwortet hatte, »ich verstehe nur nicht, warum so ein Wirbel um ihn gemacht wird.«

»Aha.« Sie klang skeptisch, was ich ihr nicht verübeln konnte. Ich benahm mich seltsam, das wusste ich selbst. »Aber echt verrückt, wie viele sich da jetzt anstellen wollen«, schob sie hinterher, als plötzlich alle gleichzeitig aufstanden und nach vorn drängten, um sich eine persönliche Signatur zu holen.

Sofort eilte Chloé herbei und wies Taylor und Rachel an, die Stühle beiseitezuschieben.

»Na ja, die wollen halt ein Autogramm, weil sie denken, dass … oh, Mist!« Ich riss die Augen auf, als ich mich an das Buch in meinem Rucksack erinnerte.

»Was ist?«

»Maisie hat mir eins von seinen Büchern mitgegeben, um es signieren zu lassen.«

»Dann musst du dich wohl ebenfalls in die Reihe der Frauen stellen, die gerade mit großen Augen darauf warten, ein Foto mit ihrem Lieblingsautor zu machen«, sagte Holly feixend.

»Das geht nicht.« Die Vorstellung, mich da jetzt anzustellen, nur um Jaspers schadenfrohem Grinsen zu begegnen, war alles andere als angenehm. »Du musst das machen. Bitte, Holly. Ich frage dich dafür bei der nächsten Prüfung auch ab, obwohl ich von dem ganzen Medizinkram nichts verstehe.«

»Netter Versuch, aber nein. Ich fand die Lesung zwar super, aber deshalb renne ich doch nicht wie ein Fan zu ihm. Und zum Lernen habe ich meine Kommilitonen.«

»Verdammt«, murmelte ich. »Bitte. Ich kann da nicht hin, aber Maisie wäre sicher enttäuscht und …«

Stirnrunzelnd musterte meine beste Freundin mich. »Warum kannst du dich nicht anstellen?«

»Weil …«

»Ja?«

Na super. Dieses Gespräch hatte ich eigentlich vermeiden wollen. Ich senkte meine Stimme, obwohl uns eigentlich niemand beachtete. Rachel war zwar inzwischen zurückgekehrt, war jedoch voll und ganz damit beschäftigt, die letzten Sektgläser zu verteilen und benutztes Geschirr entgegenzunehmen. Taylor räumte währenddessen bereits die ersten Stühle zurück in den Keller, und die meisten Gäste waren im Begriff zu gehen oder standen vor Jaspers Tisch.

»Er ist der Kerl von gestern«, sagte ich mit gesenkter Stimme. »Du weißt schon, der, über den ich mich am Telefon aufgeregt habe. Na ja … er hat mich gehört.«

»Oh!« Holly schlug sich schnell eine Hand vor der Mund, aber ich konnte ihr Lachen trotzdem hören. »Der Gast, den du als attraktiv und arrogant bezeichnet hast?«

Ich stieß ein frustriertes Schnauben aus. »Schön, dass du das so witzig findest.«

»Jetzt werde ich das Buch erst recht nicht für dich signieren lassen.«

»Aber …«

»Da musst du schon selbst durch.« Sie klopfte mir kurz auf die Schulter und ging dann zu Taylor, um ihm mit den Stühlen zu helfen. Na, vielen Dank auch.

Einen Moment lang stand ich unschlüssig herum. Doch schließlich gab ich mir einen Ruck und ging hinter die Theke, um das Buch aus dem Rucksack zu holen. Es wog schwer in meiner Hand, und als ich es aufklappte, sah ich ein Foto von Jasper. Hätte ich das früher gemacht, wäre mir eine Menge erspart geblieben. Andererseits hätte ich ihn vermutlich trotzdem nicht erkannt.

Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte einen fröhlich lächelnden Kerl, was so gar nicht zu dem Typen passte, den ich gestern bedient hatte. Selbst auf den Plakaten, mit denen die Lesung beworben worden war, sah er ganz anders aus. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um dieselbe Person handeln könnte.

Mein Blick wanderte von dem Foto zu dem echten Jasper, der gerade mit einer blonden Frau flirtete, die, nachdem er ihr irgendetwas gesagt hatte, den Kopf in den Nacken warf und glockenhell lachte.

Erstaunlich, wie von dem schweigsamen Gast kaum noch etwas zu sehen war. Stattdessen wirkte er da vorn wie ein arroganter Kerl, der sich für etwas Besseres hielt. Um Typen wie ihn machte ich grundsätzlich einen Bogen. Sie waren mir eine Spur zu überheblich, zu scheinheilig. Menschen, die glaubten, sie könnten alles und jeden verachten – und die damit auch noch durchkamen, waren mir zuwider. Ein gutes Buch zu schreiben, machte ihn noch lange nicht zu einem guten Menschen. Und ich war nicht jemand, der seine Gefühle verbergen konnte – wie er bereits zweimal zu sehen bekommen hatte. Wenn ich jetzt mit dem Roman vor ihm auftauchte … scheiße aber auch. Maisie hatte ja keine Ahnung, was ich für sie alles auf mich nahm.

Seufzend legte ich das Buch in den Rucksack zurück, da im Moment die Schlange sowieso noch viel zu lang war, und half Rachel beim Aufräumen. Aus dem Augenwinkel behielt ich den Tisch im Blick, und als die letzte Person sich von ihm verabschiedet hatte, schnappte ich mir schnell das Buch und marschierte entschlossen auf ihn zu. Augen zu und durch. Je schneller ich es hinter mich brachte, desto besser.

»Da bist du ja«, begrüßte er mich grinsend, als ich auf ihn zutrat.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht sofort wieder umzudrehen und davonzustürmen. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen. »Meine Schwester liest gern«, sagte ich und hielt ihm das Buch hin. Dabei schaute ich kurz auf seinen Namen, der mir verhöhnend in dunkler Schrift von dem Cover entgegensprang.

»Aha.« Jasper legte den Kopf schief und musterte mich eingehend, als wäre ich eine der Frauen, die sich vorhin schmachtend an seinen Tisch gelehnt hatten.

Ich hielt seinem Blick stand, obwohl sich in mir alles zusammenzog und ich ihm am liebsten sein verdammtes Buch entgegengeschleudert hätte. Aber kein Buch der Welt hatte es verdient, durch die Gegend geworfen zu werden.

»Du kannst aufhören, mich anzustarren. Ich werde mich nicht entschuldigen oder verlegen kichern. Meine Schwester liest gern, und aus irgendeinem Grund mag sie deine Bücher, also kannst du bitte einfach für sie deinen Namen reinschreiben?« Meine Stimme klang erstaunlich fest, wofür ich mir innerlich auf die Schulter klopfte.

Jaspers Augen weiteten sich kurz, doch das Lächeln blieb. »In Ordnung …?« Fragend schaute er mich an.

»Amelia«, murmelte ich. »Ich heiße Amelia.«

»Amelia, wie schön.«

»Hör auf damit.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Warum musste Jasper Haven nicht nur begnadet gut vorlesen können, sondern noch dazu so aussehen? Auch wenn mich seine schicken Klamotten und die Kombination aus schwarzem Jackett und Jeans nicht beeindrucken sollten, musste ich zugeben, dass der Look ihm verflucht gut stand. Elegant und lässig zugleich, und auf eine irritierende Art auch sexy.

»Womit denn aufhören?«

»Mit mir zu reden, als wäre ich eine deiner Verehrerinnen. Ich habe das Buch nicht mal gelesen.«

Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. Kurz durchzuckte mich ein schlechtes Gewissen, und ich fragte mich, wie ich eigentlich dazu kam, einem Fremden so dermaßen angriffslustig zu begegnen. Aber aus irgendeinem Grund gingen mir seine Gleichgültigkeit und die kühle Miene nahe. Vielleicht, weil ich spürte, wie falsch diese Maske war.

»Könntest du bitte einfach das Buch signieren?« Fast schon flehend sah ich ihn an. Ich wollte nur noch hier weg und dieser seltsamen Begegnung entfliehen.

»Klar. Wie heißt deine Schwester denn?«

»Maisie.« Ich lächelte, wie immer, wenn ich ihren Namen aussprach. »Sie heißt Maisie. Mit ie. Und sie … na ja, sie ist total verrückt nach Büchern. Ich kenne niemanden, der so viel liest wie sie, und dass sie das Buch mag …« Mitten im Satz brach ich ab. Wo zur Hölle kamen denn all diese Worte her? Und warum redete ich überhaupt mit ihm?

»Ja?« Seine Stimme klang plötzlich tiefer. Er sah mich mit einer Ernsthaftigkeit an, die mich schwer schlucken ließ.

Ich räusperte mich. »Es muss gut sein. Das Buch. Da sie es liebt, muss es gut sein.«

»Warum ist sie dann nicht selbst hier, um es sich signieren zu lassen?«

Ich erstarrte. Jaspers Blick lag aufmerksam auf mir. Ehrliches Interesse spiegelte sich darin und noch etwas anderes, das ich nicht ergründen konnte. Doch was auch immer es war, es führte dazu, dass ich meinen Mund öffnete und ihm eine Antwort gab, die mich mindestens so sehr überraschte wie ihn.

»Viele Menschen an einem Ort überfordern sie«, sagte ich leise. »Außerdem hätte sie dich nicht um ein Autogramm bitten können. Sie kann es nicht, weil sie nicht spricht. Zumindest nicht mit Fremden.«

Statt einer Antwort nickte er langsam und schlug dann das Buch auf. Er griff nach einem Stift, und ich beobachtete, wie er etwas hineinschrieb. Es waren viel zu viele Wörter für eine einfache Widmung und Unterschrift.

Er klappte das Buch zu und schob es über den Tisch in meine Richtung.

»Du liebst sie.« Keine Frage, eine Feststellung.

Ich nickte. »Sie ist die wichtigste Person in meinem Leben«, gab ich leise zurück. »Sie ist meine Familie.«

»Dann pass gut auf sie auf.«

Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über sein Gesicht, als hätte er eine Ahnung von der Tiefe der Gefühle, die ich für meine Schwester empfand. Nur konnte das nicht sein. Er kannte weder mich noch Maisie. Er wusste nicht, was wir durchgemacht hatten und was sie für mich bedeutete.

Plötzlich wurde mir dieses Gespräch zu viel. Es fühlte sich zu intim, zu persönlich an. Da war mir sogar sein selbstgefälliges, kühles Lächeln lieber.

»Danke fürs Signieren.« Ich schnappte mir das Buch und drückte es an mich.

»Gern, und hey, bevor ich gehe, kann ich vielleicht noch ein Glas Wasser haben?« Er zwinkerte mir zu, und ich verdrehte demonstrativ die Augen, bevor ich mich abwandte und Jasper Haven mit seinem verdammten Lächeln den Rücken zukehrte.

»Jasper möchte noch ein Glas Wasser«, gab ich an Rachel weiter, während ich das Buch wieder in meinem Rucksack verstaute. Danach eilte ich zu Taylor und Holly, die bereits die meisten Stühle in den Keller geräumt hatten, und half ihnen mit dem Rest.

Nachdem Chloé sich von Jasper und seinem Agenten verabschiedet hatte, kam sie freudestrahlend auf uns zu. Immer wieder schwärmte sie davon, wie toll der Abend gelaufen war, während wir zu fünft das Büfett abbauten und die Tische zurück an ihren Platz stellten, damit das Daydream morgen wie gewohnt öffnen konnte. Da es nur am Sonntag geschlossen hatte, würde Rachel auch morgen wieder arbeiten, ich hingegen hatte samstags meistens frei.

Während wir alles fertig aufräumten, spürte ich die ganze Zeit über Hollys neugierigen Blick auf mir, doch ich ignorierte sie. Zum Glück bohrte sie nicht nach, aber mir war klar, dass ich ihr spätestens auf dem Heimweg erzählen musste, wie meine Unterhaltung mit Jasper gelaufen war.

Kurz bevor wir das Café verließen, warf ich noch einen schnellen Blick in das Buch, um die Widmung zu lesen. Die Neugierde war zu groß, doch als ich die Worte las, schnappte ich überrascht nach Luft.

Für Maisie.Wer liest, lebt nicht nur in dieser Welt, sondern in vielen. Und jede davon birgt ein neues Abenteuer. Doch das größte Abenteuer von allen ist das Leben, das du mit den Menschen teilen kannst, die dich lieben. Viel Vergnügen beim Lesen und Eintauchen in die Welt von McPhee. Jasper Haven

Seine Worte trafen direkt ins Schwarze. In den letzten Monaten hatte ich mir zunehmend Sorgen darüber gemacht, dass Maisie zu sehr in ihren Buchwelten lebte und dadurch die realen Menschen in ihrem Leben vergaß. Was Jasper nicht wissen konnte. Trotzdem hatte er genau die richtigen Worte für Maisie gefunden. Wer war dieser Kerl?

5. KAPITEL

Amelia

»Amelia, kannst du Maisie heute Nachmittag nach der Schule zu dem Gespräch mit ihrer Lehrerin begleiten? Ich würde das ja gern übernehmen, aber ich habe selbst Elterngespräche und müsste den Termin sonst verschieben.«

Es war Montagmorgen, und Charlotte stopfte hektisch ein paar Gegenstände in ihre Tasche. Schulunterlagen, Geldbeutel, Handy, Handcreme. Ich schaute ihr dabei zu und versuchte, den Stress zu ignorieren, den sie ausstrahlte.

»Kein Problem, ich geh für dich zu diesem Gespräch.«

Ein Elterngespräch mit der Lehrerin. Ich müsste vermutlich nicht weit ausholen, um zu erklären, was sich daran so komplett verkehrt anfühlte.

»Ich weiß, dass das normalerweise die Erziehungsberechtigten tun sollten, aber …«

»Ist schon gut, du hast einen vollen Tag. Das Gespräch wird ja hoffentlich nicht allzu lange dauern. Und falls die Lehrerin Maisie nicht versteht, kann ich ja auch erklären, was sie ausdrücken will. Ich denke aber nicht, dass das ein großes Problem sein sollte.«

»Danke dir, du bist ein Schatz.« Charlotte warf mir ein erleichtertes Lächeln zu und griff nach ihrer Tasche. »Warum braucht Maisie denn so lange?«, fragte sie mit einem ungeduldigen Blick in Richtung Bad.

»Sie ist sechzehn«, erwiderte ich schulterzuckend.

»Na und?«

»Da habe ich auch durchschnittlich eine halbe Stunde länger gebraucht als sonst.«

Charlotte stöhnte auf. »Erinnere mich bitte nicht an die Phase, in der du nur mit schwarz umrandeten Augen und dunklem Lippenstift rumgelaufen bist. Das war furchtbar.«