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Was ist denn da in der Ruine des Landestheaters los? Stadtkater Jonathan wird von Lichtern durchs Gewölbe gejagt. Theaterdackel Mephisto stöbert unheimliche Erscheinungen auf. Auf der Suche nach ihrem Hund kommen die Kinder Fee, Nick und Kai im Keller der alten Bühne auf die Spur verlorener Theatergeister: Ein alter Graf, ein junges Mädchen und ein gefährlicher Chinese werden ihre geheimen Freunde. "Theaterspuk" beginnt als großer Spaß und wird schnell spannend, denn die Geister sind in Gefahr.
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Theaterspuk
Roman
Stefan Benz
© 2023 -Verlag, Altheim
Buchcover: Germencreative
Autorenfoto: Guido Schiek
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Wir sind vom gleichen Stoff,
aus dem die Träume sind
William Shakespeare, »Der Sturm«, 4. Akt, erste Szene
Die Residenzstadt Magendorf ...
Natürlich spielt diese Geschichte in Darmstadt. Das merken Darmstädter sofort. Dennoch heißt die kleine Residenzstadt in diesem Buch Magendorf, denn das Darmstadt, das sich dahinter verbirgt, gab es so nie. Die Geschichte spielt in der Gegenwart, die Ruine des Landestheaters mit der kleinen Kinderbühne gab es in den Achtzigern, die Baugrube des neuen Theaters wurde Anfang der Siebziger ausgehoben. Aber ob Magendorf oder Darmstadt – offensichtlich spukt es hier zwischen Rosenhöhe und Johannesviertel.
Jonathan sieht bunte Lichter
Die Frühlingsnacht war nasskalt, und Jonathan standen die Haare zu Berge. Er pirschte durchs Unterholz, spähte auf den Spielplatz, der verlassen vor ihm lag. Scheinbar alles friedlich, doch er wusste, dass Hannibal dort sein musste. Er konnte ihn riechen: Testosteron lag in der Luft. So widerlich, dass es seinen Kampfgeist reizte. Diesmal aber wollte er ihm aus dem Weg gehen, nicht wieder eine Abreibung kassieren. Die Schrammen von der letzten Begegnung mit dem roten Raufbold waren Jonathan eine Lehre gewesen. Er war jetzt hier draußen, weil er ein Geschenk suchte.
Das Abendessen daheim hatte er nicht angerührt, sondern war schnurstracks zur Balkontür gelaufen, kaum dass sie ihm den Teller hingestellt hatte. Was für ein aasiger Gestank. Das konnte sie gern selber fressen. Wieso wusste sie nach all den Jahren immer noch nicht, was ihm schmeckte? Vielleicht war sie dümmer, als er dachte. Aber er mochte sie, vor allem, wenn sie traurig war, denn dann war sie sehr verschmust. Als er rausgewollt hatte, war da wieder dieser Blick gewesen. Sie hatte ihm den Kopf gestreichelt, die Tür entriegelt und geseufzt. Wieder kein kuschliger Abend zu zweit, aber sie wusste ja: Ein Kerl muss tun, was ein Kerl tun muss. Und heute Nacht wollte er jagen. Nur für sie.
Doch vorher musste er an diesem Schlagetot vorbeikommen. Der Spielplatz war vom milchigen Licht einer Laterne schwach erhellt, doch Jonathan drückte sich lieber im Schatten herum, durch gemulchte Beete an einem Papierkorb vorbei, aus dem interessante Dünste aufstiegen. Keine Zeit. Lass dich nicht ablenken, Junge! Es zog Jonathan wie magisch zu einem kleinen Hain mit der Statue eines nackten Jünglings. Dort hatte er schon oft Glück gehabt, doch um hinzugelangen, musste er sich zwischen riesigen Bäumen über weite Rasenflächen wagen. Ohne jede Deckung. Am Rande des Spielplatzes blieb er stehen und spähte in den Park.
Ein Radfahrer mit flackerndem Rücklicht zuckelte durch die Dunkelheit. Der war ihm egal. Also wollte er es jetzt wagen. Erst mal bis zur nächsten Eiche. Schnell! Doch schon nach fünf flinken Schritten erstarrte er: Da war Hannibal! Groß und gefährlich. Keine dreißig Meter weg. Jonathan wäre dran gewesen, wenn der übelste Rowdy im ganzen Viertel nicht gerade in die entgegengesetzte Richtung gestarrt hätte. Dorthin, wo eine elegante Dame schlenderte. War das nicht Miranda? Egal, er musste jetzt an sich denken. Mit drei Sätzen war er wieder im Gebüsch. Noch ein beherzter Sprung und er war über die Mauer, im Hinterhof des Museums.
Sollte Hannibal sich doch an Miranda heranmachen, wenn er hier nur seine Ruhe hatte. Vorbei an Mülltonnen, aus denen der scharfe Geruch von Reinigungsmittel wolkte, schlich er zum gepflasterten Platz am alten Theater. Nur links im Anbau brannte Licht. Ein Hund bellte drinnen. Auch hier kaum Deckung, aber dafür mehr Licht und die Straße, die Hannibal scheute. Vergiss ihn, dachte sich Jonathan: Die Nacht gehört dir! Entschlossen lief er über den Platz zu dem mächtigen Gebäude, das nachts dunkel und geheimnisvoll wie ein verwunschener Berg dalag. Tagsüber gingen am Seiteneingang noch Menschen ein und aus, jetzt aber gehörte das alles ihm. Er zog rechts am Gebäude entlang, vorbei an Bauzäunen mit Flatterband. Dahinter klapperte es im Dunkeln. Jonathan blieb stehen, er konnte das Lösungsmittel riechen, dann sah er sie: Zwei Jungs, die wild geschwungene Zeichen an die Wand sprühten. Wie das stank! Schnell weiter.
Von der angestrahlten Front mit ihren mächtigen Säulen bröckelte der Putz. Unter dem Portal hatte es bei Regen früher immer ein trockenes Plätzchen gegeben. Doch vor einem Jahr war ein schwerer engmaschiger Stahlgitterzaun um den Eingang herum errichtet worden, den nicht mal Jonathan überwinden konnte. Und dabei hielt er sich viel darauf zugute, irgendwie immer überall reinzukommen. Er lief noch ein Stück weiter auf den Vorplatz, um einen besseren Blick auf die Fassade zu haben. Ob die beiden Frauen wieder da waren? Und tatsächlich. Da standen sie quasi in der Mauer und schauten auf ihn herab. Die Dame links hatte keine Nase mehr, aber eine Laute in der Hand, die Dame rechts war einbeinig und hielt eine Maske vor ihren Bauch. Jonathan bewunderte die beiden. Wie schafften sie das nur, dort oben? Auf einem Bein und ohne Nase. Er wusste ja schon, wie man reglos blieb, wie eine Statue verharrte, aber in diesen beiden hatte er seine Meister gefunden. Früher hatte er manchmal versucht, sie herauszufordern, zu schauen, wer länger bewegungslos bleiben konnte. Aber er hatte nie eine Chance, die Langeweile machte ihn viel zu schnell unruhig. Darauf wollte er sich heute nicht einlassen. Er musste ja noch was erledigen. Ohne Geschenk wollte er nicht heimkommen.
Kaum hatte Jonathan den Blick von den beiden Gestalten abgewendet, nahm er eine Bewegung wahr. Da huschte doch etwas durch die Dunkelheit. Auf der anderen Seite des alten Theaters, wo kein Bauzaun stand, dafür alle Fensterhöhlen mit Brettern verrammelt waren, hatte er es gesehen. Er war sich sicher. Jetzt ging´s los! Erst flink, dann wie in Zeitlupe, näherte er sich, blieb zwei Meter vor einem Gebüsch wie angewurzelt stehen. Nur sein Schwanz machte sich wieder selbstständig, zuckte in wilder Vorfreude, der Rest von Jonathan aber war reine Anspannung. Endlos lange verharrte er so, bis sich im Laub etwas raschelnd rührte. Da war sie. Das Mäuschen lugte spitznasig zu ihm herüber. Gleich würde er losschlagen, da huschte der winzige Schatten zur Mauer des alten Theaters, der kleine getigerte Kater mit zwei Sätzen hinterher. Doch die Maus war verschwunden. Das gab´s doch gar nicht. Jonathan drückte die Nase auf den feuchten Boden. Er konnte ihre Angst noch riechen, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Jonathan wollte schon aufgeben, als er hinter einem Busch die vernagelte Kellerluke entdeckte, deren Klappe einen Spaltbreit offenstand. Ein großes Tor für eine Maus, eine schmale Schikane für eine Katze. Sein Kopf war schon drin, der Rumpf aber wollte nicht folgen. Jonathan spähte in die Finsternis, quetschte seinen Bauch in die Öffnung. Zum Glück hatte er Frauchens Fraß verschmäht. Mit einem Mal war er drin. Dass sich ihm ein fetter roter Kater von hinten genähert hatte und kurz davor war, seinen Schwanz zu krallen, ahnte er nicht.
Jonathan war von seinem Erfolg so überrascht, dass er maunzte und sich unwillkürlich schüttelte. Wo war er denn hier gelandet? Und wo steckte diese vermaledeite Maus? Über ein morsches Regal hüpfte er auf glitschige Rohre an der Wand auf den von Pfützen bedeckten Boden. Die Tür des kleinen Raumes stand offen und führte in einen langen Gang. Neugierig tigerte Jonathan hindurch. Hier war nicht nur eine Maus zuhause, hier wohnten viele, und er wollte sie alle holen. Mit fliegenden Pfoten ging es eine Treppe hoch in einen weiteren Flur und dann in eine Nische mit Balkon. Der kleine Kater sprang aufs Geländer und spähte geduckt in die Dunkelheit eines großen Saales, in dem einige Bankreihen standen, andere umgekippt waren. Seltsamer Ort. Neben seinem Balkon gab es noch viele andere. Alle dunkel bis auf einen. Dort stand eine Kerze in einer Halterung und dahinter saß ein Mann. Winkte er nicht gerade Jonathan zu? Ob er sich das mal angucken sollte? Vielleicht gab es da ja was zu fressen.
Doch im nächsten Moment war Jonathan mit den Gedanken schon wieder woanders: Er hört etwas. Das waren doch keine Mäuse. Es klang wie Menschensprache, doch in einer fiepend flüsternden Tonlage. Nervös setzte Jonathan sich auf seinen zappelnden Schweif. Das werden doch keine Ratten sein, dachte er sich. Denen traute er alles zu, auch dass sie Menschenstimmen imitierten. Vor allem konnten sie übel austeilen. Darauf hatte er gar keine Lust. Und sein Frauchen wäre vielleicht auch gar nicht so erfreut, wenn er ihr eine blutige Ratte auf den Teppich legen würde. Während er noch darüber nachdachte, ob er ihr nicht einfach bei nächster Gelegenheit den Kanarienvogel der Nachbarin mitbringen solle, wurde es unmerklich heller im Raum. So langsam, dass es Minuten zu dauern schien, bis Jonathan der Schreck packte. Denn plötzlich sah er zwei, drei, dann vier Erscheinungen gelb, grün und blau wabern. Sie schienen Körper wie Menschen zu besitzen, aber sie leuchteten flackernd von innen. Und es sah aus, als schwebten sie einen hauchbreit über dem Boden. Jonathan kannte Menschen mit Taschenlampen, aber das war etwas anderes. Und was immer es war, es kam auf ihn zu. Die Stimmen wurden lauter, Menschenstimmen, aber in einer Tonhöhe, in der sein Frauchen nie sprach. Und sie konnte schrecklich schrill sein. Jonathans Nacken sträubte sich, ein langgezogenes Maunzen entfuhr seiner Kehle, dann sprang er runter von der Brüstung zurück in die Loge, raus auf den Gang. Kurz blieb er stehen. War der Spuk vorbei?
Nein! Schon flackerte es durch die Tür. Sie waren hinter ihm her, sie wollten ihn fangen. Die Panik trieb ihn an. Vergiss die Maus, nur runter und raus. Zurück in den kleinen Kellerraum, über Regal und Rohr zum Loch in der Luke. Doch das Loch war weg, stattdessen war da ein fetter Kopf. Hannibal schaute ihn an und fauchte. Schreckstarr blieb Jonathan stehen. Er war geliefert, Hannibal würde ihn gleich schnappen. Doch der rote Riese steckte fest. Na toll. Er kam nicht rein, dafür Jonathan nicht raus. Das machte den kleinen Kater fast schon wieder übermütig, und er fauchte den roten Kopf an. Zu dick zum Jagen, fetter Sack! Er überlegte schon, ob er Hannibal eins mit der Tatze auf die Nase geben sollte, denn der Dicke schien wehrlos, da wurde es hell im Raum. Er merkte es zuerst daran, dass Hannibals Augen anfingen zu leuchten. In ihnen stand Angst. Kurz wendete Jonathan den Kopf, da sah er, wie ein blauer Arm zu ihm hinauf aufs Regal fasste. Oh, nein! Es gab kein Zurück mehr, nur noch vorwärts. Jonathan sprang – Hannibal mitten ins Gesicht. Und als hätte sich ein Pfropfen aus einer Flasche gelöst, ploppte der rote Kopf aus der Lücke nach draußen, Jonathan kullerte über ihn drüber, gab ihm noch einen mit den Krallen mit. Bis sich Hannibal aufgerichtet und geschüttelt hatte, bereit war, den kleinen Tiger zu zerfleischen, war der schon längst durch den halben Park gesaust.
An einem Teich wurde er langsamer. Zwei aufgeschreckte Enten quakten. Jonathan schaute sich um. Kein Hannibal, keine Leuchtwesen. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Aber eine Maus hatte er nicht. Er würde ohne Geschenk nach Haus kommen, aber mit einer großen Abenteuergeschichte. Er würde ihr alles erzählen, aber natürlich würde Frauchen wieder rein gar nichts verstehen und ihn kraulen, bis aus seinem aufgeregten Maunzen ein gleichmäßiges Schnurren geworden wäre.
Stunk in der Bruchbude
Sie nannten ihn »Intendant«, manchmal sogar »Großherzog«, und Rolf Hartung sah an diesem sonnigen Vormittag im Mai auch so zufrieden aus, als führte er beide Titel tatsächlich und sowieso völlig zu Recht. Dabei war Großherzog Heiner III., der das Theater in seiner kleinen Residenzstadt Magendorf einst gegründet hatte und auch sein erster Leiter gewesen war, schon bald 200 Jahre tot. Aber da das alte Landestheater zum größten Teil leer stand und verfiel, während vom Neubau am anderen Ende der Innenstadt seit Jahren nicht mehr zu sehen war als ein betonierter Krater, blieb nur noch einer übrig, der im alten Bühnenhaus Intendant spielen konnte. Und das war Großherzog Rolf I., der allerdings nicht auf der anderen Seite der vierspurigen Ringstraße im Residenzschloss zuhause war, sondern in einem windschiefen Anbau auf der Rückseite des einstmals prächtigen Landestheaters. In dem zweistöckigen Wohntrakt mit Werkstattbaracke, der noch aus der Nachkriegszeit stammte, lebten Mutter Grit, die Kinder Fee, Nick und Kai mit ihrem Vater, dem Hausmeister, der dafür sorgte, dass der traurige Prachtbau nicht vollends verfiel. Das war ihm bisher ausgezeichnet gelungen, fand er.
An guten Tagen stand er mit seinem Blaumann an der Werkbank und stellte sich vor, wie er wohl mit Schulterstücken und Schärpe ausschauen würde. Davon hatte er Grit nie erzählt. Sie würde ihn ja nur auslachen. Aber er fand, so eine Uniform hätte ihm vor 200 Jahren auch gut gestanden. Schließlich machte er noch immer was her. Das Kinn kantig, der Vollbart getrimmt, der Bauch eingezogen. Man hätte denken können, er würde Sport machen, was er nicht tat, aber mit Anfang vierzig hatte diese Nachlässigkeit auch noch keine Spuren hinterlassen. Gute Substanz halt. Entsprechend genüsslich blickte er in den Stadtpark, der direkt an den braungrauen Anbau grenzte, welcher sich hinter dem mehr als doppelt so hohen Theater duckte. Hartungs Haus hatte auch allen Grund, sich zu verstecken, denn es war eine eher ärmliche Behausung, aber der Großherzog in ihm ließ den Vater stolzgeschwellt dreinblicken. Schließlich war der Stadtpark ja quasi sein Vorgarten.
Das zufriedene Schmunzeln, mit dem er diesen schönen Sonntagvormittag an der frischen Luft begrüßt hatte, fiel ihm aus dem Gesicht, als er hinter sich einen Schlag hörte. Er kannte das Geräusch. Es war die Tür von Fees Zimmer, die gegen den Rahmen krachte und wieder aufsprang. Was war nur aus seiner kleinen Prinzessin geworden? Immer so ein verschmustes Mädchen, aber seit einigen Monaten furchtbar launisch.
»Ich hab keine Lust«, schallte es aus der offen stehenden Haustür.
»Jetzt stell dich nicht so an. Wir können doch wirklich einmal als Familie zusammen ausgehen«, schimpfte es zurück, wobei das »einmal« vorwurfsvoll gedehnt war. Das war die Mutter, die offenbar in der Küche stand, weshalb sie genauso brüllte wie ihre Tochter am anderen Ende des Flures.
»Aber nicht in diese blöde Bruchbude!« Fees Stimme überschlug sich. Vater hörte, dass sie gleich losheulen wollte, was seine Augen zu Strichen verengte, wie es unweigerlich geschieht, wenn man die Kaffeekanne fallen sieht und ihr Klirren erwartet.
Grit merkte es offenbar auch und versuchte zu beschwichtigen: »Komm schon, das Dschungelbuch soll total schön sein.«
Ein dumpfer Schlag war die Antwort. »Ist doch alles nur, weil wir Freikarten haben.« Wo Fee Recht hatte, hatte sie Recht: Hausmeister Hartung war auch für das kleine Kindertheater zuständig, das die einstige Probenbühne auf der Westseite der Ruine bespielte. Als Dankeschön gab es hin und wieder Tickets, wenn eine Vorstellung nicht so gut lief. Fee wusste das natürlich. »Als ich König der Löwen mit Paul gucken wollte, war nix mit Theater.«
»Jetzt hör aber auf!« Mutters Stimme klang nun schneidend.
Das Thema war vermint, seit Fee ihren Eltern klargemacht hatte, dass in anderen Familien mehr Geld da war. Soviel, dass Pauls Vater seinen Sohn zu einem Musicalwochenende nach Hamburg einladen konnte. Ja, Herr Helsing hätte sogar die Karten für Fee bezahlt. Hatte zumindest Paul geprahlt. Aber das war für Grit damals so wenig infrage gekommen, wie selbst die Kosten fürs Zugticket und Hotel zu zahlen. Es war einfach nicht genug in der Kasse. Und überhaupt: Wo kam man denn da hin, wenn man sich von diesem Banker einladen ließ? Von so einem Geistervater, der nie da war, immer auf Dienstreise, und seine geschiedene Frau damit auszustechen versuchte, dass er dem Sohn alles zahlte, was der sich so wünschte. Und dann ein ganzes Wochenende mit einem Jungen, von dem nicht mal klar war, ob er Fees Freund war? Ging gar nicht.
»Das haben wir besprochen, damit musst du nicht wieder anfangen«, rief die Mutter so klirrend durch die Wohnung, dass es in den Park hinausschallte.
»Gar nichts haben wir besprochen. Du hast einfach alles verboten«, plärrte es zurück.
Die Schultern des Großherzogs waren mittlerweile zusammengesunken, seine majestätische Freude restlos verschwunden. Er schaute gequält drein, während das Hörspiel in seinem Rücken weiterlief. Hinter einer Baumgruppe erschienen zwei Frauen. Vor seiner Wohnwerkstatt drückte Rolf I. instinktiv wieder seine Großherzogsbrust heraus. Besser Haltung annehmen, falls die Damen ihn kannten. Und wenn, dann konnten sie dort drüben hoffentlich nicht hören, was ihm hier im Ohr schrillte. Eine der Frauen schien ihm zu winken, Hartung wedelte ein wenig mit seiner Rechten. Daraufhin fuchtelten beide Frauen sichtlich euphorisch. Wer mochten sie sein? Er kam nicht drauf. Aber als Herzog und Hausmeister konnte man ja nicht sein ganzes Volk kennen. »Nun geht schon weiter, kommt bloß nicht hierher«, zischte er mit geschlossenen Lippen, denn die Stunkwolke über dem Hause Hartung verfinsterte sich weiter.
Fee tobte. »Nie kann ich was machen. Ich hab nix, nix, nix. Hier ist das totale Ghetto. Irgendwann fällt diese Bruchbude einfach zusammen!« Da war was dran, denn die Bleibe der Hartungs lehnte sich so schlapp und schepp an die Rückwand des Theaters, wie ein Trinker mit heruntergelassener Hose, der nur deshalb nicht umfällt, weil er mit dem Kopf an der Wand über der Pinkelrinne hängt. Und wieder ein Schlag. »Kein Wunder, dass Paul keine Lust hat, zu mir zu kommen.« Das klang jetzt fast kläglich, wobei sich das Mitleid des Vaters in Grenzen hielt, denn dieser Paul Helsing, den Fee anhimmelte, war ein doofer Schnösel. Fand Papa Rolf, der sich aber auch nicht richtig überzeugend in ein 14 Jahre altes Mädchen hineinversetzen konnte.
Grit war auf den jungen Mann jedenfalls auch nicht gut zu sprechen, das war jetzt unüberhörbar: »Jetzt reicht´s aber Fräulein. Wir haben deinem Paul angeboten, dass er mitkommen und bei uns essen kann.« Mutters Stimme war nun draußen immer leiser zu hören, was bedeutete, dass Grit sich Fees Zimmer näherte. »Wenn ihm das nicht fein genug ist, kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und du machst dich jetzt fertig. Wir gehen!«
Was seine Tochter dazu sagte, konnte der Hausmeister nicht mehr hören. Und es war ihm auch lieber so. Wo eben noch das Gezänk seiner beiden Frauen den makellosen Morgen verätzt hatte, breitete sich nun ein heiseres Kläffen aus. Eine haarige Wurst sauste aus der Haustür, einmal um Vaters Beine und verschwand dann vorne in einem kunstvoll-kurvig gestutzten Gebüsch, auf dessen Rückseite eine getigerte Katze herausschoss. »Fisto«, schallte es aus dem Haus. Im nächsten Moment rannte ein blonder Bub aus der Baracke hinaus und kickte einen Fußball vor sich her. »Fistofisto!«
Rolf Hartung drehte sich um, sah Kai in seinem Trainingsanzug mit den vier Streifen auf sich zu laufen, öffnete seine Arme, doch der Knirps mit dem lustig aufgestellten Haaren machte einen Übersteiger wie aus dem Fußball-Lehrbuch und zog dann links an seinem Vater vorbei, als wäre dieser nur ein großer Kunstoffkegel für Dribbling-Übungen auf dem Bolzplatz. Noch nicht in der D-Jugend, aber schon ein Antritt wie in der Bundesliga. Das musste mal ein toller Zehner werden. Oder eine falsche Neun. Vater Hartung, für den es damals, als er noch bei beim städtischen Werkhof gearbeitet hatte, nur zum rechten Außenverteidiger in der zweiten Betriebssport-Mannschaft gereicht hatte, war von der Zahlenmystik der Sportmagazine fasziniert und sah seinen Jüngsten im Geiste manchmal schon mit einem Profivertrag heimkommen. Ja, er war ein kleines bisschen stolz auf seinen Sohn. Ach was, er war mindestens messimäßig stolz. Was aus dem Jungen wohl mal werden würde?
In der Tat war Kai nur schwer vom Ball zu trennen. In der U-10 nicht von Eisbein und Blutgrätsche, auf dem Pausenhof nicht von der strengen Frau Schwarzenbeck und daheim nicht von Mama, die das Essen auf dem Tisch hatte. Vor lauter Fußball kam er nie zum Händewaschen. Dabei klebte ein halber Bolzplatz unter seinen Nägeln. Gerade war er dabei, die Pille durchs Gebüsch zu wühlen, da kam auch Nick aus dem Haus: vier Jahre älter, einen Kopf größer, aber langsamer, zögerlicher als sein kleiner Draufgängerbruder. »Mefimefi«, rief er, blieb aber am Eingang stehen und blickte unsicher hinter seinem schwarzen Pony hervor, der ihm als Vorhang bis über die Nase hing. Er stülpte die Oberlippe vor, blies die Haare nach oben. Für einen kurzen Moment öffnete sich der Vorhang, und ein blasses Gesicht mit drei überreifen Pickelchen auf der Stirn kam zum Vorschein. Mehr war im Moment nicht drin.
In den bellenden Busch ging er lieber nicht. »Fisto«, schallte es aus der einen Ecke, »Mefi« aus der anderen. So konnte das nichts werden. »Kinder, der Hund heißt Mephisto. Einigt euch mal auf einen Namen! Wie soll er wissen, dass ihr ihn ruft, wenn jeder ihn anders nennt?« Sinnlos. »Fisto – Mefimefi – Fisto!«
So ging das eine Zeitlang, bis erst Kais Ball aus dem Gebüsch hopste und der Rauhaardackel im nächsten Moment hinterher, mit der Schnauze über der Grasnarbe die Kugel vorantreibend, auf Nick zu, der das Leder mit links aufnahm und den heranrasenden Hund rechts packte. Im nächsten Moment kullerten Nick und Mephisto mit Ball auf dem Boden. Unwiderstehlich für Kai, der mit einer Körpertäuschung diesmal den Vater rechts umrundete und mit gestrecktem Bein zwischen dem Hund und seinem Bruder den Ball wegspitzelte.
Stopp! Rohes Spiel! Rudelbildung! Rote Karte! Ich brauche eine Schiedsrichterpfeife, dachte Hartung, ohne Triller ging es in dieser Familie nicht. »Aufhören, Jungs! Ihr saut Euch ja völlig ein. Wir müssen jetzt auch los.« Keine Reaktion. »Nick? Kai? Hört Ihr mich?« Vater Hartung warf die Arme in die Höhe. »Hallo?« Nichts. Hatte er sich denn in Luft aufgelöst, konnte ihn niemand mehr sehen? Erkannte denn keiner seine natürliche Autorität? Der bellende, kreischende Kai-Nick-Mephisto-Klumpen kugelte vor ihm einfach weiter. Doch im nächsten Moment war der Tumult vorbei.
»Hey!« Mehr brauchte es nicht. Klein, aber kompakt stand Mutter in der Tür und pfiff ihre Jungs an: »Geht´s noch? Rein jetzt. Noch mal Hände waschen. Und dann los.« Sag ich doch, dachte sich der Vater und fragte sich, warum eigentlich nie jemand auf ihn hörte. Er war zwei Köpfe größer als seine Frau, aber irgendwas fehlte ihm vielleicht doch noch zum Großherzog. Bevor er sich weiter mit dieser schmerzlichen Erkenntnis beschäftigen konnte, kriegte auch er seinen Rüffel: »Was ist mit dir? Bist du wenigstens fertig? Dann können wir nämlich gleich. Fee bleibt hier. Wir sind ihr zu nervig und peinlich. Darauf hab ich jetzt auch keine Lust mehr. Soll sie Vokabeln lernen.« Klang nicht so, als wollte seine Frau dazu einen Kommentar hören, und so gingen die Hartungs immerhin fast vollständig ins Theater. Was allerdings kein ganz so aufwendiger Familienausflug war, denn von der eigenen Haustür um die Ecke zum Seiteneingang der alten Landesbühne brauchte es kaum 200 Schritte.
Im Dschungel ist die Hölle los
Das Kindertheater Taubenschlag hatte seinen Namen ursprünglich erhalten, weil früher auf dem Dach, neben dem Bühnenturm, Brutplätze für Stadttauben eingerichtet waren, deren Gelege regelmäßig mit Gipseiern bestückt wurden, um der großen Flatter Einhalt zu gebieten. Seit der Hauptsaal aber nicht mehr bespielt wurde, die Technik ausgebaut, der Zuschauerraum eingemottet war, entwickelte sich der komplette Komplex langsam zu einem einzigen Taubenschlag, weshalb der Name des Kindertheaters einerseits noch passender anmutete, mittlerweile aber auch wie eine Beschwerde an die kommunale Bauaufsicht klang: Fenster waren zugemauert, Schächte vernagelt, Absperrband flatterte im Wind. Der Putz bröckelte. Und frische Farbe sah der Stolz des alten Großherzogs nur, wenn nachts mal wieder die Graffiti-Gang loszog und ihr Revier markierte. »Farbe bekennen« stand als Regenbogen-Inschrift ganz frisch unter einem einsturzgefährdeten Balkon. Daneben eine Faust, die ein Hakenkreuz zerquetschte, und die Ansage »Bibi is Babo«. Hausmeister Hartung hatte es längst aufgegeben, dagegen anzupinseln.
Am Eingang zur Taubenschlag-Bühne hatten die Theaterpädagogen in einem Sommerworkshop die Sprayer überredet, sich in den Dienst der Kunst zu stellen. Seit zwei Jahren grüßten nun bunte Vögel inmitten psychedelischer Dschungelmuster. Papagei, Tukan, Kolibri teilten sich die Sprechblase »Chillma Schilla«. Alles sehr schön bunt hier. Tauben waren nicht zu sehen. Schließlich haderten die Künstler schon geraume Zeit mit ihrem Wappentier. So gut besucht wie früher war die kleine Bühne längst nicht mehr, weil es nicht wenige Eltern gab, die wegen kackender Flugratten um die Gesundheit ihrer lieben Kleinen fürchteten. Was das anging, waren die Hartungs unerschrocken. Einige Räume des leerstehenden Theaters hatten die Kinder längst als ihren Spielplatz erobert. Mutter kriegte es nicht mit, und Vater sah nicht ganz so genau hin. Was gefährlich werden konnte, war ja verschlossen. Da war sich der Hausmeister ganz sicher. Und deshalb griff Hartung auch nicht ein, als sie am Eingang zum Kindertheater angekommen waren, der alte Herr Rethel vor sich hinbrummelnd ihren Weg kreuzte, grußlos vor ihnen das Theater betrat und schnurstracks neben der Garderobe hinter einer grünen Tür verschwand.
»Komischer Kauz«, sagte die Mutter.
»Er kann einem doch leidtun«, erwiderte der Vater.
Nick beachtete den Alten nicht, schaute sich stattdessen immer wieder verstohlen um, als wäre er ein Spion auf der Flucht vor einem unsichtbaren Geheimdienst.
Kai war umso neugieriger: »Was ist mit dem Mann? Der riecht immer so komisch.«
Mutter zwickte ihm in die Nase und fauchte »Pscht! Dann geh nicht so nah ran.«