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Auf der Bühne spielen sie vor der Wahl Königsdramen. Aber das ist nichts gegen die blutigen Machtspiele in der Stadt. Der Superdezernent wirbelt, denn er will Oberbürgermeister werden. Also muss die Stadt ganz neu inszeniert werden. Da tagt das Parlament im Schauspielhaus, das Theater muss umziehen in die Kunsthalle und auf den Reiterhof. Doch der wirre Weg zum politischen Erfolg ist mit Leichen gepflastert. Der schläfrige Kritiker Justus Beck würde ja gerne bei Shakespeare ein Nickerchen halten. Doch das lebensgefährliche Stadt-Theater macht ihn hellwach. Also schaut er sich hinter den Kulissen um. Der satirische Krimi "Theaterwut" ist der zweite Teil einer Romantrilogie um Justus Beck, der Klassiker erklärt und Verbrechen aufklärt. "Theaterdurst" heißt Teil eins.
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Seitenzahl: 299
Veröffentlichungsjahr: 2019
Macbeth: Sprecht, wenn ihr könnt: Wer seid ihr?
Erste Hexe: Heil dir, Macbeth, Heil! Heil dir,Than von Glamis!
Zweite Hexe: Heil dir, Macbeth, Heil! Heil dir,Than von Cawdor!
Dritte Hexe: Heil dir, Macbeth, dir, künftgem König, Heil!
William Shakespeare: „Macbeth“, Erster Akt, dritte Szene
Stefan Benz
Theaterwut
Herr Beck und der Zorn des Than
© 2019 Stefan Benz
Umschlag, Illustration: Rebecca Jaweed
Verlag & Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-7497-4626-2
(Paperback)
978-3-7497-4627-9
(Hardcover)
978-3-7497-4628-6
(e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Erster Aufzug: Lopachin
Zweiter Aufzug: Macbeth
Dritter Aufzug: Brutus
Vierter Aufzug: Richard
Fünfter Aufzug: Zettel
Die Personen
Justus Beck, Theaterkritiker und Weinhändler
Juliane, seine verstorbene Frau
Paula Berlepp, seine Haushälterin
Lucy, ihre kleine Nichte
Franz Mager, Biologiestudent mit logistischen Talenten
Leonie, Biologiestudentin, Freundin von Franz
Bernd Rudolf, Polizeipräsident
Jason Gunderloch, Revisor, der Becks Weinkontor prüft
Jörg König, Superdezernent und OB-Kandidat
Beate Vorreiter-Beginski, Parteivorsitzende
Traudel Kalbfleisch, Kulturausschussvorsitzende
Gerd-Ludwig Ostermann, Kulturreferent
Jakob Oswald, Intendant des Stadttheaters
Papagena, Chihuahua des Intendanten
Bernd Huber, Schauspieldirektor
Torsten Emig, Chefdramaturg mit politischen Ambitionen
Jutta Meiser, Inspizientin und Becks Theater-Tratschtante
Erster Aufzug: Lopachin
1Es ging ganz schnell und sah aus wie im Kino. Männer mit Sturmhauben hatten die Delinquenten aus dem Theater geführt. Je zwei Mann packten einen Gefangenen rechts und links an den Oberarmen, die Hände waren hinter dem Rücken mit Kabelbinder fixiert, die Köpfe nach vorne gebeugt und mit Stoffsäcken verhüllt. Im Hintergrund, am Verwaltungseingang trugen derweil Beamte in Uniform Kisten und Computer aus dem Gebäude zu einem weißen Kastenwagen.
Es sollte eine anonyme Aktion sein, doch Justus Beck war sich sicher: Hier wurde der Intendant Jakob Oswald verhaftet. Der Mann trat schließlich stets wie ein Pascha aus 1001 Nacht auf, war auch kopflos gut zu erkennen an seiner grünen Bauchbinde, den samtenen Pluderhosen und einer weinroten Kurzjacke. Hinter ihm wurden offenbar seine Dramaturgen und der Verwaltungsdirektor abgeführt. Vorbei an Männern, die mit Helmen, schusssicheren Westen und Schnellfeuergewehren wie futuristische Ritter aussahen, schob man sie wie Schwerverbrecher zu anthrazitfarbenen Limousinen mit getönten Scheiben, die im Park vor dem Stadttheater mit laufenden Motoren warteten. Kennzeichen oder Hoheitssymbole hatten diese Wagen ebenso wenig wie die Transporter am Verwaltungsportal.
Als Erster war der Intendant dran, ein Beamter verschwand vor ihm auf dem Rücksitz, zerrte ihn an der Schulter mit sich, der zweite drückte Oswalds Kopf ganz nach unten, schob ihn in den Fond, folgte, zog die Tür zu, und der Wagen fuhr los. In Sekundenschnelle war der Spuk vorbei, ein halbes Dutzend Theaterleute verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Nur die Reifenspuren auf dem nassen Gras und ein Goldbrokatpantoffel des Intendanten erinnerten noch an das bizarre Schauspiel.
Beck konnte sich von diesem Bild gar nicht losreißen, schaute unvermindert fasziniert durch die großen Scheiben des Foyers und wäre fast in der Leere dieses Anblicks versunken, wenn da nicht diese Stimme gewesen wäre: „Was machst Du denn da?“ Paula schob sich in sein Sichtfeld. „Kommst Du nicht? Wir sind zu spät, sie fangen gleich an.“ Langsam, wie durch Watte drangen ihre Worte in sein Bewusstsein. Ja, was machte er da? Justus Beck, Theaterkritiker der „Neuen Post“, war unterwegs zur nächsten Premiere, seine Haushälterin Paula wie stets an seiner Seite. Doch irgendwas war heute anders. Er konnte sich nicht an das Stück erinnern, das sie gleich sehen würden, nur an diesen Fetzen Actionkino, der eben vor ihm abgelaufen war.
„Hast Du das nicht mitgekriegt? Wie sie Oswald mitgenommen haben?“
„Spinnst Du? Was ist mit Dir los, komm schon, sonst verpassen wir noch den Anfang.“ Paula zog ihn mit sich.
„Was gucken wir jetzt?“
„Willst Du mich veräppeln, Du bist der Kritiker, ich komme nur mit und passe auf, dass Du nicht wieder einschläfst. Schon vergessen? Oder schläfst Du jetzt schon mit offenen Augen? Auf geht’s, da vorne gibt’s Deine Karten.“
Paula drängte ihn zum Pressetisch, doch die große Frau mit dem strengen schwarzen Pagenschnitt und dem dunkelgrauen Businesskostüm, die dort stand und im Begriff war, ihre Mappen mit dem Infomaterial zusammenzupacken, kannte er nicht. Beck verstand nicht, was los war. Warum fühlte sich das alles so seltsam an? Wieso war das Stechen in seinem Bein nicht mehr da? Es war doch sonst nie weg. Und wo war der Kopfschmerz geblieben? Hatte er einen Schlaganfall? Warum passte nichts mehr zusammen?
„Guten Tag, Beck von der Neuen Post, wo ist denn Frau Fröhlich?“
„Guten Tag Herr Beck, Sie müssen sich nicht vorstellen, ihr Dossier liegt uns vor, wir sind im Bilde. Frau Fröhlich wurde abberufen, das Leitungsteam ist freigestellt, Herr Oswald ist in Urlaub gefahren. Er lässt Sie grüßen. Ab heute hat Frau Monvalle die Intendanz kommissarisch inne.“
Für Beck ergab das keinen Sinn. Geraldine Monvalle war die Intendantin der Landesbühne im Norden, gute 140 Kilometer entfernt. Wieso sollte sie jetzt zwei Theater leiten? Und warum erzählte die Dame, die ihren Namen nicht nannte, vom Urlaub eines Intendanten, der eben vor aller Augen abgeführt worden war? Was Beck aber noch mehr interessierte: Was wurde hier gespielt? Und diese Frage war ihm peinlich. Noch nie war er als Kritiker ins Theater gegangen, ohne zu wissen, was anstand und wie es werden würde. Und jetzt das.
„Was sehen wir heute Abend?“ Sehr leise, aber unüberhörbar kleinlaut war seine Frage. Die strenge Dame vom Pressetisch reichte ihm das Programmheft und sagte nur: „Hier!“ Die Broschüre war weiß, und auf allen Seiten stand auf den ersten Blick – nichts. Dann merkte Beck, dass auf dem Kartonumschlag etwas eingeprägt war. Er hob das Heft schräg zu den Deckenleuchten und erkannte den eingeprägten Schriftzug „Carte Blanche“. Nachdem er die vermeintlich leeren Seiten wie ein Daumenkino durchgeblättert und dann geschüttelt hatte, als könne ein versteckter Notizzettel herausfallen, sah er winzige Buchstaben, die wahllos über die Seiten verteilt zu sein schienen: E – S – K – O – M – M – T – A – U – F – S – I – E – A – N. „Hier entlang“, sagte die geheimnisvolle Frau im grauen Kostüm und wies ihnen den Weg zur Hinterbühne. „Es sind schon alle da.“
Eine Hostess, die Beck auch noch nie gesehen hatte und die seltsamerweise einen Camouflage-Overall trug, empfing sie an einer Brandschutztür und leitete sie am Zuschauerraum vorbei zur Seitenbühne. „Sie werden gleich gar nichts mehr sehen“, sagte die Service-Amazone. „Die Feuerwehr hat zwar verboten, dass wir die Notausgangbeleuchtung ausschalten, aber darüber müssen wir uns jetzt hinwegsetzen. Kunst braucht keine Fluchtwege. Wundern Sie sich nicht. Wir haben alle entsprechenden Hinweisschilder abmontiert. Viel Spaß.“
Dann wurde es dunkel wie im tiefsten Schlaf. Beck wusste nicht, wie lang er so dagestanden hatte, doch als das Licht gleißend anging, war Paula verschwunden, dafür erblickte er vielleicht hundert Zuschauer, die alle wie er ratlos auf der Hinterbühne um einen Mann mit Hut und Fellmantel herum standen, der Margarine in großen Stücken mampfte. Dann ging er zu einem Haufen Kleider, aus denen er ein Fellbündel zog. War das ein toter Kojote? Beck konnte es nicht genau erkennen, denn der Mann mit dem Hut trug das Bündel eng am Körper zu einem Farbbottich, neben dem drei nackte Frauen lagen. Er tauchte den Tierkadaver in blaue Tunke und wischte dann unter großem Geklecker mit ausholenden Bewegungen über die Damen, die sogleich begannen, sich am Boden zu wälzen. Während Beck sich noch fragte, warum ihm das alles so bekannt vorkam, preschte aus dem Dunkel der Seitenbühne plötzlich ein weiß geschminkter Clown mit einer roten Kugelnase, die halb so groß war wie sein Kopf, durch die Menge und schrie „Fricken, flicken, ihr Rotzenwlotzen.“ Schon war er durch.
Beck wollte gerade seinen Spiralblock aufschlagen, um sich Notizen zu machen, da trat ein Mann mit kurzem struppigem Haar auf ihn zu, der ihm zwei Köpfe größer zu sein schien und herrschte den Kritiker an: „Weg mit dem Ding, hier geht’s lang, alle mitkommen.“ Und im nächsten Moment hatte er Beck Stift und Block entwunden, und alle trotteten zur Hinterbühne, durch ein Gewirr von Treppen, bis alle Besucher im Ballettsaal ankamen. Der Mann rückte Becks Block nicht mehr heraus. Er würde sich beim Intendanten beschweren. Oder bei der Intendantin, dachte sich Beck. Wer auch immer das hier zu verantworten hatte. Als er noch überlegte, über wen er sich jetzt am besten ärgern sollte, kam eine Frau auf ihn zu und jammerte: „Sie haben die gesamte Theaterleitung eingesperrt. Wegen Untreue und Korruption, haben sie gesagt. Und jetzt habe ich auch Blut an den Händen.“ Beck schaute sie zunächst ratlos an, begriff aber schnell, als er über die verspiegelten Wände die Mitte des Saals sehen konnte. Die Zuschauer hatten eine Schlange gebildet, an deren Ende eine Schlachtbank und Dutzende Hühnerkäfige standen. „Jeder kommt dran, das muss so sein beim Mitmachtheater“, rief ein dicker Mann, der außer einer rot gesprenkelten Schürze aus weißem Kunststoff nichts anhatte. Der Metzger drückte einem Zuschauer ein Beil in die Hand, hob dessen Arm hoch, griff ein Hühnchen aus seinem Käfig, schmetterte es hart auf die blutige Ablage und führte den Arm des Zuschauers mit schnellem Schwung nach unten. Der Kopf des Hühnchens hüpfte in einen Korb, der schon fast voll war. „Hier ist alles authentisch“, rief der Metzger triumphierend und schnappte sich den nächsten Zuschauer.
Beck nutzte den Moment und verließ den Ballettsaal. Er kannte sich doch aus im Stadttheater, er musste Paula finden – und dann nichts wie raus hier. Doch wohin er auch ging, alles kam ihm vertraut, aber verwirrend labyrinthisch vor. Ohne zu wissen, wie er hingekommen war, stand er plötzlich vor den Theatertoiletten. Ein Drang zog ihn zu den Herren. Doch als er die Tür öffnete, lag da eine Frau mit geschlossenen Augen vor ihm. Vielleicht Mitte zwanzig, mager und nur mit einem Lappen über ihrer Scham und drei Gläsern mit Rotwein auf dem Waschbrettbauch. War hier eine alkoholkranke Putzfrau kollabiert? Sollte er einen Sanitäter holen? Oder drehten sie jetzt im Theater einen Porno? All das brauste Beck im selben Moment durch den Kopf, doch er nuschelte nur „Oh, Tschuldigung, falsche Tür.“ Er wollte sich verschämt weghdrehen und gehen, doch eine Männerstimme herrschte ihn an: „Nein, Sie sind hier ganz richtig.“ Ein junger Kerl in einem offenen weißen Hemd, mit einem purpurfarbenen Schal um den Hals schaute ihn aus einer der Klosettkabinen an und flüsterte durchdringend: „Knien Sie, beten Sie zur heiligen Ludmilla der Latrinen! Trinken Sie Ihr Blut und vergießen Sie es aus Ihren Lippen über ihren Leib.“
„Was ist das? Experimentelle Eucharistie?“
„Nehmen Sie den Wein und füllen Sie den Bauchnabel der Heiligen“, predigte der Abort-Apostel aus seinem Beichtstuhl mit Wasserspülung.
„Mein Herr, ich betreibe eine Weinhandlung. Ich spucke prinzipiell keinen Wein auf Menschen. Weder mit rotem noch mit weißem. Was soll der Quatsch? Die Dame auf dem Boden verkühlt sich doch bloß.“
Die Dame rührte sich nicht.
„Das ist immersives Installationstheater, da müssen Sie ihre Konsumenthaltung ablegen. Öffnen Sie sich für die Situation“, lautete die frohe Botschaft aus der Klosettkabine.
„Guter Mann, ich bin Kritiker, ich schreibe für die Neue Post. Und ich trinke nicht im Dienst.“
Das war glatt gelogen. Den Abort-Apostel überzeugte es auch nicht. „Sie müssen sich aus Ihrer Rolle lösen.“
„Kommt ja gar nicht infrage. Schon mal was von kritischer Distanz gehört? Ihren Wein können Sie selber trinken.“ Beck blickte zum nackten Getränketablett zu seinen Füßen. „Meine Dame, entschuldigen Sie die Störung.“ Und raus war er. Aus der Damentoilette kamen gerade zwei Frauen, eine hatte noch ihr Glas in der Hand. Durch den Türspalt konnte Beck einen nackten Mann auf dem Boden erkennen. Unglaublich, was in diesem sonst so verschlafenen Provinztheater plötzlich los war. Beck schaute sich um, war aber immer noch nicht wieder orientiert und stolperte weiter. Die Neonröhren flackerten.
Am Ende eines Gangs voller Kulissenteile auf Rollwagen öffnete er eine Tür und war plötzlich auf einer Probebühne, die er noch nie gesehen hatte. Da stand Paula offenbar verzückt vor einer Garteneisenbahn, die quer durch den Raum führte. Darauf saßen die sieben Zwerge. „Schau mal, sind die nicht süß?“ Erst jetzt erkannte Beck, dass auf dem Zug kleinwüchsige Menschen mit Zipfelmützen hockten, die offenbar geistig beeinträchtigt waren. „Die dürfen jetzt auch mitmachen, das ist Inklusionstheater, hat mir eine Dramaturgin gesagt. Die sind so goldig. Wollen wir einen mitnehmen?“ Paula fragte gar nicht, wo er gewesen sei, und Beck war jetzt auch nicht nach Diskussionen.
„So ein Quatsch, komm, wir müssen hier raus.“
„Aber Du musst doch drüber schreiben.“
„Kann ich nicht, Sie haben mir meinen Block geklaut. Ich werde mich beim Intendanten beschweren. Oder bei der Intendantin. Wer immer das hier zu verantworten hat. Auf jetzt!“
Sie verließen den Probenraum durch eine Tür am anderen Ende und standen plötzlich im Foyer, wo gerade eine Lesung über die Bühne ging. Ein zappeliger Autor mit blonder Krähennestfrisur war auf dem Podium dabei, sich mit einem Messer die Stirn zu ritzen, während eine junge Kollegin daneben erklärte, sie werde keine eigenen Texte mehr vortragen, sondern nur noch die Klassiker sampeln. Woher kannte Beck diesen hibbeligen Jungen bloß, der jetzt mit den Fingern in seiner Schnittwunde puhlte und an dem Hautfetzen zog, als wolle er sich skalpieren? War das Sam Hawkens, der von den Pawnee skalpiert wird? Nein, dachte er, mit Karl May hatte das nichts zu tun und stellte sich schützend vor Paula, denn der Autor hatte schon vier Finger in die blutende Spalte auf seiner Stirn gekrallt und zog immer fester an seinem Struwwelpeterschopf.
Aus dem Publikum kamen Buhrufe von einer Gruppe schlohweißer Männer und Frauen, die Transparente hochhielten, auf denen „AFW“ stand. „Sind das Rechtsradikale“, fragte Paula. „Nein, das sind die Abonnenten für Werktreue“, antwortete Beck und fragte sich, woher er das eigentlich wusste. Aus der greisen Gruppe drangen Pfiffe, dann flogen Tomaten zum Pult, eine traf den Dichter mit der blutigen Stirn, dessen Kopf selbst mittlerweile wie eine geplatzte Tomate ausschaute. Ein fauliger Geruch stieg Beck in die Nase. Es roch schweflig. Er musste in der Mitmachtheaterhölle gelandet sein, dachte er sich. Doch Paula war wie immer näher dran am Leben und erkannte sofort: „Igitt, Stinkbomben!“
Aufs Stichwort „Bomben“ stürmten bewaffnete Männer mit Baretten und Munitionsgurten über der Schulter den Saal und feuerten in die Luft. Paula schrie. Der Decke konnte ihr Geballer nichts anhaben. Nur Platzpatronen, sagte sich Beck. Aktionstheater, das kannte er schon. Die Zuschauer aber drängten sich verängstigt in eine Ecke. „Wir sind das Kommando Claus Peymann und fordern Freiheit für alle Gefangenen des Schweinekunstsystems“, rief ein massiger Kerl mit schweißverklebten Haarsträhnen, die über die Pockennarben auf seinem Gesicht fielen. Beck konnte ihn sich sehr gut als Brechts Baal vorstellen, doch bevor sich der Gedanken vertiefen ließ, hob der Mann seine Pistole und feuerte drei Schuss in die Menge der Zuschauer. Ein älterer Herr, ein junges Mädchen und der Wirt der Theaterkantine, den Beck vorher gar nicht gesehen hatte, schlugen sich zeitgleich auf die Brust, knickten auf die Knie, und es platzte das Blut aus ihren Leibern wie aus prall gefüllten Schweinsblasen. Der rote Saft spritzte über die Menge. Statt nun aber in Panik zu verfallen oder erste Hilfe zu leisten, gerieten die besudelten Zuschauer in Zorn. „So eine Sauerei“, riefen sie. „Die Rechnung der Wäscherei kriegt das Theater!“ Und die AFW-Gruppe skandierte aus dem Stand: „Regietheater ist nicht fein, die Bühne, die soll sauber sein!“
Wo war er hier bloß hingeraten? Beck drehte sich suchend um und sah Paula am Rande des Abonnentenaufstands, wie sie hektisch an ihrem rot verschmierten Kleid rubbelte. „Komm, das kannst Du später sauber machen. Wir müssen hier raus.“ Er packte sie so jugendlich energisch, wie er sich selbst gar nicht kannte und zog sie durch eine Tür zum Lieferanteneingang. Das Stahltor, hinter dem die Laderampe im Innenhof des Stadttheaters liegen musste, war allerdings verriegelt. Davor stand eine Hostess im Kampfanzug, und eine Handvoll Zuschauer kauerte kläglich am Tor. Als sie näher kamen, hörte Beck ihren Jammer. „Wir wollen hier raus – Sie quälen uns – Wir können nicht mehr.“ Doch auf Bitten und Flehen hatte die Torwächterin immer nur ein freundliches Lächeln und einen Satz: „Theater muss sein!“
Aber musste es denn so sein? Ratlos schlug Beck die Pressemappe auf, die er bislang keines Blickes gewürdigt hatte. Ein einziges Blatt lag darin, eine fotokopierte Kritik aus der „Neuen Post“ mit dem Datum von übermorgen. Er las die Überschrift: „Theater wird zum Tollhaus – Irrer Erfolg im Schauspielhaus: ,Carte Blanche’ mit Blut geschrieben. Von unserem Mitarbeiter Justus Beck.“ Wie seltsam, dachte er sich, da spürte er einen Ruck an seiner Schulter, und das Elend vor seinen Augen verschwand.
2Er blinzelte. Aus dem verschwommen Dunkel drang eine starke, aber weinerliche Stimme an sein Ohr. „Oh, wenn nur alles bald vorüber wäre!“ Beck schaute sich um. Er fühlte sich matt gedämpft. Wo war er? Wo war das verschlossene Theatertor, wo die Wächterin? An seiner Schulter rutschte Paula ab. Sie schlief. Wie konnte das sein? Paula Berlepp kam nur mit ins Schauspiel, um ihn zu wecken, wenn der Theaterschlummer ihn wieder niederdrückte. Und jetzt schlief auch sie. Anscheinend tief und fest. Beck schob sie wieder gerade auf ihren Sitz. Und die Verhaftung des Intendanten, die Machtübernahme durch Geraldine Monvalle, der Gang durch die neun Kreise der Mitmachtheaterhölle? Hatte er das alles nur geträumt?
„Wenn es sich nur bald irgendwie ändern würde, unser ungereimtes, unglückliches Leben“, sprach die Stimme vorne. Beck konnte nur Schemen erkennen, rieb sich die Augen. Was sahen sie hier? Der Tonfall kam ihm bekannt vor. Ja, das war doch Tschechow, jetzt hatte er es: „Kirschgarten“. Das war der Kaufmann Lopachin, der da sprach. Der Dramaturg hatte ihm im Vorfeld verschwörerisch erklärt, die Inszenierung werde ein Kommentar zu Spekulation und Wohnungsnot in der Stadt. Schließlich ersteigert Lopachin hier die große Obstplantage der einstmals reichen Witwe Ranjewskaja, die gerade aus Paris angekommen ist und ihre verlorene Kindheit auf dem Lande sucht. Der Landadel ist runtergekommen, ein Nachkomme ihrer Leibeigenen wird das Gut kaufen, die Bäume fällen und Datschen drauf bauen.
Kommt auf der Bühne ja oft sehr elegisch daher, kann man aber auch mal politisch rangehen, selbst wenn Tschechow kurz vor seinem Tod 1904 von der Revolution 13 Jahre später noch nichts wissen konnte. Die Spielzeit stand ja unter dem Motto „Machtspiele“. Schließlich schaute die Stadt gespannt auf die Wahl im Mai, bei der die Verhältnisse im Parlament durcheinandergewirbelt werden konnten. Da durfte dann auch ein Tschechow kurz vor Ostern gerne mal aktuell sein. Ja, jetzt erinnerte Beck sich wieder. Bloß hatte der Regisseur von diesem Plan der Direktion entweder nie etwas gehört, oder es hatte ihn nicht interessiert.
Kurt Fels hatte seine Lehrjahre an den Berliner Bühnen der Achtziger verbracht, und so sah sein „Kirschgarten“ heute noch so aus, wie man sich das damals gerne vorstellte: Herren in cremefarbenen Stoffhosen und eine Hausherrin mit breitkrempigem Hut, Federn und Schleier; vorne ein Berg von Reisekoffern neben Salonmöbeln mit Flicken; auf einem Beistelltisch ein dampfender Samowar; an der linken Seite ein Miniaturbirkenwäldchen; hinten Wände mit vergilbten Tapeten und halb offenen Lamellentüren, hinter denen ein von innen lichtdurchflutetes Kirschblütenmeer aufragte, mit Zweigen, die durch die Ritzen drängten. Diese Schönheit würde untergehen, deshalb klang Lopachin, der das Gut gerade gekauft hatte, auch so kläglich, als Beck erwacht war.
Kaum war der Kritiker der „Neuen Post“ wieder einigermaßen bei sich, wurde es dunkel. Es musste das Ende des dritten Akts sein, der vierte sollte noch folgen. Verzweifelt forschte Beck in seinen Erinnerungen. Da waren nur die ersten Szenen von Andrejewnas Ankunft. Hatte er wirklich drei Akte verpennt? Wie sollte er über diesen Abend schreiben? Als es auf der Bühne erneut hell wurde, schaute Beck sich verstohlen um. Wer hatte gemerkt, dass er wieder auf Wache weggetreten war? Die Antwort überraschte ihn: niemand! Um ihn herum überall Theaterschläfer mit offenem Mund, zur Seite gefallenem Kopf. Hier blinzelte einer, da wurde leise geröchelt. Rund um seinen Stammplatz Nummer 75 schien alles wie im Dornröschenschlaf, erst am Ende seiner siebten Reihe sah er, dass ein Mann angestrengt nach vorne gebeugt war und sich die Schläfen massierte. Eine Reihe weiter vorne schien sich eine Frau die Augen zu reiben. Beck blickte über die linke Schulter.
Er wusste, wo der Schauspieldirektor saß, sein Blick tastete im Halbdunkel die neunte Reihe ab, dann sah er Bernd Huber: Er war in seinen Sitz gesackt, sein Kopf war zur Seite gefallen und lehnte an der Seite des Chefdramaturgen, dessen Augen ebenfalls geschlossen waren. Beck kniff sich in die Nase, um zu prüfen, dass er nicht immer noch träumte. So sehr ihm selbst der Kreislauf wegsackte, wenn die Kunst ihn wieder mal müde machte, hatte er doch noch nie solch seuchenartiges Auftreten von Narkolepsie im Stadttheater erlebt. Stets schien es ihm, dass alle wachten außer ihm und alle merken mussten, dass er schlief. Das war sein steter Horror. Und nun dies.
Gut, Tschechow hatte ein Stück fast ohne Handlung und mit mehr als elf Dutzend Pausen geschrieben, und Kurt Fels hatte bestimmt noch einige dazu erfunden. Dafür gönnte er dem Publikum aber auch keine Pause, um Luft zu schnappen. Wenn die lebensmürben Russen also nicht gerade gemütskrank schwiegen, dann übten sie sich mit wohltemperiertem Wehklagen in geziertem Weltschmerz. Vorne war Lopachin gerade dabei, sich zu verabschieden, doch er schien es dabei nicht eilig zu haben: „Also, leb wohl mein Freund. Es ist Zeit, wir müssen fahren. Wir rümpfen einer über den anderen die Nase, doch das Leben, das geht weiter.“ Er sprach, als wäre er selbst angesteckt von der Schlafkrankheit, die im Parkett grassierte.
Beck spürte, wie er erneut dämmrig wurde, da wehte er ihm wieder in die Nase, dieser ermattend angenehme Geruch. Wie in der Sauna. Unter den Sitzen hatte das Produktionsteam Säckchen mit Zirbenholzspänen verteilt, die mit ätherischen Lösungen getränkt waren: Tannennadel, Zitrone, Lavendel. Das Publikum sollte die Natur, deren Kahlschlag am Ende folgen würde, olfaktorisch wahrnehmen, den Kirschgarten unbewusst einatmen und später an der frischen Luft seinen Untergang als sinnlichen Verlust spüren. Kurt Fels war offenbar auf dem Esoteriktrip.
Beck erinnerte sich daran, dass es ihm den Atem verschlagen hatte, als sie reingekommen waren. Aber man gewöhnte sich erstaunlich schnell an diese penetranten Aromen, die offenbar derart beruhigend waren, dass nur das Ensemble einigermaßen wach durch das Stück kam. Zwar schien es ihm, als hätte kaum jemand im Saal viel mehr von dem mitgekriegt, was sich auf der Bühne getan hatte, dennoch wusste Beck nicht, was er morgen in der „Neuen Post“ schreiben sollte. Eine Fantasie über Tschechows Traumspiel? Vielleicht war Paula länger wach gewesen, konnte ihm Tipps geben. Er drehte sich um und sah, dass sie den Kopf schräg nach links gekippt hatte, ihr Schlund stand weit offen, ein Spuckefaden wehte wie Spinngewebe im schwachen Atemwind. Die Lippen waren nachlässig rot nachgezogen, dennoch trocken und rissig. Paula zischte leise wie ein Teekessel, er sah ihre belegte Zunge und konnte ihre Plomben zählen. Zunächst fasziniert von diesem Anblick, durchzuckte es ihn plötzlich, dass so, wie sie jetzt in ihrem Sitz hing, sonst wohl er ihr erschien. War das seine typische Arbeitshaltung?
Beck kam nicht dazu, über diesem Gedanken tiefere Selbstzweifel zu entwickeln. Auf der Bühne zahlte der Gutsbesitzer Piscik dem Kaufmann gerade 400 Rubel Schulden zurück. „Das ist ja wie im Traum“, sagte Lopachin, da hob Lärm an. Die ganze Zeit schon hatte man leise Axthiebe gehört, die vom Fällen der Kirschbäume kündeten. Nun kam knatternder Krach direkt von hinter der Kulisse. Erst eine, dann zwei, schließlich drei Motorkettensägen brüllten los, Abgasschwaden zogen über die Reihen. Vorbei war es mit dem Tschechowschlummer, ein großer Schreck fuhr ins Parkett. Beck sah mit Vergnügen, wie um ihn herum die Besucher hochfuhren, einige schüttelten sich, und alle starrten völlig konsterniert auf die Szene. Die Schauspieler sprachen ungerührt weiter, nur verstand man nun kein Wort mehr. Was für ein Erwachen! Paula kiekste kurz, als sie zu sich kam.
„Herrje, hab ich mich erschreckt. Was ist passiert? Hab ich geschlafen? Warum hast Du mich nicht geweckt?“
„Ach, Paula, dass ich sowas mal von Dir hören darf. Das ist doch mein Text“, sagte Beck und freute sich über dieses Dornröschen-Theater, das alle hatte so fest schlafen lassen, dass er sich mal nicht als der letzte Penner im Parkett fühlen musste.
Auf der Bühne gingen derweil Tschechows Russen nach und nach mit ihren Koffern ab, der Gestank von verbranntem Benzin und Motoröl wurde beißend. Als nur noch der alte Diener Fis, den seine Herrschaften vergessen hatten, auf der Bühne war, drangen die Sägen von hinten durch die Kulissenwände, schnitten das Gut auf, legten den Blick frei auf gefällte Bäume. Zwei Bühnenarbeiter kamen mit einem Betonmischer an die Rampe, warfen dem greisen Faktotum eine Warnweste um, drückten ihm eine orangefarbene Mütze auf den Kopf und eine Schaufel in die Hand, dass Fis aussah wie der Polier auf der Kirschgartenbaustelle. Der Eiserne Vorhang senkte sich unter Geklingel, Warnlichter blinkten, die Motorsägen heulten noch einmal auf, dann schloss sich die Wand vor der Bühne, „Baustelle, betreten verboten“ war dort als Projektion zu lesen. Erst wurde es ganz dunkel, dann ganz still.
Das Premierenpublikum wusste offenbar nicht recht, was es davon zu halten hatte. Wie auch, wenn kaum einer wacht? Der Applaus plätscherte ratlos dahin, und Beck war sehr zufrieden mit sich, weil er sich sicher war, den interessanten Teil gesehen und den langweiligen verschlafen zu haben. Irgendwas würde ihm schon dazu einfallen, dachte er, als er mit Paula hinausging, die wiederum sowohl von der Kettensägenkakofonie wie von ihrem pflichtvergessenen Tschechowschlaf noch ganz überrumpelt war. „Was ist denn bloß passiert? Es tut mir so leid. Warum war ich weggetreten? Und was war das jetzt für ein Radau am Ende? Ich versteh das nicht.“
„Nicht so schlimm. Ich versteh im Theater auch nicht alles. Komm, ich fahr Dich nach Hause.“ Beck wunderte sich selbst ein wenig über seine gute Laune, hing noch mal den Gedanken an seinen Theatertraum nach: Intendantenputsch, Hühnerschlachtung, Abonnentenaufstand, Aktionstheaterterror – da war was los gewesen, sowas müsste er mal rezensieren. Aber je mehr er den Bildern nachhing, desto stärker verblassten sie. Draußen im Foyer erblickte er Jakob Oswald mit grüner Bauchbinde, samtener Pluderhose, weinroter Kurzjacke und Goldbrokatpantoffeln. Es fehlte nur der Sack über seinem Kopf. Beck stutzte, drehte sich suchend um, aber Geraldine Monvalle war nirgends zu sehen. Nur die Pressemappe in seiner Hand war ihm aus seinem Traum geblieben. Beck blieb kurz stehen, wandte sich von Paula ab, öffnete den Deckel vorsichtig und einen Spalt breit, als könne ein böser Geist entweichen. Seine Kritik aus der „Neuen Post“ von übermorgen war nicht zu sehen. Schade eigentlich.
3Beck fühlte sich mies. Wie eigentlich immer in der Frühe. Beim Erwachen knirschte sein Kopf, es zog viehisch vom Gesäß zur linken Kniekehle, die ersten Schritte aus dem Bett fühlten sich an, als wäre der Schlafzimmerboden eine wabbelige Luftmatratze. Die Dürre im Mund hatte ihn an den Schreibtisch getrieben, doch die Flasche war leer, den Roten aus dem Périgord hatte er am Vorabend restlos vernichtet. Immerhin fand sich noch ein kräftiger Schluck Silvaner im Kühlschrank. Als auch diese Ration aufgebraucht war, atmete er tief durch, stieß leise auf, besann sich auf das, was er vor dem Zubettgehen noch getan hatte. Auf dem Weg zurück zum Schreibtisch, über fünf Weinkisten hinweg, klärte sich sein Geist, und sein Gemüt hellte sich auf.
Eingewickelt in seinen Morgenmantel, las Beck noch einmal seine „Kirschgarten“-Kritik und wurde Satz für Satz immer zufriedener mit sich. Nicht dass es eine Theaterbesprechung gewesen wäre, wie man sie hätte erwarten sollen. Es war eine Hymne auf das Kunstnickerchen, eine Klage wider die Ruhestörung durch die Regie. So ein großstädtischer Verriss, kurz und übellaunig, wie man ihn in einer kleinen Zeitung über ein kleines Theater sonst nicht verfassen würde. „Im Schlafwagen zu Tschechow“ lautete seine Überschrift über eine Betrachtung zu Melancholie und Ennui als Heilmittel gegen den Stress unserer Tage. Eigentlich hatte er mehr den Dämmerzustand des Publikums rezensiert als die Aufführung, an die er ja selbst nur nebulöse Erinnerungen hatte. Aber wenn es um Theaterschlaf ging, dann machte Justus Beck eben keiner was vor, weshalb er sich nach dem kollektiven Dusel der Premiere zu solch einer Satire berechtigt fühlte, nachdem endlich einmal er es war, der das Publikum beim Pennen erwischt hatte. Und vor allem die Schauspielleitung. Das hatte ihn mutig gemacht, ja verwegen. Er forderte Liegesitze mit Massagefunktion gegen das unbequeme Regietheater, Augenklappen für Abonnenten, die auf der Bühne schon alles gesehen hatten, und russisches Valium von Dr. T. für alle. Aber ob sie das bei der „Neuen Post“ drucken würden?
Beck wollte es drauf ankommen lassen. Er fuhr den Rechner hoch, räumte Papiere von der Tastatur. Der Bericht des Kardiologen kam ihm dabei in die Finger. Herzinsuffizienz, Tachykardien, Betablocker. Ja, er sollte mal wieder Blutdrucksenker gegen seinen immer wieder stolpernd jagenden Puls nehmen. Leider machten die Tabletten ihn noch schlapper, als er ohnehin schon war, weil etwas mit seiner Atmung im Schlaf nicht stimmte. Und mit seinem Rücken auch nicht, der ihn selbst nachts schmerzte und aufwachen ließ. Eigentlich hätte er auch noch zum HNO und zum Orthopäden gehen müssen, aber Beck hatte wenig Lust darauf, seine Tage in Wartezimmern zu verbringen. Also kramte er in der Schreibtischschublade: Wo war das Euthyrox? Beck fand den Tablettenstreifen unter einem Textmarker, drückte eine raus, fummelte noch ein Paracetamol aus einer zerknautschten Packung, schluckte die Tabletten und suchte nach einem Trank zum runterspülen.
Unterm Schreibtisch standen noch drei Flaschen. Wenn Paula das sieht, dachte Beck. Er musste dringend aufräumen, bevor sie kam und ihm die Hölle heiß machte. Er hob jede einzelne Flasche an, schüttelte – und tatsächlich: Vom argentinischen Malbec war noch eine Pfütze übrig. Beck stürzte seine Medizin herunter und klapperte in die Tastatur. Der Kardiologe hatte ihm von Alkohol abgeraten. Gut gemeint, aber für jemanden, der ein Weinkontor führt, schlecht zu machen. Obwohl Becks Laden unten am Eck ja nun eher eine Paketstation für im Internet bestellte Kisten voller Flaschen war. Dennoch fühlte er sich dafür verantwortlich, alles, was an Sonderangeboten nicht verkauft wurde, persönlich aufzubrauchen. Bei ihm wurde nichts weggeschüttet. Das war eine gute Einstellung, um dem Trinken einen Sinn zu geben, der immun machte gegen jeden ärztlichen Rat.
Gestärkt vom Frühstück mit Pillen und Weinresten, lud Beck seine Kritik, die keine war, hoch und drückte auf „Senden“. Im selben Augenblick aber wusste er, dass er seiner Mail hinterherfahren musste. Besser, er schaute noch mal in der Redaktion vorbei und erklärte, was er sich bei seinem Artikel gedacht hatte. Er warf den Morgenmantel ab, schlurfte ins Bad, beugte sich übers Becken und spritzte Wasser aus dem Hahn über seine Augen. Als er sich wieder aufrichtete, schaute ihn ein müder Mann mit hängenden Tränensäcken und schlaffen Backen an. Die schütteren Strähnen hingen tropfend in die Stirn, das Barthaar bildete struppige Nester, wo er zwei Tage zuvor vergessen hatte drüberzubarbieren. Dieser Mann müsste dringend rasiert und frisiert werden, dachte sich Beck, wischte dem Fremden im Spiegel noch eine Handvoll Wasser über den Scheitel und beschloss, dass es nun aber schick genug sei. Solange er Paula nicht über den Weg lief, glaubte er, sich solch klitzekleinen Nachlässigkeiten erlauben zu können, warf den Morgenmantel ab, zog die Hose vom Vorabend an, die noch über einem Küchenstuhl lag, ein Hemd drüber und rein in die Jacke.
Nur die halb verschnürten Schuhe wehrten sich, als Beck mit nackten Füßen aufrecht hineinstocherte, weil sein Hinterteil zu sehr schmerzte, als dass er sich hätte bücken mögen. Schnell verlor er die Geduld, stampfte auf, der rechte Schuh gab den Widerstand auf, eine lose Diele unter dem zerschlissenen Teppichläufer knurrte zustimmend. Der linke Schuh wollte nicht mitspielen. Unwirsch drängte Beck aus dem Flur, zog die Tür hinter sich zu, stapfte leise schimpfend die Treppe hinunter und versuchte, bei jedem Schritt die Ferse in den Schaft zu hämmern, was aber nur dazu führte, dass er den Halbschuh zum Pantoffel deformierte und das hölzerne Stiegenhaus noch lauter ächzte als sonst. Unten angekommen, musste er sich doch bücken, mit dem linken Zeigefinger wie mit einem Schuhlöffel dem Fuß Platz schaffen. Ächzend erhob er sich. Nun taten ihm links das Bein und die Hand weh. Dieser Tag musste sich noch viel Mühe geben, wenn Beck ihn nicht jetzt schon aufgeben sollte.
4Der Weg zu seinem Wagen war heute nicht weit. Nach dem Theater hatte er bei der Bäckerei an der Ecke seinen Stammplatz gekriegt, was ihn vor allem abends zuverlässig in gehobene Stimmung versetzte. Sein Stammplatz war nämlich sehr beliebt, obwohl es gar kein richtiger Parkplatz war. Man konnte dort schon mal einen Strafzettel kriegen. Drei, vier kalkulierte Beck im Monat ein, was immer noch billiger war, als eine Garage zu mieten, die deutlich weiter weg gewesen wäre. Zumal die Garagen auch immer teurer wurden, seit die Stadtregierung mit einem Vergrämungsprogramm gegen Individualverkehr im Viertel ernst machte. Wo kein Poller stand, lagen Wackersteine, wo keine Einfahrt war, gab es Sperrflächen, wo früher in der zweiten Reihe geparkt wurde, war jetzt eine Radlerspur, und die letzten Nischen hatten Carsharing-Stationen besetzt.
Umso größer Becks Triumph vor der Backstube. Als er das brezelförmige Ladenschild vor sich auftauchen sah, blieb er mit einem Ruck stehen. Damit hatte er nicht gerechnet: Sein Wagen konnte fliegen. Er schwebte neben der Brezel, pendelte leicht von links nach rechts und zurück. Beck sah, dass der Auspuff an Mittel- und Endtopf stark korrodiert war, auch an den Radkästen konnte er dem Rost beim Nagen zuschauen. Er hatte das schon immer mal prüfen lassen wollen, doch jetzt bekam er eine kostenlosen Vorführung des Unterbodens, der Rest aber würde teuer werden, denn sein Saab 900 hing am Kran eines Abschleppwagens.
„Halt, was machen Sie denn da?“ Er klang verzweifelt, denn die Antwort kannte er ja längst. Links und rechts machten gerade ein Golf und eine C-Klasse ähnliche Flugübungen wie sein alter Schwede.
„Holen Sie meinen Wagen da wieder runter.“
„Das wird teuer, guter Mann“, sagte der Kranführer mit der Warnweste. „Jetzt zahlen, dann gleich wegfahren. Das Ordnungsamt versteht keinen Spaß mehr, die rufen uns jetzt rund um die Uhr. Ich muss schon Sonderschichten einplanen.“
Beck überlegte, ob er dem Abschleppunternehmer sein Beileid aussprechen sollte, während er sein Auto für einen Preis auslöste, zu dem er zwei Monate lang die teuerste Garage in der Gegend hätten haben können.
Sanft, aber dennoch ächzend setzte der schwebende Schwede auf. Beck zog die Fahrertür mit einem Knarren auf, ließ sich langsam in seinen ausgeleierten Sitz sinken, während er unter und hinter sich Kissen verschob, die ihm das Fahren erträglich machen sollten. So einen Kran, der ihn sanft ablässt, konnte er auch gebrauchen, dachte sich Beck, als der Mann vom Abschleppdienst die Sicherungsseile löste. Er musste einen schnellen Schritt zur Seite machen, denn Beck fuhr ohne Vorwarnung los. Er hatte genug gezahlt und zu viel Zeit verloren, dachte er, da mochte er nicht mehr nett sein. Die Welt war heute auch nicht nett zu ihm. Im Rückspiegel hätte er sehen können, wie der Mann mit den Seilen in der Hand hinter ihm her schimpfte, aber Beck schaute nur noch nach vorn. Auf ins Gewerbegebiet, zur Redaktion der „Neuen Post“. Dort gab es keine Parkplatzprobleme. Er würde wieder auf einer Stellfläche halten, die für die Geschäftsleitung reserviert war. Das klappte seit Jahren gut. Er war ja auch immer nur kurz im Haus.