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Herr Beck braucht dringend Erholung. Nach einem Herzinfarkt fährt der alte Kritiker der "Neuen Post" nach Bad Weinfurt, wo er sich eine Theaterkur bei den Sommerfestspielen verordnet hat. Der neue Intendant mischt das traditionsreiche Festival mit Stars, Skandalen und Sponsoren mächtig auf. Noch vor der ersten Vorstellung flattern Kampfschriften, brennen Banner, fliegt ein Kassenhaus in die Luft. Und kaum ist der "Fröhliche Weinberg" gespielt, liegt ein Mann mit zerschmettertem Schädel am Fuße des Höllgerölls. Prompt steckt Justus Beck mitten drin in einem neuen Kriminalfall. Wieder sucht er den Mörder, doch diesmal kommt er dabei der großen Liebe auf die Spur. Der satirische Theaterkrimi "Theaterherz" ist der dritte und letzte Teil einer Romantrilogie um Justus Beck, der Klassiker erklärt und Verbrechen aufklärt. "Theaterdurst" ist Teil eins, "Theaterwut" Teil zwei.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2020
Tod Ei Jedermann! ist so fröhlich dein Mut?
Hast deinen Schöpfer ganz vergessen?
Jedermann Was fragst um das zu dieser Stund?
Bekümmerts dich? wer bist? was solls?
Tod Von deines Schöpfers Majestät
Bin ich nach dir ausgesandt
Und das in Eil: drum steh ich da.
Jedermann Wie, ausgesandt nach mir?
Greift nach seinem Herzen.
Alle stehen ohne Atem. Dem möchte wohl so sein. Ei ja.
Tod Denn ob du ihm gibst wenig Ehr
In der himmlischen Sphär denkt er dein,
In welcher Weis, das soll dir gleich gemeldet sein.
Hugo von Hofmannsthal: „Jedermann“
Stefan Benz
Theaterherz
Herr Beck und der Toddes reichen Mannes
.
© 2020 Stefan Benz
Umschlag, Illustration: Rebecca Jaweed
Verlag & Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-06929-9 (Paperback)
978-3-347-06930-5 (Hardcover)
978-3-347-06931-2 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Erster Aufzug: Lear
Zweiter Aufzug: Gunderloch
Dritter Aufzug: Jedermann
Vierter Aufzug: Adam
Fünfter Aufzug: Argan
Die Personen
Justus Beck, Theaterkritiker mit krankem Herzen
Paula Berlepp, seine Haushälterin
Juliane, seine längst verstorbene Frau
Franz Mager, sein junger Freund
Bernd Rudolf, Polizeipräsident
Claudia Cestonaro, Mitarbeiterin der Kurstadtzeitung
Marco Cestonaro, ihr Sohn
Antonia Weißmehl, Wellness-Mitarbeiterin für alle Fälle
Ulf Stroh-Engel, Kommissar in Bad Weinfurt
Constantin Olth, Sensationsjournalist aus der Hauptstadt
Kevin Jung, Lokalchef der „Neuen Post“ in Bad Weinfurt
Hermann Castus, Großwinzer und Mäzen
Anatol Wildmoser-Bettencour, Intendant der Festspiele
Cornelia Hartmann, Star der Festspiele
Erster Aufzug: Lear
1Seine Zeit war abgelaufen. Alle wussten es. Nur er nicht. Er hatte seinen Beruf aufgegeben und seine Immobilien verschenkt. Von einer Pflegeversicherung hatte er wohl noch nie gehört. Nicht mal den Nießbrauch für seine diversen Immobilien hatte er sich im Grundbuch eintragen lassen. Wie dumm von ihm. Nun vertraute der alte Narr darauf, dass seine Kinder ihn aufnehmen und pflegen würden. Dabei hatte er ihnen als Vater immer vorgelebt, worauf es im Leben wirklich ankommt: Macht und noch mehr Macht. Und nun wunderte er sich, dass seine Töchter keine aufopferungsvollen Krankenschwestern geworden waren, dass sie Karrieristen an ihrer Seite hatten, die einen lästigen Schwiegervater lieber früher als später loswerden wollten. Zumal der Alte ständig herumnörgelte.
Justus Beck schaute auf die Uhr. Er ertrug diesen Griesgramgreis nur sehr schwer. Der alte Mann mit dem Holzschwert in der schlaffen Hand und dem riesigen Schnuller an der gelbbraun verfärbten Windel sollte endlich sterben. Das war zwar erst der dritte Akt von „König Lear“, aber das Elend dauerte schon zu lange. Deutlich über eine Stunde! Der gebrechliche Herrscher hatte sein Reich an die undankbaren, aber instinktiv kniefälligen Töchter Goneril und Regan vermacht. Schwester Cordelia, die um ihre Vaterliebe kein Aufhebens getrieben hatte, ging leer aus, wurde enterbt und verstoßen. Dabei hätte sie sich doch um ihn gekümmert. Bei Goneril und Regan aber waren Papa Lear und sein Gefolge bald nicht mehr willkommen. Shakespeare kannte eben auch bei Senilität keine Gnade. Und Schauspieldirektor Bernd Huber, der Regie führte, hatte auch kein Mitleid mit König Lear: Der alte Mann war an diesem Abend im Stadttheater ein klarer Fall für die Demenz-WG, hielt sich für einen mächtigen Patriarchen, dabei bestand sein Gefolge aus Spielzeugrittern, die ihm Regan und Goneril nach und nach alle wegnahmen. Sein Gehstock war ein Infusionsständer auf Rollen, dessen Schlauch in seine linke Armbeuge mündete. Sein Schlachtross war ein Schaukelpferd, und die beiden Burgen seiner Töchter sahen aus, als hätte sie ein Riesenbaby mit enormen Legosteinen gebaut.
Der Alte war also auf dem Weg zurück in die infantile Verblödung. Und seine herzlosen Töchter, die als viel beschäftigte Geschäftsfrauen Hosenanzüge trugen, waren drauf und dran, den alten Wirrkopf entmündigen zu lassen. Abgedankt und abgeschoben: „König Lear“, ein gerontologisches Drama zum demografischen Wandel. So hatte die Dramaturgie Shakespeares Seniorentheater angekündigt. Was nicht im Programmheft stand: Regisseur Huber inszenierte aus eigener Erfahrung. Nachdem seine Mutter drei polnische Pflegerinnen vergrault und mit der Schwiegertochter Streit angefangen hatte, war „König Lear“ nun Therapie, Absolution und Rache zugleich. Der Schauspieldirektor hatte die widerspenstige Alte entnervt ins Pflegeheim abgeschoben und zeigte seinem Publikum jetzt, was für eine unerträgliche Last die Eltern doch sein konnten. Nicht dass er damit hausieren gegangen wäre, aber es war Kantinengespräch, und die stellvertretende Vorsitzende der Theaterfreunde sorgte dafür, dass es auch Stadtgespräch wurde. Prompt wurde ihr im Theater Hausverbot erteilt, wovon sie Politiker und Presse in ausführlichen Telefonaten in Kenntnis gesetzt hatte. Auch Beck kannte jetzt alle hässlichen Details. Leider machte dieses Wissen den Theaterabend nicht vergnüglicher.
Im Grunde sei Hubers Mutter dement, ihren Sohn habe sie als Versager beschimpft, die Pflegerinnen als seine Nutten, enterben habe sie ihn wollen und halbnackt zum Fenster heraus gekeift, er wolle sie entmündigen und würde sie verhungern lassen, dabei sei die Pflegschaft die ganze Zeit beim Vormundschaftsgericht verhandelt worden, wo Huber gegen einen amtlichen Betreuer prozessierte. Beck fragte sich, warum der Schauspieldirektor nicht gleich sein eigenes Familiendrama auf die Bühne brachte und den armen alten Lear dafür in Ruhe ließ.
Doch nichts da. Im dritten Akt war Lear nun endgültig zurück im Spielzimmer seiner Kindertage. Der König mit der vollen Windel stand im Sturm von Papierschnipseln zusammen mit dem Narren und einem verbannten Grafen unter einer Plexiglaskuppel. Nur noch eine Spielzeugfigur in einer Schneekugel war der größte Greis des Welttheaters.
Jaja, Beck hatte verstanden. Aber das ging ihm schon zu lange und war ihm auch zu grob, wie der alte Mann da debil und inkontinent vorgeführt wurde. Beck erwischte sich bei dem Gedanken, dass er sich über seine eigene Zimperlichkeit wunderte. Sonst war er doch nicht so dünnhäutig im Theater. Seit bald vierzig Jahren schrieb er Kritiken für die „Neue Post“, aber an diesem Abend tat ihm das Theater tief im Herzen weh. Zum ersten Mal.
War es jetzt soweit? Erkannte er sich schon selbst in König Lear? Oder was sollte der plötzliche Anfall von Empfindsamkeit? Irgendwas war verkehrt mit dieser Inszenierung. Sie schmeckte stumpf, sie sah unscharf aus, die Farben stimmten nicht, bisweilen schien ihm das Theater schwarz und weiß. Dann gingen die Lichter aus, es blitzte, die Szene erschien wieder, aber es sah aus wie ein Filmnegativ. Dann war auch noch der Ton weg. Seltsame Effekte dachte Beck und hatte das Gefühl, als würde er wachend schlafen, das Theater als Traum sehen. Verwirrt schaute er zur Seite, wo Paula saß, die er ja deshalb immer mitnahm ins Theater, weil sie ihn weckte, wenn er mal wieder schlummerte und – schlimmer – schnarchte. Doch sie hatte ihn nicht angestoßen. Oder doch? Paula schaute ihn mit großen Augen an, wischte mit ihren Händen vor seinem Gesicht und bewegte die Lippen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Was war nun wieder los?
Schon bei ihm daheim, als er fertig war, mit ihr zur Premiere zu gehen, hatte sie an ihm herumgenörgelt. Die Wohnung sehe schlimm, er sehe noch schlimmer aus, solle doch endlich Sport machen, gesünder essen, weniger trinken, zum Arzt gehen oder gleich daheim bleiben. Und alles möglichst sofort und gleichzeitig. Paula war zwar nur seine Haushälterin und dabei auch eine gute Freundin, aber das schon so lange, dass sie manchmal klang, als wäre sie seine Frau. Er nahm es ihr nicht krumm. Was wäre er ohne sie? Das Theater kriegte er ja noch hin, aber der Alltag war ihm längst zu viel. Normalerweise erwuchs ihm aus Paulas Klagen eine gereizte Laune, die ihm die Kraft gab, all ihre Einwände wegzuwischen. Das war heute anders gewesen. Sie hatte ihn aus seinem gar nicht so alten, aber mit Schuppen beflockten Hemd herausgeknöpft, ihm den Kamm durch die verklebten grauen Strähnen gezogen, dass es wehtat, Wasser ins Gesicht gespritzt, Deodorant über sein Unterhemd gestäubt und ihn in ein vermeintlich frischeres Hemd und ein Jackett gestülpt. Als wäre er ein kleines Kind. Ja, er kam sich da immer etwas entmündigt vor.
Wahrscheinlich war es dieses Gefühl, das ihm jetzt beim alten Lear so sehr aufstieß, dass er Magensäure in der Gurgel spürte. An Prosecco, Espresso und Schmerztabletten, die er sonst vor jeder Premiere nahm, konnte es nicht liegen, denn Paula hatte ihm, als sie endlich im Foyer angekommen waren, verboten, sein Theatermenü zu sich zu nehmen. Dabei hatte er mittags sogar noch Vitamin-Dragees geschluckt. Oder irgendwas anderes. Die Grünen und die Langen, Hauptsache gesund. Er musste die Schublade mit den herumfliegenden Tabletten mal wieder aufräumen. Und dann sollte er vor der Premiere auch noch einen Orangensaft trinken. Und ein Käsebaguette essen. Beck fand das übergriffig, hatte aber nicht die Kraft gefunden, sich einen Wein zu bestellen und verweigerte trotzig den Saft, den Paula ihm schließlich hinhielt. „Du benimmst Dich wie ein kleines Kind“, hatte sie gesagt. „Schlimmer: wie ein altes Kind. Meine Enkeltochter ist vernünftiger, und die ist jetzt zwei. Bist Du in der Trotzphase?“ Beck hatte nicht geantwortet, sondern nur die Arme verschränkt und grimmig unter sich geschaut. Er und in der Trotzphase. Das war ja wohl das Letzte. Er würde jetzt gar nichts mehr sagen. Stattdessen wollte er bis zur Pause ein ernstes Gesicht machen und strafend schweigen. So hatte er es auch bis jetzt gehalten, sich still über Paula und Lear, den Regisseur und irgendwie auch über sich selbst geärgert. Nun aber merkte er, dass etwas nicht stimmte. War es seine angestammte Dosis aus Alkohol, Koffein und Ibuprofen, die ihm fehlte? Aber dann hätte er doch eher müde werden müssen. Ihm hätte der Steiß und sein linkes Bein wehtun können. Doch er fühlte nichts. Und er hörte nichts. Warum war das Theater denn so still?
Beck merkte, dass er Mühe hatte, den Kopf gerade zu halten. Sein Blick heftete sich auf die Rückenlehne des Sitzes vor ihm. Warum schaute er nicht mehr auf die Bühne? War doch schon Pause? Oder war das Stück schon vorbei? Waren Regan und Goneril, Cordelia und Lear bereits tot? Hatte er doch geschlafen? Und wie sollte er jetzt über den Abend schreiben? Beck fühlte eine namenslose Sorge in sich aufsteigen. Da sah er, dass ihn eine Hand schüttelte. Sein Blick fiel zur Seite, und das Theater um ihn herum taumelte. Die Menschen vor ihm waren aufgestanden. Also war doch Pause? Mitten im dritten Akt? Vielleicht ein Feueralarm? Beck verstand das alles nicht, aber es war ihm auch seltsam egal. Es kam ihm vor, als würde alles in Zeitlupe ablaufen. Das konnte doch nicht das wirkliche Leben sein. Das musste Theater sein, Theater in seinem Kopf.
Beck blinzelte, denn er sah plötzlich seinen alten Feuilletonchef Buchmann neben sich, wie er eine Zigarre und ein Glas Rotwein in Händen hielt. Ja, so hatte er ihn gekannt, doch das war merkwürdig, denn Buchmann war schon vor vielen Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Was machte der denn jetzt im Theater? Beck wollte ihn fragen: „Mensch, Lutz, Du bist ja gar nicht tot! Wie geht’s Dir denn?“ Doch er konnte den Mund nicht bewegen. Dafür hörte er Buchmann: „Vorwärts Bursch, wie geht’s, mein Junge? Frierst Du, ich frier auch.“ Beck verstand nicht. Das sagt doch Lear, und nun redete Buchmann, als wäre er eine Shakespearefigur. Becks Blick fiel am Körper seines alten Kollegen herab. Er war nackt, grau und eingefallen, die Haut fleckig, Rippen und Hüftknochen schauten heraus, nur der Bauch wölbte sich kugelrund über einer Windel mit gelben Flecken. Kein Zweifel, Buchmann spielte Theater. Er beugte sich zu Beck herunter und flüsterte ihm ins Ohr: „Kein, kein Leben! Du wirst nun nie mehr wiederkommen, nie. Oh, nie, nie, nie! Ich bitt euch macht den Knopf auf. Oh, seht ihr das? Seht an? Seht doch seht…“
Beck lief der kalte Schweiß vom Hals ins Hemd. Dieser Geist, der aussah wie Buchmann und sprach wie Lear, würgte ihn, dass es in der Gurgel brannte und im linken Arm zog. Endlich löste sich Buchmann von seinem Hals. Beck sah ihn erst nur als verschwommenen Schatten. Dann schaute er direkt in Paulas Gesicht. Sie hielt ihn an der Schulter, hatte Tränen in den Augen und sprach offenbar mit zwei Männern, die Beck noch nie gesehen hatte. Sein Kopf klappte nun zur anderen Seite, und er wunderte sich, dass das ganze Theater um neunzig Grad gedreht war. Wieso fielen die Schauspieler da vorne auf der Bühne denn nicht um, wenn sie so schief standen, fragte er sich noch. Und wieso spielten sie nicht mehr? Langsam, aber mächtig senkte sich eine unsichtbare Macht auf seine Brust. Beck wollte atmen, aber es ging nicht. Da erst sah er die Panik kommen. Und im nächsten Moment hatte sie ihn schon erfasst, würgte und schüttelte ihn, während irgendjemand im Theater den Ton langsam wieder nach oben geregelt haben musste. Beck erkannte Paulas Stimme, und er hörte sich selbst. Aber es war kein Satz, es war ein scheußliches blubberndes Würgegeräusch. Ein Mann rief von weit, weit weg: „Wo bleibt denn der Theaterarzt?“ Da schloss sich der Vorhang, und es wurde ganz dunkel und totenstill.
2Der schwarze Tod hatte seine Schwingen ausgebreitet und stieß von oben herab auf sein geschwächtes Opfer. Beck hatte es kommen sehen, doch er konnte nichts machen, lag nur da und ließ den Horror über sich ergehen. Immer und immer wieder hackten sie auf das wehrlose Bündel ein. Noch zuckte es unter ihren Hieben, doch bald rührte sich nichts mehr. Überall lagen Blut und Federn. Die drei Krähen begutachteten ihr Werk, wendeten die Köpfe und flatterten davon. Beck war schon auf sie aufmerksam geworden, als sie den Vogel in einen Baum getrieben hatten, dass die Äste wackelten. Dann hatte sich der Todeskampf auf ein Flachdach verlagert, das er von seinem Bett aus sehen konnte. Und jetzt, da die Angreifer verschwunden waren, erkannte er auch, dass dort eine Elster lag – oder das, was noch von ihr übrig war.
Sowas konnte er jetzt ja gerade noch gebrauchen. Horror mit spitzem Schnabel wie bei Hitchcock. Sein Gemüt war schon ramponiert genug. Den Sonntag über hatte er in der Intensivstation des Klinikums am EKG verbracht. Verdacht auf Herzinfarkt. Aber gesprochen hatte noch niemand mit ihm. Kein Personal in Sicht. Nur überall Kabel und ein Apparat, der neben ihm blinkte. Die Stadt wollte das Krankenhaus längst loswerden, der Verkauf an eine Klinik-Kette zog sich hin, Schwestern und Ärzte protestierten, und langsam blätterte der Putz ab. An diesem Morgen hatten sie ihn in ein Vier-Bett-Zimmer geschoben. Fast schon Luxus, es gab auch noch Sechs-Bett-Zimmer, wo es immer zuging wie im Landschulheim. Ruhe war aber auch in der kleineren Gemeinschaftsunterkunft nicht zu finden. Es sei denn, man war der dicke Herr Schabacker, der direkt an der Tür lag, die ganze Zeit schlief und dabei leise blubbernd röchelte. Daneben befand sich die Außenstelle von Kasimpasa-Kebab. Herr Özbak, der mit seinem Schnäuzer aussah wie der untersetzte Zwilling von PKK-Chef Öcalan, aber treu-türkisch einen Wimpel mit Halbmond und Stern auf seinem Beistelltischchen gehisst hatte, hielt zwei Mobiltelefone in den Händen, in die er abwechselnd hineinsprach, mit einem offenbar die Geschäfte seiner Dönerbude regelte, über das andere Fußballergebnisse diskutierte. Es klang für Beck zumindest so, denn Özbak sprach Türkisch mit deutschen Spurenelementen. Eine Delegation seiner Sippe umlagerte sein Bett. Eine ältere Frau mit Kopftuch redete auf zwei jüngere ein, die nichts sagten, aber die Gesichter einander zuwandten, so dass ihre langen schwarzen Haare einen Vorhang vor der meckernden Alten bildeten. Zwei Buben, die gerade mal bis zur Matratze reichten, lieferten sich darauf mit weißen und roten Spielzeugautos ein Rennen, bis Özbak sie anblaffte, weil ein junger Kerl mit einem Stapel Joghurtdrinks reinkam und die Ladung auf dem Bett deponierte. Es ging zu wie in der Großmarkthalle. Und Beck wartete die ganze Zeit darauf, dass eine Lieferung Krautsalat im Eimer und ein Dönerspieß in Plastikfolie zur Tür hereinkämen. Dafür dass Özbak offenbar irgendwo am Bauch operiert worden war, wirkte er geradezu erschreckend munter. Wie mochte der Mann wohl drauf sein, wenn er nicht bettlägerig war?
Wer sich so gar nicht vom türkischen Trubel stören ließ, war Justin im Bett nebenan. Der vielleicht sechzehnjährige Bub, der vom Mofa gefallen war, nun den linken Arm in einer Schlinge trug und das rechte Bein in einem Gips stecken hatte, hielt selbst Hof. Nachdem er und Beck sich kurz bekannt gemacht hatten und der Junge sich ausgiebig darüber gefreut hatte, dass Justin und Justus ja fast die gleichen Namen seien, waren die ersten Mädchen aufgekreuzt. Zeitweise umringten sie zu siebt sein Bett, malten rosa Herzchen auf seinen Gips, beschenkten ihn mit Schokolade, Cola und anderen Liebesgaben. Eine hatte Justin Notizen aus der Schule mitgebracht und versprach, für ihn mitzuschreiben, eine Andere zeigte stolz ihr frisches Nabelpiercing, das Beck bedenklich entzündet vorkam, eine Dritte schwärmte ihren Freundinnen von einer Liste mit Songs vor, die sie dem Jungen zusammenstellen wollte, eine Vierte wuschelte dem Patienten ständig durch die Haare, die an der Seite kurz waren, während über der Stirn ein hochgeföhnter Pony in einer kessen Welle offenbar mit Haarlack der Schwerkraft trotzte. Wie es aussah, schwänzte der komplette weibliche Teil der Klasse gerade den Unterricht, um dem Schwarm des Schulhofs zu gefallen. Je länger er zusah, wie der junge Hahn im Korb umgickelt und umgackert wurde, desto sicherer war Beck, dass Justin sich mit Absicht vom Mofa gestürzt haben musste.
Er fand das auch eine Zeitlang ganz amüsant, bis zwei Mädchen beschlossen, sich auf sein Bett zu setzen, was natürlich gar nicht ging, denn dort hatte er seine Tageslektüre ausgebreitet, die Paula ihm gebracht hatte, zusammen mit einem Pyjama, der an ihm schlotterte, und Äpfeln, die er nicht mochte. Beck verscheuchte die beiden jungen Damen und war dann eine Weile damit beschäftigt, die zerknitterte „Neue Post“ wieder zu glätten. Dabei war das, was er dort lesen musste, ohnehin nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Im Kulturteil stand an der Stelle, wo seine Kritik über „König Lear“ hätte sein müssen, nur ein großes Szenenbild mit Lear in seiner Riesenwindel. Darunter: „Großer Erfolg im Schauspielhaus: Langen Beifall gab es am Samstagabend nach der Premiere von König Lear im Schauspielhaus. Shakespeares Stück wird in der Fassung von Regisseur Bernd Huber zu einem Drama im Pflegeheim. Die Vorstellung musste vor der Pause kurz unterbrochen werden, weil ein Zuschauer gesundheitliche Probleme hatte. Dem künstlerischen Erfolg tat das keinen Abbruch.“
Becks Laune tat dies wiederum einen gewaltigen Abbruch. Kein Wort davon, dass der Kritiker der „Neuen Post“ gerade so dem sicheren Tode entronnen war. Keine Entschuldigung beim Leser dafür, dass er zum Frühstück nicht wie gewohnt die Kritik von Justus Beck lesen konnte. Matt war er nach dem Anfall und dem vielen Liegen ohnehin, aber als er das gelesen hatte, senkte sich eine graue Last auf ihn, die sich klamm anfühlte wie Nebel im Herbst. Dabei ließ der junge Sommer draußen keinen Zweifel daran, dass er in erfreulicher Frühform war. Hatten Sie bei der „Post“ nur darauf gewartet, ihn endlich loszuwerden? War er schon längst abserviert, ohne dass es ihm einer ins Gesicht hätte sagen wollen? Zwar war er immer noch da, aber die schnöde Bildunterschrift fühlte sich an wie eine Beerdigung dritter Klasse.
Das Massaker an der Elster, das er ansonsten als spektakuläre Kuriosität aus dem Tierleben willkommen geheißen hätte, traf ihn in dieser Stimmung völlig schutzlos. Beck starrte auf das weiß-schwarze Knäuel aus Federn mit einem abgeknickten Flügel und einem roten Fleck, wo der Kopf hätte sein müssen. Er konnte sich von dem Anblick lange nicht losreißen, bis er eine Unruhe im Raum spürte, die neu war, nicht von Justins Fanclub oder aus dem ausgelagerten Büro von Kasimpasa-Kebab stammte.
Drei weiße Gestalten waren zur Tür hereingekommen. Er wusste, was das bedeutete, sah aus dem Augenwinkel, wie Özbaks Familienbetriebsversammlung sich auflöste und Justins Fanclub aufgeregt tuschelnd den Rückzug antrat. Beck schloss die Augen. Vielleicht würde die Visite einfach an ihm vorübergehen. An Ärzten war Beck stets weiträumig vorbeigegangen, selbst als das mit den Rückschmerzen, dem tauben Bein, der Müdigkeit am Tage, dem Schlaf ohne Ruhe, der Atemnot, den dicken Füßen immer unangenehmer geworden war. Als ihn die Ärzte ins Schlaflabor und zur Rücken-OP schicken wollten, hatte er den Kontakt zu ihnen eingestellt. Einmal war er noch beim Zahnarzt gewesen, als die Schmerztabletten nicht mehr geholfen hatten, und natürlich hatte sich der Arzt als Metzger erwiesen, der fluchend über ihn gebeugt zwei Backenzähne bröckchenweise aus seinem gefühllosen Kiefer gehebelt hatte. So einem Feldscher und seinen Adjutanten jetzt ausgeliefert zu sein, fand er gruselig. Am liebsten wäre er aufgestanden und einfach zur Tür rausspaziert, aber er musste sich eingestehen, dass er sich fühlte, als wäre eine Dampfwalze über ihn drüber gefahren. Also stellte er sich schlafend, hörte aber, wie sich die weißen Gestalten von Bett zu Bett vorarbeiteten.
Sie ließen sich Zeit, so viel Zeit, dass Beck tief in sich drin einen leichten Krampf zu spüren begann. Er dachte schon, sein Herz wolle ihm einen erneuten Streich spielen, da merkte er, dass es Hunger war. Am Sonntag in der Intensivstation hatte er keine Lust auf Essen gehabt, man hatte ihm Kochsalz und Traubenzucker durch die Vene verabreicht. Mehr nicht. Und an diesem Morgen war ihm der Appetit umgehend vergangen, als er das Tablett sah mit dem weichen Graubrot, einer Scheibe Hirnwurst, der eingeschweißten Portion roter Marmelade und dem Kamillentee, in dem er nicht mal seine Füße hätte baden wollen. Graues Brot, graue Wurst, selbst der Tee sah im schmutzig weißen Plastikbecher fahlgrau aus. Es war grauenhaft. Auf seine Frage nach einem doppelten Espresso hatte die Schwester nur gelächelt. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte oder ob sie sein Anliegen für medizinisch absurd hielt. Dass er nicht nach einem Brandy fragen musste, wusste er selbst. Deshalb hatte er auch Paula nicht gebeten, ihm eine Flasche von dem Syrah-Merlot-Cuvée aus dem Languedoc ins Krankenhaus zu schmuggeln, die er in seinem Weinladen gerade ohnehin kistenweise herumstehen hatte. Das Zeug verkaufte sich nicht, der Laden lief nicht mehr. Sein Franchise-Vertrag würde auslaufen, und dann wäre Schluss. Aber heute müsste noch mal jemand aufsperren. Wieso fiel ihm das jetzt erst ein? Er musste Paula anrufen, damit sie ein Schild an die Tür hängt. Das ging in diesem Moment natürlich nicht, denn er schlief ja tief und fest. Wie lange brauchten diese Ärzte denn noch? Er hörte sie tuscheln und dann ein Räuspern direkt über sich: „Herr Beck, können Sie mich hören?“
Mist. Musste das sein? Jetzt bloß keine Schwäche zeigen, dachte er, blinzelte und reckte sich, als würde er gerade aus einem erholsamen Mittagsschläfchen aufwachen: „Oh, Herr Doktor, ich hab Sie gar nicht gehört. Ich muss wohl eingeschlafen sein.“
„Das ist ganz normal. Ihr Körper braucht Ruhe. Sie hatten einen Hinterwandinfarkt“, sagte der Mann mit den gegelten braunen Locken, der aussah, als hätte er gerade sein Medizinstudium begonnen, würde aber die Seminarstunden im Solarium verbringen. „Reinheimer“ stand auf seinem Namensschild, und nur der Umstand, dass hinter ihm zwei noch jüngere Menschen die Hälse reckten, ließ Beck hoffen, dass es sich bei dem jungen Herrn, der mit ihm redete, tatsächlich um einen Arzt und nicht um den Stationspraktikanten handelte.
Hinter Reinheimer schauten ein junges Mädchen mit zerzausten weißblonden Haaren und ein etwas jüngere Kerl mit fusseligem Braunbart rechts und links über die Schultern ihres Chefs. Das Mädchen mit dem Struwwelkopf und einem silbernen Stecker im rechten Nasenflügel hieß ausweislich ihres Namensschildes Ellenbruch, der zauselige Hipster Darrmann. Beide hatten sie Klemmbretter vor den Bauch gedrückt, auf die sie, sobald Reinheimer zu sprechen begann, verdruckst Notizen kritzelten, indem sie das Brett unten auf Höhe des Hosenbundes fixierten und es dann nur wenige Zentimeter nach vorne kippen ließen. All das wirkte auf Beck nicht gerade vertrauenerweckend. Und dann das noch: Hinterwandinfarkt! Hätte es nicht auch ein Schwächeanfall sein können? Oder wenigstens Angina Pectoris? Reinheimer hatte den Schrecken in Becks Augen offenbar erkannt. Er sah das wohl täglich: „Machen Sie sich keine Sorge. Das kriegen wir hin. Aber Sie müssen gut mithelfen.“
Na, danke, dachte sich Beck.
„Ihr EKG ist eindeutig“, sagte Reinheimer und wedelte mit einem Zettel voller Zacken vor Darrmanns Nase: „Was sehen Sie?“
Braunbart zögerte kurz, aber lang genug, dass Struwwelköpfchen ihm die Schau stehlen konnte: „ST-Strecken Hebung!“
„Und was sehen Sie nicht“, fragte Reinheimer mit Blick auf Darrmann, der jetzt so verständnislos dreinschaute, dass Beck nur hoffen konnte, dass dieser junge Mann nie auf einen Kranken losgelassen werde.
„Q-Zacken“, antwortete schließlich Ellenbruch zögernd, und es klang eher wie eine Frage.
Reinheimer hob die Hände wie ein Dirigent und ließ den Satz unvollendet: „Das heißt also…“
Wieder verpatzte Darrmann seinen Einsatz, wieder antwortete Ellenbruch, diesmal forscher: „kein Diaphragmalinfarkt!“
Reinheimer nickte zufrieden, schaute im nächsten Moment aber Darrmann strafend an: „Pathologie?!“
„Ja, äh, Verschluss der Koronararterien.“
Das war Reinheimer offenbar nicht genug, er ließ den Kopf ermattet sinken und gab Ellenbruch mit dem linken Handrücken ein Winkzeichen für ihren Einsatz.
Wie aus der Pistole geschossen, spuckte sie Buchstabenfolgen aus: „RCA RCX RIVP!“
Reinheimer lächelte sie mit zusammengepressten Lippen an und murmelte dann: „Und hier haben wir RCX.“ Dann zu Beck gewandt, der dem Schauspiel zunehmend verständnislos beigewohnt hatte: „Ramus circumflexus!“ Reinheimer hob die linke Augenbraue, Beck blickte ihn mit gequälter Ungeduld an.
„Ein Ast Ihrer linken Koronararterie war zu. Wir geben Ihnen einen Gerinnungshemmer. Dazu Betablocker. Das müssen Sie strikt einnehmen. Ihr Herzmuskel ist schon geschädigt.“
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Schon vor Jahren war er beim Arzt gewesen, der ihm das Zeug auch schon verschrieben hatte und ihn den ganzen Tag hatte verkabeln wollen. Aber wenn es um seine Gesundheit ging, dann war sich Beck noch stets selbst der beste Apotheker gewesen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, wechselte Reinheimer Haltung und Tonfall, rückte nah an Beck heran und sprach nun von oben herab wie ein Oberstudienrat zum Sextaner, der das ABC nicht drauf hat: „Sie waren ja bei der Erstversorgung nicht recht ansprechbar, aber Ihre Frau Berlepp war so lieb, bei Ihnen daheim nachzuschauen, welche Medikamente Sie nehmen. Sie hat eine Schublade voll mit Schmerztabletten und Vitaminpräparaten, aber auch Blutverdünner und Betablocker gefunden. Keine Packungen, keine Beipackzettel. Und das meiste war längst abgelaufen. Sie wissen, dass das keine Bonbons sind?“
Auf solche Debatten hatte Beck nun gerade gar keine Lust. „Ich hab das mal verschrieben gekriegt, aber dann hab ich gegoogelt…“
Reinheimer unterbrach ihn: „Hören Sie bloß nicht auf Dr. Internet. Morbus Wikipedia, das ist die schlimmste Seuche, die wir hier behandeln. Ich fasse zusammen: Sie waren also schon mal beim Kardiologen, aber Sie nehmen nichts regelmäßig.“
„Naja.“ Beck eierte. „Wie ich mich halt fühle.“
„Das wird so nichts“, tadelte Reinheimer, trat wieder einen Schritt zurück, machte einen Kunstpause und sprach dann das Urteil mit der Höchststrafe aus: „Und vor allem bewegen Sie sich und lassen Sie die Finger vom Alkohol. Frau Berlepp hat mir erzählt, dass Sie zu viel trinken, keinen Sport treiben und kein Interesse an gesunder Ernährung haben. So werden Sie nicht alt.“
Das konnte doch nicht wahr sein. Paula, die blöde Petze! Was musste Sie ihn vor diesem Affen im Weißkittel bloßstellen?
„Ihr Herz pumpt ja ohnehin sehr schwach, deshalb sind Sie auch so oft müde. Und man sieht es auch an Ihren Schwellungen.“ Reinheimer zog Becks Decke von den Beinen, über die sich Netzstrümpfe spannten. „Sie sehen: Lymphödeme. Ihr Körper kriegt das Wasser nicht aus den Füßen. Es langt nicht, Sie wieder auf die Beine zu kriegen, Sie müssen auch laufen. Wir behalten Sie noch bis Ende der Woche hier. Danach Anschlussheilbehandlung. Das können wir ambulant machen. Ich empfehle aber drei Wochen in einer Kurklinik, schön mit Physiotherapie. Das müssen Sie dann noch mit der Kasse abklären. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Medikamente wie vorgeschrieben nehmen, aber es ist genauso wichtig, dass Sie ihre Lebensweise umstellen.“
Reinheimer sah unvermittelt Darrmann an, drückte ihm den linken Zeigefinger auf die Brust, dass er aufschreckte und stotternd loslegte: „Übergewicht reduzieren, Blutfettwerte senken…“
Reinheimer winkte ab: „Das brauchen wir hier jetzt gerade nicht, oder sieht der Patient übergewichtig aus?“
Er wendete sich Ellenbruch zu, und ihre Antwort gefiel ihm offenkundig viel besser: „Der Patient sollte leichten Ausdauersport in seinen Alltag einbauen“, sagte sie, drückte dabei den Rücken durch und streckte den rechten Zeigefinger mahnend in die Luft. „Er sollte Blutdruck und Blutzucker regelmäßig überprüfen und lernen, wie man sich gesund und ballaststoffreich ernährt. Gerade ältere alleinstehende Männer sind hier oft sehr unbeholfen und brauchen Anleitung und Ermunterung. Anders als bei gleichaltrigen Frauen ist die Compliance in dieser Gruppe oft unbefriedigend.“
Jetzt hatte der ältere alleinstehende Mann aber genug davon, dass ihm Fräulein Rotznase erzählte, wie er sich schnäuzen sollte.
„Gerade bei Männern ist die Unsicherheit nach einem Infarkt groß, ob der Liebesakt noch ausgeführt werden kann und ob das mit gesundheitlichen Gefahren verbunden ist.“ Ellenbruch musste sich räuspern und ruckelte ihren Kittel fest.
Reinheimer grinste fett: „Sie sehen, die junge Kollegin kennt sich aus. Sobald Sie zwei Etagen ohne zu schnaufen schaffen, können Sie wieder ran.“
Hatte dieser Arzt völlig den Verstand verloren? Beck war immer schon nach einer Treppe außer Atem. Und mit wem hätte er den Liebesakt denn ausführen sollen? Genug jetzt! Schluss mit Compliance. Der Patient war bereit, seine Ärzte in die Flucht zu schlagen. Er spähte zur Sicherheit noch einmal nach links. Justin hatte Kopfhörer aufgezogen, man hörte leises Bassbrummeln. Özbak tippte auf einem seiner beiden Mobiltelefone herum. Schabacker lag mit offenem Mund auf dem Rücken und rasselte vor sich hin. Es konnte losgehen.
„Ich persönlich halte es bei medizinischen Fragen ja mit Jean-Baptiste Poquelin“, sagte Beck zu Ellenbruch und machte eine bedeutungsvolle Pause, die ihren Chef offensichtlich irritierte.
„Wie, bitte?“ Reinheimer räusperte sich. „Den Kollegen kenne ich nicht. Ein Kardiologe? Haben Sie ihn konsultiert?“
„Hab viel von ihm gelesen. War aber auch schon oft bei ihm. Sie müssten ihn eigentlich auch kennen. Ist ziemlich berühmt. Vor allem natürlich in Frankreich, aber auch hier.“
„Tut mir leid, ich muss passen. Aber was sagt der Kollege denn?“
„Poquelin ist kein Arzt, er schreibt über Ärzte. Naja, jetzt nicht mehr. Kennen Sie den eingebildet Kranken?“
„Der eingebildete Kranke?“
„Nein, der Kranke ist nicht eingebildet, die Ärzte sind eingebildet, der Kranke bildet sich nur ein, krank zu sein.“
„Was? Ich verstehe nicht. Sie reden doch von diesem Theaterstück. Ist doch Molière. Oder nicht?“
„Sie kennen ihn ja doch.“ Beck blinzelte den Doktor milde verständnisvoll an wie einen hoffnungslos doofen Gymnasiasten, der gerade das kleine Einmaleins aufgesagt hatte. „Ja, und der Mann hieß eigentlich Poquelin, er war gelernter Tapezierer, studierter Jurist und das Gegenteil von einem Hypochonder. Er hatte am Ende seines Lebens Lungentuberkulose, Schwellungen, hustete andauernd und machte sich einen Spaß daraus, über Ärzte zu schreiben, die gesunde Leute mit Einlauf, Aderlass und Schröpfkur gegen unreine Säfte quälten.“
„Ja, ich denke, ich hab das Stück mal gesehen“, erwiderte Reinheimer, ohne zu bemerken, dass Fusselbart und Struwwelkopf hinter ihm angefangen hatten, sich Notizen zu machen. „Da war Robert Koch auch noch nicht geboren, es gab kein Penicillin, und die Medizin war keine Wissenschaft, sondern ein experimenteller Aberglaube für Scharlatane und Quacksalber. Ich kann Sie also beruhigen, wir behandeln nicht nach der Lehre von den Körpersäften, wir wollen keine Schröpfkur an ihnen vornehmen.“
Netter Versuch, dachte Beck, nahm sich seinen Molière zu Herzen und erwiderte: „Lieber Herr Doktor, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen. Aber wenn ich Schnupfen habe, kriege ich heute Antibiotika, juckt mich der Rücken, verschreibt mir der Hautarzt Cortison, knackt mein Knie, spritzt der Orthopäde Hyaluronsäure, und wenn die Pumpe schlappmacht, empfiehlt der Kardiologe Betablocker. Wo ist da der Unterschied?“
„Ich muss doch sehr bitten.“ Mehr fiel Reinheimer nicht ein. So eine Widerrede hatte er noch nie gehört.
„Mein Freund Poquelin jedenfalls ist nicht zum Arzt gegangen, weil er der Meinung war, Ärzte sollten nur die Gesunden behandeln, am besten Hypochonder, die stark genug sind, ihre Kuren zu überleben. Deshalb hat er den Eingebildet Kranken nicht nur geschrieben, sondern auch gespielt, als er selbst schon schwer krank war. Das war seine beste Pointe.“
Ellenbruch und Darrmann schrieben eifrig mit. Reinheimer suchte noch nach seiner Fassung: „Was machen Sie noch mal beruflich?“
„Ich bin der Theaterkritiker der Neuen Post.“
Der Arzt blätterte in Becks Krankenakte. „Sehe schon. Sie sind ja auch direkt aus dem Theater zu uns gekommen. Das erklärt einiges.“
„Auch da halte ich es mit Molière. Bis zur vierten Vorstellung hat er die Hauptrolle im Eingebildet Kranken gespielt. Am Ende des dritten Aktes soll der Kranke selbst zum Doktor promoviert werden, weil ihn das endgültig heilen wird. Sein Bruder ermuntert ihn: Man muss nur in Robe und Barett reden, dann wird alles Geschwätz zu Weisheit und jede Dummheit zu Vernunft.“ Beck war ein bisschen stolz drauf, dass er das auswendig wusste.
Reinheimer hatte für diese erstaunliche Gedächtnisleistung aber so gar keinen Sinn: „Sie wollen mich nicht zufällig gerade beleidigen?“
„Aber nein, Herr Doktor, ich rede nicht von Ihnen, ich rede von mir – und von Molière. In der vierten Vorstellung des Stücks, kurz vor dem Schluss, genau an der Stelle hat er einen schlimmen Schwächeanfall gekriegt, aber er hat es so hinbekommen, als würde es zur Rolle gehören. Dann haben sie ihn nach Hause geschafft, ihm ein Hopfenkissen unter den Kopf gelegt, er hat noch einmal Blut gespuckt und war tot. Verstehen Sie diese Ironie: Ein Todkranker macht sich über die Ärzteschaft lustig, ein Sterbender spielt einen kerngesunden Kranken.“
Während dieses Exkurses hatte Reinheimer endlich bemerkt, dass Becks theatermedizinische Ausführungen in seinem Rücken eifrig notiert wurden. Mit einem unwirschen Schlag durch die Luft und einem blitzenden Blick bereitete Reinheimer diesem Treiben ein jähes Ende. Seine solariengegerbte Gesichtshaut sah mit einem Mal fahl und grünlich aus. Beck konnte sich gerade noch den Vorschlag verkneifen, der Arzt solle doch mal seinen Blutdruck messen, weil er blass sei. Doch er musste in sich hinein schmunzeln, und Reinheimer sah das.
„Ich weiß immer noch nicht, was Sie mir sagen wollen, und ich muss jetzt auch wirklich weiter. Aber soviel ist klar: Ihr Molière hatte Tuberkulose, Sie hatten einen Infarkt, und für Symptome der Theaterpest sind wir hier nicht zuständig. Eine Schwester wird Ihnen Unterlagen für die weitere Behandlung geben. Auf Wiedersehen.“
Das klang ziemlich eisig. Reinheimer, dessen Gesichtsfarbe während seiner kurzen Rede von grünweißlich zu gelbrötlich gewechselt hatte, drehte sich um. Ellenbruch und Darrmann schauten irritiert auf ihren Chef, Struwwelköpfchen spickte noch einmal kurz auf ihre verbotenen Molière-Notizen, Fusselbart hingegen hatte sein Klemmbrett sinken lassen, eilte sich beim Rausgehen, spähte in der Tür aber doch noch mal verstohlen zurück zu Becks Bett. Ob Darrmann jetzt wohl vorhatte, demnächst Molière im Theater den Puls zu fühlen? Wohl nicht. Wahrscheinlich dachte er eher, dieser renitente Herzpatient sei ein Fall für die psychiatrische Abteilung.
Gut so. Die war er los. Beck fixierte die geschlossene Zimmertür und atmete tief durch. Schabacker lag jetzt auf der Seite, sein Atem blubberte. Özbak hatte wieder beide Telefone in der Hand und sprach abwechselnd in sie hinein. Justin hatte keine Kopfhörer mehr im Ohr, dafür war er jetzt versunken in ein Videospiel auf seinem Computerbrettchen. Offenbar hatte keiner davon Notiz genommen, wie Beck das Trio in Weiß in die Flucht geschlagen hatte. Besser so. Er wendete den Kopf zum Fenster. Am vorhin noch blauen Himmel war