Theaterdurst - Stefan Benz - E-Book

Theaterdurst E-Book

Stefan Benz

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Beschreibung

Regisseur im Blutrausch inszeniert Shakespeare-Massaker. Was für ein Skandal! Doch der alte Kritiker der "Neuen Post" hat mal wieder alles verpennt: Deshalb muss sich Justus Beck nun mit dem Praktikanten Franz rumärgern, der über den nächsten Eklat twittern soll. Prompt brechen Schauspielerinnen auf offener Bühne zusammen. Sabotage an der Kunst oder Mordanschläge? Der müde Rezensent ist jetzt hellwach, und Franz gibt den entscheidenden Hinweis. Der satirische Theaterkrimi "Theaterdurst - Herr Beck und die Höllenlimonade" ist der Auftakt zu einer Romantrilogie um den Kritiker und Weinhändler Justus Beck, der Klassiker erklärt und Verbrechen aufklärt. Im ersten Band muss sich Herr Beck um drei vergiftete Schauspielerinnen und die fünf Theaterklassiker "Titus Andronicus" , "Medea", "Kabale und Liebe", "Romeo und Julia" sowie "Amphitryon" kümmern. "Theaterdurst - Herr Beck und die Höllenlimonade" ist ein unkonventioneller Theater(ver)führer und ein tragikomischer Theaterkrimi um einen Kritiker mit schwachem Herzen und großem Weindurst, den die Schaulust zum Detektiv macht. Der Untertitel bezieht sich auf eine Szene aus Schillers "Kabale und Liebe"

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ferdinand: (fällt in fürchterlicher Bewegung vor ihr nieder).

Luise! Hast du den Marschall geliebt? Ehe dieses Licht noch ausbrennt stehst du vor Gott!

Luise: (fährt erschrocken in die Höhe). Jesus! Was ist das?

Und mir wird sehr übel. (Sie sinkt auf den Sessel zurück.)

Ferdinand: Schon? Über euch Weiber und das ewige Räthsel!

Die zärtliche Nerve hält Freveln fest, die die Menschheit an ihren Wurzeln zernagen; ein elender Gran Arsenik wirft sie um.

Luise: Gift! Gift! O mein Herrgott!

Ferdinand: So fürchte ich. Deine Limonade war in der Hölle gewürzt. Du hast sie dem Tod zugetrunken.

Luise: Sterben! Sterben! Gott Allbarmherziger! Gift in der Limonade und sterben! O meiner Seele erbarme dich, Gott der Erbarmer!

Friedrich Schiller: „Kabale und Liebe“, fünfter Akt, siebte Szene

Stefan Benz

Theaterdurst

Herr Beck und die Höllenlimonade

© 2019 Stefan Benz

Umschlag, Illustration: Rebecca Jaweed

Verlag & Druck: tredition GmbH,

Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback

ISBN 978-3-7482-6294-7

Hardcover

ISBN 978-3-7482-6295-4

e-Book

ISBN 978-3-7482-6296-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Erster Aufzug: Tamora

Zweiter Aufzug: Medea

Dritter Aufzug: Julia

Vierter Aufzug: Luise

Fünfter Aufzug: Alkmene

Die Personen

Justus Beck, Theaterkritiker und Weinhändler

Paula Berlepp, seine Haushälterin

Juliane, seine längst verstorbene Frau

Kevin Jung, Online-Chef der „Neuen Post“

Sigrid Huxhorn, Becks alte Kollegin bei der „Neuen Post“

Franz Mager, Praktikant der Zeitung

Bernd Rudolf, Polizeipräsident

Klaudia Martini, Frau des Stadtkämmerers

Traudel Kalbfleisch, Kulturausschussvorsitzende

Jakob Oswald, der Intendant

Philipp Mauss und Gerd Wurmser, Dramaturgendiener

Hagen Wolf, Generalmusikdirektor

Veronika Billstedt, Schauspielerin und Wolfs Freundin

Sonja Kramer, Eva Abt und Katharina Maibaum,

Schauspielerinnen, denen ihre Rollen schlecht bekommen

Jutta Meiser, Inspizientin und Becks Theater-Informantin

Kornmeier, Verwaltungsdirektor

Bernd Huber, Schauspieldirektor

Uli Edenberger und Kalle Klappinger, Requisiteure

Erster Aufzug: Tamora

1 An Schlaf war mal wieder nicht zu denken. Justus Beck öffnete die Augen. Immer noch war überall Blut. Wieso räumte denn keiner die Leichen weg? Das nervte ihn schon seit einer Stunde. Konnte da nicht mal einer Ordnung schaffen? Am liebsten hätte er Paula nach vorne geschickt um durchzuwischen. Doch Paula neben ihm blitzte ihn nur unwirsch an. Hatte er wieder geschnarcht? Hatte sie ihn gerade angerempelt? Dabei hatte er doch nur kurz den Blick von diesem Elend abwenden wollen. Beck spähte angespannt zur Bühne. Standen da jetzt nicht weniger aufrecht als vorher? Lagen mehr Tote herum? Er war sich unsicher. Ja, da war ein Filmriss. Groß konnte die Lücke in seiner Erinnerung nicht sein. Er hatte als Kritiker im Theater schon mehr verpasst. Doch dass es heute wieder passieren würde, hätte er nicht gedacht – nicht bei diesem Stück.

„Titus Andronicus“, die größte Schlachtplatte des Welttheaters. Und der junge Regisseur hatte schon im Vorgespräch gesagt, dass er keine Gnade walten lassen wolle: Shakespeares Römer-Tragödie wie gemacht für den Terror unserer Tage! Überall Hass, Gewalt und Vergeltung. Feldherr Titus hat vierzig Jahre lang für Rom gekämpft, über zwanzig Söhne verloren. Jetzt hat er die Goten geschlagen, ihre Königin Tamora und deren drei Söhne geraubt, doch dieser Triumph ist sein Untergang. Titus lässt ihren ältesten für seine eigenen gefallenen Söhne opfern, Tamora heiratet den neuen römischen Kaiser Saturnius und schwört Rache. Die Tochter des Titus wird vergewaltigt und verstümmelt, ihr Verlobter ermordet, zwei Söhne des Titus müssen vor Gericht dran glauben, obwohl sie gar nicht schuld sind, woraufhin sich der Vater eine Hand abhackt. Aber das war nur der Anfang.

Beck wusste ja, was ihm blühte. Er hatte das Stück nach vielen Jahren wieder aus seiner Bibliothek hervorgekramt, und er hatte gehört, wie der Regisseur Anatol Wildmoser-Bettencour über das Kino von Quentin Tarantino und David Cronenberg lästerte. Alles Weicheier, er werde dem alten Shakespeare zeitkritisch die Eingeweide rausreißen: mit Torture Porn von Abu Ghraib bis zum Islamischen Staat.

Herrje, Tarantino und Torture Porn! Da wusste Beck wieder, warum er seit über zwanzig Jahren nicht mehr im Kino war. Und eine Hommage an das orgiastische Ekel-Theater des Hermann Nitsch sollte der Abend nebenbei auch noch sein. Drum hatten schon draußen vor dem Bühnenhaus wütende Tierschützer die Premierenbesucher beschimpft, denn dass drinnen Schweinskadaver zerteilt würden, hatte Anatol Wildmoser-Bettencour mehrfach angekündigt. Seit er vor zwei Jahren mit einer „Stella“ im Swinger Club an der Vorpommerschen Landesbühne fast zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden wäre, nahm der Mann bei Interviews den Mund gern mal ein bisschen voll.

Und dann trat dieser Titus auch noch auf mit einer Gummimaske, auf der ein blondiertes Meerschweinchen klebte, was ihn unverkennbar zu einem Römer wie Donald Trump machte. Die beängstigend kräftige Tamora, eben noch Gotenkönigin, jetzt Römerkaiserin, trug – gleichfalls in Gummi geprägt – den blonden Scheitel und die mütterlichen Züge von Marine Le Pen. Dazu neunschwänzige Katze und ein schwarzes Latexwams, was einer politischen Zuchtmeisterin gut stand. Aktuelle Weltpolitik zu Gast bei William Shakespeare. Schließlich stand dieses Monster von einem Drama zum Beginn der Saison auf dem Spielplan, weil die Schauspieldirektion gleich mal den Dritten Weltkrieg ausgerufen hatte. Der hatte mit Terror, Flucht und Krisen nämlich schon begonnen, ohne dass einer es gemerkt hatte. Nur gut, dass die Dramaturgie des Stadttheaters aufpasste und nun „Titus Andronicus“ als Beitrag zur aktuellen Globalisierungsapokalypse vorführte.

Beck wusste noch nicht, ob er das voll schräg und halb daneben oder doch eher voll daneben, aber nur halb schräg finden sollte. Wobei das römische Gemetzel anfangs ja noch putzig ausschaute: aufgeführt im Kleinen mit Playmobilfiguren auf einem Tisch und via Video gigantisch vergrößert. Mit Kneifzange, Lötkolben und Ketchup-Flasche gegen Spielzeug. Das fanden einige Zuschauer sogar ganz amüsant. Doch dann wurde es immer irrer.

Bei einem Termin in der Theaterkantine hatte Beck schon Tage vor der Premiere eher nebenbei gehört, dass die Bühnenarbeiter völlig genervt aus den Proben kamen, weil sie immer total eingesaut wurden. Und jetzt hatte er auch gesehen, was die Herren so erzürnt hatte. Dass sie lebensgroße Puppen der Schauspieler an Wände nageln und dübeln müssen, gehörte wohl noch zu ihrem tarifvertraglich geregelten Aufgabenbereich. Aber dass sie die Puppen dann mit Kettensägen und Schlagbohrern traktieren sollten, woraufhin ihnen schwallweise Theaterblut und eingeweideartige Gummiwürste entgegenschwappten, das war sicher ein Fall für den Betriebsrat. Der hatte bei den Proben aber offenbar genauso wenig zugesehen wie der allzeit schöngeistig ins Opernfach verliebte Intendant. Aber warum sollte es den Bühnenarbeitern auch besser gehen als den Zuschauern auf den besten Plätzen, dachte sich Beck. Bereits beim Opfertod an der Rampe hatte das Gotenblut bis in Reihe zwei gespritzt, woraufhin die Frau des Stadtkämmerers mit ihrer kunstblutbesprenkelten Schluppenbluse und die Kulturausschussvorsitzende, die noch ihre Handtasche schützend hatte vor sich halten können, wutentbrannt den Saal verließen. Blöder Regie-Einfall, aber immerhin war mal was los.

Beck wurde an diesem Theaterabend denn auch langsamer als sonst schläfrig. So ein Kunstschläfchen kann ja eine unwillkürliche, aber urgesunde körperliche Reaktion sein, doch im Falle dieses müden Kritikers war es eher ein Zeichen von Krankheit, was Beck jedoch zu verdrängen wusste. Er war dann einfach weg – für einen kurzen Monolog, eine Szene, manchmal auch einen ganzen Akt lang. Dabei ist, im Sitzen unauffällig zu dösen, ja gar nicht so einfach. Beck hatte es da im Laufe vieler Spielzeiten schon zu einer staunenswerten Meisterschaft gebracht. Aber gerade als er sich an diesem Abend so richtig gemütlich geruckelt hatte, weckte ihn dieser Titus wieder auf. Die Gummimaske des 45. US-Präsidenten hatte der Titelheld abgenommen, dafür trug er jetzt das Pappgesicht eines schnauzbärtigen Fernsehkochs, den Beck nur deshalb erkannte, weil er daheim immer abrupt das Programm wechselte, wenn er ihn erblickte. Titus hatte also zur großen Koch-Show eingeladen, um seine Rache siedend heiß zu servieren. Als es unter der Maske schrie „Stirb, stirb, mein Kind, und Deine Schmach mit Dir“, war Beck aus seinem hart erarbeiteten Theaterschlaf aufgeschreckt. Er sah gerade noch, wie der einhändige Titus seiner arm- und zungenamputierten Tochter Lavinia ein Metzgerbeil auf die Stirn klatschte, was Kaiser Saturnius mit dem altfränkischen Satz kommentierte: „Was tatst Du, unnatürlicher Barbar?“

Beck musste gleichzeitig gähnen und glucksen, während auf der Bühne alle anderen ungerührt weiter mampften, bis Titus damit rausrückte, dass er gerade die Söhne der Tamora als Pastete verfütterte. Dann ging alles sehr schnell. Titus steckte Tamora den Kopf in eine rotierende Küchenmaschine, der Kaiser rammte seinem besten General einen Temperaturfühler für Steaks in den Hintern, und der letzte Sohn des Titus schnitt wiederum dem Saturnius mit einem Tranchiermesser den Kopf ab. Als alle schon tot waren, zog Tamora ihren mit Theaterblut bekleckerten Kopf wieder aus der Küchenmaschine und übergab sich in einem gelbgrünen Schwall. Das sah zugegeben authentisch aus. Bestimmt war es Method Acting, dachte Beck, eine Technik um den Weltekel des Stücks auf die Magennerven zu lenken. Vielleicht hatte die Schauspielerin, eine massive Dame von herbem Liebreiz, aber auch ein Brechreiz erregendes Mittel geschluckt, um ihre innere Ausdruckskraft zu erhöhen. Jedenfalls verbreiteten sich Abscheu und Trauer der wütenden Tamora im Parkett als säuerliches Odium. Sehr erstaunlich. Bloß das Timing war verkehrt. Erst speien, dann sterben wäre richtig gewesen. Aber Beck war zu erschöpft von Shakespeares Strapazen, um jetzt noch kleinlich zu sein. Und überhaupt musste er anerkennen, dass die Spezialeffekte mit falschen Köpfen und Gliedmaßen flott choreografiert waren. Wobei man nach zwei Stunden Blutsudelei in einem Haufen Glibber, der an Darmschlingen erinnerte, ohnehin kaum noch erkennen konnte, wer da was spielte.

Beck war’s längst leid, doch immer noch ein wenig milde gestimmt vom Abgang der Frau des Kämmerers. Aber leider fand dieser „Titus“ einfach kein Ende, denn Anatol Wildmoser-Bettencour wollte noch zeigen, dass sein Splatter-Theater auch Kunstambition hat, weshalb er als Verfremdungseffekt schon den ganzen Abend über Tamoras Lover, den verschlagenen Mohren Aaron, mit langen Kunstpausen stottern ließ. Behindert, farbig und böse. Das war politisch gar nicht korrekt, und darauf war der Regisseur auch schon vorweg besonders stolz gewesen. Und voller Zufriedenheit ließ er den wenigen Text, der noch blieb, nun streckfoltern. Schließlich sollte der Übeltäter, eingegraben bis zur Brust, verhungern. Hatte Shakespeare so aufgeschrieben. Da wollte der Regisseur wohl unbedingt werktreu sein. Drum durfte das Publikum mit dem schwarzen Aaron dahinvegetieren. Mit fünfzig Schlussworten in zehn Minuten, die sich anfühlten wie zwei Stunden. Das war die größte Grausamkeit dieses Massakers. Und immer noch tropfte überall das Theaterblut.

Nicht nur war ihm längst die Lust auf ein schönes Theaternickerchen vergangen, Beck war jetzt so wütendwach, dass er den Verriss gleich daheim schreiben würde. All der Glibber musste raus aus seinem Kopf. Das Honorar, das er kriegen würde, um dieses Massaker zu begutachten, war wirklich Schmerzensgeld.

2 Endlich fiel der Vorhang. Der Saal seufzte leise. Man konnte die kollektive Erschöpfung spüren. Und dann hörte man die Gereiztheit. Ein erstes Buh, zaghaft noch, dann viele, immer kräftiger. Das Abonnement war sauer wie selten. Immerhin, ein bescheidener Provinztheaterskandal, dachte sich Beck. Aber darüber konnte er sich noch nie freuen. Er hatte schon alles erlebt im Theater. Kleinbürgerliche Empörung gehörte nun wirklich auf die bunte Seite im Lokalen und nicht ins Feuilleton. Sollten die Spießer doch Leserbriefe schreiben. Sowas war ihm immer bloß lästig.

Und heute Abend hatte er ohnehin nach einer Stunde schon genug gehabt. Ab dem zweiten Akt tat ihm nur noch der Hintern weh. Beck drückte sich aus seinem Sessel – immer siebte Reihe, Platz 75. Nichts wie weg, noch im Schutze der Verdunkelung. Das Theater war ja schon seit einer Stunde halbleer, da hatte der Exodus begonnen. Türenschlagend. Das war rücksichtlos gegenüber der Kunst, aber auch gegenüber dem Schlafbedürfnis ihres alten Kritikers. Beck zog den Stoffbeutel mit dem Notizblock vor die Brust, er wollte jetzt nur schnell raus. Bloß nicht der Pressesprecherin in die Arme laufen. Der Fluchtinstinkt war mächtig, er rempelte gegen Paulas Knie, drängelte weiter durch die Reihe, murmelte Entschuldigungen, die wie Verwünschungen klangen, stolperte mit gebeugtem Kopf die Treppe hinauf, vorbei an der Hostess, die gar nicht so schnell die Tür öffnen konnte. Endlich im Licht, endlich im Foyer. Beck atmete pfeifend durch, als hätte er gerade mit letzter Luft nach einem Apnoe-Tauchgang die Wasseroberfläche durchstoßen.

Paula näherte sich mit energischem Schritt und genervtem Ton: „Herr Beck, Du Rüpel!“, zischte sie. „Sag doch was, bevor Du mich über den Haufen rennst.“

„Ich hab’s nicht mehr ausgehalten.“

Paula blies hörbar Luft über die Unterlippe. „Was soll ich denn da sagen? Du schleppst mich doch immer hierher. Sah aber aus, als hättest Du mal wieder gut geschlafen!“ Paulas Stimme klang so spitz, wie das bei alten Eheleuten vorkommt. „Ich hab kein Auge zugekriegt“, erwiderte er empört und war doch ernstlich beunruhigt: „Hab ich geschnarcht?“ Ein Hauch von Panik lag in seiner Stimme.

„Nein, Du hast geröchelt. War nicht zum Aushalten. Überall diese Kadaver. Wie im Schlachthof. Dann kübelt auch noch dieses Gotenweib auf die Bühne. Und Du hörst Dich die ganze Zeit an, als würdest Du Blut gurgeln.“

„Du musst mich doch anstupsen“, grummelte Beck.

„Hab ich doch, aber Du ächzt ja schon, wenn Du noch blinzelst. Ich kann Dich ja nicht wecken, wenn Du noch wach bist. Soll ich Dich ständig auf Verdacht zwicken? Es war auch schon mal einfacher mit Dir!“

Beck und Paula waren mittlerweile drei Treppen tiefer im Parkhaus unter dem Glaskubus des Theaters angekommen, seinen Vorsprung hatte er eingebüßt, der explosionsartige Schwung seiner Theaterflucht war verpufft, die Spannung raus aus seinen Gliedern.

„Ich bin ja nicht zimperlich, aber die Kotzerei am Ende war wirklich widerlich. Und das mit den Schweinehälften hätte auch nicht sein müssen“, rief Paula, die Beck fast eingeholt hatte. „Man spielt nicht mit dem Essen. Aber als sie auf der Bühne die Tranchiermesser ausgepackt haben, ist mir eingefallen, dass ich noch Rippchen in der Tiefkühltruhe habe, die müssen bald raus.“

„Na, dann war der Abend ja immerhin dafür gut.“

„Magst Du Rippchen haben?“

„Danke, hab heute schon genug rohes Fleisch gesehen.“

„Ich koch Sie Dir doch.“

„Paula, bitte, ich hab keinen Hunger.“

„Schönschön, Du hast eh noch ganz viel Jagdwurst und Schwartenmagen in der Küche. Bestimmt zehn Dosen.“

„Mag ich nicht, kannst Du alles mitnehmen.“

„Du bist heute aber auch schwierig.“

Als sie in Griffweite war, stopfte sie ihm im Gehen das Hemd in die Hose, das rechts über den Bund lappte. Justus Beck gab wieder eine klapprige Figur ab. Das graumelierte Haar hing wie Sauerkraut über seine Backen, die faltigen Tränensäcke ließen ihn wie einen alten Basset aussehen. Er fummelte den Schein in den Schlitz des Parkautomaten, Paula kramte nach Münzen. Ein eingespieltes Team. Seit Jahren ging sie immer mit ins Theater, dabei interessierte sie sich gar nicht dafür. Aber sie war treu und wollte nicht, dass Beck seine letzte Aufgabe verlor: Er war schon so lange Theaterkritiker für die „Neue Post“. Er kannte alle Stücke, alle Schauspieler, alle Regisseure – und wen er nicht kannte, der kam ihm dann doch ganz schnell bekannt vor.

Beck wusste nicht nur vorher, was gespielt wird, sondern auch, wie es werden würde. Und er lag damit immer richtig. Fand er. Er hätte seine Kritiken also auch schon vor der Premiere schreiben können, doch das gehört sich nicht. Also saß er die Vorstellungen ungeduldig ab, sah sich an, was er eh schon ahnte und wurde darüber meist sehr schnell rammdösig. Bei Regisseuren, die noch das spielten, was im Stück stand, war so ein Nickerchen ja nicht schlimm. Aber die Theater engagierten immer öfter Leute, die den fünften vor dem ersten Akt zeigten, eine Nebenfigur zur Hauptfigur machten, den Helden vor der Zeit beseitigten und munter Zitate aus ungenannten Quellen einstreuten. Da hieß es: Wach bleiben! Und hier kam Paula ins Spiel. Intendanten kamen, Schauspieldirektoren gingen, doch sie saß immer neben ihm, blickte teilnahmslos auf die Bühne, während sie mit höchster Konzentration auf Becks Atmung und Körperhaltung achtete. Nicht dass er auf den Nachbarsitz kippte, wo die Frau des Chefarztes aus der Urologie ihren Premieren-Platz hatte. Oder nach vorne, wo der Kunsthallendirektor seinen Platz seit Jahren demonstrativ unbesetzt ließ.

All die Jahre hatte es Paula geschafft, dass Becks Theaterschlaf kaum je gestört hatte. Nur heute war offenbar seine Nase verstopft. Sein schabendes, schaumiges Röcheln hatte in den grausigsten Szenen wie ein besonders abgefeimter Einfall dieses Anatol Wildmoser-Bettencour gewirkt. Im Halbdunkel hatte Paula gesehen, wie sich einige Zuschauer irritiert umschauten. Vielleicht war Becks Geräuschkulisse ja sogar das Beste an diesem verkorksten Abend gewesen, dachte Paula und schmunzelte in sich hinein, während sie die Tür des alten Saab 900 knirschend aufzog und sich auf den ausgeleierten Beifahrersitz fallen ließ.

Beck war derweil damit beschäftigt, sich im Sitzen drei Kissen zwischen Steiß, Lendenwirbelsäule und den linken Oberschenkel zu schieben. Sein alter hellbrauner Schwede war fast so durchgesessen wie sein Platz 75, siebte Reihe. Das alles war eine Qual. Doch so steif er sonst wirkte, sein Einstiegsexerzitium vollführte er mit einer ächzenden Schmerzlust, als wäre es tantrische Lendenlockerung. Bis er sich endlich in seinen Fahrersitz eingewühlt hatte, dann sackte er mit einem Seufzer zusammen, drehte den Schlüssel im Zündschloss, kuppelte, legte den Rückwärtsgang ein – und mit einem Satz hüpfte der Saab aus der Parklücke. Der Motor hustete dreimal kurz hintereinander, Paula packte routiniert den Griff der Beifahrertür. So sicher Beck war, dass er in seiner Theaterduselei schon nichts verpassen würde, so überzeugt war er, dass er immer noch einen untadeligen Autofahrer abgab. Der wulstige Stoßfänger aus Kunststoff mochte völlig zerkratzt sein, das Blech voll mit Beulen wie Pockennarben, nur Becks Selbstgewissheit stand noch immer gut im Lack. Der Saab schoss auf die Parkschranke zu. Paula hielt die Luft an.

3 Im Grunde war das mit der Autofahrerei in so einer kleinen Stadt ja Unfug. Paula wäre viel lieber mit dem Rad ins Theater gefahren, aber Beck bestand darauf. Ohne seinen Saab ging gar nichts. Obwohl der Wagen viel zu groß war für die wenigen Parklücken, die es noch gab. So stand er jetzt wieder sehr schief vor der Bäckerei an der Ecke. Könnte wieder was kosten. Das Geld, das Beck für seine Kritiken kriegte, ging zum Teil für Knöllchen drauf. Und dieser blutige Abend mochte auch wieder teuer werden. Beck schlich hinter Paula her die Treppen hinauf, die mit ihm um die Wette ächzten. So viele Stufen. „Kriegst Du Schnupfen“, fragte sie. „Du klingst ja immer noch furchtbar.“ Beck blieb stehen, drückte den Rücken durch, stützte die Linke in die Hüfte und ächzte: „Die Sitzerei! Das ist nix mehr für mich. Hätte besser zwei Ibuprofen genommen.“

„Würdest besser mal Sport machen“, säuselte Paula, die fünf Jahre älter, aber locker zehn Jahre fitter war als Beck mit seinen nicht mal sechzig. Das war der Punkt, an dem er gar nichts mehr sagte. Sie hatten das schon zu oft, er drängte sich an ihr vorbei in den Flur, streifte die Schuhe ab und trottete noch im Mantel ins dunkle Arbeitszimmer. Das Licht der Straßenlaterne deutet die Konturen der Möbel mit schwachem Schimmer an. Beck ließ sich in den Schreibtischstuhl sinken, am Kühlschrank rumpelte Paula. „Ist noch genug Käse da“, rief sie aus der Küche. „Baguette bring ich Dir morgen für den Laden. Shampoo, Waschmittel hab ich besorgt. Wenn Du die Rippchen nicht magst, mach ich Dir einen Auflauf, da hast Du auch am Wochenende noch was von.“

Beck murmelte etwas von „ganz lieb“, das er selbst nicht verstand, weil er dabei gähnen musste. War noch so viel zu tun. Im Wohnzimmer stand alles voller Weinkisten. Wie würde er die mit dem Ziehen in seinem Bein wohl runterkriegen in den Laden? Egal, erstmal musste die Theaterkritik aus dem Weg geräumt werden. Beck knipste die Schreibtischlampe an. Drei offene Flaschen standen schon bereit. Ein halbvoller Sauvignon Blanc von der Loire? Ein Pfützchen Grauburgunder aus Rheinhessen? Ach was, nach diesem Blutrausch brauchte Beck was Rotes. Da war doch noch dieser Primitivo. Dazu zwei, drei Ibuprofen. Irgendwo musste noch eine Baguetteknuste liegen. Was für ein Festmahl zur Mitternacht. Beck spürte, dass schon der Gedanke ihn wieder munter machte. Er kam schnell auf die Beine, stapfte in die Küche. Den Mantel hatte er noch an. Nicht weil ihm kalt war, sondern weil sich die Taschen dezent befüllen ließen. Paula musste das jetzt nicht sehen.

„Lass gut sein, ich komm klar.“

Sie runzelte die Stirn. „Na, das kenn ich. Wie Du meinst.“

Beck klopfte ihr auf den Rücken und schob sie dabei sanft zur Diele. Paula wusste, dass es Zeit war, nahm die Scheine von der Anrichte, die Beck am Monatsende immer mit einer großen Büroklammer zusammenheftete, warf den Mantel über und stand schon in der Tür.

„Schlaf gut, Herr Beck!“ Sie drückte ihn an der Schulter. „Treib’s nicht mehr so lang.“

Von wegen dachte er sich: Diesen Titus mach ich jetzt fertig. So richtig, so wie früher! Den Primitivo hatte er griffbereit in der Manteltasche. Mit einem Finger löste er den Korken. Es konnte losgehen.

4 Der Schlag war heftig, dann polterte die Flasche über die Dielen und stoppte mit einem Klirren an einem Stuhlbein. Beck schreckte hoch und sackte gleich wieder zusammen. Der rechte Oberschenkel und der untere Rücken schmerzten fies, er tastete unter die Decke und zog eine grüne Flasche hervor. Fühlte sich an, als habe er darauf die Nacht verbracht: der Primitivo. Leer. Beck schlug die Decke weg und fing an zu fluchen. So eine Sauerei! Sah aus, als wäre er mit Titus Andronicus persönlich ins Bett gegangen. Offenbar war die Flasche noch nicht ganz leer gewesen, als er schon voll war. Den Sauvignon hatte er noch anständig ausgetrunken, und auch der Grauburgunder stand gelenzt auf dem Schreibtisch. Einen ordentlichen Wein konnte Beck einfach nicht wegkippen. Aber ihn ins Bett schütten? Was für ein verkorkster Start in den Tag.

Beck riss das Betttuch weg und schleuderte es neben seine Kommode. Der frische Fleck auf der Matratze war nicht zu übersehen. Aber es war ja auch längst nicht der einzige. Barfuß stapfte Beck über zerschlissene Läufer und Teppiche, unter denen altersschwache Dielen knirschten, bis ins taubenblau geflieste Bad. Die Zahnbürste lag am Rand des Waschbeckens, die Borsten waren bräunlich. Hatte er gestern aus dem Mund geblutet? Beck schnüffelte an der Bürste: Primitivo. Ohje, er bleckte die Zähne, hielt die Hand vor den Mund, atmete aus, schnaubte und verzog das Gesicht. Was hatte er denn da bloß angestellt? Richtig erinnern konnte er sich nicht mehr. Besorgt schlurfte er zum Schreibtisch, wo der Ausdruck seiner Kritik lag. Beck flog über die Zeilen. Kam ihm vage bekannt vor. Ein bisschen lang vielleicht, sein Traktat. Egal. Offenbar war er noch bei Sinnen gewesen, als er seine Kritik geschrieben hatte. Zumindest mutete das, was da stand, plausibel an und erinnerte ihn schleierhaft an Szenen, über die er sich am Abend noch so sehr geärgert hatte. Vergiss es, dachte er. Was sollte er sich für 90 Zeilen auch einen Kopf machen?

Die Zeiten, da seine Kritiken bildungsbürgerliche Besinnungsaufsätze sein konnten, waren längst vorbei. Versonnen kramte er in einer Schublade nach einer Kladde mit gelblichen Papierbündeln und zog ein besonders prächtiges Exemplar von 1983 heraus. „Die Rattenplage“ lautete die Überschrift: eine Abrechnung mit Gerhart Hauptmann in Esslingen. Gute 500 Zeilen, siebenspaltig quer über die Seite layoutet, keine Zwischentitel, zweispaltiges Bild. Das war noch ein Feuilleton!

Beck überflog das Ende. Ein Verriss mit Florett. Heute brauchte er nur noch Krummsäbel und Holzhammer. Er seufzte und verstaute das Konvolut seiner Kritiken der frühen Achtziger dort, wo sein unvollendetes Werk lagerte: „Der kleine Beck – Das deutschsprachige Drama auf dem Weg ins neue Jahrtausend“. So hatte er seinen Theaterführer nennen wollen, mit dem er in den Neunzigern angefangen hatte. Er wollte damit anknüpfen an den „Großen Gansel“, das Standardwerk des greisen Großkritikers Horst Gansel über das Theater der Fünfziger bis Achtziger. Doch erst kamen immer mehr neue Stücke auf den Markt, die nie mehr nachgespielt wurden. Dann wollte keiner mehr Schauspielführer verlegen, und schließlich stellte die „Neue Post“ auf Tabloid um.

Die Blattmacher waren damals sehr stolz darauf gewesen. So handlich musste eine moderne Zeitung aussehen. So machten es die Kollegen in London schon immer vor. Also lautete die Werbung für die schick geschrumpfte „Neue Post“, man könne diese Zeitung nun auch im Flugzeug und in der U-Bahn umblättern, ohne den Sitznachbarn zu stören. Dass es in der Stadt keinen Flughafen und noch nicht mal eine Straßenbahn gab, war der Werbeagentur offenbar entgangen. Dafür ließ sich das neue Blatt am Frühstückstisch nicht mehr gescheit in Kultur- und Sportteil für sie und ihn zerlegen. Und im Freibad genügte ein leichter Windstoß, um die komplette Ausgabe in ein unentwirrbares Knäuel zu verwandeln.

Als wäre das nicht übel genug, bot das neue Kompakt-Konzept auch keinen Platz mehr für Theaterkritiken. Zumindest nicht für das, was Beck darunter verstand. Seine Texte mussten schon Jahre vorher immer kürzer werden, aber seit sie das Westentaschenformat eingeführt hatten, war gar kein Raum mehr für einen zweiten und dritten Gedanken. Und die Layouter störten sich ohnehin immer an den vielen Buchstaben. Jenseits der 3000 Zeichen begann die tödliche Bleiwüste.

Eigentlich war das deprimierend. Aber diese Abende im Theater, die Nächte vor dem Computer, das war ihm eben auch eine Gewohnheit, von der er so wenig lassen mochte wie vom Wein. Was wäre sonst noch geblieben? Und darum gehörte es für ihn auch dazu, am Vormittag in der Redaktion nachzuschauen, was eigentlich nicht nötig war. Den Text hatte er ja gemailt. Es war ein Ritual aus einer besseren Zeit: nach dem Frühstück mit seiner Juliane zur „Post“. War schön damals. Aber davon war nichts mehr übrig. In der Küche schraubte Beck an der Thermoskanne herum, goss sich die Brühe vom Vortag in eine Schale, kippte einen Schuss Milch nach. Weiße Flöckchen tanzten in einer hellbraunen Schwade. Das war sein Frühstück. Wer Primitivo ins Bett kippt, hat nichts anderes verdient. Runter damit. Und auf in die Redaktion.

5 Als er hinterm Steuer saß, war Beck schnell wieder gehobener Stimmung. Kein Strafzettel am Scheibenwischer, obwohl das Heck des Saab abenteuerlich in die Straße geragt hatte. Vielleicht würde dies doch kein so schlechter Tag werden. Über die Ringstraße bog er ab ins Gewerbegebiet, wo seit den Neunzigern das Druckhaus lag. Die Redaktion war vor einigen Jahren nachgezogen, die Miete für die verschachtelten Büroräume in einem Altbau nahe der Fußgängerzone war dem Verlag zu kostspielig geworden. Nun residierten die alten Kollegen in einer Großraumetage über der Rotation. Stillos und steril, laut und hektisch. Aber Beck musste dort ja nicht mehr arbeiten. Und anders als in der Innenstadt gab es draußen zwischen Logistikzentrale, Outlet-Center und städtischem Werkhof immer freie Parkplätze. Deshalb war ihm der neue Standort doch ganz recht. Und siehe da: ein freier Platz auf dem Hof neben dem Lieferanteneingang! „Reserviert für Vertrieb“, stand da. Das passte schon. Beck schob sich mit einem freudigen Ächzen aus den Kissen auf seinem Fahrersitz und erklomm pustend die Treppe zum Hintereingang der Redaktion. Das Hemd hing ihm hinten aus der Hose.

Auf den ersten Blick hätte man nicht sagen können, ob in dieser Etage das Herz einer Tageszeitung oder ein Call-Center untergebracht war. In dichten Reihen waren Bildschirmarbeitsplätze unter Neonlampen angeordnet. Einer wie der andere. Auf einer Seite gab es zwei Fenster mit Blick auf die Abluftröhren der Druckerei, auf der anderen Seite war nur Wand. Wären die Schreibtische voll besetzt gewesen, die Mitarbeiter hätten in genormter Trostlosigkeit Ellenbogen an Ellenbogen gesessen. Doch es war Mittagszeit, und da tat sich hier, im Newsroom, so gut wie nichts.

Nur in der Glaskabine des Nachrichtenchefs lugte ein Kopf empor: Kevin Jung, Ende zwanzig, hatte schnell Karriere gemacht, weil er den Verlegern wortreich erklären konnte, wie man „mit Local News im Net Traffic generiert“ und nebenbei die alte Tante Tageszeitung aufhübscht. Beck kannte ihn noch als Schüler, der am Wochenende für die „Neue Post“ über den Info-Abend der Landfrauen und das Afrika-Fest im Eine-Welt-Laden berichtet hatte. Ein quecksilbriges Kerlchen war dieser Kevin gewesen. Umtriebig war er immer noch, aber zehn Jahre später schien er als „Chief Editor News“ mit roten Flecken im Gesicht schier aus seinem Kragen zu platzen. Das Hemd spannte überm Bund, und die Augen blitzten nervös. Das war der Preis seiner Karriere. Zwischen die Stege der Schreibtische hatte sich Jung als Insel jenen Glaskasten stellen lassen, von wo aus er alle Redakteure im Blick hatte. Glaubte er. Dabei war es genau umgekehrt. Als Alphamännchen saß er sehr wichtig in seinem Chefaffenkäfig, wo ihn alle gut sehen und unter seinen Blicken wegtauchen konnten.

Schnurstracks zog Beck an den Reihen vorbei und strebte dem hinteren Teil der Etage entgegen, wo die Tische lockerer standen und eine Fensterreihe den Blick auf die Straße freigab. Sigrid Huxhorn sah ihn kommen und hob eine Thermoskanne. Fast wie früher, als sie noch die junge Sekretärin mit dem kessen Pony gewesen war und er der Jungredakteur, der als Welttheaterverbesserer die Welt erklären und das Theater verändern wollte. Die letzten Jahre hatten die Presselandschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen, doch Sigrid hatte die Zeit fast unbeschadet überstanden. Sie war zwei Jahre jünger als Beck, sah aber mittlerweile fast 20 Jahre frischer aus: gertenschlank, strubbeliger Kurzhaarschnitt und noch immer eine unverwüstlich gute Laune. „Hallo Messerchen“, flötete sie, „komm, setz Dich, trink erst mal nen Kaffee. Den wirst Du brauchen.“

Die freundliche Warnung nahm Beck erst gar nicht wahr, weil er sich darüber wunderte, wie sehr er sich heute über seinen Spitznamen freute, der ihn doch früher so genervt hatte. Es war die Koseform für den kleinlichen Kritiker Sixtus Beckmesser aus Wagners „Meistersinger“-Oper, die das Fräulein Huxhorn Beck damals wegen seiner scharfen Verrisse verpasst hatte. Die alten Kollegen im Feuilleton schmückten sich gegenseitig lieber mit Kampfnamen aus Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“. Peter Ungewitter, der Musikredakteur, war der unbestechliche Robespierre, Justus Beck natürlich der unbarmherzige Saint-Just. Die Freiheit der Kunst wollten sie verteidigen, den Bilderstürmern auf der Bühne den Weg freiräumen, die Gesellschaft in der Kunst gespiegelt sehen. Und wer nicht voran ging bei dieser Entfesselung des Theaters, den sollte ihr gerechter Zorn treffen. Um den Eifer der beiden Hobby-Jakobiner zu besänftigen, stellte ihr Chef, der alte Buchmann, nach Redaktionsschluss gern eine Flasche Rotwein, Brot und Käse auf den Tisch, um als der Danton des Trios fröhlich Verrat zu üben an den Prinzipien ihrer Revolution. Daraufhin packten seine beiden jungen Kollegen Zigarren aus, auf deren Bauchbinden sie die Namen bekannter, aber künstlerisch abtrünniger Regisseure schrieben und legten die kleinen Kolben feierlich unter einen liebevoll umgebauten Zigarrenschneider, den sie als Büro-Guillotine zwischen Locher und Tacker auf dem Schreibtisch stehen hatten. So wurden in ihrem Wohlfahrts- und Kulturausschuss jede Woche Flaschen, Zigarren und Regisseure geköpft. Es war ihnen ein Spiel mit ernstem Anliegen. Die freie Kunst sollte schließlich Haltung haben und Prinzipien verpflichtet sein.

Sigrid, die sie gerne als ihre französische Revolutionsikone Marianne riefen, fand das immer reichlich