Therese - Illustrierte Fassung - Arthur Schnitzler - E-Book

Therese - Illustrierte Fassung E-Book

Arthur Schnitzler

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Beschreibung

Therese Fabiani flieht nach Wien. Flieht vor ihrem stumpfsinnigen Alltag in Salzburg, vor der ihr fremd gewordenen Mutter, vor dem Tod des Vaters in einer Nervenheilanstalt. Als Erzieherin in besseren Kreisen verspricht sie sich ein erfüllteres Leben. Aber bald schon merkt sie, dass sie nur geduldet und nicht geachtet ist, dass sie nur ausgenutzt und nicht anerkannt wird. Sie wechselt die Anstellungen wie die Liebschaften, immer wird sie enttäuscht. Als sie auch noch ein Kind erwartet, für das sie keine Liebe empfinden kann, droht der einstmalige Lebensmut in Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit zu kippen. Schnitzler, der Meister des inneren Monologs, führt uns das Schicksal der Heldin so klar vor Augen, dass wir nur mitleiden können. "Therese" ist ein Desillusionsroman, der Einblicke in die österreichische Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg gestattet und gleichzeitig ein Bild vom Untergang dieser Epoche zeichnet. Man wendet sich dem alten k. u. k. ab, aber hat dabei noch nicht den Weg in die Moderne gefunden. Ein literarisches Meisterwerk mit 20 vollendeten Zeichnungen der bekannten Illustratorin Christa Unzner. 1. Auflage (Überarbeitete Fassung) Umfang: 506 Buchseiten ISBN 978-3-95418-972-4 (Kindle) ISBN 978-3-95418-971-7 (Epub) ISBN 978-3-95418-973-1 (PDF) Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 489

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Arthur Schnitzler

Therese - Illustrierte Fassung

Chronik eines Frauenlebens

Arthur Schnitzler

Therese - Illustrierte Fassung

Chronik eines Frauenlebens

Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagIllustrationen: Christa Unzner Herausgeber: Jürgen Schulze Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2017 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-71-7

null-papier.de/449

Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt. Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung des Verlages ist ausdrücklich untersagt.

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort des Ver­le­gers

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Vorwort des Verlegers

Ne­ben ei­ner be­hut­sa­men Über­tra­gung des Tex­tes in die Neue Deut­sche Recht­schrei­bung habe ich es mir aber er­laubt, ei­ni­ge der ös­ter­rei­chi­schen Ei­gen­hei­ten (bspw. das herz­li­che Ver­nied­li­chen von Na­men und Sub­stan­ti­ven mit der End­sil­be „erl“) zu be­las­sen – es ist im­mer all­zu char­mant, um es an­zu­pas­sen oder zu än­dern. Und wer wäre ich schon, dem Au­tor zu wi­der­schrei­ben?

Ei­ni­ge, der nur im Ös­ter­rei­chi­schen be­kann­ten Wör­ter, fin­det der Le­ser in Fuß­no­ten er­klärt. Oder wuss­ten Sie, was ein In­qui­si­ten­spi­tal ist?

Ich hof­fe sehr, dass Sie auch die Bil­der der be­kann­ten Il­lus­tra­to­rin Christ Unz­ner zu schät­zen wis­sen.

Jür­gen Schul­ze, 2017

1

Zu der Zeit, da der Oberst­leut­nant Hu­bert Fa­bia­ni nach er­folg­ter Pen­sio­nie­rung aus sei­nem letz­ten Stand­ort Wien – nicht wie die meis­ten sei­ner Be­rufs- und Schick­sals­ge­nos­sen nach Graz, son­dern – nach Salz­burg über­sie­del­te, war The­re­se eben sech­zehn Jah­re alt ge­wor­den. Es war im Früh­ling, die Fens­ter des Hau­ses, in dem die Fa­mi­lie Woh­nung nahm, sa­hen über die Dä­cher weg den bay­ri­schen Ber­gen zu; und Tag für Tag, beim Früh­stück schon, pries es der Oberst­leut­nant vor Frau und Kin­dern als einen be­son­de­ren Glücks­fall, dass es ihm in noch rüs­ti­gen Jah­ren, mit kaum sech­zig, ge­gönnt war, er­löst von Dienst­pflich­ten, dem Dunst und der Dumpf­heit der Groß­stadt ent­ron­nen, sich nach Her­zens­lust dem seit Ju­gend­ta­gen er­sehn­ten Ge­nuss der Na­tur hin­ge­ben zu dür­fen. The­re­se und manch­mal auch ih­ren um drei Jah­re äl­te­ren Bru­der Karl nahm er gern auf klei­ne Fuß­wan­de­run­gen mit; die Mut­ter blieb da­heim, mehr noch als frü­her ins Le­sen von Ro­ma­nen ver­lo­ren, um das Haus­we­sen we­nig be­küm­mert, was schon in Ko­morn, Lem­berg und Wien An­lass zu man­chem Ver­druss ge­ge­ben, und hat­te bald wie­der, man wuss­te nicht wie, zur Kaf­fee­stun­de zwei- oder drei­mal die Wo­che einen Kreis von schwat­zen­den Wei­bern um sich ver­sam­melt, Frau­en oder Wit­wen von Of­fi­zie­ren und Be­am­ten, die ihr den Klatsch der klei­nen Stadt über die Schwel­le brach­ten. Der Oberst­leut­nant, wenn er zu­fäl­lig da­heim war, zog sich dann stets in sein Zim­mer zu­rück, und beim Abendes­sen ließ er es an hä­mi­schen Be­mer­kun­gen über die Ge­sell­schaf­ten sei­ner Gat­tin nicht feh­len, die die­se mit un­kla­ren An­spie­lun­gen auf ge­wis­se ge­sel­li­ge Ver­gnü­gun­gen des Gat­ten in frü­he­rer Zeit zu er­wi­dern pfleg­te. Oft ge­sch­ah es dann, dass der Oberst­leut­nant sich stumm er­hob und die Woh­nung ver­ließ, um erst in spä­ter Nacht­stun­de mit dumpf über die Trep­pe hal­len­den Schrit­ten zu­rück­zu­keh­ren. Wenn er ge­gan­gen war, pfleg­te die Mut­ter zu den Kin­dern in dunk­ler Wei­se von den Ent­täu­schun­gen zu re­den, die zwar kei­nem Men­schen er­spart blie­ben, ins­be­son­de­re aber vom Dul­der­los der Frau­en; er­zähl­te wohl auch, bei­spiels­wei­se, man­cher­lei aus den Bü­chern, die sie eben ge­le­sen; doch all das in so ver­wor­re­ner Art, dass man glau­ben konn­te, sie men­ge den In­halt ver­schie­de­ner Ro­ma­ne durch­ein­an­der, – und The­re­se stand nicht an, eine sol­che Ver­mu­tung ge­le­gent­lich scherz­haft aus­zu­spre­chen. Dann schalt die Mut­ter sie vor­laut, wand­te sich ge­kränkt dem Soh­ne zu und strei­chel­te ihm wie zur Be­loh­nung für sein ge­dul­dig-gläu­bi­ges Zu­hö­ren Haar und Wan­gen, ohne zu be­mer­ken, wie er ver­schla­gen zu der in Un­gna­de ge­fal­le­nen Schwes­ter hin­über­b­lin­zel­te. The­re­se aber nahm ihre Hand­ar­beit wie­der vor oder setz­te sich an das im­mer ver­stimm­te Pia­ni­no, um die Stu­di­en wei­ter zu trei­ben, die sie in Lem­berg be­gon­nen und in der Groß­stadt un­ter der Lei­tung ei­ner bil­li­gen Kla­vier­leh­re­rin fort­ge­führt hat­te.

Die Spa­zier­gän­ge mit dem Va­ter nah­men noch vor Ein­bruch des Herbs­tes ein nicht ganz un­er­war­te­tes Ende. Schon ge­rau­me Zeit hin­durch hat­te The­re­se ge­merkt, dass der Va­ter die Wan­de­run­gen ei­gent­lich nur fort­setz­te, um sich und sei­ne Sehn­sucht nicht Lü­gen zu stra­fen. Stumm bei­na­he, je­den­falls ohne die Aus­ru­fe des Ent­zückens, in die die Kin­der frü­her hat­ten ein­stim­men müs­sen, wur­de der vor­ge­setz­te Weg zu­rück­ge­legt, und erst zu Hau­se, im An­ge­sicht der Gat­tin, ver­such­te der Oberst­leut­nant wie in ei­nem Fra­ge- und Ant­wort­spiel den Kin­dern die ein­zel­nen Mo­men­te des eben er­le­dig­ten Spa­zier­gangs mit ver­spä­te­ter Be­geis­te­rung zu­rück­zu­ru­fen. Aber auch das nahm bald ein Ende; der Tou­ris­ten­an­zug, den der Oberst­leut­nant seit sei­ner Pen­sio­nie­rung all­täg­lich ge­tra­gen, wur­de in den Schrank ge­hängt, und ein dunk­ler Stra­ßen­an­zug trat an sei­ne Stel­le.

Ei­nes Mor­gens aber er­schi­en Fa­bia­ni zum Früh­stück plötz­lich wie­der in Uni­form, mit so stren­gem und ab­wei­sen­dem Blick, dass so­gar die Mut­ter jede Be­mer­kung über die­se plötz­li­che Ver­än­de­rung lie­ber un­ter­ließ. We­ni­ge Tage dar­auf lang­te aus Wien eine Bü­cher­sen­dung an die Adres­se des Oberst­leut­nants, eine an­de­re aus Leip­zig folg­te, ein Salz­bur­ger An­ti­quar sand­te gleich­falls ein Pa­ket; und von nun an ver­brach­te der alte Mi­li­tär vie­le Stun­den an sei­nem Schreib­tisch, vor­erst ohne ir­gend­wen in die Na­tur sei­ner Ar­beit ein­zu­wei­hen; – bis er ei­nes Ta­ges mit ge­heim­nis­vol­ler Mie­ne The­re­se in sein Zim­mer rief und ihr aus ei­nem sorg­fäl­tig ge­schrie­be­nen, ge­ra­de­zu kal­li­gra­phier­ten Ma­nu­skript mit ein­tö­ni­ger, hel­ler Kom­man­do­stim­me eine ver­glei­chen­de stra­te­gi­sche Ab­hand­lung über die be­deu­tends­ten Schlach­ten der Neu­zeit vor­zu­le­sen be­gann. The­re­se hat­te Mühe, dem tro­ckenen und er­mü­den­den Vor­trag mit Auf­merk­sam­keit oder auch nur mit Ver­ständ­nis zu fol­gen; doch da ihr der Va­ter seit ei­ni­ger Zeit ein ste­tig wach­sen­des Mit­leid er­reg­te, ver­such­te sie, zu­hö­rend, ih­ren schläf­ri­gen Au­gen einen Schim­mer der Teil­nah­me zu ver­lei­hen, und als der Va­ter end­lich für heu­te un­ter­brach, küss­te sie ihn wie mit ge­rühr­tem Dank auf die Stirn. Noch drei Aben­de in glei­cher Art folg­ten, ehe der Oberst­leut­nant mit sei­ner Vor­le­sung zu Ende war; dann trug er per­sön­lich das Ma­nu­skript auf die Post. Von nun an ver­brach­te er sei­ne Zeit in ver­schie­de­nen Gast- und Kaf­fee­häu­sern. Er hat­te in der Stadt man­cher­lei Be­kannt­schaf­ten an­ge­knüpft, meist mit Män­nern, die die Ar­beit ih­res Le­bens hin­ter sich und ih­ren Be­ruf auf­ge­ge­ben hat­ten: pen­sio­nier­te Be­am­te, ge­we­se­ne Ad­vo­ka­ten, auch ein Schau­spie­ler war dar­un­ter, der an dem Thea­ter der Stadt alt ge­wor­den war und nun De­kla­ma­ti­ons­un­ter­richt er­teil­te, wenn es ihm ge­lang, einen Schü­ler zu fin­den. Aus dem frü­her ziem­lich ver­schlos­se­nen Oberst­leut­nant Fa­bia­ni wur­de in die­sen Wo­chen ein ge­sprä­chi­ger, ja lär­men­der Tisch­ge­nos­se, der über po­li­ti­sche und so­zia­le Zu­stän­de in ei­ner Wei­se her­zog, die man bei ei­nem ehe­ma­li­gen Of­fi­zier im­mer­hin son­der­bar fin­den durf­te. Aber da er dann wie­der ein­zu­len­ken pfleg­te, als wäre ei­gent­lich al­les nur Spaß ge­we­sen, und so­gar ein hö­he­rer Po­li­zei­be­am­ter, der zu­wei­len an der Un­ter­hal­tung teil­nahm, ver­gnügt mit­lach­te, ließ man ihn ge­wäh­ren.

2

Am Weih­nachts­abend, wie zum An­ge­bin­de, lag für den Oberst­leut­nant un­ter den an­dern, üb­ri­gens recht be­schei­de­nen Ga­ben, mit de­nen die Fa­mi­li­en­mit­glie­der sich ge­gen­sei­tig be­schenk­ten, ein wohl­ver­schnür­tes Post­pa­ket un­ter dem Baum. Es ent­hielt das Ma­nu­skript mit ei­nem ab­leh­nen­den Schrei­ben der mi­li­tä­ri­schen Zeit­schrift, an die der Ver­fas­ser es ei­ni­ge Wo­chen vor­her ab­ge­sandt hat­te. Fa­bia­ni, zorn­gerötet bis an die Haar­wur­zeln, be­schul­dig­te sei­ne Gat­tin, dass sie eine of­fen­bar schon vor ei­ni­gen Ta­gen ein­ge­lang­te Sen­dung ge­ra­de heu­te ihm wie zum Hohn un­ter den Baum ge­legt, warf ihr die von ihr ge­spen­de­te Zi­gar­ren­ta­sche vor die Füße, schlug die Türe hin­ter sich zu und ver­brach­te die Nacht, wie man spä­ter er­fuhr, in ei­nem der ver­fal­le­nen Häu­ser nahe dem Pe­ters­fried­hof bei ei­ner der Frau­ens­per­so­nen, die dort Kna­ben und Grei­sen ih­ren wel­ken Leib feil­bo­ten. Nach­dem er sich dann für Tage in sein Ka­bi­nett ver­schlos­sen, ohne an ir­gend je­man­den das Wort zu rich­ten, trat er ei­nes Nach­mit­tags ganz un­er­war­tet in Pa­ra­de­uni­form in das Zim­mer sei­ner zu­erst er­schro­cke­nen Frau, bei der eben ihre Kaf­fee­ge­sell­schaft ver­sam­melt war. Doch er über­rasch­te die an­we­sen­den Da­men durch die Lie­bens­wür­dig­keit und den Hu­mor sei­ner Un­ter­hal­tung und hät­te als vollen­de­ter Welt­mann wie in sei­ner bes­ten Zeit er­schei­nen kön­nen, wenn er sich nicht beim Ab­schied, im halb­dunklen Vor­zim­mer, ge­gen ei­ni­ge der Da­men un­be­greif­li­che Zu­dring­lich­kei­ten her­aus­ge­nom­men hät­te.

Er ver­brach­te von nun an noch mehr Zeit au­ßer Hau­se, zeig­te sich aber da­heim um­gäng­lich und harm­los; und man war dar­an, sich in sein so er­freu­lich auf­ge­hei­ter­tes We­sen auf­at­mend zu fin­den, als er ei­nes Abends die Sei­nen mit der Fra­ge über­rasch­te, was sie wohl dazu mei­nen wür­den, wenn man die lang­wei­li­ge Klein­stadt wie­der mit Wien ver­tausch­te, wor­auf er wei­te­re An­deu­tun­gen von ei­ner bald zu er­war­ten­den groß­ar­ti­gen Um­ge­stal­tung ih­rer Le­bens­ver­hält­nis­se ver­neh­men ließ. The­re­sen klopf­te das Herz so hef­tig, dass sie jetzt erst er­kann­te, wie sehr sie sich nach der Stadt zu­rück­sehn­te, in der sie die letz­ten drei Jah­re ver­lebt hat­te; ob­zwar ihr von den An­nehm­lich­kei­ten, die das Da­sein in ei­ner Groß­stadt Be­gü­ter­ten bie­tet, nur we­nig ver­gönnt ge­we­sen war. Und sie wünsch­te sich nichts Bes­se­res, als wie­der ein­mal wie da­mals plan­los in den Stra­ßen um­her­zu­spa­zie­ren und sich wo­mög­lich zu ver­ir­ren, was ihr zwei- oder drei­mal be­geg­net war und sie je­des Mal mit ei­nem be­ben­den, aber köst­li­chen Schau­er er­füllt hat­te. Noch leuch­te­ten ihre Au­gen in der Erin­ne­rung, da sah sie plötz­lich ih­res Bru­ders Blick miss­bil­li­gend von der Sei­te auf sich ge­rich­tet; – ganz mit dem glei­chen Aus­druck wie vor we­ni­gen Ta­gen, da sie zu ihm ins Zim­mer ge­tre­ten war, als er eben mit sei­nem Schul­kol­le­gen Al­fred Nüll­heim die ma­the­ma­ti­schen Auf­ga­ben durch­nahm. Und nun erst ward es ihr be­wusst, dass er im­mer so miss­bil­li­gend drein­blick­te, wenn sie selbst hei­ter schau­te und in ihre Au­gen je­nes freu­di­ge Leuch­ten kam, wie es jetzt eben wie­der ge­sche­hen war. Ihr Herz zog sich zu­sam­men. Frü­her ein­mal, als Kin­der, ja vor ei­nem Jah­re noch, wa­ren sie so vor­treff­lich zu­ein­an­der ge­stan­den, hat­ten zu­sam­men ge­scherzt und ge­lacht; – warum war dies an­ders ge­wor­den? Was hat­te sich denn er­eig­net, dass auch die Mut­ter, der sie frei­lich nie­mals be­son­ders nahe ge­we­sen, sich im­mer ver­dros­se­ner, feind­se­lig bei­na­he von ihr ab­wand­te? Un­will­kür­lich rich­te­te sie nun den Blick auf die Mut­ter hin, und der böse Aus­druck er­schreck­te sie, mit dem jene den Gat­ten an­starr­te, der eben mit dröh­nen­der Stim­me er­klär­te, dass die Tage der Ge­nug­tu­ung nicht fern sei­en und dass ein Tri­umph oh­ne­glei­chen ihm bin­nen kur­z­em be­vor­stün­de. Bö­ser noch und has­s­er­füll­ter als sonst er­schi­en The­re­sen heu­te der Mut­ter Blick, als hät­te sie dem Gat­ten noch im­mer nicht ver­zie­hen, dass er vor der Zeit pen­sio­niert wor­den war – als könn­te sie es noch im­mer nicht ver­ges­sen, dass sie vor vie­len Jah­ren auf dem el­ter­li­chen Gut in Sla­vo­ni­en als klei­ne Baro­nes­se in ei­nem ur­wald­dich­ten ei­ge­nen Park auf feu­ri­gem Pony um­her­ge­sprengt war.

Plötz­lich sah der Va­ter auf die Uhr, er­hob sich vom Tisch, sprach von ei­ner wich­ti­gen Verab­re­dung und eil­te da­von.

Er kam nicht wie­der heim in die­ser Nacht. Aus dem Wirts­haus, wo er teils un­ver­ständ­li­che, teils un­flä­ti­ge Re­den ge­gen das Kriegs­mi­nis­te­ri­um und das Kaiser­haus ge­führt hat­te, wur­de er auf die Wach­stu­be und am Mor­gen, nach ärzt­li­cher Un­ter­su­chung, in die Ir­ren­an­stalt ge­bracht. Spä­ter wur­de be­kannt, dass er kürz­lich an das Mi­nis­te­ri­um ein Ge­such um Wie­der­ein­stel­lung in den Dienst mit gleich­zei­ti­ger Er­nen­nung zum Ge­ne­ral ge­rich­tet hat­te. Da­rauf­hin war von Wien aus der Auf­trag er­gan­gen, ihn un­auf­fäl­lig be­ob­ach­ten zu las­sen, und es hät­te kaum mehr des pein­li­chen Auf­trit­tes im Wirts­haus be­durft, um sei­ne Ein­lie­fe­rung in eine An­stalt zu recht­fer­ti­gen.

3

Sei­ne Gat­tin be­such­te ihn dort vor­erst alle acht Tage. The­re­se er­hielt erst nach ei­ni­gen Wo­chen die Er­laub­nis, ihn zu se­hen. In ei­nem weit­läu­fi­gen, von ei­ner ho­hen Mau­er um­ge­be­nen Gar­ten, durch eine von ho­hen Kas­ta­ni­en be­schat­te­te Al­lee, in ei­nem ver­wit­ter­ten Of­fi­ziers­man­tel, eine Mi­li­tär­müt­ze auf dem Kopf, kam ihr ein al­ter Mann ent­ge­gen mit fast weißem, kur­z­em Voll­bart, am Arm ei­nes kä­se­blei­chen, in einen schmut­zig­gel­ben Lei­nen­an­zug ge­klei­de­ten Wär­ters. »Va­ter«, rief sie tief be­wegt und doch be­glückt, ihn end­lich wie­der­zu­se­hen. Er ging an ihr vor­bei, an­schei­nend ohne sie zu ken­nen, und mur­mel­te un­ver­ständ­li­che Wor­te vor sich hin. The­re­se blieb fas­sungs­los ste­hen, dann merk­te sie, dass der Wär­ter ih­rem Va­ter ir­gend et­was klarzu­ma­chen ver­such­te, wor­auf die­ser zu­erst den Kopf schüt­tel­te, dann aber sich um­wand­te, den Arm des Wär­ters losließ und auf sei­ne Toch­ter zu­eil­te. Er nahm sie in die Arme, hob sie vom Bo­den auf, als wäre sie noch ein klei­nes Kind, starr­te sie an, be­gann bit­ter­lich zu wei­nen, ließ sie wie­der los; end­lich, wie in bren­nen­der Scham, ver­barg er das Ge­sicht in den Hän­den und eil­te da­von, dem düs­ter-grau­en Ge­bäu­de zu, das durch die Bäu­me her­schim­mer­te. Der Wär­ter folg­te ihm lang­sam. Die Mut­ter hat­te dem gan­zen Vor­gang von ei­ner Bank aus teil­nahms­los zu­ge­se­hen. Als The­re­se wie­der auf sie zu­kam, er­hob sie sich ge­lang­weilt, wie wenn sie hier eben nur auf die Toch­ter ge­war­tet hät­te, und ver­ließ mit ihr den Park.

Sie stan­den auf der brei­ten, wei­ßen Land­stra­ße im grel­len Son­nen­schein. Vor ih­nen, an den Fel­sen mit der Fes­te Ho­hen­salz­burg ge­lehnt, in ei­ner Vier­tel­stun­de zu er­rei­chen und doch un­end­lich weit, lag die Stadt. Die Ber­ge rag­ten in den Mit­tags­dunst, ein Lei­ter­wa­gen mit schla­fen­dem Kut­scher knarr­te vor­bei, aus ei­nem Bau­ern­hof jen­seits der Fel­der sand­te ein Hund sein Ge­bell in die stum­me Welt. The­re­se wim­mer­te: »Mein Va­ter.« Die Mut­ter sah sie böse an. »Was willst du? Er selbst ist schuld dar­an.« Und schwei­gend gin­gen sie die be­sonn­te Stra­ße wei­ter, der Stadt ent­ge­gen.

Bei Tisch be­merk­te Karl: »Al­fred Nüll­heim sagt, dass sol­che Krank­hei­ten vie­le Jah­re dau­ern kön­nen. Acht, zehn, zwölf.« The­re­se riss ent­setzt die Au­gen auf, Karl ver­zog die Lip­pen und sah von ihr fort an die Wand.

4

Seit dem Herbst be­such­te The­re­se die vor­letz­te Ly­ze­al­klas­se. Sie fass­te rasch auf, Fleiß und Auf­merk­sam­keit lie­ßen zu wün­schen üb­rig. Die Ober­leh­re­rin brach­te ihr ein ge­wis­ses Miss­trau­en ent­ge­gen; ob­wohl sie in der Re­li­gi­ons­leh­re nicht schlech­ter be­schla­gen war als ihre Mit­schü­le­rin­nen und alle re­li­gi­ösen Übun­gen in Kir­che und Schu­le nach Vor­schrift mit­mach­te, stand sie im Ver­dacht, der wah­ren Fröm­mig­keit zu er­man­geln. Und als sie ei­nes Abends in Ge­sell­schaft des jun­gen Nüll­heim, dem sie zu­fäl­lig be­geg­net war, von der Leh­re­rin ge­se­hen wur­de, be­nütz­te die­se die Ge­le­gen­heit zu bos­haf­ten An­spie­lun­gen auf ge­wis­se groß­städ­ti­sche An­ge­wohn­hei­ten und Sit­ten, die sich nun auch in der Pro­vinz ein­zu­bür­gern schie­nen, wo­bei sie einen nicht miss­zu­ver­ste­hen­den Blick auf The­re­se warf. The­re­se emp­fand dies um so un­ge­rech­ter, als man von viel schlim­me­ren Din­gen, die man­cher Schul­ka­me­ra­din nach­ge­sagt wur­den, kei­ner­lei Auf­he­bens mach­te.

Der jun­ge Nüll­heim kam in­des öf­ter in das Haus Fa­bia­ni, als es für das ge­mein­sa­me Stu­di­um mit Karl not­wen­dig ge­we­sen wäre, ja, ein oder das an­de­re Mal auch, wenn Karl nicht da­heim war. Dann saß er bei The­re­sen im Zim­mer und be­wun­der­te ihre ge­schick­ten Hän­de, die far­bi­ge Blu­men auf einen grau­li­la Ka­ne­vas stick­ten, oder hör­te ihr zu, wenn sie auf dem ver­stimm­ten Pia­ni­no schlecht und recht ein Cho­pin­sches Noc­tur­no spiel­te. Ein­mal frag­te er sie, ob sie im­mer noch, wie sie ge­le­gent­lich ge­äu­ßert, Leh­re­rin zu wer­den be­ab­sich­ti­ge. Sie wuss­te nicht recht dar­auf zu ant­wor­ten. Ei­nes nur war ge­wiss, dass sie hier in die­sen Räu­men, in die­ser Stadt kei­nes­wegs mehr lan­ge woh­nen wür­de; so­bald als mög­lich woll­te, viel­mehr muss­te sie einen Be­ruf er­grei­fen; lie­ber an­ders­wo als hier. Die häus­li­chen Um­stän­de be­gan­nen sich zu­se­hends zu ver­schlech­tern, das konn­te auch für Al­fred kein Ge­heim­nis sein; doch nach wie vor – da­von sprach sie nicht – emp­fing die Mut­ter ihre Freun­din­nen oder die sie so nann­te, ein oder das an­de­re Mal fan­den sich auch Her­ren ein, und zu­wei­len dehn­ten sich die Ge­sell­schaf­ten bis in den spä­ten Abend aus. The­re­se küm­mer­te sich wohl we­nig dar­um; doch ent­frem­de­te sie sich ih­rer Mut­ter im­mer mehr. Der Bru­der aber zog sich so­wohl von ihr als auch von der Mut­ter völ­lig zu­rück; bei den Mahl­zei­ten wur­den nur die un­um­gäng­lichs­ten Wor­te ge­wech­selt, und manch­mal war es The­re­sen, als wür­de sie, ge­ra­de sie, ohne dass sie sich ei­ner Schuld be­wusst ge­we­sen wäre, in un­fass­ba­rer Wei­se für den Nie­der­gang des Hau­ses ver­ant­wort­lich ge­macht.

5

Der nächs­te Be­such in der An­stalt, vor dem The­re­se sich bei­na­he ge­fürch­tet hat­te, ließ sich an­fangs tröst­lich, ja be­ru­hi­gend für sie an. Der Va­ter plau­der­te mit ihr wie in frü­he­ren Zei­ten, harm­los, bei­na­he hei­ter, führ­te sie in den weit­läu­fi­gen Al­leen des An­staltspar­kes hin und her wie einen will­kom­me­nen Gast; und erst beim Ab­schied mach­te er alle Hoff­nun­gen The­re­sens wie­der zu­nich­te durch die Äu­ße­rung, dass er sie bei ih­rem nächs­ten Be­such vor­aus­sicht­lich schon in Ge­ne­rals­uni­form wer­de emp­fan­gen dür­fen.

Als sie tags dar­auf Al­fred Nüll­heim von ih­rem Be­such in der An­stalt be­rich­te­te, er­bot er sich, sie bei nächs­ter Ge­le­gen­heit zu dem Kran­ken zu be­glei­ten. Er be­ab­sich­tig­te, was The­re­sen be­kannt war, Me­di­zin zu stu­die­ren und sich zum Ner­ven­arzt und Psych­ia­ter aus­zu­bil­den. So tra­fen sie ein­an­der ein paar Tage spä­ter, wie zu ei­nem ge­hei­men Stell­dich­ein, au­ßer­halb der Stadt und nah­men ge­mein­sam den Weg nach der An­stalt, wo der Oberst­leut­nant Al­fred wie einen er­wünsch­ten, ja er­war­te­ten Be­such be­grüß­te. Er er­zähl­te heu­te von den Gar­ni­son­sor­ten sei­ner Ju­gend­zeit, auch von dem kroa­ti­schen Gut, wo er sei­ne Frau ken­nen­ge­lernt hat­te, von die­ser selbst aber in ei­ner Art, als wenn sie längst nicht mehr am Le­ben wäre; und dass er einen Sohn hat­te, schi­en ihm über­haupt völ­lig ent­fal­len zu sein. Al­fred wur­de auch dem or­di­nie­ren­den Arz­te vor­ge­stellt, der ihn sehr lie­bens­wür­dig, fast wie einen jun­gen Kol­le­gen be­han­del­te. Es be­rühr­te The­re­se son­der­bar, fast schmerz­lich, dass Al­fred auf dem Heim­weg von dem er­le­dig­ten Be­such ohne jede Trau­rig­keit, eher in an­ge­nehm er­reg­ter Wei­se, wie von ei­nem merk­wür­di­gen, für ihn ge­wis­ser­ma­ßen be­deu­tungs­vol­len Er­leb­nis sprach und die Trä­nen nicht merk­te, die ihr über die Wan­gen ran­nen.

6

In die­sen Ta­gen fiel es The­re­sen auf, dass ihre Mit­schü­le­rin­nen ihr ge­gen­über ein ver­än­der­tes Be­neh­men zur Schau tru­gen. Man zi­schel­te, man brach plötz­lich ein Ge­spräch ab, wenn sie in die Nähe kam, und die Leh­re­rin rich­te­te über­haupt kein Wort und kei­ne Fra­ge mehr an sie. Auf dem Nach­hau­se­we­ge von der Schu­le schloss sich kei­nes der Mäd­chen ihr an, und in den Au­gen von Kla­ra Traun­furt, der ein­zi­gen, der sie ein we­nig nä­her­ge­kom­men war, glaub­te sie et­was wie Mit­leid schim­mern zu se­hen. Durch sie er­fuhr The­re­se auch end­lich von dem Gerücht, dass die Abend­ge­sell­schaf­ten bei der Mut­ter in der letz­ten Zeit nicht mehr ganz harm­lo­ser Na­tur wä­ren, ja, es wur­de so­gar be­haup­tet, dass Frau Fa­bia­ni neu­lich zur Po­li­zei vor­ge­la­den und dort ver­warnt wor­den sei, und nun fiel es The­re­sen auch auf, dass in der Tat seit zwei oder drei Wo­chen jene Abend­ge­sell­schaf­ten zu Hau­se ein Ende ge­nom­men hat­ten.

Als sie heu­te nach Klar­as Auf­schlüs­sen mit Mut­ter und Bru­der beim Es­sen saß, merk­te sie, dass Karl sich kein ein­zi­ges Mal mit ei­ner Fra­ge oder Ant­wort an die Mut­ter wand­te; und nun ward ihr auch be­wusst, dass es schon min­des­tens eine Wo­che her nicht an­ders war. Sie at­me­te er­löst auf, als Karl sich er­hob und gleich dar­auf die Mut­ter sich in ihr Zim­mer zu­rück­zog, doch als sie nun plötz­lich al­lein an dem noch nicht ab­ge­deck­ten Ti­sche saß, auf den durchs of­fe­ne Fens­ter die Früh­lings­son­ne fiel, saß sie eine Wei­le er­starrt wie in ei­nem bö­sen Traum.

In der­sel­ben Nacht noch ge­sch­ah es ihr, dass sie durch ein Geräusch im Vor­zim­mer plötz­lich er­wach­te. Sie hör­te, wie die Türe vor­sich­tig ge­öff­net und wie­der ver­schlos­sen wur­de; und nach­her lei­se Schrit­te auf der Trep­pe. Sie er­hob sich aus dem Bett, ging zum Fens­ter und sah hin­ab. Nach we­ni­gen Mi­nu­ten wur­de das Hau­stor ge­öff­net, sie sah ein Paar her­austre­ten, einen Herrn in Uni­form mit auf­ge­stell­tem Kra­gen und eine ver­hüll­te Frau­en­ge­stalt, die bei­de rasch um die Ecke ver­schwan­den. The­re­se nahm sich vor, von ih­rer Mut­ter Auf­klä­rung zu ver­lan­gen. Aber als die Ge­le­gen­heit dazu er­schi­en, fehl­te ihr der Mut. Sie fühl­te wie­der, wie un­zu­gäng­lich und fremd ihr die Mut­ter ge­wor­den war; ja, es schi­en in der letz­ten Zeit, als wenn die al­tern­de Frau ihr schrul­len­haf­tes We­sen wie mit Ab­sicht ins Un­heim­li­che stei­ger­te; sie hat­te sich einen son­der­bar schlür­fen­den Gang an­ge­wöhnt, ru­mor­te sinn­los in der Woh­nung um­her, mur­mel­te un­ver­ständ­li­che Wor­te und sperr­te sich gleich nach dem Es­sen für Stun­den in ihr Zim­mer ein, wo sie auf große Bo­gen Pa­pier mit krat­zen­der Fe­der zu schrei­ben an­fing. The­re­se nahm zu­erst an, dass ihre Mut­ter mit dem Ent­wurf ei­ner auf jene po­li­zei­li­che Vor­la­dung be­züg­li­chen Ver­tei­di­gungs- oder An­kla­ge­schrift be­schäf­tigt sei, dann dach­te sie, ob die Mut­ter nicht viel­leicht ihre Le­bens­er­in­ne­run­gen auf­zeich­ne, von wel­cher Ab­sicht sie frü­her manch­mal ge­spro­chen hat­te; doch bald stell­te sich her­aus – Frau Fa­bia­ni er­wähn­te es ein­mal bei Ti­sche wie eine be­kann­te und ei­gent­lich selbst­ver­ständ­li­che Tat­sa­che –, dass sie dar­an sei, einen Ro­man zu ver­fas­sen. The­re­se warf un­will­kür­lich einen ver­wun­der­ten Blick zu ih­rem Bru­der hin; der sah an ihr vor­bei auf die Son­nen­krin­gel an der Wand.

7

An­fang Juli leg­ten Karl Fa­bia­ni und Al­fred Nüll­heim ihre Ma­tu­ri­täts­prü­fung1 ab. Al­fred be­stand sie als Bes­ter un­ter sei­nen Kol­le­gen, Karl mit eben ge­nü­gen­dem Er­fol­ge. Tags dar­auf trat er eine Fuß­rei­se an, nach­dem er von Mut­ter und Schwes­ter so kühl und flüch­tig Ab­schied ge­nom­men, als wenn er abends wie­der zu Hau­se sein woll­te. Al­fred, der ei­nem frü­he­ren Plan nach ihn auf der Wan­de­rung hät­te be­glei­ten sol­len, nahm eine leich­te Er­kran­kung sei­ner Mut­ter zum Vor­wand, um vor­läu­fig in der Stadt zu blei­ben. Er kam auch wei­ter­hin fast täg­lich in das Haus Fa­bia­ni, zu­erst um Bü­cher und Hef­te ab­zu­ho­len, ein nächs­tes Mal, um Er­kun­di­gun­gen über Karl ein­zu­zie­hen; und es füg­te sich, dass sich an die­se Nach­mit­tags­be­su­che an den schö­nen Som­mer­aben­den Spa­zier­gän­ge mit The­re­se an­schlos­sen, die sich im­mer län­ger aus­dehn­ten.

Ei­nes Abends auf ei­ner Bank in den An­la­gen des Mönchs­bergs sprach er wie­der ein­mal da­von, dass er im Herbst die Wie­ner Uni­ver­si­tät be­zie­hen wer­de, um Me­di­zin zu stu­die­ren, was The­re­sen frei­lich wie das meis­te, was er ihr sag­te, nicht neu war, und ge­stand ihr, was sie auch nicht über­rasch­te, dass er nur des­halb auf eine Fe­ri­al­rei­se2 ver­zich­tet habe, um die­se paar letz­ten Mo­na­te in ih­rer Nähe zu ver­brin­gen. Sie blieb un­ge­rührt, ja wur­de eher är­ger­lich, denn ihr war nicht an­ders, als ob die­ser jun­ge Mensch, die­ser Kna­be in all sei­ner Be­schei­den­heit ihr eine Art von Schuld­schein vor­zu­wei­sen sich un­ter­fing, den ein­zu­lö­sen sie we­nig Lust ver­spür­te.

Zwei Of­fi­zie­re gin­gen vor­bei, der eine war The­re­sen vom Se­hen längst be­kannt, wie die meis­ten Her­ren von den hier gar­ni­so­nie­ren­den Re­gi­men­tern; die Er­schei­nung des an­dern aber war ihr neu; es war ein glat­tra­sier­ter, dun­kel­haa­ri­ger, schlan­ker Mensch, der, was ihr be­son­ders auf­fiel, die Kap­pe in der Hand hielt.

Sei­ne Au­gen streif­ten The­re­se ganz flüch­tig, aber als Nüll­heim und der an­de­re Of­fi­zier ein­an­der grüß­ten, grüß­te auch er, und zwar, da er bar­haupt war, nur durch ein leb­haf­tes Nei­gen sei­nes Kop­fes, und rich­te­te einen leb­haf­ten, bei­na­he la­chen­den Blick auf The­re­se. Doch er wand­te sich nicht nach ihr um, wie sie ei­gent­lich er­war­tet hät­te, und ver­schwand mit sei­nem Beglei­ter bald in ei­ner Bie­gung der Al­lee. Die Un­ter­hal­tung zwi­schen The­re­se und Al­fred woll­te nicht wie­der in Fluss ge­ra­ten, bei­de er­ho­ben sich und gin­gen lang­sam in der Däm­me­rung nach ab­wärts.

Rei­fe­prü­fung nach ei­ner hö­he­ren Schul­aus­bil­dung  <<<

Fe­ri­en­rei­se  <<<

8

Karls Heim­kehr wur­de für An­fang Au­gust er­war­tet; statt sei­ner aber kam ein Brief, dass er nach Salz­burg nicht mehr zu­rück­zu­keh­ren ge­den­ke und den ihm mo­nat­lich zu­ge­si­cher­ten klei­nen Be­trag von jetzt an nach Wien zu sen­den bit­te, wo es ihm be­reits ge­lun­gen sei, sich durch ein Zei­tungs­in­se­rat eine Lek­ti­on bei ei­nem Mit­tel­schü­ler zu ver­schaf­fen. Eine bei­läu­fi­ge Fra­ge nach dem Be­fin­den des Va­ters und Grü­ße an Mut­ter und Schwes­ter be­schlos­sen den Brief, in dem nicht das lei­ses­te Be­dau­ern über eine doch wahr­schein­lich end­gül­ti­ge Tren­nung mit­zu­zit­tern schi­en. Der Mut­ter mach­te In­halt und Ton des Briefs kei­nen son­der­li­chen Ein­druck; The­re­se aber, so kühl auch ihre Be­zie­hun­gen zu dem Bru­der sich all­mäh­lich ge­stal­tet hat­ten, kam sich nun zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung völ­lig ver­las­sen vor. Sie nahm es Al­fred übel, dass er nicht der Mensch war, ihr über die­ses Ge­fühl des Al­lein­seins weg­zu­hel­fen, und sei­ne Schüch­tern­heit be­gann ihr et­was lä­cher­lich zu er­schei­nen. Als er aber ein­mal auf ei­nem Spa­zier­gang au­ßer­halb der Stadt ih­ren Arm nahm und ihn lei­se drück­te, mach­te sie sich mit über­trie­be­ner Hef­tig­keit von ihm los und ver­hielt sich noch beim Ab­schied­neh­men am Hau­stor kalt und ab­wei­send ge­gen ihn.

Ei­nes Ta­ges mach­te die Mut­ter ihr den Vor­wurf, dass sie sich über­haupt nicht mehr um sie be­küm­me­re und nur mehr für Herrn Al­fred Nüll­heim Zeit zu ha­ben schei­ne. In der­sel­ben Stun­de noch schloss sich The­re­se ih­rer Mut­ter zu ei­nem Spa­zier­gang durch die Stadt an, bei wel­cher Ge­le­gen­heit sie mer­ken konn­te, dass Frau Fa­bia­ni von zwei Da­men, die frü­her im Hau­se ver­kehrt hat­ten, nicht ge­grüßt wur­de. Eine Pro­me­na­de tags dar­auf führ­te sie wei­ter hin­aus bis au­ßer­halb der Stadt; jen­seits des Fel­sen­tors kam ih­nen ein äl­te­rer Herr mit grau­em Schnurr­bart ent­ge­gen, der an­schei­nend an ih­nen vor­bei­ge­hen woll­te; plötz­lich aber blieb er ste­hen und be­merk­te in ei­ner et­was af­fek­tiert klin­gen­den Spra­che: »Frau Oberst­leut­nant Fa­bia­ni, wenn ich nicht irre?« – Frau Fa­bia­ni sprach ihn als Graf an, stell­te ihm ihre Toch­ter vor; er er­kun­dig­te sich nach dem Be­fin­den des Herrn Oberst­leut­nants und er­zähl­te un­ge­fragt von sei­nen bei­den Söh­nen, die, nach dem kürz­lich er­folg­ten Tod sei­ner Frau, in ei­nem fran­zö­si­schen Kon­vikt er­zo­gen wur­den. Als er sich ver­ab­schie­det hat­te, be­merk­te Frau Fa­bia­ni: »Graf Benk­heim, der frü­he­re Be­zirks­haupt­mann.1 Hast du ihn denn nicht er­kannt?« The­re­se wand­te sich un­will­kür­lich nach ihm um. Sei­ne Ha­ger­keit fiel ihr auf, der ele­gan­te, et­was zu hel­le An­zug, den er trug, so­wie der ju­gend­lich ra­sche, ab­sicht­lich fe­dern­de Schritt, mit dem er sich ra­scher ent­fern­te, als er her­an­ge­kom­men war.

obers­te Ver­wal­tungs­be­am­te ei­ner Be­zirks­haupt­mann­schaft  <<<

9

Am Tag nach die­ser Be­geg­nung er­war­te­te The­re­se da­heim Al­fred Nüll­heim, der ihr Bü­cher brin­gen und sie zu ei­nem Spa­zier­gang ab­ho­len soll­te. Es war ihr ei­gent­lich läs­tig; lie­ber wäre sie al­lein spa­zie­ren ge­gan­gen, trotz­dem sie in der letz­ten Zeit öf­ters von Her­ren ver­folgt und et­li­che Male auch schon an­ge­spro­chen wor­den war. Wie im­mer zu die­ser Jah­res­zeit, gab es vie­le Frem­de in der Stadt. The­re­se hat­te seit je­her einen of­fe­nen, neu­gie­ri­gen Blick für al­les, was nach Vor­nehm­heit und Ele­ganz aus­sah; als Zwölf­jäh­ri­ge schon in Lem­berg hat­te sie für einen hüb­schen jun­gen Erz­her­zog ge­schwärmt, der im Re­gi­ment des Va­ters als Leut­nant diente, und sie be­dau­er­te manch­mal, dass Al­fred, der doch aus wohl­ha­ben­dem Hau­se war, trotz sei­ner gu­ten Fi­gur und sei­nes fei­nen Ge­sichts sich gar nicht nach der Mode, ja ge­ra­de­zu klein­städ­tisch zu klei­den pfleg­te. Die Mut­ter trat ins Zim­mer, äu­ßer­te ihre Ver­wun­de­rung, dass The­re­se bei dem schö­nen Wet­ter noch zu Hau­se sei, und fing wie bei­läu­fig vom Gra­fen Benk­heim zu spre­chen an, den sie heu­te zu­fäl­lig wie­der ge­trof­fen hat­te. Er in­ter­es­sie­re sich für die kriegs­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek des Va­ters, die er ge­le­gent­lich be­sich­ti­gen wol­le, um sie viel­leicht käuf­lich zu er­wer­ben. »Das ist nicht wahr«, sag­te The­re­se, und ohne Gruß ver­ließ sie das Zim­mer. Sie nahm Hut und Ja­cke, lief die Trep­pe hin­ab. Im Haus­flur be­geg­ne­te ihr Al­fred. »End­lich«, rief sie. Er ent­schul­dig­te sich; er war zu Hau­se auf­ge­hal­ten wor­den. Schon däm­mer­te es. Was ihr denn wäre, frag­te Al­fred, sie sehe so er­regt aus. »Nichts«, er­wi­der­te sie. Üb­ri­gens habe sie ihm einen ko­mi­schen Ein­fall an­zu­ver­trau­en. Wie wär’s, wenn sie heu­te zu­sam­men in ei­nem der großen, schö­nen Ho­tel­gär­ten zu Abend es­sen wür­den? Er und sie ganz al­lein un­ter lau­ter frem­den Leu­ten? Er er­rö­te­te. Oh, wie gern, wie gern; aber – lei­der – ge­ra­de heu­te sei es voll­kom­men un­mög­lich. Er habe näm­lich kein Geld bei sich; je­den­falls zu we­nig für ein ge­mein­sa­mes Sou­per in ei­nem der vor­neh­men Ho­tels, an die sie den­ke. Sie lä­chel­te, sie sah ihn an. Er war noch tiefer er­rö­tet und rühr­te sie ein we­nig. – »Das nächs­te Mal«, be­merk­te er schüch­tern. Sie nick­te. Dann gin­gen sie wei­ter durch die Stra­ßen, bald wa­ren sie au­ßer­halb der Stadt und nah­men ih­ren Lieb­lings­weg durch die Fel­der. Der Abend war schwül, die Stadt wich im­mer wei­ter hin­ter ih­nen zu­rück, ster­nen­los hing über ih­nen der däm­mern­de Him­mel. Sie wan­del­ten zwi­schen hoch­ste­hen­den Ähren; Al­fred hielt The­re­sens Hand ge­fasst und frag­te nach Karl. Sie zuck­te die Ach­seln. »Er schreibt bei­na­he nie«, er­wi­der­te sie. »Ich habe über­haupt noch nichts von ihm ge­hört«, sag­te Al­fred, »seit er fort ist.« Dann kam er wie­der auf sei­ne ei­ge­ne, bald be­vor­ste­hen­de Abrei­se zu re­den. The­re­se schwieg und sah an ihm vor­bei. Ob sie ihm we­nigs­tens nach Wien schrei­ben wer­de?

»Was soll­te ich Ih­nen schrei­ben?«, er­wi­der­te sie un­ge­dul­dig. »Was gibt es von hier zu er­zäh­len? Ein Tag wird sein wie der an­de­re.« – »Auch jetzt ist ein Tag wie der an­de­re«, er­wi­der­te er, »und man hat sich doch im­mer was zu er­zäh­len. Aber ich will auch zu­frie­den sein, wenn Sie mir nur manch­mal einen Gruß sen­den.«

Aus dem wo­gen­den Feld wa­ren sie wie­der auf die Stra­ße hin­aus­ge­tre­ten. Die Pap­peln rag­ten hoch; als dunkle Wand in scharf ge­zo­ge­nen Li­ni­en schloss der Nonn­berg mit sei­nen düs­te­ren Fes­tungs­mau­ern das Bild ab. »Sie wer­den Heim­weh ha­ben«, sag­te The­re­se plötz­lich mild. – »Nur nach dir«, ant­wor­te­te er. Es war das ers­te Du, das er an sie rich­te­te, und sie war ihm dank­bar da­für. »Wa­rum ei­gent­lich bleibst du mit der Mut­ter in Salz­burg? Was hält euch hier?« – »Was zieht uns an­ders­wo hin?« – »Es wäre am Ende auch mög­lich, dei­nen Va­ter in eine an­de­re An­stalt zu über­füh­ren – in der Nähe von Wien.« – »Nein, nein«, ent­geg­ne­te sie hef­tig. – »Du hat­test ja die Ab­sicht – du sprachst von ei­nem Be­ruf, ei­ner Stel­lung –« – »Das geht nicht so rasch. Ich habe noch eine Ly­ze­al­klas­se vor mir, auch müss­te ich wohl eine Leh­re­rin­nen­prü­fung ma­chen.« Sie schüt­tel­te hef­tig den Kopf, denn es war ihr, als sei sie an den Ort, an die Ge­gend ge­heim­nis­voll ge­fes­selt. Und ru­hi­ger füg­te sie hin­zu: »Du bist doch zu Weih­nach­ten je­den­falls wie­der hier, schon we­gen dei­ner Fa­mi­lie?« – »Bis da­hin ist es lang, The­re­se.« – »Du wirst gar kei­ne Zeit ha­ben, an mich zu den­ken. Du hast ja zu stu­die­ren. Du wirst neue Men­schen ken­nen­ler­nen, auch Frau­en, Mäd­chen.« Sie lä­chel­te, sie fühl­te kei­ne Ei­fer­sucht, sie fühl­te nichts.

Plötz­lich sag­te er: »In we­ni­ger als sechs Jah­ren bin ich Dok­tor. Willst du so lan­ge auf mich war­ten?« – Sie sah ihn an. Sie ver­stand ihn an­fangs nicht, dann aber muss­te sie wie­der lä­cheln, dies­mal ge­rührt. Um wie viel äl­ter er­schi­en sie sich doch als er. Sie wuss­te schon in die­sem Au­gen­blick, dass sie bei­de nur Kin­de­rei­en re­de­ten und dass aus der Sa­che nie­mals et­was wer­den könn­te. Aber sie nahm sei­ne Hand und strei­chel­te sie zärt­lich. Als sie spä­ter vor ih­rem Hau­stor von ihm Ab­schied nahm, im Dun­kel, er­wi­der­te sie lan­ge, lei­den­schaft­lich bei­na­he, mit ge­schlos­se­nen Au­gen sei­nen Kuss.

10

Abend für Abend wan­del­ten sie nun drau­ßen vor der Stadt auf we­nig be­gan­ge­nen Feld­we­gen und plau­der­ten von ei­ner Zu­kunft, an die The­re­se nicht glaub­te. Tags­über da­heim stick­te sie, bil­de­te sich wei­ter im Fran­zö­si­schen aus, übte Kla­vier, las in dem und je­nem Buch, die meis­ten Stun­den aber ver­brach­te sie träg, bei­na­he ge­dan­ken­los, und sah zum Fens­ter hin­aus. So sehn­süch­tig sie den Abend und Al­freds Er­schei­nen er­war­te­te: – meist schon nach der ers­ten Vier­tel­stun­de ih­res Bei­sam­men­seins ver­spür­te sie Re­gun­gen der Lan­ge­wei­le. Und als er wie­der ein­mal auf ei­nem Spa­zier­gang von sei­ner im­mer nä­her her­an­rücken­den Abrei­se sprach, merk­te sie mit lei­sem Schreck, dass sie die­sen Tag eher her­bei­wünsch­te. Er fühl­te, dass der Ge­dan­ke ei­ner bal­di­gen Tren­nung sie nicht be­son­ders schmerz­lich be­rühr­te, gab ihr sei­ne Emp­fin­dung zu ver­ste­hen, sie er­wi­der­te aus­wei­chend, un­ge­dul­dig; der ers­te klei­ne Streit hob zwi­schen ih­nen an, stumm schrit­ten sie auf dem Heim­weg ne­ben­ein­an­der her und schie­den ohne Kuss.

In ih­rem Zim­mer war ihr öd und schwer ums Herz. Sie saß im Dun­kel auf ih­rem Bett und sah durchs of­fe­ne Fens­ter in die schwü­le, schwar­ze Nacht hin­aus. Dort drü­ben, nicht weit, un­ter dem glei­chen Him­mel, wuss­te sie das trau­ri­ge Ge­bäu­de, wo ihr wahn­sin­ni­ger Va­ter sei­nem viel­leicht noch fer­nen Ende ent­ge­gen­siech­te. Im Ne­ben­zim­mer, ihr frem­der von Tag zu Tag, mit ru­he­lo­ser Fe­der, auch ei­nem Wahn an­heim­ge­fal­len, wach­te die Mut­ter in den grau­en Mor­gen. Kei­ne Freun­din such­te The­re­se auf, auch Kla­ra längst nicht mehr; und Al­fred war ihr nichts, we­ni­ger als nichts, denn er wuss­te nichts von ihr. Er war edel, er war rein, und sie spür­te dun­kel, dass sie es nicht war, nicht ein­mal sein woll­te. Sie ver­spot­te­te ihn in­ner­lich, dass er sich ihr ge­gen­über nicht ge­wand­ter und ver­we­ge­ner an­stell­te, und wuss­te doch, dass sie sich kei­nen Ver­such sol­cher Art hät­te ge­fal­len las­sen. Sie dach­te an­de­rer jun­ger Leu­te, die ihr flüch­tig oder gar nur vom Se­hen be­kannt wa­ren, und ge­stand sich ein, dass ihr man­cher von die­sen bes­ser ge­fiel als Al­fred, ja, dass sie sich son­der­ba­rer­wei­se man­chem so­gar ver­trau­ter, nä­her, ver­wand­ter fühl­te als ihm; und so ward sie sich be­wusst, dass zu­wei­len ein Blick, rasch auf der Stra­ße ge­wech­selt, zwei Men­schen ver­schie­de­nen Ge­schlechts en­ger an­ein­an­der zu knüp­fen ver­moch­te als ein stun­den­lan­ges, in­ni­ges, von Zu­kunfts­ge­dan­ken durch­web­tes Zu­sam­men­sein. Mit ei­nem an­ge­neh­men Schau­er er­in­ner­te sie sich des jun­gen Of­fi­ziers, der an ei­nem Som­mer­abend in den An­la­gen des Mönchs­bergs mit ei­nem Ka­me­ra­den, die Kap­pe in der Hand, an ihr vor­bei­ge­gan­gen war. Sei­ne Au­gen wa­ren den ih­ren be­geg­net und hat­ten auf­ge­glüht, er war wei­ter­ge­gan­gen und hat­te sich nicht ein­mal nach ihr um­ge­wandt; – und doch war ihr in die­sem Au­gen­blick, als wüss­te der mehr, viel mehr von ihr, als Al­fred wuss­te, der sich mit ihr ver­lobt glaub­te, sie vie­le Male ge­küsst hat­te und mit gan­zer See­le an ihr hing. Hier war ir­gend et­was nicht in Ord­nung, das fühl­te sie. Aber ihre Schuld war es nicht.

11

Am nächs­ten Mor­gen kam ein Brief von Al­fred. Er habe die Nacht über kein Auge zu­ge­tan; sie möge ihm ver­zei­hen, wenn er sie ges­tern ge­kränkt, eine Wol­ke auf ih­rer Stirn ver­düs­te­re ihm den hei­ters­ten Tag. Vier Sei­ten lang ging es in die­sem Tone fort. Sie lä­chel­te, war et­was ge­rührt, drück­te den Brief wie me­cha­nisch an die Lip­pen, ließ ihn dann halb ab­sicht­lich, halb zu­fäl­lig aus der Hand auf ihr Näh­tisch­chen glei­ten. Sie war froh, dass sie nicht ver­pflich­tet war, ihn zu be­ant­wor­ten; – heu­te abend traf man ein­an­der ja oh­ne­hin am ge­wohn­ten Orte des Stell­dich­eins.

Ge­gen Mit­tag trat ihre Mut­ter zu ihr ins Zim­mer mit süß­li­chem Lä­cheln: der Graf Benk­heim sei hier und habe eben die Biblio­thek des Va­ters zum zwei­ten Mal – von ei­nem ers­ten Be­such hat­te die Mut­ter nichts er­wähnt – ein­ge­hen­der Be­sich­ti­gung un­ter­zo­gen. Er sei be­reit, sie zu ei­nem sehr an­stän­di­gen Preis zu er­wer­ben, und habe sich herz­lich nach dem Be­fin­den des Va­ters, üb­ri­gens auch nach The­re­sen er­kun­digt. Als The­re­se mit ge­press­ten Lip­pen stumm sit­zen blieb und wei­ter­stick­te, trat die Mut­ter nä­her an sie her­an und flüs­ter­te: »Komm – wir sind ihm Dank schul­dig, auch du. Es wäre eine Un­höf­lich­keit. Ich ver­lan­ge es von dir.« The­re­se er­hob sich und trat mit ih­rer Mut­ter ins Ne­ben­zim­mer, wo der Graf eben im Be­grif­fe war, einen großen il­lus­trier­ten Ok­tav­band, der ne­ben an­de­ren auf dem Ti­sche lag, zu durch­blät­tern. Er er­hob sich so­fort und äu­ßer­te sei­ne Freu­de, The­re­se wie­der ein­mal gu­ten Tag sa­gen zu dür­fen. Im Lau­fe ei­ner höf­li­chen und durch­aus un­ver­fäng­li­chen Un­ter­hal­tung frag­te er die Da­men, ob sie nicht viel­leicht ge­le­gent­lich sei­nen Wa­gen zu ei­nem Be­such in der An­stalt beim Herrn Oberst­leut­nant be­nüt­zen woll­ten; auch zu ei­ner Spa­zier­fahrt nach Hell­brunn oder wo im­mer hin stel­le er ihn ger­ne zur Ver­fü­gung; doch schweif­te er gleich wie­der ab, als er in The­re­sens Mie­nen Be­frem­den und Wi­der­stand ge­wahr­te, und ent­fern­te sich bald mit der Be­mer­kung, dass er nach ei­ner kur­z­en, aber un­auf­schieb­ba­ren Rei­se gleich wie­der sei­ne Auf­war­tung ma­chen wer­de, um die Biblio­theksan­ge­le­gen­heit in Ord­nung zu brin­gen. Zum Ab­schied küss­te er so­wohl der Mut­ter als der Toch­ter die Hand.

Als sich die Türe hin­ter ihm ge­schlos­sen hat­te, war zu­erst ein dump­fes Schwei­gen; The­re­se schick­te sich an, wort­los das Zim­mer zu ver­las­sen, da hör­te sie die Stim­me ih­rer Mut­ter hin­ter sich: »Du hät­test wohl et­was freund­li­cher sein kön­nen.« The­re­se wand­te sich von der Türe her um: »Ich war es viel zu sehr«, und woll­te ge­hen. Nun be­gann die Mut­ter ganz un­ver­mit­telt, als hät­te sich seit Ta­gen oder Wo­chen der Groll in ihr ge­staut, mit bö­sen Wor­ten The­re­se we­gen ih­res un­ma­nier­li­chen, ja fre­chen Be­neh­mens mit Vor­wür­fen zu über­häu­fen. Ob der Graf nicht min­des­tens ein so fei­ner Herr sei wie der jun­ge Nüll­heim, mit dem das Fräu­lein Toch­ter über­all in Stadt und Um­ge­bung und zu je­der Ta­ges- und Nacht­zeit zu se­hen sei? Ob es nicht hun­dert­mal an­stän­di­ger sei, sich ei­nem so­li­den, ge­setz­ten, vor­neh­men Herrn ge­gen­über mit ei­ni­ger Zu­vor­kom­men­heit zu be­neh­men, als sich ei­nem Stu­dio­sus an den Hals zu wer­fen, der mit ihr doch nur sei­nen Spaß trei­be? Und im­mer un­zwei­deu­ti­ger, mit scho­nungs­lo­sen Wor­ten, gab sie der Toch­ter zu ver­ste­hen, wel­ches Wan­dels sie sie schon längst ver­däch­ti­ge, und ohne Scham sprach sie aus, was sie dar­um um so mehr von ihr zu er­war­ten und zu for­dern sich für be­rech­tigt hal­te. »Denkst du, es geht so fort? Wir hun­gern, The­re­se. Bist du so ver­liebt, dass du es nicht merkst? Und der Graf wür­de für dich sor­gen, – für uns alle, für den Va­ter auch. Und nie­mand müss­te es wis­sen, nicht ein­mal dein jun­ger Herr Nüll­heim.« Sie hat­te sich nä­her an die Toch­ter ge­drängt, The­re­se spür­te ih­ren Atem im Ge­sicht, mach­te sich los, eil­te zur Türe. Die Mut­ter rief ihr nach: »Blei­be, das Es­sen ist fer­tig.« »Ich brau­che kei­nes, da wir doch hun­gern«, höhn­te The­re­se und ver­ließ das Haus.

Es war Mit­tags­zeit, die Stra­ßen fast men­schen­leer. Wo­hin? frag­te sich The­re­se. Zu Al­fred, der im Hau­se sei­ner El­tern wohn­te? Ach, der war nicht Manns ge­nug, sich ih­rer an­zu­neh­men, sie zu be­schüt­zen vor Ge­fahr und Schan­de. Und die Mut­ter, die sich ein­bil­de­te, er sei ihr Ge­lieb­ter! Es war zum La­chen, wahr­haf­tig. Wo­hin also? Hät­te sie nur Geld ge­nug ge­habt, sie wäre ein­fach zum Bahn­hof ge­lau­fen, da­von­ge­reist wo im­mer hin, am liebs­ten gleich nach Wien. Dort gab es Ge­le­gen­heit ge­nug, sich auf an­stän­di­ge Wei­se durch­zu­brin­gen, auch wenn man nicht die letz­te Ly­ze­al­klas­se ge­macht hat. Die Schwes­ter ei­ner Schul­ka­me­ra­din zum Bei­spiel war neu­lich sech­zehn­jäh­rig als Kin­der­fräu­lein bei ei­nem Hof- und Ge­richts­ad­vo­ka­ten in Wien in Stel­lung ge­tre­ten, und es ging ihr vor­treff­lich. Man müss­te sich die Sa­che nur an­ge­le­gen sein las­sen. War es denn nicht längst ihr Plan ge­we­sen? Un­ver­züg­lich kauf­te sie eine Wie­ner Zei­tung, ließ sich auf ei­ner be­schat­te­ten Bank des Mi­ra­bell­gar­tens nie­der und las die klei­nen An­zei­gen. Sie fand man­che An­ge­bo­te, die für ihre Zwe­cke in Be­tracht ka­men. Je­mand such­te eine Bon­ne zu ei­nem fünf­jäh­ri­gen Mäd­chen, ein an­de­rer eine zu zwei Kna­ben, ein drit­ter zu ei­nem geis­tig et­was zu­rück­ge­blie­be­nen Mäd­chen, in dem einen Hau­se wur­de et­was Kennt­nis des Fran­zö­si­schen, in ei­nem an­de­ren Fer­tig­keit in Hand­ar­bei­ten, in ei­nem drit­ten An­fangs­grün­de des Kla­vier­spiels ge­wünscht. Mit all dem konn­te sie die­nen. Man war nicht ver­lo­ren, Gott sei Dank, und bei der nächs­ten Ge­le­gen­heit wür­de sie ein­fach ihre Sa­chen pa­cken und da­von­fah­ren. Vi­el­leicht lie­ße es sich so­gar so ein­rich­ten, dass sie zu­gleich mit Al­fred nach Wien reis­te. Sie lä­chel­te vor sich hin. Ihm vor­her gar nichts sa­gen und ein­fach in den glei­chen Zug ein­stei­gen – ins sel­be Coupé, wäre das nicht lus­tig?! Aber da er­tapp­te sie sich auch schon bei dem Ge­dan­ken, dass sie ei­gent­lich lie­ber al­lein, ja, lie­ber so­gar mit ir­gend­wem an­dern die­se Rei­se un­ter­neh­men wür­de, mit ei­nem Un­be­kann­ten, mit dem ele­gan­ten Frem­den zum Bei­spiel – es war wohl ein Ita­lie­ner oder Fran­zo­se – der ihr frü­her auf der Salzach­brücke so un­ver­schämt ins Ge­sicht ge­st­arrt hat­te. Und, zer­streut wei­ter­blät­ternd, las sie in der Zei­tung von ei­nem Feu­er­werk im Pra­ter, von ei­nem Ei­sen­bahn­zu­sam­men­stoß, von ei­nem Un­fall in den Ber­gen, und plötz­lich kam sie auf eine Über­schrift, die sie fes­sel­te: Mord­ver­such am Ge­lieb­ten. Da war die Ge­schich­te von ei­ner le­di­gen Mut­ter er­zählt, die den treu­lo­sen Ge­lieb­ten an­ge­schos­sen und schwer ver­letzt hat­te. Ma­ria Meit­ner, so hieß das arme Ge­schöpf. Ja, auch der­glei­chen konn­te ei­nem pas­sie­ren … Nein, ihr nicht. Kei­ner, die klug war. Man muss­te kei­nen Lieb­ha­ber neh­men, man muss­te kein Kind ha­ben, man muss­te über­haupt nicht leicht­sin­nig sein und vor al­lem: man durf­te kei­nem Man­ne trau­en.

12

Lang­sam ging sie nach Hau­se, sie war ru­hig, und in ih­rem Her­zen kein Zorn ge­gen die Mut­ter mehr. Das kar­ge Mit­ta­ges­sen war warm ge­hal­ten wor­den, die Mut­ter stell­te es ihr wort­los auf den Tisch und lang­te nach der Zei­tung, die The­re­se auf den Tisch ge­legt hat­te. Sie such­te nach der Ro­man­fort­set­zung und las mit gie­ri­gen Au­gen. The­re­se nahm nach dem Es­sen ihre Sti­cke­rei zur Hand, setz­te sich ans Fens­ter und dach­te an das Fräu­lein Ma­ria Meit­ner, das nun im Ge­fäng­nis saß. Ob sie wohl El­tern ge­habt hat­te? Ob sie eine Ver­sto­ße­ne war? Ob sie am Ende auch an­de­re Män­ner in der Tie­fe ih­res Her­zens lie­ber ge­habt hat­te als ih­ren Ge­lieb­ten? Und warum hat­te sie ein Kind be­kom­men? Es gab ja so vie­le Frau­en, die ihr Le­ben ge­nos­sen und kei­ne Kin­der be­ka­men. Al­ler­lei fiel ihr ein, was sie im Lauf der letz­ten zwei oder drei Jah­re in der Re­si­denz und hier von Schul­kol­le­gin­nen er­fah­ren hat­te. Der In­halt so man­chen un­an­stän­di­gen Ge­sprächs, wie sie der­glei­chen Un­ter­hal­tun­gen zu nen­nen pfleg­ten, wur­de in ihr le­ben­dig, und ein plötz­li­cher Wi­der­wil­le stieg in ihr auf ge­gen al­les, was mit der­glei­chen Din­gen zu­sam­men­hing. Sie er­in­ner­te sich, dass sie schon vor zwei oder drei Jah­ren, zu ei­ner Zeit also, da sie fast noch ein Kind ge­we­sen, mit zwei Freun­din­nen zu­sam­men be­schlos­sen hat­te, ins Klos­ter zu ge­hen, und in die­sem Au­gen­blick war ihr, als reg­te sich in ihr eine ganz ähn­li­che Sehn­sucht wie da­mals. Nur dass die­se Sehn­sucht heu­te et­was an­de­res und mehr be­deu­te­te: Un­ru­he, Angst – als gäbe es nir­gend­wo als hin­ter Klos­ter­mau­ern Si­cher­heit vor all den Ge­fah­ren, die das Le­ben in der Welt mit sich brach­te.

Doch wie nun die Schwü­le all­mäh­lich wich und über die Häu­ser­wän­de bis in den vier­ten Stock hin­auf die Abend­schat­ten zo­gen, da schwand ihre Angst und ihre Trau­rig­keit, und sie freu­te sich dem Zu­sam­men­sein mit Al­fred ent­ge­gen wie noch nie.

Sie traf ihn drau­ßen vor der Stadt wie ge­wöhn­lich. Sei­ne Au­gen glänz­ten mild, und ein sol­cher Adel schi­en von sei­ner Stirn zu strah­len, dass ihr ganz weh ums Herz wur­de. Sie fühl­te sich ihm in schmerz­li­cher Wei­se über­le­gen, weil sie um so­viel mehr vom Le­ben wuss­te oder ahn­te als er; und zu­gleich sei­ner nicht ganz wür­dig, weil er aus so viel rei­ne­ren Lüf­ten kam als sie. In Ge­stalt und Hal­tung glich er sei­nem Va­ter, dem sie oft ge­nug in den Stra­ßen der klei­nen Stadt be­geg­net war, ohne dass er ih­rer ge­ach­tet oder auch nur ge­wusst hät­te, wer sie war. Auch Al­freds Mut­ter, die große blon­de Frau, und sei­ne bei­den Schwes­tern kann­te sie von An­ge­sicht; die moch­ten wohl et­was ver­mu­ten; denn neu­lich ein­mal, bei ei­ner zu­fäl­li­gen Be­geg­nung, hat­ten sie sich bei­de zu­gleich neu­gie­rig nach ihr um­ge­wandt. Sie wa­ren zwan­zig und neun­zehn und wür­den wohl bald bei­de hei­ra­ten. Die Fa­mi­lie war wohl­ha­bend und hoch­ge­ach­tet. Ja, die hat­ten es leicht. Und dass der Dr. Se­bas­ti­an Nüll­heim, Arzt in den bes­ten Fa­mi­li­en der Stadt, je ins Nar­ren­haus kom­men könn­te, das war ein völ­lig un­fass­ba­rer Ge­dan­ke. – Al­fred merk­te, dass The­re­se mit ih­ren Ge­dan­ken wo an­ders war, er frag­te sie, was ihr sei, sie schüt­tel­te nur den Kopf und drück­te in­nig Al­freds Hand. Die Tage wa­ren schon kurz, es be­gann zu dun­keln. Al­fred und The­re­se sa­ßen auf ei­ner Bank im Grü­nen; weit dehn­te sich die Ebe­ne, die Ber­ge wa­ren fern, ein dump­fes Rau­schen klang aus der Stadt her­bei, der Pfiff ei­ner Lo­ko­mo­ti­ve hall­te lang und lei­se, jen­seits der Wie­se, über die Land­stra­ße, roll­te ab und zu ein Wa­gen, Fuß­gän­ger schat­te­ten vor­über. Al­fred und The­re­se hiel­ten ein­an­der um­schlun­gen, The­re­sens Herz schwoll vor Zärt­lich­keit; und wenn sie spä­ter die­ser ers­ten Lie­be dach­te, war es im­mer wie­der die­se Abend­stun­de, die in ih­rem Ge­dächt­nis auf­schweb­te: sie und er auf ei­ner Bank zwi­schen Fel­dern und Wie­sen, auf weit­hin­ge­dehn­ter Ebe­ne, dar­über die Nacht, die sich von Berg zu Berg spann­te, ver­klin­gen­de Pfif­fe aus der Fer­ne und von ei­nem un­sicht­ba­ren Teich her Fröschequa­ken.

13

Manch­mal spra­chen sie von der Zu­kunft. Al­fred nann­te The­re­se sei­ne Liebs­te, sei­ne Braut. Sie müs­se auf ihn war­ten, in sechs Jah­ren spä­tes­tens sei er Dok­tor, und dann wür­de sie sein Weib. Und als wäre nun ein ge­heim­nis­vol­ler Schutz um sie, wie ein Hei­li­gen­schein um die Stirn – in die­sen Ta­gen be­kam sie von der Mut­ter kein bö­ses Wort zu hö­ren, ja, die­se ver­hielt sich ge­ra­de­zu lie­be­voll zu ihr.

Ei­nes Mor­gens trat sie zu The­re­sen ans Bett mit flim­mern­den Au­gen, reich­te ihr ein Zei­tungs­blatt hin; da war auf dem für der­glei­chen vor­be­hal­te­nen Raum der Be­ginn ei­nes Ro­mans ab­ge­druckt: »Der Fluch des Ma­gna­ten, von Ju­lie Fa­bia­ni-Hal­mos«. Und sie setz­te sich auf den Bett­rand, wäh­rend The­re­se für sich zu le­sen be­gann. Die Ge­schich­te fing an wie hun­dert an­de­re, und je­der Satz er­schi­en The­re­sen, als hät­te sie ihn schon hun­dert­mal ge­le­sen. Als sie fer­tig war und der Mut­ter wie in Be­wun­de­rung, doch wort­los, zu­nick­te, nahm die­se die Zei­tung zur Hand und las nun das Gan­ze laut, wich­tig und er­grif­fen vor. Dann sag­te sie: »Drei Mo­na­te lang wird der Ro­man lau­fen. Die Hälf­te habe ich schon be­zahlt be­kom­men – fast so viel wie eine halb­jäh­ri­ge Oberst­leut­nant­s­pen­si­on.«

Als The­re­se am Abend die­ses Ta­ges mit Al­fred zu­sam­men­traf, war er zu ih­rer an­ge­neh­men Über­ra­schung sorg­fäl­ti­ger, ge­ra­de­zu ele­gant ge­klei­det, ja, man hät­te ihn für einen der vor­neh­men Rei­sen­den neh­men kön­nen, wie zu die­ser Zeit so vie­le in der Stadt zu se­hen wa­ren. Al­fred freu­te sich der Be­frie­di­gung, die er in The­re­sens Au­gen las, und er­öff­ne­te ihr mit scherz­haf­ter Förm­lich­keit, dass er sich die Ehre gebe, sie für heu­te zu ei­nem Abendes­sen im Ho­tel Eu­ro­pe ein­zu­la­den. Ver­gnügt nahm sie an, und bald sa­ßen sie bei­de in dem hell er­leuch­te­ten, park­ar­ti­gen Gar­ten an ei­nem köst­lich ge­deck­ten Tisch, für sich al­lein, un­ter vie­len un­be­kann­ten Men­schen, wie ein vor­neh­mes Paar auf der Hoch­zeits­rei­se. Der Kell­ner nahm et­was her­ab­las­send Al­freds Be­stel­lung ent­ge­gen; ein vor­treff­li­ches Mahl wur­de auf­ge­tra­gen, und an ih­rem Ap­pe­tit merk­te The­re­se, dass sie sich tat­säch­lich seit län­ge­rer Zeit nicht so ei­gent­lich satt ge­ges­sen hat­te. Auch der mil­de, süße Wein schmeck­te aus­ge­zeich­net, und wäh­rend sie an­fangs et­was ein­ge­schüch­tert sich kaum recht um­zu­se­hen ge­wagt hat­te, ließ sie nun die Au­gen im­mer leb­haf­ter und un­be­fan­ge­ner im Krei­se ge­hen. Von da und dort rich­te­ten sich Bli­cke auf sie, nicht nur von jün­ge­ren und äl­te­ren Her­ren, auch von Da­men, Bli­cke des Wohl­ge­fal­lens, ja der Be­wun­de­rung. Al­fred war sehr auf­ge­räumt, re­de­te al­ler­lei ga­lan­tes, ziem­lich tö­rich­tes Zeug, wie es sonst sei­ne Art gar nicht war, und The­re­se lach­te manch­mal in ei­ner un­na­tür­lich grel­len Wei­se dazu auf. Als Al­fred sie zum drit­ten- oder vier­ten Mal im Flüs­ter­ton frag­te – er hat­te eben kei­nen Über­fluss an lus­ti­gen Ein­fäl­len –, wo­für man sie bei­de wohl hal­ten möch­te: für ein durch­ge­gan­ge­nes Lie­bespär­chen auf der Flucht oder für ein jun­ges Ehe­paar aus Frank­reich auf der Hoch­zeits­rei­se –, gin­gen ei­ni­ge Of­fi­zie­re am Tisch vor­bei, un­ter de­nen The­re­se so­fort je­nen schwarz­haa­ri­gen mit den gel­ben Auf­schlä­gen er­kann­te, des­sen sie in den letz­ten Wo­chen all­zu viel hat­te den­ken müs­sen. Auch der Of­fi­zier er­kann­te sie gleich; sie wuss­te es, ob­wohl er nichts der­glei­chen tat, son­dern wohl­an­stän­dig sei­nen Blick wie­der ab­wand­te und sich nicht, wie sie er­war­tet, an ei­nem be­nach­bar­ten, son­dern in Ge­sell­schaft sei­ner Ka­me­ra­den an ei­nem ziem­lich ent­fern­ten Ti­sche nie­der­ließ. Mit Al­freds gu­ter Lau­ne war es plötz­lich vor­bei. Es war ihm nicht ent­gan­gen, dass The­re­sens Au­gen auf­ge­leuch­tet hat­ten, und er fühl­te mit der ei­fer­süch­ti­gen Ah­nung des Lie­ben­den, dass et­was Ver­häng­nis­vol­les ge­sche­hen war. Als er ihr das Glas wie­der voll schenk­te, drück­te sie ihm wie schuld­be­wusst die Hand, und zu­gleich ihre Un­ge­schick­lich­keit füh­lend, sag­te sie plötz­lich: »Wol­len wir nicht ge­hen?« »Die Mut­ter wird un­ru­hig sein«, setz­te sie hin­zu, ob­zwar sie wuss­te, dass sie das nicht zu be­fürch­ten hat­te. »Und was hast denn du zu Hau­se ge­sagt, Al­fred?« Er er­rö­te­te. »Du weißt ja«, er­wi­der­te er, »mei­ne Fa­mi­lie ist ver­reist.« – »Ach ja«, sag­te sie. Da­rum also war er heu­te so kühn ge­we­sen, sie hät­te sich’s den­ken kön­nen. Und wie lin­kisch er sich jetzt er­hob, nach­dem er die Rech­nung be­gli­chen! Und statt dass er ihr den Vor­tritt ließ, wie es die Sit­te er­for­der­te, ging er vor ihr ein­her, und da merk­te sie, dass er ei­gent­lich doch nicht an­ders aus­sah als ein Schul­jun­ge im Sonn­tags­ge­wand. Sie aber in ih­rem ein­fa­chen, blau­wei­ßen Fou­lard­kleid spa­zier­te zwi­schen den Ti­schen dem Aus­gang zu, wie eine jun­ge Dame, die ge­wohnt wäre, je­den Abend un­ter vor­neh­men Frem­den in ei­nem großen Ho­tel zu spei­sen. Ja, ihre Mut­ter war eben doch eine Baro­nin, war in ei­nem Schlos­se auf­ge­wach­sen, hat­te ein wil­des Pony ge­rit­ten; und zum ers­ten Mal in ih­rem Le­ben war The­re­se ein we­nig stolz dar­auf.

Sie gin­gen schwei­gend durch die stil­len Gas­sen, Al­fred nahm The­re­sens Arm, drück­te ihn an den sei­nen. »Was wür­dest du dazu sa­gen«, be­merk­te er in ei­nem leich­ten Ton, der ihm nicht wohl an­stand, »wenn man noch in ein Kaf­fee­haus gin­ge?« Sie lehn­te ab. Es sei schon zu spät. – Ach ja, ein Schul­bub! Er hät­te nun wohl et­was an­de­res ver­lan­gen dür­fen als eine Ab­schieds­stun­de im Kaf­fee­haus. Wa­rum zum Bei­spiel rief er nicht dort den Kut­scher an, der auf dem Bock schlief, um mit ihr zu­sam­men in die schö­ne, mil­de Som­mer­nacht hin­aus­zu­fah­ren? Wie hät­te sie sich in sei­nen Arm ge­schmiegt, wie heiß ihn ge­küsst, wie lieb hät­te sie ihn ge­habt. Aber der­glei­chen klu­ge Ein­fäl­le durf­te sie von Al­fred nicht er­war­ten. – Bald stan­den sie vor The­re­sens Hau­stor. Die Stra­ße war völ­lig dun­kel. Al­fred zog The­re­se an sich, hef­ti­ger als er es je ge­tan, sie gab ihre Lip­pen den sei­nen mit In­brunst hin, und mit ge­schlos­se­nen Au­gen wuss­te sie, wie edel und rein sei­ne Stirn war. Als sie die Trep­pen hin­auf­stieg, war sie voll Sehn­sucht und Trau­rig­keit. Lei­se sperr­te sie die Woh­nungs­tü­re auf, da­mit die Mut­ter nicht auf­wa­che, dann lag sie noch lan­ge im Bet­te wach und dach­te, dass es heu­te abend doch nicht das Rech­te ge­we­sen war.

14

Am nächs­ten Tag, wäh­rend sie mit der Mut­ter bei Ti­sche saß, brach­te man aus der Blu­men­hand­lung wun­der­vol­le wei­ße Ro­sen in ei­nem schlan­ken, ge­schlif­fe­nen Kelch. Ihr ers­ter Ge­dan­ke war: der Of­fi­zier, ihr nächs­ter: Al­fred. Doch auf dem Kärt­chen stand zu le­sen: »Graf Benk­heim bit­tet das lie­be klei­ne Fräu­lein The­re­se die mit­fol­gen­den be­schei­de­nen Blu­men freund­lichst ent­ge­gen­neh­men zu wol­len.« Die Mut­ter sah vor sich hin, als gin­ge sie das Gan­ze nichts an. The­re­se stell­te das Glas mit den Blu­men auf die Kom­mo­de, ver­gaß, sich wie­der an den Tisch zu set­zen, nahm ein Buch zur Hand und ließ sich in den Schau­kel­stuhl am Fens­ter sin­ken. Die Mut­ter aß al­lein wei­ter, sprach kein Wort und ver­ließ dann mit schlür­fen­dem Schritt das Zim­mer.

Am glei­chen Abend, auf dem Weg zum Bahn­hof, in des­sen Nähe The­re­se für heu­te eine Zu­sam­men­kunft mit Al­fred ver­ab­re­det hat­te – sie wähl­ten bei­na­he täg­lich einen an­de­ren Punkt –, be­geg­ne­te The­re­se dem Of­fi­zier. Er grüß­te mit vollen­de­ter Höf­lich­keit, ohne die Tat­sa­che ih­rer ge­hei­men Ver­traut­heit auch nur durch ein Lä­cheln unz­art zu be­to­nen. Sie dank­te un­will­kür­lich, dann aber be­schleu­nig­te sie ihre Schrit­te, so dass sie fast ins Lau­fen ge­riet, und war froh, dass Al­fred, der sie schon er­war­te­te, ihre Er­re­gung nicht merk­te. Er schi­en ver­le­gen, ver­stimmt. Sie gin­gen die stau­bi­ge, et­was lang­wei­li­ge Stra­ße ge­gen Ma­ria Plain wei­ter in ei­nem müh­se­li­gen Ge­spräch, dar­in des gest­ri­gen Abends mit kei­nem Wor­te ge­dacht wur­de, kehr­ten bald wie­der um, da ein Ge­wit­ter droh­te, und trenn­ten sich frü­her als sonst.

Die nächs­ten Aben­de aber, in all ih­rer Trau­rig­keit, wa­ren schön. Der Ab­schied war nah. In den ers­ten Sep­tem­ber­ta­gen soll­te Al­fred nach Wien fah­ren, um dort vor­erst mit sei­nem Va­ter zu­sam­men­zu­tref­fen. The­re­se wur­de es schwer ums Herz, wenn Al­fred von der be­vor­ste­hen­den Tren­nung re­de­te, sie im­mer wie­der be­schwor, ihm Treue zu be­wah­ren und der Mut­ter zu mög­lichst bal­di­ger Über­sie­de­lung nach Wien drin­gend zu­zu­re­den. Sie hat­te ihm er­zählt, dass die Mut­ter vor­läu­fig nichts da­von wis­sen wol­le; viel­leicht, dass es ihr ge­län­ge, im Lau­fe des kom­men­den Win­ters sie all­mäh­lich dazu zu be­stim­men. Von all dem war nichts wahr. Viel­mehr be­fes­tig­te sich in The­re­sen der Vor­satz im­mer mehr, das El­tern­haus al­lein zu ver­las­sen, ohne dass da­bei der Ge­dan­ke an Al­fred über­haupt eine Rol­le spiel­te.

Es war längst nicht mehr die ein­zi­ge Unauf­rich­tig­keit, die sie sich ihm ge­gen­über vor­zu­wer­fen hat­te. We­ni­ge Tage nach je­ner Be­geg­nung in der Nähe des Bahn­hofs hat­te sie den jun­gen Of­fi­zier wie­der­ge­se­hen: er war ihr auf dem Dom­platz ent­ge­gen­ge­tre­ten, als sie eben die Kir­che ver­ließ, die sie manch­mal zu die­ser Stun­de nicht so sehr aus Fröm­mig­keit als aus ei­ner Sehn­sucht nach fried­li­chem Al­lein­sein in dem ho­hen, küh­len Raum zu be­tre­ten pfleg­te. Und er, als wäre es die na­tür­lichs­te Sa­che von der Welt, war vor ihr ste­hen­ge­blie­ben, hat­te sich vor­ge­stellt – sie ver­stand nur den Vor­na­men Max – und hat­te sie um Ent­schul­di­gung ge­be­ten, dass er die­se Ge­le­gen­heit, auf ge­rau­me Zeit hin­aus die letz­te, zu be­nüt­zen sich die Frei­heit neh­me, um The­re­se end­lich per­sön­lich ken­nen­zu­ler­nen. Denn nun gehe er mit dem Re­gi­ment, dem er seit ei­nem Mo­nat zu­ge­teilt sei, auf Ma­nö­ver für drei Wo­chen, – und wäh­rend die­ser drei Wo­chen, das wünsch­te er sich so sehr, soll­te doch das Fräu­lein The­re­se – oh, selbst­ver­ständ­lich ken­ne er ih­ren Na­men, Fräu­lein The­re­se Fa­bia­ni sei durch­aus kei­ne un­be­kann­te Per­sön­lich­keit in Salz­burg, und von der Frau Mama ste­he ja jetzt ein Ro­man im Ta­ge­blatt; – nun, er wün­sche, dass Fräu­lein The­re­se an ihn wäh­rend sei­ner Ab­we­sen­heit wie an einen gu­ten Be­kann­ten den­ke, wie an einen Freund, einen stil­len, schwär­me­ri­schen, ge­dul­dig hof­fen­den Freund. Und dann hat­te er ihre Hand ge­nom­men und ge­küsst – und war auch schon ver­schwun­den. Sie hat­te sich rings um­ge­se­hen, ob ir­gend je­mand von die­ser Be­geg­nung et­was be­merkt hät­te. Doch der Dom­platz lag fast men­schen­leer im grel­len Son­nen­schein, nur drü­ben gin­gen ein paar Frau­en, die ihr na­tür­lich vom Se­hen be­kannt wa­ren – wen kann­te man nicht in der klei­nen Stadt –, aber von de­nen wür­de Al­fred wohl nie er­fah­ren, dass ein Of­fi­zier mit ihr ge­spro­chen und ihr die Hand ge­küsst hat­te. Er er­fuhr ja über­haupt nichts, er wuss­te auch nicht, dass der Graf Benk­heim ins Haus kam, nichts von den ers­ten Ro­sen, die der Graf ihr ge­schickt, nichts von den an­dern, die heu­te mor­gen ge­kom­men wa­ren, auch nichts von dem ver­än­der­ten Be­neh­men der Mut­ter, die nun im­mer so freund­lich und sanft zu ihr war, als kön­ne sie der wei­te­ren Ent­wick­lung der Din­ge mit Be­ru­hi­gung ent­ge­gen­se­hen. Und The­re­se hat­te es auch ru­hig ge­sche­hen las­sen, dass al­ler­lei Neu­es für sie an­ge­schafft wor­den war. Nicht eben viel und Kost­ba­res, aber im­mer­hin man­ches, was sie wohl brau­chen konn­te: Wä­sche, zwei Paar neue Schu­he, ein eng­li­scher Stoff für ein Stra­ßen­kleid; sie merk­te auch, dass das Es­sen da­heim bes­ser ge­wor­den war, und konn­te sich wohl zu­sam­men­rei­men, dass all dies nicht von dem Ro­man­ho­no­rar be­strit­ten wür­de, der nun Tag für Tag in der Zei­tung wei­ter­lief. Aber das war auch al­les ganz gleich­gül­tig. Es dau­er­te ja nicht mehr lan­ge. Sie war fest ent­schlos­sen, das Haus zu ver­las­sen, und am klügs­ten, dach­te sie, wäre es wohl, über alle Ber­ge zu sein, ehe der Leut­nant von den Ma­nö­vern wie­der zu­rück­kehr­te. Von all dem, von Tat­sa­chen wie von Er­wä­gun­gen, wuss­te Al­fred nichts. Er nann­te sie wei­ter Liebs­te und Braut und re­de­te wie von et­was durch­aus Mög­li­chem, ja ge­ra­de­zu Selbst­ver­ständ­li­chem, dass er in sechs Jah­ren als Dok­tor der ge­sam­ten Heil­kun­de Fräu­lein The­re­se Fa­bia­ni zum Al­tar füh­ren wer­de. Und wenn sie abends, wie es im­mer wie­der ge­sch­ah, auf je­ner Bank im Fel­de sei­nen Lie­bes­wor­ten lausch­te und sie manch­mal so­gar er­wi­der­te, glaub­te sie bei­na­he selbst al­les, was er, und man­ches von dem, was sie selbst sag­te.

15

Ei­nes Mor­gens – nach ei­nem Abend, der ge­we­sen war wie so vie­le an­de­re vor­her – kam ein Brief von ihm. Nur ein paar Wor­te. Wenn sie sie läse, so schrieb er, säße er schon im Zug nach Wien; er hät­te es nicht übers Herz ge­bracht, ihr das ges­tern abend zu sa­gen, sie möge es ver­ste­hen und ver­zei­hen, er lie­be sie un­sag­bar, er wis­se es in die­sem Mo­ment stär­ker als je, dass die­se Lie­be ewig wäh­ren wür­de. – Sie ließ das Blatt sin­ken, sie wein­te nicht, aber sie war sehr un­glück­lich. Aus. Sie wuss­te, dass es aus war für im­mer. Und es war mehr un­heim­lich als trau­rig, dass sie das wuss­te und er nicht. – Die Mut­ter kam aus der Stadt zu­rück. Sie war auf dem Markt ge­we­sen, ein­kau­fen. »Weißt du, wer heu­te früh«, frag­te sie ver­gnügt, »mit Kof­fer und Ta­sche an mir vor­bei­ge­fah­ren ist zur Bahn? Dein Se­la­don.1 Ja, nun ist er fort, hast du nicht ge­se­hen.« Es war ihre Art, sol­che ver­blass­ten, aus der Mode ge­kom­me­nen Ro­man­phra­sen ins Ge­spräch ein­zu­streu­en. Die Auf­ge­räumt­heit der Mut­ter ließ deut­lich er­ken­nen, dass sie nun das schwers­te, ja, das ein­zi­ge Hin­der­nis ih­rer Plä­ne für be­sei­tigt hielt. The­re­se aber dach­te im glei­chen Au­gen­blick: Fort, nur fort. Heu­te noch, gleich, ihm nach. Die paar Gul­den für die Rei­se bor­g’ ich mir aus – Kla­ra hof­fent­lich …

Sie ver­ließ das Haus, bald stand sie un­ter den Fens­tern, hin­ter de­nen ihre Freun­din wohn­te, aber sie konn­te sich kein Herz fas­sen, die Trep­pen hin­auf­zu­ge­hen. Üb­ri­gens wa­ren die Vor­hän­ge her­un­ter­ge­las­sen, viel­leicht wa­ren Traun­furts aus der Som­mer­fri­sche noch nicht zu­rück. Doch da trat Kla­ra aus dem Hau­stor, hübsch und adrett ge­klei­det wie im­mer, hold und un­schul­dig an­zu­se­hen, be­grüß­te The­re­se mit über­trie­be­ner Herz­lich­keit und war gleich bei den The­men, die sie am meis­ten lieb­te. Ohne et­was Be­denk­li­ches oder gar Un­an­stän­di­ges in Wor­ten aus­zu­drücken, spiel­te un­ter dem, was sie sag­te, eine un­un­ter­bro­che­ne Wel­le zwei­deu­ti­ger Ge­dan­ken. Nach­dem sie bei­läu­fig be­dau­ert, dass man jetzt so gar nicht mehr zu­sam­men­kom­me, er­wähn­te sie gleich die Fa­mi­lie Nüll­heim, in ei­nem Ton, der The­re­se nicht zwei­feln ließ, dass die Freun­din ihre Be­zie­hun­gen zu Al­fred für an­ders ge­ar­tet hielt, als sie in Wirk­lich­keit wa­ren. The­re­se, nicht ver­letzt, son­dern nur im Ge­fühl ih­rer Un­schuld, klär­te Kla­ra auf, wor­auf die­se ein­fach und fast et­was ver­ächt­lich be­merk­te: »Wie kann man so dumm sein.« Eine be­kann­te Dame nä­her­te sich, und Kla­ra ver­ab­schie­de­te sich auf­fal­lend rasch von The­re­sen. –

Abends zu der Stun­de, in der The­re­se sonst mit Al­fred zu­sam­men­zu­kom­men pfleg­te, ver­such­te sie ihm zu schrei­ben. Sie wun­der­te sich, wie schwer es ihr von der Hand ging, und so ließ sie sich an ein paar flüch­ti­gen Wor­ten ge­nü­gen: dass sie noch viel un­glück­li­cher sei als er, dass sie kei­nen an­de­ren Ge­dan­ken habe als ihn al­lein und dass sie hof­fe, Gott wer­de al­les zum Gu­ten wen­den. – Sie trug den Brief auf die Post, ach, sie wuss­te, dass es ein dum­mer und un­auf­rich­ti­ger Brief war, ging gleich wie­der heim, ver­moch­te nichts Rech­tes an­zu­fan­gen, nahm eine Hand­ar­beit vor, ver­such­te zu le­sen, spiel­te Ska­len und Läu­fe, end­lich, un­ru­hig und ge­lang­weilt zu­gleich, blät­ter­te sie in den Zei­tungs­num­mern, die den Ro­man ih­rer Mut­ter ent­hiel­ten. Was war das für eine ab­ge­schmack­te Ge­schich­te, und mit welch hoch­tra­ben­den Wor­ten war sie er­zählt. Es war der Ro­man ei­ner ade­li­gen Fa­mi­lie. Der Va­ter war ein har­ter, stren­ger, aber doch groß­her­zi­ger Ma­gnat mit di­cken Au­gen­brau­en, von de­nen im­mer wie­der die Rede war, die Mut­ter sanft, wohl­tä­tig und kränk­lich, der Sohn ein Spie­ler, Duel­lant, Ver­füh­rer, die Toch­ter en­gel­rein und blond, eine wah­re Mär­chen­prin­zes­sin, wie sie auch im­mer wie­der ge­nannt wur­de; ein düs­te­res Fa­mi­li­en­ge­heim­nis harr­te der Lö­sung, und ir­gend­wo im Park, ein ur­al­ter Die­ner wuss­te das, lag von der Tür­ken­zeit her ein Schatz ver­gra­ben. Es gab auch man­ches sin­ni­ge Wort über Fröm­mig­keit und Tu­gend in dem Werk zu le­sen, und kein Mensch hät­te der Schrei­be­rin zu­trau­en kön­nen, dass sie es dar­auf an­ge­legt hat­te, ihre Toch­ter an einen al­ten Gra­fen zu ver­kup­peln.