Things We Never Said - Geheime Berührungen - Samantha Young - E-Book
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Things We Never Said - Geheime Berührungen E-Book

Samantha Young

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Beschreibung

Eine Liebe, die nicht sein darf. Eine Liebe, die stärker ist als jede Vernunft.

Dahlia erkennt sich selbst nicht wieder. Bei keinem Mann hat sie je so empfunden wie bei Michael. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Dabei ist er tabu für sie, denn sie ist in einer festen Beziehung. Als sie ihren Freund am Abend sieht, durchzuckt es sie wie ein Blitz: Er stellt ihr seinen besten Kumpel vor – ausgerechnet Michael. Dahlia kommt mit ihm überein, ihre tiefen Gefühle zu ignorieren, um niemandem wehzutun. Das Einzige, was ihnen bleibt, sind verborgene Blicke, in denen sie die Sehnsucht des anderen lesen. Kleine Berührungen, von denen sie wünschen, es könnte mehr daraus werden. Es bricht Dahlia das Herz mitzuerleben, wie Michael andere Frauen kennenlernt. Aber nach einer schmerzhaften Ewigkeit bricht sich das Verlangen Bahn – mit fatalen Konsequenzen …

»Geheimnisvoll, überwältigend, einfach nur gut.«
Closer

»Ein wahres Erzähltalent.«
Daily Record

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Seitenzahl: 538

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MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2019 by Samantha Young Originaltitel: »Things We Never Said«

Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München Coverabbildung: Anson, Number1411 / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783745751925

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Teil eins

Prolog

DAHLIA

Boston, elf Jahre zuvor

Meine Eltern hatten keinen Grund, sich zu beklagen – ich tat fast alles, um Geld zu verdienen, und bemühte mich dabei sogar um Jobs, die zu meinem Studienfach passten.

Mein Vater war Feuerwehrmann, meine Mutter arbeitete als Krankenschwester, und manche ihrer fünf Kinder wollten aufs College gehen. Cian und Sorcha McGuire sprühten nicht vor Begeisterung, nachdem ich ihnen verkündet hatte, ich wolle mich an der Kunstakademie bewerben. Dermot wechselte von einem Job zum nächsten, als hätte er Angst, von einer festen Arbeitsstelle Herpes zu bekommen, und Dillon, die Jüngste von uns, hatte eine Kosmetikschule besucht. Nun war ich das dritte Kind der McGuires, das studieren wollte. Dieser Unsinn war ziemlich teuer, wie meine Eltern feststellten. Warum hatte ich mir nicht wenigstens etwas Vernünftiges ausgesucht? So wie Davina, die BWL im Hauptfach hatte, oder wie Darragh, der sich für Journalistik entschieden hatte.

Tja, sehr vernünftig.

Ich gebe zu, diese Fächer waren vielleicht etwas praxisnäher als eine Ausbildung an der Kunsthochschule, aber mir lag es eben im Blut, schöne Dinge zu kreieren.

Trotz eines Stipendiums und finanzieller Unterstützung war die Kunstakademie teuer, also nahm ich das ganze Jahr über verschiedene Jobs an, damit ich mir das College leisten konnte. Ich wohnte bei meinen Eltern, was meine Ausgaben verringerte, es jedoch zugleich erschwerte, mich ungestört mit Freunden zu treffen. Daher versuchte ich, möglichst oft im Künstlermilieu zu arbeiten.

Allerdings musste ich einräumen, dass dieser Job wirklich grenzwertig war. Aber er war sehr gut bezahlt, und das war der einzige Grund, warum ich nun halb nackt hier stand.

In der Ausstellung in einer kleinen Galerie in Allston wurden die Werke von K. Lowinski gezeigt. Sie trug den Titel »Mehr als …«, und die abstrakten Gemälde schienen jeden Moment auf der Leinwand zum Leben zu erwachen. Um Besucher anzuziehen, hatte die Galerie mich, zwei andere Frauen und drei Männer als lebende Kunstwerke engagiert. Wir sollten vollkommen regungslos jeweils auf einer kleinen runden Plattform stehen und uns nur ab und zu bewegen. Und was war daran nun so besonders?

Wir sahen aus, als wären wir nackt.

Wir trugen hauchdünne Bodystockings, die K. Lowinski nur an den strategisch relevanten Stellen bemalt und verziert hatte.

Nun war ich eine kleine, kurvenreiche Zwanzigjährige, und einige Stellen waren bei mir damit kaum bedeckt, wie man sich vielleicht vorstellen kann. Beim Anziehen des Bodys war mein erster Gedanke gewesen, dass ich keinesfalls so die Galerie betreten würde – fast nackt! Doch dann dachte ich an das Geld und daran, dass niemand aus meinem Bekanntenkreis auch nur einen Fuß in eine Kunstgalerie setzen würde.

Meine Eltern würden es niemals erfahren.

Und, was noch wichtiger war, auch mein machohafter Freund Gary würde nie Wind davon bekommen. Wir waren erst seit zwei Monaten zusammen, also hatte er mir ohnehin nichts vorzuschreiben. Aber Gary war witzig, heiß und der erste Mann, bei dem ich beim Sex einen Orgasmus hatte. Das fand ich super, und ich wollte es mir nicht mit ihm verderben.

Nein. Niemand würde herauskriegen, dass ich mich in einer Ausstellung zur Schau stellte. Das war die nackte Wahrheit, oder?

Ich unterdrückte ein Lachen über meinen eigenen Witz, ignorierte die leichten Rückenschmerzen und versuchte, mich nicht allzu oft zu bewegen. Als ich den Job angenommen hatte, war mir nicht bewusst gewesen, wie schwer es war, so lange still zu stehen. Gary sagte, er habe noch nie jemanden mit so viel Energie kennengelernt wie mich. Nicht, dass er sich darüber beklagte. Ich muss wohl nicht ins Detail gehen …

Meine Gedanken wanderten zu meinem derzeitigen Projekt am College. In diesem Semester hatte ich einen Kurs in Kunstschmieden belegt und war davon absolut begeistert. Regelrecht verliebt in das Fach. Ich glaubte, meine Berufung gefunden zu haben. Und mein Dozent war sehr angetan von den Schmuckstücken, die ich kreierte. Meiner Mutter hatte ich als Geburtstagsgeschenk eine Halskette gemacht, und selbst Sorcha-»Ich fasse es nicht, dass eines meiner Kinder eine verdammte Kunstakademie besucht«-McGuire gefiel sie. Allerdings ruinierte meine Mom alles, indem sie mich fragte, wie ich mit der Herstellung von solchem Schmuck einmal Geld verdienen wollte. Na ja, egal.

Ich war Dahlia McGuire und würde schon bald Silberschmiedin sein. War das nicht cool? Oder wie mein Bruder Dermot sagen würde: »Abgefahren, Dahlia, echt krass!«

Ein Brennen auf meiner Haut riss mich aus meinen Gedanken. Kein richtiges Brennen, sondern dieses heiße Kribbeln auf der Haut, das man am ganzen Körper spürte, wenn man sich beobachtet fühlte. Nun ja, schließlich stand ich halb nackt in einer Kunstgalerie, wo mich einige Leute anstarrten. Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und …

Dort drüben!

Der Grund für dieses knisternde Prickeln lehnte neben einem der Bilder an der Wand.

Er grinste, sobald sich unsere Blicke trafen. Wow! Also daher kam das warme Gefühl auf meiner Haut …

Unter seinem jungenhaften, ein wenig schiefen Lächeln errötete ich und schaute rasch zur Seite. Doch ich hatte bereits gesehen, dass er ein einfaches marineblaues T-Shirt trug, das seine breiten Schultern und seine schmale Taille betonte.

Verschwende keinen Gedanken mehr an diesen heißen Typen, ermahnte ich mich. Schließlich musste ich hier meinen Job erledigen – und ich hatte einen Freund. Einen Mann, der sich sehr gut mit meiner Klitoris auskannte.

Das wollte ich auf keinen Fall aufs Spiel setzen!

Aber während ich mich bemühte, so still wie nur möglich zu stehen, spürte ich seinen Blick auf mir.

Er starrte mich an.

Ohne Unterlass.

Immer weiter.

Das konnte nicht wahr sein. Sicher bildete ich mir das nur ein.

Verdammt. Ich schaute kurz zu ihm hinüber und versteifte mich, als ich feststellte, dass er mich nicht nur beobachtete, sondern jetzt noch näher bei mir stand.

Nun starrte ich zurück.

Gary war größer und schlanker, hatte dunkles Haar, wunderschöne blaue Augen und einige sichtbare Tattoos. Er stammte aus dem Viertel South Boston, sah jedoch aus wie ein Teenieschwarm aus einer Rockband.

Dieser Mann mit dem dunkelblonden Haar und den dunklen Augen wirkte eher herb. Seine markanten Gesichtszüge bildeten einen starken Kontrast zu seinen schön geschwungenen Lippen.

Er grinste, während ich ihn gründlich musterte.

Ich kniff die Augen zusammen.

Dieser Typ war nicht hier, um sich Kunstwerke anzuschauen.

Ein Perversling!

Einen Moment lang vergaß ich meine Aufgabe und verzog das Gesicht. Das schien ihn zu belustigen.

Ich war ein wenig verstimmt und beschloss, diesen heißen Typen, der sich hier wohl eine Peepshow erhofft hatte, zu ignorieren. Plötzlich fand ich ihn gar nicht mehr so heiß.

Hier gab es auch noch andere Frauen.

Verschwinde und glotz die anderen an!

Fairerweise muss ich sagen, dass er offensichtlich nur mein Gesicht im Visier hatte. Allerdings war ich mir sicher, er würde sich auch alles andere anschauen, sobald ich ihn nicht fixierte.

Das war nicht schmeichelhaft, sondern unheimlich und nervig.

Ich bin ein lebendes Kunstwerk, du Idiot, und keine der Frauen in einem Schaufenster in Amsterdam!

Aber wem machte ich hier etwas vor? Selbst die sogenannten Kunstliebhaber waren hierhergekommen, um sich fast nackte Menschen anzusehen. Dafür hatte die Galerie uns angeheuert.

Trotzdem tat natürlich jeder so, als sei er nur an den Kunstwerken interessiert.

Mein Ärger wuchs, und ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, dass sich mein Herzschlag unter seinem unablässigen Starren auf unerklärliche Weise beschleunigte. Wieder schielte ich zu dem sexy Typen mit dem aufdringlichen Blick hinüber.

Ja, er war noch da. Und starrte mich immer noch an.

Auf eine so eindringliche, glühende Art und Weise, die meinen Puls noch schneller werden ließ. Als sich unsere Blicke trafen, spürte ich eine Regung in meinem Unterleib und stellte entsetzt fest, wie sich zwischen meinen Oberschenkeln Hitze ausbreitete.

Meine Güte!

Ich war schockiert, dass ein Fremder solche Gefühle in mir hervorgerufen hatte. Was war das denn? Ich beschloss, jetzt war es an der Zeit, mich zu bewegen und ihm zu zeigen, wer ich war. Langsam und anmutig nahm ich meinen Arm hoch, beugte ein Knie und beobachtete, wie die Augen des Fremden aufblitzten.

Mist.

Perversling.

Ich hob eine Hand an mein Gesicht, ballte sie zur Faust, streckte den Mittelfinger aus und fuhr mir damit sanft mit einer Geste über die Wange, die besagte: »Du kannst mich mal!«

Und was war seine Reaktion auf meinen Stinkefinger?

Er warf den Kopf in den Nacken, lachte und zog damit die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf sich. Rasch ließ ich die Hand sinken, damit mein Boss nicht bemerkte, dass ich gerade einen Besucher beleidigt hatte.

Der Fremde hörte auf zu lachen, und seine dunklen Augen glitzerten, während er mich auf eine merkwürdig liebevolle Art anlächelte. Dann drehte er sich um und verschwand um eine Ecke. Ich atmete erleichtert auf.

Oder war ich etwa enttäuscht?

Eine Stunde später verließ ich den kleinen Abstellraum, den man uns zum Umziehen zur Verfügung gestellt hatte. Ich trug wieder meine eigenen Klamotten und wünschte mir, ich hätte mir eine Massage leisten können. Mein Rücken war total verspannt – ich hatte vier Stunden lang stehen müssen und nur zwei Pausen von jeweils fünfzehn Minuten gehabt.

Am Abend musste ich noch meine erste Schicht als Kellnerin in einer Bar in Malden antreten, einer Kleinstadt, die neben meinem Heimatort Everett lag. Diesen Job hatte zuvor meine Schwester Davina gemacht, doch als mir in der Collegebar, wo ich früher gearbeitet hatte, einige Stunden gestrichen wurden, war ich dort ausgestiegen und übernahm Davinas alte Stelle. Die Bezahlung war mies, aber was blieb mir anderes übrig?

Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, während ich an dem Spiegel im hinteren Teil der Galerie vorbeiging. Man hatte von uns verlangt, kein Make-up bis auf Wimperntusche aufzutragen, also sah ich sehr jung aus. Und langweilig. Seit drei Jahren war ich in einer Dita-Von-Teese-Phase und liebte Vintagekleider, an den Augenwinkeln schwungvoll nach außen gezogene schwarze Lidstriche und roten Lippenstift. Der kurze Blick auf mein ungeschminktes Gesicht brachte mich auf die Idee, mir einen Pony schneiden zu lassen. Ein Pony wäre cool. Sehr vintage.

Alles in allem sah ich nicht so gut aus wie sonst, als ich in den Hauptraum der Galerie zurückkehrte. Ich trug Jeans, ein T-Shirt und Sneakers anstatt eines Bleistiftrocks mit Bluse und Sandalen. Manchmal zog ich auch gerne figurumspielende Kleider an, doch da ich einen kurvenreichen Körper hatte, fühlte ich mich vor allem in einem Bleistiftrock wohl, der meine schmale Taille und die etwas volleren Hüften betonte.

In Jeans wirkte ich ziemlich gewöhnlich.

Mein Boss hatte gesagt, wir würden in dem kleinen Café an der Rückseite der Galerie kostenlos Kaffee und ein Sandwich bekommen, und dieses Angebot wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Also holte ich mir etwas zu essen und zu trinken, suchte mir in dem Laden einen Platz und unterdrückte mit Mühe ein erleichtertes Stöhnen, als ich mich endlich setzen konnte.

Das war einer der Momente der absoluten Zufriedenheit. Ein Sitzplatz und kostenlose Verpflegung.

Bis er ihn mir ruinierte.

Neben mir zog jemand einen Stuhl scharrend über den Boden, und ich zuckte überrascht zusammen. Es war der heiße Typ mit den verträumten Augen und den vollen Lippen, der sich an meinen Tisch hockte. Er verschränkte die Arme auf der Tischplatte und beugte sich vor. Und unsere Blicke trafen sich.

»Hey.«

Ich schluckte einen Bissen von dem Sandwich hinunter, und mein Puls begann zu rasen. Mir wurde heiß, und ich hoffte, dass man mir das nicht anmerkte. Ich versuchte, diese unerklärliche Reaktion meines Körpers auf seine Nähe zu ignorieren, und runzelte die Stirn. »Ach, wie nett, der Perversling.«

Er schenkte mir ein kurzes, schiefes und jungenhaftes Lächeln, bei dem ich keine Schmetterlinge im Bauch verspürte.

Ja, das war gelogen. Natürlich flatterten sie da!

»Eigentlich nennt man mich Michael oder Mike.« Sein Bostoner Akzent war noch stärker ausgeprägt als meiner. Er hörte sich an wie Gary, und ich vermutete, dass auch er aus dem Stadtteil Southie kam.

»Sicher nur, weil sie noch nicht gesehen haben, wie du halb nackte Frauen anstarrst, als wärst du ein vorpubertärer Teenager.«

Michael oder Mike lachte leise. »Ist das so rübergekommen?«

»Du hast da immer noch ein wenig Sabber hängen.« Ich deutete auf einen seiner Mundwinkel.

Jetzt lächelte er nicht mehr, sondern starrte so intensiv auf mein Gesicht, dass ich mich fragte, ob irgendetwas damit nicht in Ordnung war. Ich wurde rot. »Du tust es schon wieder!«, fuhr ich ihn an.

Michael (ich mochte den Namen und konnte es nicht leiden, wenn man ihn zu Mike abkürzte) zuckte mit den Schultern. »Ich kann einfach nicht anders.«

»Versuch es zumindest.« Ich biss in mein Sandwich und schaute ihn finster an, während ich kaute.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du absolut hinreißend bist?«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich aufdringlich bist?«

»Bisher war ich das noch nie.«

»Na super, dann kann ich mich ja glücklich schätzen, dass du heute damit angefangen hast.«

»Du bist wohl eine kleine Klugscheißerin.« Er lachte wieder. »Weiß dein Boss, dass du den Besuchern den Stinkefinger zeigst, während du vorgibst, ein Kunstwerk zu sein?«

»Du bist der Erste, bei dem ich das getan habe.«

»Ich fühle mich geehrt.«

»Du bist auch der Erste, der offensichtlich nur da war, um die Models anzuglotzen.«

»Das ist nicht wahr.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und stellte sich anscheinend auf eine lange, gemütliche Unterhaltung mit mir ein.

Ich musste ihn loswerden. Mein Herz schlug viel zu schnell, und in meinem Bauch flatterten Schmetterlinge. So sollte ich bei keinem anderen Mann als Gary reagieren. Doch bei dem Gedanken, Michael könnte gleich aufstehen und gehen, verspürte ich ein heftiges Gefühl der Enttäuschung. Der Schlagabtausch mit ihm machte mir Spaß, und er war … nun ja, seine Gegenwart erregte mich ein wenig.

Ach du meine Güte.

»Natürlich ist das wahr!« Ich lachte laut. »Du hast mich lüstern angestarrt.«

»Ich habe nur ein Model angesehen. Dich. Und nicht auf lüsterne Weise.«

»Dann bist du also ein Kunstliebhaber?«

»Nein, ich bin seit Kurzem Polizist und habe heute meinen freien Tag. Ich habe einem Freund versprochen, ihn hier nach seinem Catering-Job abzuholen. Als ich aus der Küche zu meinem Wagen gehen wollte, schaute ich mich noch einmal um. Und ja, ich gebe es zu, zuerst fiel mir ein schöner Körper ins Auge. Und dann habe ich dein Gesicht gesehen und konnte nicht mehr wegschauen.« Er zuckte mit den Schultern.

Vielleicht war es dumm von mir, aber ich bildete mir ein, dass er aufrichtig klang. Keine schmierige Anmache. Nur ehrlich. Er wirkte so, als hätte ich ihn ertappt, und ich fühlte mich ein wenig besser – meine Reaktion auf ihn war also doch nicht ganz falsch gewesen.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Redest du jetzt nicht mehr mit mir?«

Ich kniff die Augen zusammen. »Ich war dabei, eine Antwort zu formulieren.«

»Ach ja?«, erwiderte er grinsend. »Mach weiter damit – ich habe Zeit.«

»Mir bist du dabei ziemlich widerlich vorgekommen.«

Er neigte den Kopf zur Seite. »Aber man hat dich doch so angezogen, damit die Leute dich anstarren, oder etwa nicht?«

»Ja, wahrscheinlich schon«, antwortete ich naserümpfend. »Aber die anderen Besucher haben sich das nicht derart anmerken lassen.«

»Warum machst du das?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Galerie.

»Das ist nichts, wofür ich mich schämen müsste«, verteidigte ich mich.

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

»Na ja, bei dir klingt das nach Sex, obwohl es eigentlich um Kunst geht.«

Michael brach in Gelächter aus. Er sah gut aus, wenn er lachte. Und seine Stimme klang dabei tief und dröhnend, das konnte ich sogar zwischen meinen Beinen spüren.

Meine Güte.

»Du bist sehr sexy, und ich glaube, deshalb hat man dich auch für diesen Job engagiert.«

Ich errötete bei seinem Kompliment. »Wie auch immer. Ich bekomme gutes Geld dafür, und das brauche ich dringend; ich bin Kunststudentin.«

»Ich meinte das auch nicht wertend. Wenn du meine Freundin wärst, wäre ich allerdings nicht sehr glücklich darüber.«

Großartig, noch so ein Neandertaler wie Gary. Sie schienen hier praktisch auf den Bäumen zu wachsen. »Hör zu, du Macho, ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Ja, das habe ich schon bemerkt, als du mir den Stinkefinger gezeigt hast, Darling.«

Ich ignorierte das Prickeln, das sein Kosename in mir auslöste, und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Als Cop solltest du eigentlich wissen, dass Spanner verpönt sind, oder?«

Erneut lachte er. »Ich fasse es kaum, dass ich eine solche Unterhaltung mit dir führe. Und ja, das stimmt natürlich. Aber ich bin kein Perversling, das kannst du mir glauben.«

»Alles spricht dagegen.«

»Verdammt, wenn ich gewusst hätte, wie schlau du bist, hätte ich mich nicht zu dir gesetzt«, neckte er mich.

»Du kannst gerne abhauen«, erwiderte ich, doch in meinem Inneren dachte ich: Bitte tu es nicht.

»Der Stuhl ist ziemlich bequem, und ich finde deinen schlauen Mund sehr anziehend.« Seine dunklen Augen verschleierten sich, als er den Blick auf meine Lippen richtete.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ein unsichtbares Seil schien sich wie ein Lasso um uns beide zu legen und uns immer näher aufeinander zuzuziehen. Es fiel mir schwer, das zu begreifen. Ich verspürte überall ein Kribbeln, meine Haut fühlte sich heiß an, und mein ganzer Körper war sensibilisiert.

»Ich habe einen Freund«, platzte ich heraus.

Michael wirkte enttäuscht. »Ist es etwas Ernstes?«

»Wir sind noch nicht lange zusammen, aber es läuft gut«, sagte ich und hob die Schultern.

»Was heißt nicht lange?«

»Zwei Monate.«

Seine Lippen zuckten. »Das ist wirklich noch nicht lange.«

Vergeblich versuchte ich, ein Lächeln zu unterdrücken. »Du machst dich also an die Frau eines anderen heran?«

»Bisher habe ich das noch nie getan, doch du bist die Ausnahme von der Regel.«

»Ach ja?« Mein Herz schien zu zerspringen.

»Sag nicht, dass du das nicht auch spürst.«

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte langsam.

In seinen Augen flackerte Begierde auf.

Wow.

Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich das unbeschreibliche Bedürfnis loswerden, mich sofort auf ihn zu stürzen. Das war verrückt. »Ich würde meinen Partner nicht betrügen. Niemals.«

»Ich auch nicht«, erklärte er. »Bleib noch ein wenig hier sitzen.«

Ich fragte mich, ob das eine gute Idee war.

»Woran denkst du?«

»Ich hätte mich über deine Enttäuschung darüber, dass ich einen Freund habe, nicht so sehr freuen dürfen.«

»Weiß er, dass du hier arbeitest?«

»Nein, und das muss er auch nicht. Es ist nur ein Übergangsjob, der gut bezahlt ist und niemandem schadet.«

»Das sehe ich anders.«

»Wie meinst du das?«

»Deinem Freund schadet er. Würdest du diesen Job hier nicht machen, hätte ich dich nicht entdeckt und festgestellt, dass du die tollste Frau bist, die ich jemals gesehen habe. Und ich hätte mich nicht zu dir gesetzt. Und nun habe ich auch noch herausgefunden, dass du nicht nur wahnsinnig sexy bist, sondern auch klug und witzig – was mir allerdings schon klar war, als du mir den Stinkefinger gezeigt hast. Deshalb werde ich nicht weggehen, bevor wir unsere Telefonnummern ausgetauscht haben. Und ich bin mir sicher, dass du deine nicht ganz so ernste Beziehung für einen Moment vergessen und mich anrufen und mir eine Chance geben wirst, wenn du dich auch nur halb so sehr zu mir hingezogen fühlst wie ich mich zu dir. Und deshalb meine ich, dass der Job deinem Freund durchaus schadet.«

Verblüfft starrte ich ihn an. »Du bist ziemlich eingebildet.«

»Nein, aber zielstrebig.«

»Mein Freund ist gut im Bett.« Ich ärgerte mich über das plötzliche Gefühl, in zwei Teile zerrissen zu sein. »Das findet man nicht sehr oft.«

Michael grinste über meine unverblümte Bemerkung. »Darling, darüber weißt du sicher noch nicht sehr viel. Wie alt bist du? Anfang zwanzig?«

Ich nickte. »Zwanzig. Na und?«

»Vielleicht verwechselst du einigermaßen guten mit wirklich gutem Sex.« Er beugte sich so weit vor, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Ich hielt den Atem an, da ein würziger, geheimnisvoller Duft meine Sinne kitzelte. »Hätte ich das Glück, dich in meinem Bett zu haben, würde ich dir zu Empfindungen verhelfen, von denen du bisher noch nicht einmal etwas geahnt hast. Wenn du meine Freundin wärst, würdest du nicht mit anderen Männern flirten, denn dir wäre klar, dass dich niemand so zu würdigen weiß wie ich. Glaub mir, Darling, ich weiß die guten Dinge des Lebens zu schätzen, und ich bin überaus dankbar, wenn ich etwas Besonderes finde. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass ich in meinem Leben etwas so Außergewöhnliches entdecken würde, und das noch dazu in einer Kunstgalerie.«

Oh. Mein. Gott.

»Was machst du denn mit mir?«, fuhr ich ihn an und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, um etwas Abstand zu gewinnen. »Ich bin Irin und unter irischen Männern aufgewachsen, die sich sehr gut darauf verstehen, eine Frau mit ihrem Charme um den Finger zu wickeln. Doch du bist darin wirklich ein Meister. Und sag jetzt bloß nicht, dass du kein Ire bis. Ich bin mir da ganz sicher.«

»Ich bin tatsächlich Ire. Aber ich binde dir keinen Bären auf.«

Nervös schob ich meinen Stuhl vom Tisch zurück und griff nach meiner Handtasche. Ich mochte Gary. Alles lief gut. Sogar großartig. Und dieser Typ jagte mir Angst ein. Ich war zwar manchmal sehr impulsiv, allerdings würde ich mich niemals auf einen Mann stürzen, den ich nicht kannte, und mit ihm bis zur Besinnungslosigkeit vögeln. Bevor ich Gary kennengelernt hatte, war Sex für mich lediglich eine Antwort auf meine körperlichen Bedürfnisse gewesen. Und jedes Mal mit einer Enttäuschung einhergegangen.

Aber diese Anziehung, die ich bei Michael empfand, war etwas anderes. Natürlich spürte ich eine sexuelle Schwingung, allerdings auch noch etwas anderes. Irgendeine Verbindung, die ich nicht einordnen konnte. Und das löste Panik in mir aus!

»Ich muss jetzt gehen.«

»Bitte nicht.« Er stand auf und wirkte mit einem Mal unsicher, was so gar nicht zu ihm passte. Doch woher sollte ich das wissen? Schließlich kannten wir uns kaum. »Es tut mir leid, wenn ich zu forsch war. Ich habe noch nie …« Er zuckte die Achseln und sah plötzlich sehr jung aus.

Und ich erkannte, dass er tatsächlich viel jünger war, als ich zuerst geglaubt hatte. Schließlich hatte er gesagt, er sei gerade erst Polizist geworden. Wahrscheinlich war er so alt wie ich. Oder wie Gary, der zwei Jahre älter war.

»Bleib noch und unterhalte dich mit mir.« Er deutete auf den Tisch und schenkte mir ein beschwörendes Lächeln. »Und verrate mir deinen Namen.«

»Das kann ich nicht.« Ich brauchte Abstand von diesem Kerl; ich musste mich mit Gary treffen, um bestätigt zu bekommen, dass wir eine tolle Beziehung hatten.

Aber Michaels betrübte Miene zerriss mir das Herz.

»Ich bin am Mittwochabend wieder hier. Samstag auch. Wenn du es ernst meinst, komm wieder. Und dann sehen wir weiter.«

Er wirkte sichtlich erleichtert.

»Ich würde mich freuen.« Ich lächelte ihn an, und sein Blick fiel auf das Grübchen auf meiner linken Wange, das mir mein Dad vererbt hatte.

»Ach ja?«

»Ernst gemeint. Du hast mir gezeigt, was du empfindest, ohne es eigentlich wirklich zu sagen. Und es gefällt mir, dass du jetzt erleichtert bist. Also kommst du?«

»Darling, für dieses Lächeln mit dem bezaubernden Grübchen würde ich alles tun, außer jemanden für dich um die Ecke zu bringen. Oder vielleicht sogar das«, scherzte er.

Mein Lächeln wurde breiter, und seine Gesichtszüge wurden weicher. Meine Güte. »Dann treffen wir uns bald wieder.«

»Sag mir wenigstens, wie du heißt«, rief er mir nach, als ich mich zum Gehen wandte.

Ich drehte mich um und trat ein paar Schritte zurück. »Wie wäre es damit? Du kommst wieder, und dann verrate ich dir meinen Namen.«

»Sehr witzig.«

Ich streckte ihm noch einmal meinen Mittelfinger entgegen und lächelte ihn neckisch an. Sein Lachen verfolgte mich, und mir wurde beinahe ein wenig schwindlig vor Vorfreude – ein Gefühl, das eine Frau in festen Händen auf keinen Fall haben sollte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ally, während ich einem Gast sein Wechselgeld reichte.

Meine Schicht im Wilde’s Place hatte vor zwei Stunden begonnen, und ich kam recht gut an der Bar zurecht. Ich hatte bereits Erfahrung damit, also war das für mich nicht weiter schwierig. Hier waren die Gäste viel unkomplizierter und netter als die Besucher der College-Bar.

»Es läuft super!« Ich strahlte sie an.

»Kommt dein Freund bald?«

Der Gedanke an Gary verursachte mir ein leichtes Schuldgefühl. Genau genommen hatte ich mich mit einem anderen Typen verabredet. Es war mir nicht so vorgekommen, aber jetzt, mit ein wenig Abstand von Michael, begriff ich, wie mies ich mich verhalten hatte. Ich hatte mit einem anderen Mann geflirtet und ihn dazu aufgefordert, mich an meinem Arbeitsplatz wieder zu treffen. Aber ich konnte die Schmetterlinge im Bauch nicht vergessen, die ich bei diesem Fremden verspürt hatte – und die immer noch flatterten, wenn ich an ihn dachte. Bei Gary empfand ich das nicht, obwohl ich ihn wirklich mochte.

Doch war Michael es wert, meine Beziehung mit Gary aufs Spiel zu setzen? Vor meiner Schicht hatte mich mein Freund angerufen und mir erzählt, dass Sully am Samstagabend freihabe. Gary hatte vor, mit ihm im Wilde’s Place vorbeizuschauen, damit ich ihn kennenlernen konnte. Sully war Garys bester Freund, aber als Cop hatte er nicht viel Freizeit. Seit knapp zwei Jahren arbeitete er für das Boston Police Department, und erst jetzt hatte er einen regulären Dienstplan, der es ihm erlaubte, öfter seine Kumpels zu sehen.

Ich war ein wenig nervös bei dem Gedanken, ihn gleich kennenzulernen. Gary sprach ständig von ihm. Sie waren gemeinsam aufgewachsen – Gary hatte oft Mist gebaut, und Sully hatte ihm immer wieder aus der Patsche geholfen. Soweit ich das beurteilen konnte, war mein Freund in dieser Beziehung immer der Verantwortungslose gewesen. Bevor er mich getroffen hatte, war Gary nur an Gelegenheitssex interessiert gewesen und hatte Sully damit aufgezogen, sich immer nur mit einer Frau abzugeben. Sully hatte eigentlich Jura studieren wollen, aber das konnten sich seine Eltern nicht leisten, also machte er mit neunzehn die Aufnahmeprüfung und war dann Polizeianwärter, bis er sich mit einundzwanzig an der Polizeiakademie einschreiben konnte und schließlich Cop wurde wie sein Vater.

Gary hingegen war von einem Job zum nächsten gesprungen und unzählige Male gefeuert worden, bis sein Onkel ihn als Mechaniker eingestellt hatte. Seitdem war er beständiger, auch was mich als seine feste Freundin betraf.

Wenn Gary und sein Freund wüssten, was ich heute getan hatte, würden sie mich dafür hassen.

Aber ich habe doch gar nichts angestellt, sagte ich mir. Nicht wirklich.

»Hallo, Süße.«

Die vertraute Stimme meines Freundes riss mich aus meinen mit Schuldgefühlen beladenen Gedanken, während ich einem Gast ein Bier reichte. Gary lehnte sich über den Tresen und grinste mich an.

Ich erwiderte sein Lächeln, beugte mich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Einige der Männer an der Bar stießen ein scheinbar enttäuschtes Stöhnen aus, und Gary grinste mich noch einmal an, ehe er sich an die anderen wandte. »Ihr habt es gesehen, Leute, das ist meine Freundin, also Finger weg!«

Ich schüttelte den Kopf über diese Ansage. »Alles klar?«

»Das sollte ich dich fragen. Wie läuft es bei dir?«

»Gut.«

Er nickte und warf einen Blick über die Schulter. »Ich habe Sully mitgebracht. Damit du siehst, dass er kein imaginärer Freund ist.«

Ich lachte – ich hatte ihn damit geneckt, als ich wochenlang nach seiner Ankündigung diesen ominösen Sully immer noch nicht zu Gesicht gekriegt hatte. Als er nun an die Bar trat, blieb mir das Lachen im Hals stecken, bevor ich meinen Mund öffnen konnte.

Starr vor Schreck blieb ich stehen und schaute in die mir bekannten dunkelbraunen Augen.

Michael?

Ein Ausdruck der Überraschung huschte über sein Gesicht, aber er fasste sich schneller als ich. Er streckte mir die Hand entgegen. »Michael Sullivan«, sagte er betont. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Oh mein Gott.

Sullivan. Sully.

Unfassbar.

Schlimmer ging es kaum noch. Ich schluckte den Schock und meine Enttäuschung hinunter und nahm zögernd seine Hand. Bei der Berührung prickelte meine Haut, und seine Finger schienen sich reflexartig um meine zu legen. »Dahlia.« Ich hatte Mühe, die Worte hervorzubringen, und meine Stimme klang leise und unsicher. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Seit wann bist du so schüchtern?«, stieß Gary hervor.

Angestrengt lächelte ich. »Er ist dein bester Freund. Ich möchte einen guten Eindruck machen.«

Das stimmte. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, einen solchen Eindruck auf ihn machen zu wollen. »Er wird dich sicher mögen. Nicht wahr, Sully? Wie könnte es auch anders sein?«

Michael schenkte uns ein schwaches Lächeln. »Du hast mir so viel von ihr erzählt, dass ich sie bereits jetzt mag.«

Gary schlug ihm auf den Rücken und setzte sich auf einen Barhocker. Michael und ich tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus, bevor er neben seinem Freund Platz nahm.

Ich versuchte, mein innerliches Zittern so gut wie möglich zu verbergen. Ich hatte Angst, Michael würde Gary von unserem Flirt erzählen – und mich überfiel Panik bei dem Gedanken, dass Michael nicht mehr zu mir in die Galerie kommen würde. Natürlich würde er das nicht tun! Daran auch nur zu denken war verrückt! Wir konnten Gary nicht auf diese Weise verletzen. Das war unmöglich.

Verdammt, warum musste das so ablaufen? Warum war ich Michael nicht zuerst begegnet?

Und hätte ich das gewollt? Hätte ich diesen Mann, den ich kaum kannte, vorher treffen wollen? Ich wusste nur das über ihn, was Gary mir erzählt hatte (nur Gutes – mein Freund verehrte ihn wie einen Helden). Und das, was ich bei unserer ersten Begegnung an diesem Tag empfunden hatte.

Aber Gary war süß und gut im Bett. Und er behandelte mich anständig.

Oh verdammt.

Wenn ich gerade keinen Kunden bedienen musste, unterhielt ich mich mit meinem Freund und dessen bestem Kumpel und versuchte, dabei so witzig, fröhlich und frech zu sein wie immer. Der schreckliche Teil des Abends fing an, als Gary zur Toilette ging und Michael mich zu sich rief.

Aus seinen dunklen Augen waren Lachen und Begierde verschwunden. Sie wirkten immer noch warm, doch ich entdeckte eine höfliche Distanz darin und vermisste den Ausdruck, mit dem er mich am Nachmittag angeschaut hatte.

»Ich werde Gary nichts von heute erzählen.«

Ich nickte. »Ich flirte normalerweise nicht mit anderen Männern.«

Er beugte sich über die Theke und senkte die Stimme. »Das weiß ich. Mir ist klar, dass wir beide nicht mit so etwas gerechnet haben.«

Mir fiel ein, dass Gary mir gesagt hatte, Michael sei dreiundzwanzig. Er war also nur drei Jahre älter als ich, allerdings wirkte er viel reifer als alle meine Freunde. Gary eingeschlossen. Und das fand ich sehr anziehend.

Verdammt.

»Ich dürfte dir das eigentlich nicht verraten, aber ich weiß, Gary mag dich sehr. Ich habe noch nie gesehen, dass er sich einer Frau gegenüber so verhalten hat.« Er lächelte mich traurig an. »Und jetzt begreife ich auch, warum das so ist. Aber er hatte kein leichtes Leben, und ich werde … nun ja, ich werde ihm das nicht verderben.«

Ich konnte ihm nicht in die Augen schauen, da mich eine Welle der Enttäuschung überrollte, die ich mir nicht erklären konnte.

»Ich werde nicht mehr in die Galerie kommen, Dahlia.«

Ich nickte und versuchte, den Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken. »Das verstehe ich.«

»Er macht sich wirklich viel aus dir. Sei gut zu ihm.«

Ich lächelte schwach. »Ich werde ihm nicht wehtun.«

Als ich mich von Michael entfernte und die Theke entlangging, dachte ich bei mir, dass ich Gary tatsächlich auf keinen Fall verletzen wollte, denn wenn sich das so anfühlte wie das, was ich soeben empfand, wünschte ich das keinem anderen Menschen.

Kapitel eins

DAHLIA

Hartwell, Delaware

Zwei Monate zuvor

Vor einigen Jahren, während einer kurzen Phase in meinem Leben, brauchte ich Alkohol, um meine Gefühle zu betäuben. Gin durchtränkte diesen riesigen, quälenden Kloß des Kummers in meiner Brust und lockerte den Klammergriff um meine Seele. Er brachte mich leichter durch den nächsten und den übernächsten Tag. Aber er dämpfte nicht nur meinen Kummer, sondern tötete auch alle anderen Gefühle ab. Und hätte mich beinahe umgebracht.

Nachdem ich aufgehört hatte zu trinken und wieder etwas empfinden konnte, musste ich mich in Geduld üben und auf die Zeit vertrauen. Und glücklicherweise erledigten die Zeit, der Abstand (und eine Therapie) das, was der Alkohol versucht hatte. Die Zeit linderte den Schmerz. Es gab Momente, in denen selbst das nicht klappte, aber meistens war ich relativ zufrieden.

Also habe ich es wahrscheinlich vergessen.

Ich erinnerte mich nicht mehr daran, dass einem das Leben keine Zeit gibt und keinen Abstand gönnt. Man kann sich nicht durchs Hier und Jetzt treiben lassen und davon ausgehen, dass man nicht doch irgendwann von vergangenen Ereignissen eingeholt wird.

So läuft es im Leben einfach nicht.

Und dann kam der Tag, an dem ich an diese Tatsache erinnert werden sollte.

Der Sommer neigte sich allmählich dem Ende zu. Ich sperrte meinen Andenkenladen mit angeschlossener Werkstatt zu. Er lag an der Uferpromenade in der Küstenstadt Hartwell in Delaware. Hartwell war zwar eine Stadt, doch eine sehr kleine und von einer entsprechenden Mentalität geprägt. Die Promenade war etwa eineinhalb Kilometer lang, und am nördlichen Ende lagen viele Geschäfte, darunter auch mein Shop, in dem ich Unikate verkaufte – nicht nur solche, die ich eingekauft hatte, sondern auch Schmuckstücke, die ich selbst entwarf und in meinem Atelier herstellte.

Wir Geschäftsinhaber an der Uferpromenade waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Meine beste Freundin war Bailey Hartwell. Ihr gehörte das Hart’s Inn, das sich direkt neben meinem Geschäft befand.

Ich schloss den Laden für eine Stunde, und Bailey hatte ihrem Geschäftsführer Aydan ihre Pension überlassen, also konnten wir mit unserer Freundin Emery Sanders, der Inhaberin von Emery’s Buchladen und Café, einen Kaffee trinken.

Normalerweise waren unsere Kaffeepausen ein Vorwand, um über alles und jeden zu reden, an diesem Tag allerdings ging es nur um Bailey. Ihre kleine Schwester hatte Probleme in der Stadt, und nun hatte Bailey auch noch begonnen, sich mit Vaughn Tremaine zu treffen. Das sorgte in unserem Ort für einigen Gesprächsstoff. Warum? Nun, hauptsächlich, weil alles, was Bailey anbelangte, von großem Interesse war. Als Nachfahrin der Gründerfamilie war sie hier ziemlich bekannt. Aber nicht nur das – sie wurde auch gemocht und respektiert. Als Vaughn Tremaine das alte Hart’s Boardwalk Hotel gekauft hatte und abreißen ließ, um dort das moderne Fünf-Sterne-Hotel Paradise Sands zu errichten, war Bailey darüber nicht glücklich gewesen. Sie hatte dafür gesorgt, dass der komplette Ort und Tremaine erfuhren, wie sehr sie das verurteilte, und daraus war ein Kleinkrieg zwischen ihr und dem Hotelier aus Manhattan mit dem unglaublichen Sex-Appeal entstanden.

Das allein sorgte schon für Gerede, doch richtig schockiert waren dann alle, als sie hörten, dass Bailey von ihrem Freund Tom, mit dem sie seit zehn Jahren eine Beziehung hatte, betrogen worden war. Nach der Trennung explodierte die Spannung, die schon lange zwischen Bailey und Tremaine gebrodelt hatte. Endlich gestanden sie sich ein, was ich schon immer vermutet hatte: Sie fühlten sich zueinander hingezogen.

Nachdem sie monatelang umeinander herumgeschlichen waren, waren sie nun schließlich ein Paar geworden.

Ich freute mich sehr für meine beste Freundin. Niemand hatte eine glückliche Beziehung mehr verdient als Bailey Hartwell.

»Bei Tom habe ich nie so empfunden«, erklärte Bailey, während wir unseren Kaffee schlürften. Wir saßen in dem erhöhten Bereich des Buchladens vor dem offenen Kamin, und das Licht, das durch die tiefen, flachen Fenster hinter uns hereinfiel, zeichnete einen kupferfarbenen Ring um ihr rotbraunes Haar. »Selbst am Anfang unserer Beziehung war ich eigentlich froh, dass wir immer einen gewissen Abstand gehalten haben. Mit Vaughn hingegen möchte ich jede Minute verbringen, denn in jedem Moment, in dem wir zusammen sind, entdecke ich etwas Neues an ihm – seine Marotten, seinen Sinn für Humor, seinen Übermut, seine Fehler. Und wisst ihr was? Ich mag alles an ihm – selbst seine Schwächen! Was ist los mit mir?«

»Du bist verliebt«, sagte Emery strahlend.

Ich grinste bei Emerys verträumtem Lächeln. In den neun Jahren, die ich nun in Hartwell lebte, war ich, offen gestanden, meist für mich geblieben. Emery war ein Jahr nach mir hierhergezogen, aber sie war so schüchtern und zurückhaltend, dass sie eigentlich niemand wirklich kannte. Doch dann kam im letzten Jahr Jessica Huntington nach Hartwell und freundete sich zuerst mit Bailey und dann mit Emery an. Sie hieß nun Jessica Lawson – sie hatte unseren Freund Cooper geheiratet, dem die Bar neben Emerys Buchladen gehörte. Jessica war eine der Ärztinnen in unserer kleinen Stadt, und wenn sie zwischen ihren Terminen Zeit fand, gesellte sie sich zum Kaffee zu uns. Im Augenblick verbrachten sie und Cooper jedoch ihre Flitterwochen in Kanada.

Mittlerweile waren wir alle vier beste Freundinnen. Emery kam nach und nach aus ihrem Schneckenhaus heraus, blieb aber trotzdem irgendwie noch ein Rätsel.

Ich wusste nur, dass sie von ihrer Großmutter eine Menge Geld und Immobilien, darunter auch den Buchladen, geerbt hatte. Sie war befangen, vor allem in Anwesenheit von Männern, was keinen Sinn ergab, denn sie war eine der schönsten Frauen, der ich je begegnet war. Das meine ich ganz ernst. Sie war groß und schlank mit Kurven an den richtigen Stellen, langem weißblonden Haar, das nur bei wenigen anderen Frauen echt war, und den feinen Gesichtszügen einer Disney-Figur. Coopers Schwester Cat sagte oft scherzhaft, Emery sehe aus wie Elsa aus Die Eiskönigin.

Emery glich nicht nur einer Disney-Figur, sondern war auch eine absolute Romantikerin. Immer wenn Bailey über Vaughn sprach oder Jess etwas von Cooper erzählte, erschien auf Emerys Gesicht ein schwärmerischer, sehnsüchtiger Ausdruck.

»Sollte er nicht eigentlich seine gesamte Zeit mit mir verbringen wollen?« Bailey riss mich aus meinen Gedanken über Emery.

»Sprich mit ihm darüber. Jetzt. Bevor es noch schlimmer wird«, riet ich ihr. Zwischen Bailey und Vaughn hatte es bereits viel zu viele Missverständnisse gegeben. »Jess würde dasselbe sagen, wenn sie hier wäre.«

Bailey kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht …«

Nun, ich war mir sicher, und ich hatte kein Problem damit, ihr unverblümt zu erklären, wie ich darüber dachte. Glücklicherweise akzeptierte Bailey diesen Teil meiner Persönlichkeit. »Willst du wirklich einen Ehemann und Vater für deine Kinder, der nie zu Hause ist?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und straffte entschlossen die Schultern. »Gut. Ich werde mit ihm reden. Wahrscheinlich schreckt ihn das ab, doch ich werde es tun.«

»Nach all dem, was er dir gesagt hat, wirst du ihn damit sicher nicht vergraulen«, meinte Emery und nahm mir die Worte aus dem Mund. An Jess’ Hochzeitstag hatte Vaughn sich mit einer alten Flamme von Bailey geprügelt. Wie sich herausstellte, handelte es sich um seinen alten Freund aus der Highschool. Er beleidigte Bailey, und Vaughn verpasste ihm einen Faustschlag (man kann sich das kaum vorstellen!), und danach zählte Vaughn ihr auf eine unglaublich tolle Weise die Gründe auf, warum er sie liebte. Als sie uns berichtete, was er alles gemeint hatte, verliebte ich mich selbst ein bisschen in ihn.

»Deine unerträgliche Offenheit scheint ihn anzumachen«, neckte ich sie.

»Meine unerträgliche Offenheit?« Bailey deutete zuerst auf sich und dann auf mich. »Das sagt genau die Richtige!«

Ich lachte. »Wie auch immer. Rede mit ihm darüber.«

Ein Glöckchen klingelte, und Emery stand auf, um nachzusehen, ob sie sich im Laden um einen Kunden kümmern musste. Ich erläuterte Bailey noch einmal, wie wichtig ich ein solches Gespräch zwischen ihr und Vaughn fand. Schließlich musste meine Freundin doch wissen, dass sie Vaughn Tremaine damit auf keinen Fall vergraulen würde. Er schaute sie stets an, als sei sie der einzige Grund für seine Existenz.

»Sie möchten nur ein wenig stöbern, also bat ich sie, mich zu rufen, falls sie mich brauchen.« Emery gesellte sich wieder zu uns. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Wir haben über ein Gespräch mit Vaughn gesprochen, das möglicherweise meine Beziehung mit ihm beenden könnte. Oh, und darüber, dass meine Schwester anscheinend wie vom Erdboden verschluckt ist. Wenn ich sie nicht bald finde, werden meine Eltern sich in den nächsten Flieger setzen und hier auftauchen, um sich auf die Suche nach ihr zu machen, das schwöre ich euch.«

»Und wäre das so schlimm?« Für mich nicht. Es stand mir nicht zu, meine Meinung dazu zu äußern, aber Vanessa war eine geborene Unruhestifterin, und es gefiel mir nicht, dass sie Bailey möglicherweise Probleme bereitete, jetzt, wo meine Freundin gerade ihr Leben in den Griff bekam. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Stacey und Aron Hartwell hierherkämen und Bailey die Suche nach Vanessa und damit die Verantwortung für sie abnähmen.

»Jetzt?«, fragte Bailey. »Ja. Ich möchte Vaughn näher kennenlernen, ohne dass mein Vater mir im Nacken sitzt. Ich liebe ihn, aber er ist der Einzige aus der Familie, der über Oliver Spence Bescheid weiß.«

Oliver Spence war ihr Exfreund, dem Vaughn eine verpasst hatte. Seine reiche Familie hatte während seiner Jugend jahrelang Urlaub in Hartwell gemacht, und als Bailey neunzehn war, hatte er ihr seine Gefühle gestanden. Und sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Doch am Ende des Sommers hatte er ihr das Herz gebrochen, indem er ihr verkündet hatte, sie sei nicht gut genug für seine Familie. Mistkerl. Wenn ich damals schon mit Bailey befreundet gewesen wäre, hätte ich mir eine süße Rache für diesen hochnäsigen Arsch einfallen lassen. Wie zum Beispiel seinen Luxus-Sportwagen mit haufenweise Käse zu beladen – so viel Käse, dass er Tage dafür gebraucht hätte, ihn aus seinem Auto zu schaufeln. Und der Geruch wäre für immer an den Ledersitzen haften geblieben.

Leider war ich damals noch nicht in Hartwell, um einen so ausgeklügelten Racheplan für meine Freundin zu schmieden.

»Vielleicht hat er deshalb Vorurteile, und ich muss mir erst über meine Gefühle für Vaughn im Klaren sein, bevor ich mich damit beschäftigen kann, wie andere über ihn denken.«

Das hielt ich für Schwachsinn. »Oh, bitte, du weißt doch genau, was du für Vaughn empfindest.«

»Ich hau dich gleich.«

Ich grinste, streckte ihr die linke Wange hin und tippte mit dem Zeigefinger auf das Grübchen dort. »Nur zu! Das wäre die Krönung meines Tages!«

Baileys grüne Augen funkelten belustigt. »Ach, du bist einfach zu nett für diese Welt.«

Ich tat so, als sei ich stolz darauf. »Das ist mir bekannt.« Alle lachten.

»Miss.« Eine männliche Stimme übertönte unser Gelächter. Wir drehten uns alle um, als ein Mann die Treppe herauflief, gefolgt von einer hübschen kleinen Blondine. Irgendetwas an der Art, wie er sich bewegte, kam mir bekannt vor. Er richtete den Blick auf Emery. »Wir würden gerne ein paar Bücher kaufen, wenn’s recht ist«, sagte er mit einem starken Bostoner Akzent.

Nun wusste ich, woher er mir bekannt vorkam.

Der Schock, der mich traf, war so heftig, als hätte ich soeben eine Straße überqueren wollen, ein Auto übersehen und würde nun nach dem Aufprall plötzlich durch die Luft fliegen.

Nein.

Um Himmels willen, nein.

Was machte er hier?

Mein Herz klopfte so heftig, dass mir davon beinahe übel wurde. Eine Hitzewallung überrollte mich derartig schnell, dass mir sofort der Schweiß unter den Armen ausbrach. Ich war so fassungslos, dass ich mich nicht mehr rühren konnte und ihn nur stumm anstarrte.

Michael Sullivan.

Er war hier.

In Hartwell.

In Emerys Buchladen.

Er trug einen kurzen, stoppeligen Bart, und um seine Augen hatten sich Fältchen eingegraben, die früher nicht dort gewesen waren, doch er war es. Ich hätte ihn überall sofort erkannt.

In meiner Kehle stiegen Tränen auf, und mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder durchatmen zu können, allerdings dauerte diese Erleichterung nur einen Moment an und verflog. Und der Schmerz blieb.

Er lächelte zuerst Bailey und dann mich an.

Als sich unsere Blicke trafen, verschwand das Grinsen, und ich hatte das Gefühl, als würde sich ein schweres Gewicht auf meine Brust senken. »Dahlia?«

Wie kam er hierher?

Warum war er hier?

Geh weg, geh weg, geh weg!

»Michael«, stieß ich hervor.

Michael. Ich liebte diesen Namen. Ich liebte … Ich liebte … Ich …

Ich würde gleich durchdrehen.

Direkt vor ihm und der Blondine an seiner Hand.

Das wollte ich nicht.

Ich wollte das alles nicht.

Aber wir konnten nicht aufhören, uns anzustarren und uns mit Blicken zu verschlingen. Michaels Augen waren immer noch von einem wunderschönen dunklen Braun. Augen, in denen eine Frau versinken konnte. Sein blondes Haar war kürzer geschnitten als früher und wirkte dunkler, und seine kräftigen Schultern schienen noch breiter zu sein. Das enge T-Shirt, das er trug, ließ darauf schließen, dass er jetzt mehr Sport trieb. Er war auch damals schon durchtrainiert gewesen, doch nun war er noch muskulöser. Und das ließ ihn größer erscheinen. Michael war eins achtzig, kleiner als die Männer in meiner Familie, aber er hatte immer sehr maskulin und eindrucksvoll gewirkt.

Und daran hatte sich nichts geändert.

Michael, was tust du hier? Bitte geh weg.

Die Blondine (ich weigerte mich, sie direkt anzuschauen), zog an seiner Hand, und er unterbrach unseren Blickkontakt. Ich ließ die Schultern sinken und atmete tief durch. Aber schon richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Was machst du hier?«, wollte er wissen.

Was ich hier machte?

Im Ernst?

Ich bebte am ganzen Körper und schob rasch die Hände unter den Tisch, damit er das Zittern nicht sehen konnte. »Was machst du hier?«, entgegnete ich.

Was tust du hier? Verschwinde, Michael! Sofort!

Ich hoffte, dass er sich in den letzten neun Jahren telepathische Fähigkeiten angeeignet hatte.

»Wir sind im Urlaub«, erklärte die Blondine und schmiegte sich besitzergreifend an ihn. »Mike, wer ist das?«

Mike? Meine Familie nannte ihn auch so, doch mir gefiel es ganz und gar nicht, wenn man seinen so schönen Namen zu einem gewöhnlichen Mike abkürzte.

»Ähm, Kiersten, das ist Dahlia. Sie ist Dermots kleine Schwester.«

Dermots kleine Schwester? Ach ja? Wie witzig.

»Ich habe gedacht, sie sei tot«, erwiderte der Blondschopf.

Durch meine Brust schoss ein Schmerz, und Bailey drückte unter dem Tisch meine Hand. Diese Worte brachten mich dazu, die Blondine endlich anzuschauen. Sie war klein und schlank. Zierlich. Und sie wäre hübsch gewesen, hätte sie keine so verkniffene Miene aufgesetzt. Ich richtete den Blick wieder auf Michael. Er hatte dieser Person von Dillon erzählt. War sie wichtig genug, etwas über Dillon zu wissen, doch nichts über mich? Oder war ich einfach nicht mehr wichtig genug?

Angesichts seines düsteren Gesichtsausdrucks schnürte sich mir die Kehle zusammen. »Das war Dillon.«

Der Name schallte durch den Raum wie ein Pistolenschuss, und ich spürte Panik in mir aufsteigen. Vor meinen Augen tanzten kleine schwarze Punkte, und ich wusste, ich würde gleich vor ihm zusammenbrechen.

Auf keinen Fall.

Das durfte nicht passieren.

Ich hätte ebenso gut meine Brust aufschneiden und alle bitten können, nach den kleinen verschwundenen Stücken meines Herzens zu suchen.

»Ich muss gehen.« Ich stand auf und riss mich von Bailey los. Den Blick gesenkt, um ihm nicht in die Augen schauen zu müssen, rannte ich so schnell ich konnte an Michael Sullivan und seiner blonden Freundin vorbei.

»Dahlia!«, rief er mir nach, als ich die Treppe hinunterlief. Der Ausgang schien noch so weit weg zu sein.

Ich hörte Bailey etwas sagen und dann Michaels tiefe Stimme, aber ich riss die Tür auf, ohne ihnen Beachtung zu schenken.

Ich war draußen.

Die salzige Meeresluft füllte meine Lungen, während ich die Promenade entlangstürmte. Ich hatte Angst, er würde mir folgen, und mein Herz raste. Ich rannte los, vorbei an den Sommertouristen, und an meinen Sportschuhen blieben Körnchen des widerspenstigen Sands kleben, der ständig vom Strand auf die Uferpromenade geweht wurde.

Eine leichte warme Brise fuhr durch mein langes Haar, und ich lief bis zu meinem Laden, als wäre der Teufel hinter mir her.

Die Panik und die Angst ließen erst nach, nachdem ich die Tür hinter mir abgesperrt hatte. Ich drehte das Schild nicht von »Mittags geschlossen« zu »Geöffnet« um und schaltete auch das Licht nicht an. Stattdessen hastete ich in den hinteren Bereich meines Shops in meine Werkstatt, wo mich die Dämonen der Vergangenheit zum ersten Mal seit vielen Jahren zu überwältigen drohten.

In Wahrheit hatten sie mich nie verlassen.

Michaels plötzliches Auftauchen hatte sie lediglich wieder aufgeweckt.

Meine Hände zitterten, und ich schluchzte ohne Tränen. Ich sah mich in meiner Werkstatt um und suchte nach etwas, was mich trösten und meinen Schmerz lindern könnte. Mit bebenden Fingern band ich mir meine Schürze um. Dann stöpselte ich mein Handy an den Lautsprecher an und machte Spotify auf, sodass ein Song von The Vaccines in voller Lautstärke ertönte.

Ich setzte mich an meine Werkbank und starrte auf die Silberohrringe mit Amethysten, an denen ich momentan arbeitete. Lang gestreckte Katzen mit Amethysten als Augen. Ich beugte mich darüber und versuchte, bei meiner Arbeit meine Gedanken zu verdrängen.

Ich konnte mich vor Michael verstecken, bis er Hartwell wieder verließ. Ganz einfach.

Es war ein Schock gewesen, ihn wiederzusehen.

Das Leben hatte mir einen Schlag in die Magengrube verpasst, aber ich wusste, dass es mir wieder gut gehen würde, sobald er weg war. Zeit und Abstand hatten mir bisher schließlich immer geholfen. Das würde auch dieses Mal wieder klappen.

Kapitel zwei

DAHLIA

Hartwell, Delaware

Gegenwart

Im Kamin in Emerys Buchladen knisterte ein Feuer, eine Wohltat an diesem kalten Oktobertag. An der Uferpromenade war es jetzt, Mitte Oktober, meist bewölkt und bereits sehr kühl, und obwohl wir alle unsere Läden das ganze Jahr über geöffnet hatten, begann nun für uns die ruhige Saison.

Glücklicherweise warf mein Laden (wie auch all die anderen Geschäfte hier) im Frühling und Sommer genügend ab, um mich durch die stille Jahreszeit zu bringen. Außerdem verkaufte ich meine selbst hergestellten Schmuckstücke an Boutiquen im ganzen Land und konnte damit mein Einkommen aufbessern. Diese ruhige Zeit brachte auch Vorteile mit sich: Ich hatte mehr Zeit für meine Freundinnen, konnte öfter bei Emery einen Kaffee trinken und mich auf den neuesten Stand der Dinge bringen lassen. Emerys Buchladen mit angeschlossenem Café war leer, bis auf mich, Emery, Bailey und Jessica.

Jess warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.

Emery stellte einen Teller mit Keksen auf den Tisch, wobei die vielen Silberarmbänder an ihrem Handgelenk klirrten, und ließ sich dann in dem Sessel nieder, der direkt neben dem Kamin stand.

»Hast du noch etwas vor?«, fragte ich Jess.

»Ach, das ist reine Gewohnheit.« Sie seufzte. »Unter der Woche schaue ich ständig auf die Uhr, und sonntags vergesse ich dann manchmal, dass ich nicht in die Praxis muss.«

»Ich freue mich, dass du hier bist«, sagte ich. »Ich brauche Unterstützung. Ich bin gerade dabei, Bailey ein bisschen zu verspotten, weil sie jetzt mit einem Mann verlobt ist, den sie früher einmal als den ›leibhaftigen Teufel‹ bezeichnet hat. Und Emery ist dafür viel zu nett.«

Emery schaute über den Rand ihrer Teetasse und riss die wunderschönen blauen Augen weit auf. »Das stimmt nicht«, sagte sie leise. »Ich kann mich über alles lustig machen. Nur darüber nicht.« Sie schenkte Bailey ein Lächeln. »Ich finde das großartig.«

»Ja, und schockierend«, fügte ich hinzu. »Beinahe so, als würde sich Buffy mit Spike einlassen. Unerwartet, aber auch sehr spannend.«

Bailey zog eine Augenbraue hoch. »Wahnsinnig komisch.«

Jess und ich tauschten ein Grinsen aus. »Finde ich auch.«

»Damit verrätst du nur, wie alt du bist.«

»Immerhin bin ich jünger als du.«

Bailey unterdrückte ein Lächeln. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mir deine frechen Bemerkungen so oft gefallen lasse.«

»Hey, Vaughn ist sicher ein sehr heißer Typ, aber wir wissen beide, dass ich deine Seelenverwandte bin, Hartwell.«

»Ja, das ergibt alles Sinn.« Jess grinste. »Dahlia befürchtet, dass Vaughn ihr ihre beste Freundin wegnehmen könnte.«

»Das ist ganz unmöglich.« Ich stieß betont gleichgültig die Luft aus. »Ich bin hübscher und witziger als Vaughn Tremaine. Was ich Bailey gebe, kann niemand nachmachen oder überbieten.«

»Er verschafft ihr multiple Orgasmen.« Emery grinste. »Damit ist er wohl der Sieger.«

Ihre Bemerkung machte uns einen Moment lang sprachlos, doch dann brachen wir in Gelächter aus. Es war eigentlich nicht so komisch, aber aus Emerys Mund war es zum Schreien. »Oh Mann, Jess, du hättest Bailey nicht mit Emery bekannt machen sollen – sie verdirbt sie.«

»Auf eine gute Art und Weise«, verteidigte sich Bailey.

»Ich habe nur gesagt, was mir soeben durch den Kopf gegangen ist. Und ich fand es vollkommen in Ordnung, es vor euch laut auszusprechen.« Emery zuckte mit den Schultern.

Meine Neugierde war bereits geweckt worden, als Emery vor sieben Jahren hier aufgetaucht war und aus dem Burgerladen eine Buchhandlung gemacht hatte. Sie war jedoch so zurückhaltend und schüchtern gewesen, dass wir den Versuch, uns mit ihr zu befreunden, aufgegeben hatten. Doch dann hatte Jess den Weg geebnet, und nun waren wir alle gute Freundinnen. Bailey und ich hatten oft über unsere wachsende Neugierde gesprochen. Wir wussten nichts über Emery, und wir befürchteten, sie würde sich sofort wieder in ihr Schneckenhaus zurückziehen, wenn wir sie zu sehr bedrängten.

Doch ich hatte die intelligente Besitzerin des Buchladens mit der sanften Stimme lieb gewonnen. In ihren Augen lag eine Traurigkeit, die mich an meine eigene Melancholie erinnerte. Diese Frau hatte eine Geschichte zu erzählen, und vielleicht hatte sie auf Menschen gewartet, denen sie ausreichend vertraute, um sie ihnen mitzuteilen. Ich würde gerne zu diesen Menschen gehören.

»Also, Emery.« Ich versuchte, ganz beiläufig zu klingen. »Hast du das schon einmal erlebt? Jemanden wie Vaughn in deinem Leben gehabt?«

Ihre Wangen färbten sich rosa. »Ähm … nein.«

»Wer hat das schon?«, schnaubte Bailey. »Dieser Mann ist einzigartig!«

»Angeberin«, neckte ich sie.

»Nein?«, fragte Jess nach und ignorierte uns.

Emery schüttelte heftig den Kopf. »Nein.«

Das war alles?

Bailey zog die Nase kraus. »Es gab keinen Jungen, den du mochtest? Vielleicht einen Schwarm aus der Kindheit?«

»Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen, und sie hat es mir nicht erlaubt, mich mit Jungs zu treffen.«

Jess, Bailey und ich tauschten einen Blick aus. Das erklärte alles. Na ja, zumindest einiges. »In Ordnung.« Ich stellte meine Kaffeetasse ab und wandte mich Emery zu, als mich meine Neugierde übermannte. »Du musst uns etwas über deine Großmutter erzählen und darüber, warum eine kluge, hübsche junge Frau …«

»Achtundzwanzig«, warf sie ein.

»Warum also eine Achtundzwanzigjährige so schüchtern ist, dass sie in einer Kleinstadt, in der jeder jeden kennt, sieben Jahre lang braucht, um Freundschaften zu schließen.«

Emery zog die Augenbrauen nach oben. »Das stimmt nicht. Seit ich hier wohne, bin ich mit Iris befreundet.«

»Was?«, rief Bailey. »Das hat sie mir nicht erzählt!«

»Wahrscheinlich, weil sie weiß, wie neugierig du bist.« Emery zuckte zusammen. »Das habe ich jetzt nicht so böse gemeint, wie es sich angehört hat.«

Ich lachte. »Ich glaube, du hast es schon so gemeint, wie du es gesagt hast.«

Bailey streckte mir die Zunge heraus.

»Kinder!« Jess verdrehte die Augen. »Zurück zu Emery und ihrer Großmutter.«

»Ähm … Da gibt es nicht viel zu erzählen.« Emery kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe und stellte ihre Teetasse ab. Sie senkte die Lider mit den langen Wimpern und blickte auf den Couchtisch vor uns. »Meine Eltern und mein Großvater sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Sie sind mit dem Privatjet meines Großvaters verunglückt. Ich war damals in einem Sommercamp für Musikschüler in New York – ich spielte Cello. Ich war zwölf Jahre alt. Und dann … waren plötzlich nur noch ich und meine Großmutter da.« Sie sah uns direkt an. »Das bleibt aber bitte unter uns.«

Wir nickten alle, lehnten uns auf unseren Stühlen nach vorne und lauschten gespannt. Es überraschte mich nicht, dass Emery so früh ihre Eltern verloren hatte. Sie hatte, trotz ihres erstaunlich frechen Mundwerks, etwas Weltfremdes und eine gewisse Herzensreinheit an sich. Ich war mir sicher, Emery würde niemals jemanden verletzen, sondern im Gegenteil alles dafür tun, um zu helfen, wenn es nötig war. Eine solche Empathie sah man oft bei Menschen, die mit schlimmen Ereignissen und Kummer zurechtkommen mussten.

»Mein Großvater war Peter Paxton, der Gründer der Paxton Group.«

Wer?

Als sie unsere verständnislosen Blicke sah, fügte sie hinzu: »Zur Paxton Group gehören American AirTravel und Invictus Airlines. Die Invictus Vacation Group. Und Invictus Aeronautical.«

Meine Güte.

Das waren einige der größten Firmen in den Vereinigten Staaten. Die Paxton Group war offensichtlich ein Konzern, der Milliarden umsetzte. Dann waren wohl Paxton und damit auch Emerys Dad milliardenschwer gewesen.

Bedeutete das, dass …

Ich starrte Emery an.

Sie sah nicht aus wie eine Milliardärin.

Sie verhielt sich auch nicht so.

Allerdings hatte ich auch keine Ahnung davon, wie sich Milliardäre benahmen, denn ich hatte noch nie einen kennengelernt!

Als ihr klar wurde, dass wir sie verstanden hatten, errötete sie. »Ich war sehr privilegiert und bis zu diesem Zeitpunkt kein sehr nettes Mädchen. Ich habe es nicht anders gekannt. Wir haben auf einem Anwesen in der Nähe von New York gewohnt und hatten eine Menge Bedienstete, die alles für uns erledigten. Ich war ziemlich verwöhnt. Als meine Eltern starben, übernahm meine Großmutter ihre Anteile an dem Unternehmen. Es wird von einem Vorstandsvorsitzenden und einem Geschäftsführer geleitet, also kümmerte sich meine Großmutter um ihre eigenen Geschäfte im Immobilienbereich. Sie war …« Emery hielt inne und starrte auf den Boden. Ich beobachtete, wie sie ihre Hände knetete. »Sie war sehr streng. Ja, wirklich sehr streng.«

»Was ist passiert?«, fragte Bailey leise und gespannt. »Mit deiner Großmutter.«

Aus meiner Handtasche dröhnte plötzlich Whole Lotta Love von Led Zeppelin, und wir zuckten alle zusammen.

Jess warf mir einen missbilligenden Blick zu, und ich unterdrückte ein nervöses Lachen. »Tut mir leid.« Ich wandte mich zu Emery um und sah sie ernst an. »Ganz ehrlich.« Ich kramte in meiner Handtasche, um mein Handy abzuschalten, doch dann sah ich, dass der Anruf von meinem Dad kam.

Als Michael Sullivan vor zwei Monaten in Emerys Laden aufgetaucht war, war mir bereits der Verdacht gekommen, dass das kein Zufall gewesen war.

Der einzige Mensch in meiner Familie, der wusste, dass ich in Hartwell lebte, war mein Dad.

Ich rief ihn an und fragte ihn nach Michael, und er erzählte mir, dass Michael sich gerade von seiner Frau trennte. Er hatte ihm empfohlen, in Hartwell Urlaub zu machen – ohne Michael zu verraten, dass ich dort wohnte. Und mir hatte er verschwiegen, dass Michael auf dem Weg hierher war und mir die ganze Woche verderben würde. Mir war klar, was mein Dad sich von Michaels Urlaub erhofft hatte.

Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass Michael seiner Ehe noch eine Chance geben und gemeinsam mit seiner Frau hier einen romantischen Urlaub verbringen wollte. Für mich war es kein Schock, dass er verheiratet war. Schließlich war er ein guter Fang. Aber es bereitete mir quälende Schmerzen.

Es ist wohl verständlich, dass ich ziemlich sauer auf meinen Dad war.

Und ich liebte meinen Dad.

Ich betete meinen Vater an.

Er war der Einzige in der Familie, der mich wirklich verstand, und ich telefonierte alle zwei Tage mit ihm. Doch seit Michaels Erscheinen in Hartwell war die Stimmung zwischen uns irgendwie ungut. So unangenehm, dass ich bereits mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Boston zu fahren, um diese kleine Missstimmung zwischen uns zu beheben. Ich war schon seit neun Jahren nicht mehr in Boston gewesen, was zeigt, wie wichtig mir die Beziehung zu meinem Vater war.

Wenn mein Dad mich anrief, ging ich ans Telefon.

Immer.

»Entschuldigt bitte, Mädels, aber den Anruf muss ich annehmen.« Ich drückte auf die grüne Taste an meinem Telefon. »Hey, Dad. Was gibt’s?«

»Hallo, Bluebell.«

Die kräftige Stimme meines Dads mit dem starken Bostoner Akzent gehörte für mich üblicherweise zu den schönsten Klängen auf dieser Welt. Ich hatte im Laufe der Jahre meinen Akzent abgelegt, und wenn ich mit Dad sprach, erinnerte mich das immer an zu Hause.

Heute verspannte ich mich jedoch plötzlich. Nicht wegen des Kosenamens. Mein Dad hatte mich schon als Kleinkind Bluebell genannt, weil meine Augen genau die Farbe von Blauglöckchen hatten. Meine Geschwister hatten alle von meiner Mutter haselnussbraune Augen geerbt – nur ich hatte die Augenfarbe von meinem Dad. Und sein Grübchen.

Es war also nicht mein Spitzname, der mich einen Augenblick lang erstarren ließ, sondern der Ton in der Stimme meines Vaters. Etliche Szenarien spielten sich vor meinem geistigen Auge ab. »Geht es allen gut?«

»Ja, alle sind wohlauf. Aber ich muss dir etwas sagen, und es fällt mir sehr schwer, das am Telefon zu tun.«

Vor Angst war ich an meinem Stuhl wie festgewurzelt. »Dad …?«

Das leise Gemurmel meiner Freundinnen verstummte, und sie sahen mich besorgt an.