Thriller Quintett Sonderband 1014 - Henry Rohmer - E-Book

Thriller Quintett Sonderband 1014 E-Book

Henry Rohmer

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Alain Boulanger und das Pariser Phantom (Henry Rohmer) Kubinke und die Katze (Alfred Bekker) Bount Reiniger und die Amnesie (Earl Warren) Bount Reiniger, alte Meister und junge Mörder (Earl Warren) Bount Reiniger und das Alligator-Futter (Earl Warren) Drei Wochen nach dem makabren Fund saß Bount Reiniger der eleganten Lady Lauren Pendergast in deren Penthouse am Central Park West gegenüber. Mrs. Pendergast trug Schwarz. Sie zeigte Bount das Hochglanzfoto eines Totenschädels und die Skizze eines Gebissschemas. »Der Schädel ist das einzige, was von meinem vermissten Mann wieder gefunden wurde«, sagte sie. »Sie haben bestimmt von dem Fall gehört. Der Schädel wurde bei einer Alligatorenfarm entdeckt. Anhand des Gebisses ist die Identifizierung gelungen.« Mit Computern waren die Vermisstenkarteien durchforstet worden, nachdem die Gerichtsmediziner in Miami den Schädel eingehend untersucht hatten. Die moderne Gerichtsmedizin vermochte Wunder. Geschlecht und Alter des Toten wurden bestimmt. Nachdem man wusste, dass es sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann handelte, der vor ungefähr drei Monaten ums Leben gekommen sein musste, war der Rest leicht. Die Zähne verrieten erstklassige und teure Zahnarztarbeit, und zwar in der Art, wie sie hauptsächlich an der Ostküste vorgenommen wurde.

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Earl Warren, Henry , Alfred Bekker

Thriller Quintett Sonderband 1014

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Inhaltsverzeichnis

Thriller Quintett Sonderband 1014

Copyright

​Alain Boulanger und das Pariser Phantom

Kubinke und die Katze

Bount Reiniger und die Amnesie

1.

2.

3.

4.

5.

Bount Reiniger, alte Meister und junge Mörder

1.

2.

3.

4.

5.

Bount Reiniger und das Alligator-Futter

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Thriller Quintett Sonderband 1014

Earl Warren, Henry Rohmer, Alfred Bekker

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Alain Boulanger und das Pariser Phantom (Henry Rohmer)

Kubinke und die Katze (Alfred Bekker)

Bount Reiniger und die Amnesie (Earl Warren)

Bount Reiniger, alte Meister und junge Mörder (Earl Warren)

Bount Reiniger und das Alligator-Futter (Earl Warren)

Drei Wochen nach dem makabren Fund saß Bount Reiniger der eleganten Lady Lauren Pendergast in deren Penthouse am Central Park West gegenüber. Mrs. Pendergast trug Schwarz. Sie zeigte Bount das Hochglanzfoto eines Totenschädels und die Skizze eines Gebissschemas.

»Der Schädel ist das einzige, was von meinem vermissten Mann wieder gefunden wurde«, sagte sie. »Sie haben bestimmt von dem Fall gehört. Der Schädel wurde bei einer Alligatorenfarm entdeckt. Anhand des Gebisses ist die Identifizierung gelungen.«

Mit Computern waren die Vermisstenkarteien durchforstet worden, nachdem die Gerichtsmediziner in Miami den Schädel eingehend untersucht hatten. Die moderne Gerichtsmedizin vermochte Wunder. Geschlecht und Alter des Toten wurden bestimmt.

Nachdem man wusste, dass es sich um einen etwa fünfzigjährigen Mann handelte, der vor ungefähr drei Monaten ums Leben gekommen sein musste, war der Rest leicht. Die Zähne verrieten erstklassige und teure Zahnarztarbeit, und zwar in der Art, wie sie hauptsächlich an der Ostküste vorgenommen wurde.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alles rund um Belletristik!

​Alain Boulanger und das Pariser Phantom

Henry Rohmer

Alain Boulanger und das Pariser Phantom: Frankreich Krimi

von Henry Rohmer
Leo Renard ist unauffälliger Mitarbeiter einer literarischen Agentur, bis er eines Tages verschwindet, nachdem er von zwei Unbekannten bedroht wurde. Einer der beiden Angreifer ist wenig später tot. Der Privatdetektiv Alain Boulanger soll Renard suchen. Schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus, dass an diesem Mann nichts stimmt. Plötzlich gerät der Privatdetektiv in das Visier von Toni Cassalle, einer rachsüchtigen Unterweltgröße, mit der Leo Renard eine offene Rechnung zu haben scheint.
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© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
Alain Boulanger und das Pariser Phantom
von Henry Rohmer
1
Paris im Jahr 1991 …
Alain Boulanger gönnte sich an diesem Morgen den Luxus eines Frühstücks in einem Bistro an den Boulevards. Ein Luxus war das deswegen, weil er eigentlich ein vielbeschäftigter Mann war. Privatdetetektiv mit Büro und Wohnung in der Rue Saint-Dominique in der Nähe der Champs de Mars, einem ausgedehnten Park.
Aber die Boulevards, das war etwas ganz Spezielles.
Das war Paris.
So, wie man es sich vorstellte. So, wie man vielleicht davon träumte. Paris, die Stadt der Liebe und der Philosophen und des Savoir Vivre.
Alain Boulanger saß vor seinem Milchkaffee und genoss das Croissant dazu. Oder besser gesagt: Die zwei Croissant, die er sich dazu gönnte.
Zwei Croissant einfach so, mit nichts dazu.
Das war die Reduktion auf das Wesentliche.
Ein Frühstück für Existentialisten, wenn man es philosophisch verstehen wollte.
Und Alain Boulanger war jemand, der dazu neigte, es so zu verstehen.
Er beobachtete die Leute.
Das war interessanter als jeder Film im Kino. Eine menschliche Komödie eben, wie der große Honoré de Balzac es ausgedrückt hätte.
Alain Boulanger hätte stundenlang einfach nur so dasitzen können, um diese Eindrücke in sich aufzunehmen. Aber dazu hatte er natürlich nicht die nötige Zeit.
Auch wenn seine Geschäfte als Privatdetektiv gut gingen, so hatte er doch keineswegs ausgesorgt. Millionen lagen nicht auf seinem Konto. Arbeiten musste er schon noch.
Und das würde auch auf absehbare Zeit so bleiben.
Allerdings…
Wer konnte schon wissen, was die Zukunft brachte?
Eine junge Frau mit ernstem Gesicht und einer Knotenfrisur fiel ihm auf. Die Frisur löste sich etwas auf. Einige Strähnen hatten sich hervorgetan und der leichte Wind, der durch die Boulevards strich, spielte mit den Strähnen. Sie wirkte sehr konzentriert und schrieb etwas in eine Kladde.
“Entschuldigen Sie, wenn ich Sie anspreche, Mademoiselle - aber was machen Sie da?”, fragte Alain Boulanger.
Sie sah auf.
Dann setzte sie die Brille auf, die neben ihrem Milchkaffee auf dem Tisch lag und unterzog Alain Boulanger zunächst einmal einer eingehenden Musterung.
“Ich schreibe, Monsieur”, sagte sie.
“Sie schreiben?”
“Ja, ich schreibe. Sieht man das nicht?”
“Nun…”
“Ich schreibe einen literarischen Text über meine Eindrücke dieses Augenblicks.”
“Oh, das erklärt einiges.”
“So, was denn?”
“Den konzentrierten Gesichtsausdruck, die absolute Fokussierung…” Alain Boulanger lächelte kurz. “Ich meine, wenn es eine Einkaufsliste gewesen wäre…”
“...dann hätte es keinen Grund gegeben, nicht mit derselben Konzentration an die Sache heranzugehen, wie an einen literarischen Text. Finden Sie nicht?”
Alain Boulanger zuckte mit den Schultern.
“Das kann ich ehrlich gesagt nicht beurteilen.”
“Können Sie nicht?”
"Einkaufslisten lasse ich von meiner Assistentin schreiben und Literarisches würde meine Möglichkeiten und Talente bei weitem übersteigen, Mademoiselle.”
“Sagen Sie das nicht!”
“So?”
“In jedem von uns steckt ein Autor. Jemand, der etwas zu sagen hat. Nur trauen sich die meisten Menschen nicht, das, was sie bewegt, auch herauszulassen.”
“Die Frage ist, ob alles raus muss, was in einem drin ist.”
Jetzt lächelte sie auch. Zum ersten Mal. Alain Boulanger registrierte das sehr wohl. Sie nahm nun die Brille wieder ab. Ohne die Brille wirkte ihr Blick ein wenig verschwommen. Orientierungslos.
Dann wurden ihre Augen schmal und ihr Blick verriet so etwas wie Entschlossenheit.
“Ich bin Schriftstellerin”, sagte sie. “Und für mich ist das keine Frage.”
“So…”
“Sie scheinen mir noch ziemlich jung zu sein…”
“Für eine Schriftstellerin?”
“Ich dachte immer, dass man dazu etwas Lebenserfahrung braucht”, sagte Alain Boulanger.
“Und die kann man nicht in jungen Jahren haben?”
Alain Boulanger zuckte mit den Schultern.
“Vielleicht wenn man Norman Mailer ist und den Krieg im Pazifik erlebt hat, dann kann man mit 25 so etwas wie >Die Nackten und die Toten< schreiben.”
“Und eine junge Frau, die bislang nur in den Cafés von Paris herumgesessen und wahrscheinlich sogar ihre Uni-Vorlesungen versäumt hat, kann das nicht, würden Sie sagen?”
“Keine Ahnung. Sie verstehen sicher mehr von diesen Dingen als ich.”
“Sollte das jetzt Ironie sein?”
“Wer weiß?”
“Ich glaube, das jede Empfindung politisch ist und wenn sie aufgeschrieben wird, wird daraus Literatur.”
“Haben Sie schon etwas veröffentlicht?”
“Ich will mich nicht den Mechanismen eines kommerziellen Marktes unterwerfen - und das müsste ich, wenn ich mich an einen Verlag wenden würde.”
“Ich verstehe. Dann schreiben Sie nur für sich selbst?”
“Hin und wieder erscheint etwas von mir in einer kleinen Zeitschrift und ich veranstalte Lesungen.”
“Vielleicht brauchen Sie einen Agenten. Wie ich gehört habe, haben viele Autoren inzwischen Agenten, die sich um die profaneren Aspekte des Literaturbetriebs für ihre Autoren kümmern.”
“Wollen Sie sich bei mir etwa als ein solcher Agent andienen, Monsieur?”
Alain Boulanger schüttelte den Kopf. “Nein, ganz bestimmt nicht. Das ist nicht mein Gebiet.”
“Was ist denn Ihr Gebiet?”
“Ich bin Privatdetektiv. Das ist mein Gebiet.”
“Oh”, sagte sie. “Aber jetzt sagen Sie bitte nicht, dass mein Vater Sie engagiert hat, um zu überprüfen, ob ich immer noch Medizin studiere, obwohl ich das schon seit anderthalb Jahren gar nicht mehr mache.”
“Nein, keine Sorge”, sagte Alain Boulanger. “Ich bin rein privat hier. Ich frühstücke hier nur.”
“Wo ist denn ihr Büro?”
“In der Rue Saint-Dominique.”
“Sie können sich ein Büro in der Rue Saint-Dominique leisten? Dann muss Ihr Geschäft blendend laufen und Sie sind vermutlich einer der arroganten Bonzen, von denen in Paris so viele gibt.”
“Sie können es sich doch auch leisten, in Paris zu leben!”
“Studentenwohnheim.”
“Und Papa bezahlt.”
“Man muss die Möglichkeiten, die einem die bürgerliche Gesellschaft bietet, ausnutzen, ohne dem Druck der gesellschaftlichen Konformität zu erliegen.”
“Ja, das finde ich auch”, sagte Alain Boulanger.
Ein junger Mann kam jetzt zu ihr an den Tisch. Er trug eine Che Guevara-Mütze und einen Parka mit einem aufgestickten roten Stern.
“Salut”, sagte er.
“Salut”, sagte sie. Sie packte ihre Sachen zusammen, zahlte und sagte dann an Alain gerichtet: “Grüßen Sie trotzdem meinen Vater von mir, wenn Sie ihn sehen. Sagen Sie ihm, dass mich nichts von meinen Entschlüsseln abbringen kann.”
Dann ging sie mit dem jungen Mann davon.
“Sag mal, was war das denn für ein Spießer?”, fragte er sie.
Die Antwort darauf bekam Alain Boulanger nicht mehr mit.
*
„Er nennt sich Renard“, sagte der dunkelhaarige Mann im braunen Kaschmir-Jackett, während sein Blick über die schlichte Einrichtung des Hotelzimmers ging. „Leo Renard. Er arbeitet in einer literarischen Agentur, lebt allein, hat kaum Kontakte.“
Der andere Mann im Raum beugte sich gerade über das Waschbecken, schabte sich den letzten Rest Rasierschaum aus dem kantigen Gesicht und griff zum Handtuch. Dann kämmte er sich noch die schütteren hellblonden Haare nach hinten und wandte sich seinem Partner zu.
„Sonst noch etwas?“
„Du könntest dir wenigstens mal die Bilder ansehen, die ich gemacht habe.“
„Bitte!“
Der Blonde sah sich die Bilder nur sehr flüchtig an und nickte dann.
„Das scheint er zu sein“, murmelte er.
„Ich bin dafür, die Sache bald durchzuziehen“, erwiderte der Mann im braunen Jackett.
Davon schien der Blonde nicht sonderlich begeistert zu sein.
„Die Sache darf auf keinen Fall schiefgehen“, meinte er. „Ich bin dafür, Renard noch ein bisschen zu beobachten.“
„Es gibt nichts mehr über ihn herauszufinden“, erwiderte der andere gelassen. „Wir kennen seinen täglichen Lebensrhythmus, wir wissen, wann er aufsteht, wann er zur Arbeit geht, mit wem er in den letzten zwei Wochen telefoniert hat, und in welchen Geschäften er regelmäßig einkauft.“
Der Blonde verengte die Augen wenig, während er zu seinem offenen Koffer ging und sich ein frisches Hemd herausnahm. Nachdem er es angezogen und zugeknöpft hatte, holte er noch etwas anderes: eine Pistole samt dazugehörigem Schulterholster. Als er sich die Waffe umgeschnallt hatte, fragte er: „Hast du schon einen Plan?“
Der andere nickte.
„Bis ins Detail“, behauptete er.
„Okay“, murmelte der Blonde. „Dann schieß mal los!“
Währenddessen nahm er die Waffe in die rechte Hand, griff mit der anderen noch einmal kurz in den Koffer und schob dann ein volles Magazin in den Pistolengriff.
2
Leo Renard war ein hochgewachsener, hagerer Mann, dessen Alter schwer zu bestimmen war. Seine Haare waren noch so dicht, dass man nicht die Kopfhaut hindurchschimmern sah, obwohl er sie ziemlich kurz trug. Aber ein paar graue Strähnen waren nicht zu übersehen.
Renard stand am Fenster des Großraumbüros und blickte nachdenklich hinab auf das Labyrinth der Straßenschluchten von Paris. Es war ein klarer Tag mit hervorragender Fernsicht.
„Leo! Träumst du?“
Renard schien einen Moment lang wie weggetreten zu sein, dann drehte er sich herum und blickte in Caroline Arlons‘ meergrüne Augen.
„Ein bisschen“, erwiderte Renard mit einem matten Lächeln.
Caroline war mindestens einen Kopf kleiner als Renard. Eine gut aussehende Mittdreißigerin mit genügend Sexappeal, um den kältesten Eisklotz zum Schmelzen zu bringen.
Bei Renard war sie allerdings bislang mehr oder weniger erfolglos gewesen, obwohl sie nichts unversucht gelassen hatte. Aber zu mehr als einer Verabredung zum Essen in der ohnehin viel zu knappen Mittagspause sowie einem gemeinsamen Abend im Piccolo-Theater war es nie gekommen.
Caroline legte die Stirn ein wenig in Falten. Etwas stimmte heute mit Renard nicht, das war ihr sofort klar.
„Leo, welche Laus ist dir denn heute über die Leber gelaufen?“
Renard grinste. Aber das wirkte seltsam maskenhaft.
„Mir geht es hervorragend, Caroline. Danke.“
Damit war für ihn das Gespräch zu Ende. Für Caroline jedoch noch nicht.
„Du kannst es mir ruhig erzählen“, meinte sie.
Aber auf dem Ohr war Leo Renard so gut wie taub.
„Vielleicht werde ich ein paar Tage Urlaub machen“, murmelte Renard dann abwesend.
„Wohin geht es? An die Küste vielleicht? Um diese Jahreszeit vielleicht gar nicht schlecht! Aber der Chef wird nicht sehr begeistert sein.“
„Der Chef ist nie begeistert, wenn man Urlaub haben möchte“, erwiderte Renard.
„Ich soll dir übrigens sagen, dass du zu ihm kommen sollst, Leo.“
Renard zuckte die Achseln. Jetzt schien er auf einmal wieder ganz der Alte zu sein. Selbstsicher, überlegen und eine Spur zu unterkühlt, wie Caroline fand.
Der Chef, das war ein etwas zum Übergewicht neigender Mann namens Marc Franchon. Er war jemand, der sein Geschäft wie kein Zweiter verstand und die Literarische Agentur Franchon die Erfolgsleiter hinaufgeführt hatte.
Als Renard Franchons Büro betrat, aß dieser gerade ein mitgebrachtes Sandwich. Solange Renard schon hier beschäftigt war, konnte er sich nicht daran erinnern, gesehen zu haben, wie Franchon eine Mittagspause machte. Der Chef arbeitete für gewöhnlich durch und aß nebenbei etwas. Das war sicher nicht sein wahres Erfolgsgeheimnis, aber es zeigte die Einstellung, mit der er sein Geschäft betrieb.
„Was gibt es?“, fragte Renard, während er seine Rechte aus der weiten Hosentasche herausnahm.
Franchon machte eine wichtige Miene.
„Da war ein Anruf für Sie“, berichtete er dann. „Vorhin, als Sie zum Essen weg waren.“
Renard zog die Augenbrauen in die Höhe. Er konnte sich denken, worum es ging.
„Die Japaner?“, fragte er.
„Ja“, nickte Franchon und beugte sich dabei etwas nach vorn.
„Caroline hat das Gespräch zu mir hereingelegt, aber wir standen ziemlich auf dem Schlauch. Schließlich sind Sie der einzige bei uns, der Japanisch spricht – und das Englisch von Monsieur Nakamura ist nicht gerade einfach zu verstehen.“
Renard zuckte die Achseln. „Tut mir leid!“
„Sie können ja nichts dafür. Aber es wäre gut, wenn Sie langsam die Verträge vorbereiten könnten.“
Renard legte jetzt die Mappe, die er unter dem Arm hielt, Franchon auf den Tisch.
„Alles fertig“, sagte er dazu, und Franchon blickte erstaunt auf.
„Alle Achtung! Wann haben Sie denn …?“
„Ich möchte ab morgen ein paar Tage Urlaub nehmen.“
„Nun, gerade jetzt, da wir mit Nakamura ins Geschäft kommen. Japan hat 120 Millionen Einwohner. Das ist ein Buchmarkt, auf dem sich ganz ansehnliche Auflagen erzielen lassen.“
Mit anderen Worten: ein Riesengeschäft. Und Leo Renard war derjenige, der es ans Laufen gebracht hatte. Franchon war das sehr wohl bewusst – und das war Renards Trumpf.
„Wie gesagt, es ist jetzt alles unter Dach und Fach“, meinte Renard ziemlich gelassen.
„Nakamura deutete an, dass man sich in seinem Haus überlegt, uns auch noch den Kim-Basinger-Band abzukaufen“, erwiderte Franchon.
„Wie schön“, murmelte Renard. Aber er schien sich nicht wirklich darüber zu freuen, obwohl das auch sein Erfolg war.
Franchon seufzte. Dann meinte er: „Na schön, Leo, Sie bekommen Ihren Urlaub. Jetzt, wo Nakamura angebissen hat, wird es vielleicht auch ohne Sie laufen.“
„Das denke ich auch.“
Franchon musterte seinen Angestellten stirnrunzelnd. Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und beugte sich dann etwas nach vorn.
„Was ist los, Leo?“, fragte er dann in vertraulichem Tonfall.
„Ich brauche einfach ein paar Tage, das ist alles.“ Leo Renard lächelte. „Ich fühle mich ein bisschen ausgebrannt, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Franchon nickte.
„An dem Punkt sind wir alle irgendwann einmal.“ Er lachte heiser. „Meistens zu einem ungünstigen Zeitpunkt.“
3
Alain Boulanger hob die Augenbrauen.
„Oh, là, là! Jeanette! Was ist das denn?“
„Das ist Kaffee, Alain. Und zwar so stark, dass wenigstens eine geringe Chance besteht, dass du nicht gleich wieder einschläfst, wenn du deinem Klienten gegenübersitzt!“
Alain Boulanger, der bekannte Pariser Privatdetektiv, verzog den Mund, nachdem er den ersten Schluck genommen hatte. Der Kaffee schmeckte bitter, aber im Moment bedeutete er wohl die einzige Chance, auf die Schnelle ein paar Lebensgeister zurückzurufen. In den letzten Nächten hatte der Privatdetektiv so gut wie überhaupt keinen Schlaf bekommen. Alain war im Auftrag eines Spediteurs Autobahnpiraten auf die Spur gekommen, die ganze Containerladungen verschwinden ließen. Nächtelanges Observieren hatte ihn schließlich zum Erfolg geführt, und in der letzten Nacht war die Bande dann in flagranti erwischt und verhaftet worden.
Kein angenehmer Job, aber ein sehr einträglicher.
„Ich hoffe nur, dass dieser Klient einen Auftrag hat, der sich tagsüber erledigen lässt“, murmelte Alain an seine hübsche Assistentin Jeanette gewandt, während er sich mit der flachen Hand über das Gesicht fuhr.
Jeanette Levoiseur strich sich das eng anliegende, dunkelblaue Kleid glatt, das ihre wohlproportionierten Formen ziemlich exakt nachzeichnete.
„Wer weiß“, erwiderte sie und warf dabei ihre blonde Mähne in den Nacken. „Vielleicht bekommst du den Auftrag gar nicht, wenn der Mann drüben im Büro etwas von deiner Verfassung mitkriegt. Der macht mir nämlich einen sehr dynamischen und energiegeladenen Eindruck.“
„Wer ist es denn?“
„Er heißt Marc Franchon und leitet eine literarische Agentur, die sich auf das Vermitteln von Lizenzen sogenannter Bücher zum Film spezialisiert hat. Mehr konnte ich ihm nicht aus der Nase ziehen. Er will mit dir persönlich reden.“
Boulanger zuckte die Achseln, trank den Rest des Kaffees und betrat dann sein Büro. Er versuchte dabei einen halbwegs frischen Eindruck zu machen.
Marc Franchon unterzog Alain einer eingehenden Musterung. Der Privatdetektiv spürte deutlich, dass er in diesen drei Sekunden gewogen und eingeschätzt wurde. Alain reichte ihm die Hand und stellte sich vor.
„Sie sollen sehr gut in Ihrem Geschäft sein, Monsieur Boulanger“, begann Franchon. Er hob mit einer hilflosen Geste beide Hände und setzte dann hinzu: „Um die Wahrheit zu sagen: Es ist das erste Mal, dass ich jemanden wie Sie aufsuche. Man hat Sie mir empfohlen.“
„Wo brennt‘s denn?“, fragte Alain Boulanger, während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte.
„Es geht um einen meiner Mitarbeiter. Leo Renard. Er ist verschwunden.“
Alain runzelte die Stirn und lehnte sich etwas zurück.
„Erzählen Sie!“, murmelte er, während er sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte.
Franchon hob die Schultern.
„Letzten Mittwoch bat Leo mich um ein paar Tage Urlaub. Gestern war Montag, da hätte er eigentlich wieder in der Agentur auftauchen müssen. Aber er ist nicht gekommen.“
„Ist er während seines Urlaubs weggefahren?“
„Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt. Aber selbst wenn ihm etwas dazwischengekommen wäre, so dass er am Montag nicht ins Büro hätte kommen können, dann hätte Leo kurz durchgerufen und mir Bescheid gesagt. Da bin ich mir absolut sicher. Leo ist ein hundertprozentig korrekter Mitarbeiter …“, der Agent seufzte, „… und dazu noch ein sehr wichtiger!“
Boulanger rieb sich die Schläfen und versuchte krampfhaft, ein Gähnen zu unterdrücken, was ihm schließlich gelang.
„Was macht Renard bei Ihnen?“
„Er ist sehr sprachgewandt“, erklärte Franchon. „Englisch, Deutsch, Spanisch – und sogar Japanisch. Für das Auslandsgeschäft ist das ein unschätzbarer Vorteil. Und unser Geschäft ist längst international. Wenn ein Film ein wenigstens mittelmäßiger Erfolg wird, dann besteht die Chance, dort als auch hier die entsprechenden Buchprodukte zu vermarkten: Den Roman zum Film, ein Buch mit Fotos zum Film, ein Buch über den Star des Films, in dem einen oder anderen Fall sogar eine Comic-Adaption oder ein Fotoroman.“ Man konnte Marc Franchon den Verdruss deutlich ansehen, den er empfand. „Wie gesagt, die Auslandsgeschäfte lagen zum großen Teil in Leos Händen und nun stehen wir ziemlich dumm da, wie Sie sich denken können.“
Alain nickte. Er konnte sich denken, worauf das Ganze hinauslief. Aber er war nicht sonderlich begeistert davon.
„Ich soll diesen Renard für Sie auftreiben, stimmt‘s?“
„So ist es.“
„Er ist erst seit gestern überfällig. Das ist eigentlich noch kein Grund, einen Privatdetektiv zu beauftragen.“
„Unter normalen Umständen hätten Sie vielleicht recht. Aber es kommen noch ein paar Dinge hinzu, die das Ganze in einem merkwürdigen Licht erscheinen lassen.“
„Und was wäre das?“
„Ich gehe immer als Letzter aus dem Büro. So auch am Mittwoch. Unten im Parkdeck beobachtete ich dann, wie Renard sich mit zwei Kerlen herumstritt. Ich konnte leider nicht verstehen, was gesagt wurde, weil ein Wagen vorbeifuhr. Aber eine freundliche Unterhaltung war das nicht. Einer der beiden Kerle hatte eine Pistole. Es sah aus wie ein Straßenraub oder so etwas. In diesen finsteren Parkdecks kann man sich seines Lebens heute ja nicht mehr sicher sein.“
Alain horchte auf.
„Was geschah dann?“, fragte er.
„Leo hat sie fertiggemacht, auch den mit der Waffe. Ein paar geübte Schläge und die Kerle lagen im Dreck. Ich hatte bis dahin keine Ahnung, dass er so etwas drauf hat. Leo ist dann ins Auto gestiegen und davongebraust.“
„Und die Kerle?“
„Keine Ahnung. Ich habe zugesehen, dass ich ebenfalls in meinen Wagen kam. Wie gesagt, ich hielt die beiden für Straßenräuber und ich hatte keine Lust, ihr nächstes Opfer zu werden.“
„Ich verstehe“, nickte Alain.
Franchon grinste.
„Ich bin nämlich nicht gerade sportlich, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Haben Sie die Gesichter gesehen?“
„Nur von einem. Der zweite Mann stand im Schatten.“
„Beschreiben Sie ihn!“
„Er hatte vielleicht Ihre Größe, Monsieur Boulanger. Ein paar Zentimeter weniger, aber nicht viel. Blondes Haar, hoher Stirnansatz. Ich habe ihn aber auch nur ganz kurz von vorne gesehen.“ Er machte eine kurze Pause, dann fiel ihm noch etwas ein. „Ach ja, er trug eine Lederjacke mit der Aufschrift Aigle.“
„Und was vermuten Sie nun?“, fragte Alain. „Eine Entführung? Vielleicht waren es wirklich Straßenräuber.“
Franchon zuckte die Achseln.
„Möglich. Aber ich bin gestern bei seiner Wohnung gewesen. Seine Vermieterin behauptete, niemanden zu kennen, der Leo Renard heißt.“
„Waren Sie in der Wohnung?“
„Nein. Aber es war ein Schild angebracht, dass sie zu vermieten sei. Außerdem ist sein Wagen abgemeldet.“
Alains Augen wurden schmal.
„Woher wissen Sie das denn?“
„Ich habe einen Bekannten bei der Zulassungsstelle. Ich dachte, dass die Adresse vielleicht nicht mehr aktuell ist, die in Renards Papieren steht und hoffte, so vielleicht an ihn heranzukommen. Seine Wagennummer kenne ich ja, schließlich hat er einen reservierten Platz auf dem Parkdeck.“
Alain nickte nachdenklich. Wenn man das alles zusammennahm, dann war schon einiges merkwürdig an der Sache.
„Was glauben Sie, was passiert ist?“, fragte Alain.
Franchon zuckte mit den Schultern.
„Ich habe nicht die geringste Ahnung. Irgendwelche Lösegeldforderungen hat es bis jetzt nicht gegeben, aber das kann ja noch kommen. Ich weiß nur, dass Leo verschwunden ist.“
„Haben Sie eine Vermisstenanzeige aufgegeben?“
„Ja, habe ich. Aber Sie wissen doch besser als ich, was bei so etwas herauskommt, Monsieur Boulanger. Und im Augenblick unternehmen die noch gar nichts. Ein Mann, der den zweiten Tag nicht ins Büro kommt! Die haben mich überhaupt nicht richtig ernst genommen.“
Das konnte Alain sich lebhaft vorstellen.
„Okay“, murmelte er. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
„Am Geld soll es nicht liegen“, meinte Franchon. „Gleichgültig, wie unverschämt Ihre Tagessätze auch sein mögen – ein Mitarbeiter wie Leo Renard ist das auf jeden Fall wert!“
„Erwarten Sie trotzdem keine Wunderdinge von mir, Monsieur Franchon!“
„Ich bin Realist.“ Und im nächsten Augenblick legte Franchon dann eine Mappe auf den Tisch. „Das ist Renards Personalakte. Ich denke, die werden Sie brauchen.“
4
„Ein ziemlich glatter Lebenslauf“, stellte Jeanette fest, als sie in Renards Akte herumblätterte.
Alain, der den Inhalt bereits überflogen hatte, stand am Fenster und blickte hinaus auf den klaren Himmel über der Stadt.
Renard war Mitte vierzig, geboren in Vert le Petit als Sohn eines Lastwagenfahrers und einer Verkäuferin. Seine Abschlussnoten in der Schule lagen alle etwas über dem Durchschnitt, aber nicht so sehr, dass es besonders aufgefallen wäre. Dann ein paar Jahre bei der Armee und ein Studium an der Universität Paris-Dauphine – Betriebswirtschaft und Fremdsprachen. Ein paar Jobs bei verschiedenen Firmen folgten, die er in Fernost und in Nordafrika vertrat. Seit drei Jahren arbeitete er für die Literarische Agentur Franchon.
Zu den Unterlagen hatte Franchon vernünftigerweise auch eine Fotografie gelegt. Das Bild war offenbar auf einer Party oder einem Betriebsfest entstanden. Franchon hatte Renards Kopf mit Filzstift eingekreist und auf der Rückseite des Fotos eine entsprechende Anmerkung gemacht.
„Hast du vielleicht schon eine Idee, wo man da ansetzen kann?“, fragte Jeanette, die die Mappe zuklappte und zurück auf den Schreibtisch legte.
Alain drehte sich herum und zuckte die Achseln.
„Kein Mensch verschwindet einfach, ohne eine Spur zu hinterlassen“, meinte der Privatdetektiv zuversichtlich.
„Genau das scheint hier der Fall zu sein, Alain.“
„Ja, und wenn da nicht diese zwei Kerle wären, die diesem Renard zugesetzt hätten, dann könnte man auf die Idee kommen, dass er von sich aus untergetaucht ist.“
„Aber warum, Alain?“
„Keine Ahnung. Wenn wir das wüssten, hätten wir ihn wohl auch schon halb gefunden, schätze ich.“
5
Alain Boulanger hätte sich am liebsten ein paar Stunden aufs Ohr gelegt, aber in diesem Fall hielt er es für besser, die Recherchen gleich zu beginnen. Es war schon genug Zeit vergangen, seit Leo Renard verschwunden war. Und die Spuren wurden bei einer solchen Personensuche schneller kalt, als einem lieb sein konnte.
Renard hatte im dritten Stock eines Reihenhauses gewohnt. Gepflegter Altbau, ruhige Lage. Die Besitzerin wohnte im Erdgeschoss und hieß Marthe Foissy. Sie war eine energisch wirkende Dame in den Sechzigern, die Alain ihre Tür nur einen Spalt weit öffnete und nicht im Traum daran dachte, die Kette zu lösen. Alain konnte sie im Grunde verstehen. Sie hatte Angst vor Fremden, die an ihrer Tür klingelten.
„Wer sind Sie?“, fragte sie. „Ich kaufe nichts an der Tür, und versichert bin ich schon.“
„Mein Name ist Alain Boulanger. Ich bin Privatdetektiv.“
Ihre Augen verengten sich ein wenig. Aber es war ihr nicht anzusehen, ob sie Alain glaubte oder nicht.
„Was Sie nicht sagen …“, murmelte sie kaum hörbar.
Alain verzichtete darauf, ihr seine Lizenz unter die Nase zu halten. Er hatte es im Gespür, dass die Dame auf der anderen Seite der Tür ihm vermutlich nur eine einzige Chance geben würde, ihr überhaupt etwas zu zeigen. Und so zeigte Alain ihr stattdessen das Foto von Renard.
„Kennen Sie den Mann?“
„Was ist mit ihm?“, fragte sie. „Hat er ein Verbrechen begangen?“
„Er ist einfach nur verschwunden“, erwiderte Alain. „Und es gibt ein paar Leute, die sich Sorgen um ihn machen.“
Sie schaute noch einmal hin. Aber Alain konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie das wie jemand tat, der eine unangenehme Verpflichtung erfüllt.
„Der in dem Kreis?“
„Ja.“
„Tut mir leid!“ Sie reichte das Foto durch den Spalt, und eine Sekunde später hatte sie Alain die Tür vor der Nase zugemacht. Der Privatdetektiv hörte noch, wie sie den Schlüssel herumdrehte. Er zuckte mit den Schultern. Es war ihm nicht anders ergangen als Marc Franchon, der offenbar am Tag zuvor ein ähnliches Erlebnis gehabt hatte. Immerhin hatte Leo Renard Telefon und stand auch mit dieser Adresse im Telefonbuch. Selbst wenn er umgezogen war, ohne jemandem in der Franchon-Agentur etwas davon zu sagen, so hatte er doch ganz sicher einmal hier gewohnt.
Merkwürdig, dass seine Vermieterin sich nicht daran erinnern konnte.
Als Alain in Richtung seines Wagens ging, sah er in letzter Sekunde etwas auf sich zufliegen. Reaktionsschnell hob er die Hand. Ein Ball tropfte ab und sprang auf dem Asphalt auf. In ein paar Metern Entfernung standen ein paar Jungen. Der Jüngste war noch nicht in der Schule, der Älteste vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt. Sie warteten einen Augenblick lang ab und wirkten ziemlich scheu. Alain nahm den Ball auf und spielte ihn zurück. Einer der Jungen fing ihn auf.
Sie wollten sich wieder ihrem Spiel zuwenden, aber Alains Stimme hielt sie davon ab.
„Wartet mal!“, rief er und kam zu ihnen heran. Sie schauten ihn mit einer Mischung aus Misstrauen und Interesse an. „Spielt ihr hier öfter?“
Einige der Jungen nickten. „Ja.“
Alain hielt ihnen das Foto von Renard hin.
„Kennt ihr diesen Mann?“
Sie sahen sich das Foto interessiert an und ließen es einmal rundgehen.
„Der wohnt in dem Haus da vorne!“, meinte schließlich einer der Jungen und deutete dabei auf das Haus, das Marthe Foissy gehörte. „Ich weiß aber nicht, wie er heißt.“
„Schon gut“, erwiderte Alain. „Das macht nichts.“
„Meine Mutter sagt immer, dass das ein ziemlich komischer Mann ist“, meldete sich ein Kleiner mit rotblonden Haaren und einem offenen Schnürsenkel zu Wort.
Alain hob die Augenbrauen.
„Warum meint deine Mutter das denn?“
„Weil er nie grüßt. Und wenn man ihn was fragt, sagt er nichts.“
„Habt ihr gestern auch hier gespielt?“
„Ja“, bestätigte ein anderer Junge.
„Habt ihr ihn gestern gesehen?“
„Nein.“
„Und vorgestern?“
„Auch nicht.“
Jetzt meldete sich wieder der Kleine zu Wort: „Sind Sie ein Polizist?“
Alain lächelte. „So etwas Ähnliches.“
„Wollen Sie ihn verhaften?“
„Nein, nur etwas fragen.“
„Er ist aber nicht zu Hause.“
„Woher weißt du das?“
„Weil sein Wagen hier nicht herumsteht. Er fährt einen tollen Mercedes. So wie der da vorne!“ Er deutete auf Alains 500 SL. „So einen möchte ich auch mal haben.“
„Wie lange ist das schon her, dass du seinen Wagen nicht mehr gesehen hast?“
Der Junge zuckte die Achseln.
„Die ganzen letzten Tage schon. Ich weiß nicht mehr genau.“
Alain nickte.
„Okay, Jungs. Ihr seid gute Beobachter.“
Wenig später saß er wieder hinter dem Steuer seines champagnerfarbenen Mercedes 500 SL. Noch einmal zu Marthe Foissy zu gehen, um sie zu fragen, warum sie behauptete, Renard nicht zu kennen, hielt er für wenig erfolgversprechend. Gegen eine solche Festung anzurennen konnte kaum etwas einbringen.
So führte ihn sein Weg zunächst zu seinem Freund Paul Dubois, den recht korpulent geratenen Commissaire der Mordkommission Paris-Mitte. Die beiden Männer kannten sich seit Jahren, und wenn es irgendwie ging, half der eine dem anderen aus der Klemme, sofern es in seiner Macht stand. Beide Seiten hatten ihren Vorteil von dieser Zusammenarbeit. Boulanger hatte auf diese Weise Zugang zu den Laboren und Archiven der Polizei, während Dubois umgekehrt auf die Hilfe des Privatdetektivs zählen konnte, wenn es galt, auch dort noch nach Informationen zu grasen, wo sich für die Polizei fast wie automatisch die Türen schlossen.
Als Alain im Dienstgebäude ankam, bekam er von einem Polizisten die Auskunft, dass Dubois nicht an seinem Schreibtisch, sondern in einem Bistro in der Nähe sei.
„Soll ich den Commissaire vielleicht über seinen Pieper rufen?“, grinste Commissaire Brionne. Er war ziemlich lang und schlaksig und hatte auf dem Kopf ein Knäuel ungebändigter dunkler Locken. Alain kannte auch ihn ganz gut.
„Bloß nicht!“, erwiderte Alain. „Ich will ihn ja nicht schon verärgern, bevor ich ihn um einen Gefallen gebeten habe!“
Darüber konnte Brionne herzhaft lachen.
Wenig später traf Boulanger seinen Freund Dubois dann in einem Bistro vor seinem zweiten Frühstück sitzen. Das meiste davon hatte er allerdings bereits gegessen.
„Hallo, Paul.“
Dubois blickte auf.
„Sieht man dich auch mal wieder? Wenn du mich schon bis hierher verfolgst, dann bist du sicher nicht nur wegen unserer Freundschaft gekommen.“ Der Commissaire deutete auf einen freien Stuhl, während er sich den letzten Bissen hineinschob und dann mit der Serviette den Mund abwischte.
„Setz dich!“, knurrte er.
„Es geht um einen Mann, der verschwunden ist. Er heißt Leo Renard. Ich habe auch ein Bild von ihm.“
Alain erläuterte Dubois den Fall, und dieser zuckte schließlich mit seinen breiten Schultern. „Alain, ich bin Commissaire des Morddezernats, nicht der Vermisstenabteilung.“
„Ich weiß, Paul.“
„Hast du schon mal seine Angehörigen durchgecheckt?“
„Er scheint keine zu haben. Jedenfalls keine, die noch leben. Seine Eltern sind tot, Geschwister hatte er nicht und verheiratet war er auch nie.“
Paul hob die Augenbrauen. „Eine Entführung?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Vielleicht hatte er auch einfach die Nase voll von seinem Job. Was glaubst du, wie vielen Menschen plötzlich einfällt, ihren Urlaub eigenmächtig zu verlängern, oder die auf einmal ihre Sachen packen und auf Nimmerwiedersehen in eine andere Stadt ziehen? Und nach so kurzer Zeit würde ich mir an deiner Stelle ohnehin noch keine großen Sorgen machen.“
„Mein Auftraggeber macht sich aber welche.“ Alain zuckte die Achseln. „Kann ja auch sein, dass das Ganze am Ende doch in dein Ressort fällt, Paul.“
„Mord?“
„Ich möchte, dass du dich ein bisschen umhörst, ob dieser Renard vielleicht aus der Seine gefischt wurde oder in irgendeiner Leichenhalle aufgebahrt liegt.“
Alain reichte Dubois ein Foto. Der Commissaire warf einen kurzen Blick darauf und steckte es dann mit einem hörbaren Seufzen ein.
„Okay“, meinte er. „Ich werde sehen, ob ich etwas tun kann.“
„Und dann sind da noch diese Kerle, die Renard im Parkhaus fertiggemacht hat.“ Alain reichte Dubois einen Zettel. „Ich habe hier eine kurze Beschreibung von einem der beiden.“
„Und was ist mit dem anderen?“
„Den konnte mein Auftraggeber nicht genau erkennen. Wenn du nichts dagegen hast, werde ich mit ihm in nächster Zeit mal bei dir aufkreuzen, damit er sich die Fotosammlung in der Verbrecherkartei ansehen kann. Wenn er aktenkundig ist, könnte das einen brauchbaren Hinweis ergeben.“
„Meinetwegen, Alain.“
In dieser Sekunde meldete sich Dubois‘ Pieper. Der Commissaire seufzte.
„Ich hoffe nicht, dass es Arbeit gibt“, meinte er. Aber insgeheim wusste er natürlich, dass es genau das bedeutete. Entweder gab es eine wichtige Spur in einem der ungelösten Fälle, die sich als Akten auf seinem Schreibtisch stapelten – oder er musste in Kürze eine neue Akte anlegen. Dubois hoffte auf Ersteres.
6
Boulangers nächste Station war das Büro der Literarischen Agentur Franchon. Er wollte sich bei den Mitarbeitern umhören und geriet als Erstes an ein grazil gewachsenes Wesen mit Pagenkopf namens Madame Seffre, das in dem lindgrünen, eng geschnittenen Kleid sehr zerbrechlich wirkte.
„Sie sind sicher Boulanger, der Privatdetektiv, den der Chef engagiert hat“, schloss Madame Seffre. Ihr Lächeln war geschäftsmäßig.
„Richtig“, nickte Alain.
„Nun, um ehrlich zu sein, werde ich Ihnen kaum etwas über Leo Renard erzählen können.“
„Aber Renard ist seit drei Jahren hier beschäftigt“, gab Alain zu bedenken.
Madame Seffre nickte und blies sich dann eine Strähne aus den Augen.
„Und ich seit vier Jahren“, säuselte sie. „Sein Schreibtisch ist da drüben, und trotzdem weiß ich so gut wie nichts über ihn – außer, dass er verschiedene Sprachen beherrscht. Deshalb war er auch wohl immer besonders erfolgreich.“
Alain nickte.
„Es macht was aus, wenn man einen Kunden in seiner Muttersprache anspricht – meinen Sie das?“
„Ja, genau.“
„Haben Sie mal gesehen, wo er wohnt?“
„Nein.“
„Haben Sie sich irgendwann einmal mit ihm über Persönliches unterhalten? Was es auch immer es ist, es kann wichtig sein.“
Sie zuckte die Achseln und schüttelte dann auf eine Weise den Kopf, der ihren Pagenkopf um eine halbe Sekunde zeitverzögert mit herumschwenken ließ.
„Nein“, sagte sie. „Wissen Sie, er war ziemlich kontaktscheu. Wenn man ihn etwas gefragt hat, was mit ihm selbst zu tun hatte, wich er immer schnell auf allgemeines Terrain aus. Wenn er zu irgendwelchen Partys eingeladen wurde, kam er meistens nicht. Seine Begründungen waren immer ein bisschen an den Haaren herbeigezogen, aber warum sollte ich mich darum kümmern? Schließlich kann ja jeder leben, wie er will, oder finden Sie nicht?“
„Natürlich“, murmelte Boulanger.
Nur machte Leo Renards Lebensweise es nicht gerade einfach für einen Privatdetektiv, seine Spur aufzunehmen oder sich überhaupt nur ein Bild von ihm zu machen. Alles blieb seltsam blass. Da war eine Fotografie auf einem Betriebsfest. Und das war‘s schon. Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Ohne Profil, ohne Unverwechselbares. Das einzig Außergewöhnliche schienen seine Sprachkenntnisse zu sein.
Madame Seffre atmete tief durch.
„Die einzige, die etwas mehr mit ihm zu tun hatte, war Caroline Arlons“, hörte Alain ihre Stimme. „Sie sitzt da hinten am Fenster und telefoniert gerade. Fragen Sie sie mal!“
„Danke.“
Als Alain an Carolines Schreibtisch trat, bot sie Alain mit ihren gestikulierenden Armen einen Platz an, während sie gleichzeitig den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte und in einer Akte herumblätterte. Zwei Minuten später war sie damit fertig und reichte Alain die Hand.
Alain stellte sich vor und kam gleich zur Sache: „Man hat mir gesagt, Sie hätten am meisten mit Leo Renard zu tun gehabt. Vielleicht wissen Sie ja etwas, das mir hilft, ihn zu finden.“
Caroline Arlons musterte Alain einen Augenblick lang mit ihren meergrünen Augen. Sie war eine hübsche Frau. Ein Typ, der Alain gefallen konnte. Aber im Augenblick hatte er sich auf anderes zu konzentrieren. Caroline beugte sich etwas vor und zuckte die Achseln.
„Wir sind mal miteinander ausgegangen“, berichtete sie dann. „Aber über sich selbst hat er nie viel geredet.“
„Ja, das sagte mir Ihre Kollegin Seffre schon. Gab es vielleicht eine Frau in seinem Leben?“
Caroline zögerte eine Sekunde und schüttelte dann den Kopf. „Nein.“
„Sie haben gezögert.“
„Ja. In der ersten Zeit, als er hier war, hatte ich die Vermutung, dass er in festen Händen wäre. Aber mir scheint, das war ein Irrtum.“
„Waren Sie mal in seiner Wohnung?“
„Ja, einmal. Und nur sehr kurz. Es war an dem Tag, als wir ins Theater fuhren. Er hatte irgendetwas zu Hause vergessen, deshalb sind wir bei ihm vorbeigefahren. Erst wollte er mich nicht mit hinaufnehmen, aber ich habe ihn etwas gedrängt.“ Ein Lächeln ging über ihre vollen Lippen. „Es interessierte mich einfach, wo Leo zu Hause war.“
„Wann war das?“
„Schon ein paar Wochen her.“
„Aber es war dieselbe Adresse, die in seinen Unterlagen steht?“
„Ja.“
„Haben Sie eine Ahnung, weshalb seine Vermieterin jetzt behauptet, Renard nicht zu kennen?“
Auf Carolines Stirn bildeten sich ein paar Falten.
„Nein“, meinte sie, „ich habe keine Ahnung. Diese Frau machte zwar einen etwas schrulligen Eindruck, aber …“
Alain hob die Augenbrauen.
„Sie haben die Dame mal getroffen?“
„Ja. Sie begegnete uns auf der Treppe.“ Caroline zuckte die Achseln. „Ich glaube nicht, dass das Zufall war. Vermutlich sitzt die Frau den ganzen Tag herum und hat nichts Besseres zu tun, als andere Leute zu beobachten. Warum sie jetzt lügt, weiß ich nicht.“
„Tun Sie mir einen Gefallen?“
„Welchen?“
„Kommen Sie mit mir und stellen Sie Madame Foissy einmal diese Frage! Sie kann Ihnen gegenüber unmöglich Ihre Behauptung aufrecht erhalten, Leo nicht zu kennen.“
Sie überlegte kurz. Dann nickte sie.
„Nach Büroschluss?“
„Okay. Ich hole Sie ab!“
7
Als Alain zurück in seinem Büro in seiner Residenz war, hatte Jeanette eine interessante Neuigkeit für ihn auf Lager.
„Ich habe spaßeshalber mal ein bisschen in Renards Lebenslauf herumgestöbert und mich bei seinem ehemaligen Gymnasium in Vert le Petit erkundigt, ob man dort noch einen Leo Renard kennt.“
„Und?“
„Sie hatten dort einen Schüler mit diesem Namen. Auch in den Jahrgängen, die Renard in seinem Lebenslauf angegeben hat, den er bei seiner Bewerbung für die Franchon-Agentur abgab.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Na und? Dann scheint doch alles in Ordnung!“
„Ich habe noch etwas herumtelefoniert und die Spur dieses Leo Renard zu verfolgen versucht. Er verpflichtete sich bei der Armee und starb mit zweiundzwanzig bei einem Verkehrsunfall.“
Alain pfiff durch die Zähne.
„Mit anderen Worten, an unserem Kandidaten ist etwas faul.“
„Ja. Der Mann, den Monsieur Franchon in seiner Agentur angestellt hat, ist nicht Leo Renard.“
„Hast du mal seine Studienjahre unter die Lupe genommen?“
„Das mache ich noch.“
„Viel Glück dabei. Leute, die Japanisch belegt haben, dürften ja nicht allzu häufig sein.“
Jeanette stand auf und ging zur Kaffeemaschine, um sich eine frische Tasse einzuschenken.
„Du auch?“, fragte sie an Alain gerichtet.
„Nichts dagegen“, meinte er, obwohl er jetzt hellwach war. Die Gefahr, plötzlich einzuschlafen, bestand nicht mehr. Diese Sache begann immer mysteriöser zu werden, je weiter er und seine Mitarbeiterin darin herum bohrten.
Leo Renard – oder wie immer sein wirklicher Name auch sein mochte – hatte begonnen, Alain zu interessieren.
Jeanette reichte ihm eine Tasse.
„Eine falsche Identität“, murmelte Alain. „Wenn sich das bestätigt, dann passt das zu einer anderen Vermutung.“
„Und welcher?“
„Dass dieser Renard offenbar nicht entführt wurde, sondern untergetaucht ist.“
Jeanette zuckte die schmalen Schultern.
„Fragt sich nur, warum. Vielleicht war Renard ein Zeuge oder so etwas, dem man später eine einigermaßen plausible Legende verpasst.“
„Ja, wäre möglich.“
„Oder er war Geheimdienstler.“
„Dann fragt sich, für wen er gearbeitet hat.“
„Und warum er so Hals über Kopf verschwunden ist.“
Zehn Minuten später kam der Anruf von Paul Dubois …
8
Es war an einem der Kais, die in die Seine hineinragten. Schon aus einiger Entfernung konnte man sehen, dass hier etwas passiert war. Streifenwagen der Polizei und einige Zivilfahrzeuge standen herum. Als Alain diesen Ort erreichte, kam gerade der Leichenwagen. Ein paar Schaulustige standen auch herum. Alain stellte seinen champagnerfarbenen Mercedes irgendwo an der Seite ab und hörte dann einen Augenblick lang den Gesprächen der Leute zu. Ein Angler hatte demnach einen nicht ganz alltäglichen Fang gemacht. Eine Leiche, eingerollt in einen Perserteppich.
Alain ließ den Blick ein wenig schweifen und hatte wenig später Commissaire Dubois entdeckt.
Einer der Uniformierten versuchte, Alain zurückzuhalten, aber der Privatdetektiv zeigte seinen Ausweis.
„Der Commissaire erwartet mich“, erklärte er dazu.
Der Uniformierte nickte.
„Gehen Sie nur, Monsieur Boulanger! Tut mir leid, aber das konnte ich Ihnen nicht ansehen.“
„Macht ja nichts.“
Und dann war Alain wenige Sekunden später am Kai. Les Commissaires Dubois und Brionne standen rechts und links von der Leiche. Der Arzt war gerade fertig und machte sich davon, während sich nun einer von der Spurensicherung an dem Toten zu schaffen machte.
„Hallo, Alain. Das ging ja schnell“, meinte Dubois. Er deutete auf die Leiche. Es war ein Mann mit blonden Haaren und hohem Stirnansatz. „Auf seinem Rücken steht Aigle!“, meinte der Commissaire. „Ist das der Kerl, von dem du mir eine Beschreibung mitgegeben hast?“
Alain nickte.
„Könnte sein. Ich habe Franchon Bescheid gesagt. Er müsste gleich hier sein und kann es dann genauer sagen.“
Und Franchon kam tatsächlich. Einer der Uniformierten begleitete ihn.
„Der Mann hier will unbedingt zu Ihnen, Monsieur Dubois!“
„Schon gut!“, rief Dubois.
Marc Franchons Blick wandte sich zunächst an Alain. Erst dann blickte er auf die Leiche. Er hatte so etwas offenbar noch nie zuvor gesehen, deshalb schaute er nur ganz kurz hin und wandte anschließend den Kopf zur Seite. Franchon schluckte.
Er war ein hartgesottener, mit allen Wasser gewaschener Geschäftsmann, aber das ging offenbar doch ein bisschen über das hinaus, was er vertragen konnte.
„Ist das der Mann, Monsieur Franchon?“, fragte Alain.
Franchon nickte. Er brauchte zwei Sekunden, ehe er ein mattes „Ja“ nachschieben konnte.
„Sind Sie sicher?“
„Absolut.“ Er blickte Alain fragend an. „Was hat das zu bedeuten, Monsieur Boulanger?“
„Ich habe bis jetzt keine Ahnung. Aber ich werde es herausfinden.“
„Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie mir bitte Bescheid, Monsieur Boulanger!“
„In Ordnung“, nickte Alain.
Franchon öffnete seinen Krawattenknoten und den ersten Hemdknopf und schnappte nach Luft. „Sie entschuldigen mich jetzt sicher.“ Und damit ging er davon.
„Eine Leiche, die eine Weile im Schmuddelwasser der Seine gelegen hat, ist nichts für zarte Gemüter“, brummte Dubois.
Alain hob die Augenbrauen.
„Wie heißt der Mann?“
Dubois hob die Arme und nahm Alain ein bisschen zur Seite.
„Er hat nichts bei sich, was auf seine Identität hinweisen könnte. Keinen Pass, nicht einmal Etiketten in den Kleidern.“
„Und wie ist er gestorben?“
„Genickbruch“, murmelte der Commissaire. „Wenn du mich fragst: Da wusste jemand ziemlich gut, wie man tötet, ohne Geräusche zu verursachen oder sich schmutzig zu machen.“
„Ein Profi?“
„Kann ich nicht ausschließen“, erwiderte der Commissaire und zuckte dabei die Schultern.
„Jedenfalls wirst du jetzt nicht umhin kommen, dich ebenfalls um Leo Renard zu kümmern, Paul“, gab Alain zurück.
„Ich fürchte, du könntest recht haben“, nickte Dubois.
Renard war möglicherweise ein wichtiger Zeuge in dieser Sache. Oder sogar der Mörder.
9
„Wenn ich so darüber nachdenke, war Leo ein ziemlich komischer Kauz“, meinte Caroline Arlons, später, als sie neben Alain auf dem Beifahrersitz des 500 SL saß. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich spreche schon in der Vergangenheit von ihm. Als ob er tot wäre.“
„Vielleicht ist er das auch“, meinte Alain.
„Ist das Ihr Ernst?“
„Ich kann keine Möglichkeit ausschließen.“
Als Alain den Mercedes an einer Kreuzung kurz anhalten musste, fingerte er ein Foto aus seiner Jackentasche, das von der Seine-Leiche gemacht worden war. Caroline nahm das Foto und betrachtete es stirnrunzelnd.
„Wer ist das?“
„Haben Sie ihn irgendwann schon einmal gesehen?“
„Hat er etwas mit Leo zu tun?“
„Möglich.“
„Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne.“
„Was heißt das: Ich glaube nicht?“
Sie sah noch einmal auf das Bild. Anstatt Boulanger zu antworten, fragte sie: „Er ist tot, nicht wahr?“
„Ja.“
Sie gab Alain das Bild zurück.
„Und wie hängt das mit Leo zusammen?“, fragte sie.
Darauf konnte Alain ihr auch keine Antwort geben. Noch nicht. Aber einen Zusammenhang zwischen den beiden musste es geben.
Wenig später parkte Alain den 500 SL vor Marthe Foissys Haus. Sie stiegen aus, und Alain meinte an seine Begleiterin gewandt: „Versuchen Sie mal Ihr Glück!“
Sie nickte.
Aber auch für sie öffnete sich die Haustür nur einen Spalt weit.
„Erinnern Sie sich an mich?“, fragte Caroline. „Ich war mit Monsieur Renard hier. Wir sind zusammen oben in seine Wohnung gegangen.“
Marthe Foissys Blick ging von Caroline zu Alain, der zwei Schritte hinter ihr stand.
„Sie schon wieder? Ich werde die Polizei rufen!“, zischte sie dem Privatdetektiv zu.
Boulanger blieb gelassen.
„Die wird ohnehin vielleicht bald zu Ihnen kommen“, stellte er fest. „Denn Monsieur Renard könnte in einer Mordsache ein wichtiger Zeuge sein.“ Alain ließ das erst einmal ein paar Sekunden wirken. Und tatsächlich tat sich in ihren Gesichtszügen etwas. Marthe Foissy wirkte jetzt nachdenklich. „Was ist nun? Wollen Sie auch dieser Frau gegenüber noch behaupten, hier hätte nie ein Mann namens Leo Renard gewohnt? Madame Arlons kann das Gegenteil bezeugen. Und die Polizei wird das sehr merkwürdig finden.“
Die Hausbesitzerin atmete tief durch. Es war ihr anzusehen, dass sie sich in diesem Moment alles andere als wohl in ihrer Haut fühlte. Schließlich öffnete sie die Tür ganz und meinte: „Kommen Sie herein! Alle beide!“
Alain und Caroline folgten ihr. Dann blieb Marthe Foissy plötzlich stehen und sagte: „Also gut, hier hat tatsächlich ein Monsieur Renard gewohnt.“
„Bis wann?“, fragte Alain. „Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“
„Das war“, sie überlegte einen Moment lang, „… am Mittwochmorgen! Letzten Mittwoch, bevor er zur Arbeit fuhr. Gewöhnlich fuhr er jedenfalls um diese Zeit zur Arbeit, wohin er an jenem Tag gefahren ist, weiß ich nicht.“
„Hat er irgendetwas gesagt?“
„Er hat gesagt, dass Leute nach ihm fragen würden und ich sagen sollte, dass ich ihn nicht kennen würde. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass er in eine Mordsache verwickelt ist.“
Alain nickte langsam. Vermutlich hatte Renard der Dame ein paar Scheine für ihre Dienste angeboten.
„Okay“, murmelte er.
„Es war übrigens vor Ihnen schon einmal jemand da, der sich nach Monsieur Renard erkundigt hat.“
Alain horchte auf.
„War das gestern?“ In dem Fall sprach sie von Marc Franchon.
„Es waren zwei Männer. Einer war gestern hier, der andere kam Donnerstag oder Freitag“, meinte sie und machte ein angestrengt nachdenkliches Gesicht. „Ich weiß es nicht mehr genau.“
Alain zog indessen das Foto von der Seine-Leiche hervor.
„War dieser Mann vielleicht einer der beiden?“
Sie nahm das Foto und starrte angewidert darauf. Dann schluckte sie und schüttelte energisch den Kopf, bevor sie das Bild an Alain zurückreichte.
„Nein“, sagte sie. „Der war es bestimmt nicht. Er sah ganz anders aus.“
„Beschreiben Sie ihn!“
„Welchen?“
„Den, der zuerst kam. Donnerstag oder Freitag.“
„Er trug ein braunes Jackett. Aber eins von der ganz edlen Sorte, wie man ihn nur selten sieht.“
„Und sonst noch?“
„Dunkle Haare hatte er. Und am Handgelenk trug ein Kettchen, mit dem er dauernd herumspielte. Er hat mich ganz nervös damit gemacht.“
„Was haben Sie ihm gesagt?“
Sie zuckte die Achseln.
„Dasselbe wie Ihnen!“
„Und? Hat er es Ihnen geglaubt?“
„Jedenfalls ist er nicht wiedergekommen.“
Das war ein Argument.
„Können Sie uns Renards Wohnung zeigen?“, fragte Alain.
Marthe Foissy musterte den Privatdetektiv kurz, bevor sie schließlich nickte. Begeistert war sie nicht. Aber sie stimmte trotzdem zu.
„Kommen Sie!“, forderte sie und ging voran.
Viel gab es in Renards Wohnung nicht zu sehen. Sie wirkte wie geleckt. Und nirgends gab es etwas, dass auf Leo Renard hinweisen konnte. Alles war leergeräumt und sauber gewischt.
„Er war ein vorbildlicher Mieter“, kommentierte Marthe Foissy. „Auch, als er ging. Er hat die Wohnung in hervorragendem Zustand hinterlassen.“
„Waren das seine Möbel?“, fragte Alain.
„Die Wohnung war möbliert.“
„Verstehe. Wann hat Renard seine Sachen aus der Wohnung genommen?“
„Keine Ahnung. Das ist mir auch ein Rätsel. An dem Morgen, als ich ihn zum letzten Mal sah, hatte er nur sein Diplomatenköfferchen bei sich.“
Der Zustand der Wohnung sah nicht danach aus, als wäre Renard in großer Eile auf und davongegangen. Er konnte unmöglich eines Morgens ins Auto steigen und dabei seinen gesamten Hausrat mitnehmen, ohne dass das auffiel. Vielleicht hatte er die Sachen in der Nacht zuvor verschwinden lassen.
Alain untersuchte den Boden. Überall in der Wohnung war Teppichboden, außer in Bad und Küche.
„Wonach suchen Sie?“, fragte Caroline.
„Nach Spuren“, erwiderte Alain. „Spuren eines Teppichs. Wenn ein Teppich länger auf derselben Stelle liegt, ist der Bodenbelag darunter oft weniger verschossen.“
Aber Alain fand keine solche Stelle in Renards Wohnung. Der Privatdetektiv wandte sich noch einmal an Caroline Arlons.
„Wissen Sie, ob Renard hier einen Perserteppich hatte?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Als ich hier war, lagen in der Wohnung keinerlei Teppiche“, sagte Caroline. „Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich dachte nämlich noch, dass so etwas hier gut hinpassen würde.“
„Erinnern Sie sich noch an irgendwelche persönlichen Dinge von Renard?“
Sie schien nachzudenken und zuckte dann nach kurzer Pause die Schultern.
„Nein“, meinte sie. „Eigentlich war da nichts Besonders. Alles schien mir ziemlich unpersönlich zu sein.“ Sie machte eine Pause. „Ein paar Zeitschriften lagen da herum.“
„Welche Zeitschriften?“
„Eine von denen mit Riesenbrüsten auf dem Cover. Playboy oder Lui, glaube ich. Daneben eine Ausgabe der Militär & Geschichte. Das hat mich etwas gewundert, denn er machte mir nie den Eindruck, sich für derartiges zu interessieren.“
Als Alain und Caroline eine Viertelstunde später wieder nebeneinander in dem champagnerfarbenen 500 SL saßen, wirkte sie ziemlich schweigsam. Alain brachte sie in die Rue Domat, wo der Büroturm stand, in dem auch Marc Franchon und seine Agentur ihre Büros hatten. Caroline hatte ihren Wagen noch auf dem Parkdeck stehen und deshalb sollte Alain sie hier absetzen. Bevor sie ausstieg, fragte sie Alain noch einmal nach dem Foto von dem Blonden, den Dubois‘ Leute aus der Seine geholt hatten. Alain gab es ihr. Sie nahm es, warf noch einen Blick darauf und nickte dann. „Ich kann mich täuschen, aber vielleicht habe ich diesen Mann doch schon einmal gesehen.“
„Wo war das?“, hakte Alain nach.
„Auf dem Flur vor den Büros der Agentur Franchon, glaube ich. Er fiel mir auf, weil er dort herumstand und in einer Zeitung blätterte. Ich dachte gleich, dass der irgendwie nicht dorthin passt.“
„Wissen Sie noch, wann das war?“
„Letzte Woche. Ein oder zwei Tage, bevor Leo in Urlaub ging.“
„Ich danke Ihnen.“
Sie zuckte die Achseln. „Ich hoffe, Sie können damit etwas anfangen.“
„Vorher weiß man das leider selten!“
Sie zögerte, bevor sie ausstieg. Irgendetwas lag ihr noch auf der Seele. Sie wandte sich zu Alain herum und fragte schließlich: „Was glauben Sie, ist mit Leo passiert?“
„Ich werde bezahlt, um das herauszufinden“, erwiderte Alain.
„Wissen Sie, ich mag ihn. Leider hat er das nie erwidert. Jedenfalls nicht so, wie ich es gerne gehabt hätte. Trotzdem, er ist ein feiner Kerl – auch wenn ihn viele wegen seiner etwas verschlossenen Art nicht verstanden haben.“
Alain hob die Augenbrauen.
„Haben Sie ihn denn verstanden?“, fragte er.
Caroline schüttelte den Kopf.
„Ich fürchte nein. Aber was rede ich hier eigentlich? Das interessiert Sie bestimmt nicht.“
Alain lächelte verbindlich.
„Mich interessiert alles, was mit Leo Renard zu tun hat. Und wenn es noch so beiläufig scheint. Ein Mann verschwindet nicht so einfach und löst sich in Luft auf. Es muss etwas mit seinem Leben zu tun haben.“ Oder mit seinem Doppelleben, setzte Alain in Gedanken hinzu.
Sie zuckte nachdenklich die Schultern.
„Ist doch merkwürdig, nicht? In dem Moment, in dem jemand verschwindet, stellt man fest, dass man so gut wie nichts über ihn weiß. Nichts Wesentliches jedenfalls. Ich könnte Ihnen jetzt sagen, dass er ein hervorragendes Gedächtnis hat und alle Telefonnummern auswendig kennt, die für ihn wichtig sind.“
„Er ist wohl ziemlich korrekt.“
„Das ist er. Und sehr beherrscht. Das einzige Mal, dass ich ihn unbeherrscht erlebt habe, das war, als uns auf der Autobahn so ein Verrückter bei einem Überholmanöver fast in die Leitplanken gedrängt hatte.“ Sie lächelte. „Aber er hatte sich immerhin noch so gut in der Gewalt, dass er sich die Autonummer merken und den Kerl nachher anzeigen konnte.“
„Sind Sie doch öfter mit ihm unterwegs gewesen?“
„Das war dienstlich, Monsieur Boulanger. Wir waren gemeinsam bei einem Verlag, um über die Gestaltung eines Bildbandes zu sprechen.“ Sie sah Alain auf einmal fragend ab. „Glauben Sie, dass Leo noch lebt?“
10
„Wir haben unsere Karteien auf den Kopf gestellt und überall angefragt, wo es nur halbwegs erfolgversprechend sein könnte“, dröhnte Paul Dubois, irgendwann gegen Mittag des nächsten Tages, als Alain Boulanger den Commissaire in seinem Büro aufgesucht hatte. Boulanger hatte auf einem Stuhl Platz genommen, sich eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und hörte gelassen zu.
Viel war es nicht, was Dubois vorzuweisen hatte. Das, was der Commissaire seinem Freund präsentierte, konnte diesem nicht gefallen.
„Mit anderen Worten“, schloss Alain schließlich zwischen zwei Zigarettenzügen, „über den Blonden mit der Aigle-Jacke wissen wir nichts.“
„So ist es“, nickte Dubois. „Und sein Mörder hat dafür gesorgt, dass es uns so schwer wie möglich gemacht wird.“
„Was ist mit der Jacke?“, fragte Alain. „Auch wenn die Etiketten herausgeschnitten sind, müsste man doch herausfinden können, wo sie gekauft wurde.“
Dubois nickte.
„Du hast recht. Diese Jacke ist nicht gerade alltäglich – und vor allem wohl auch ziemlich teuer gewesen. Aber im Augenblick setzen wir unsere Hoffnungen auf die Zähne dieses Mannes. Er muss in letzter Zeit beim Zahnarzt gewesen sein. Und zwar in der letzten Woche, allenfalls in der vorletzten.“
„Woher willst du das so genau wissen?“
„Die Leiche hatte ein Zinkkäppchen im Mund. Das ist eine Art provisorische Krone, die aufgesetzt wird, um abzuwarten, ob sich der Nerv entzündet und gezogen werden muss. Stellt sich das nämlich erst heraus, wenn das Gold bereits im Mund ist, wird es teuer. Diese Käppchen halten im Höchstfall ein paar Monate und sind oft schon nach kurzer Zeit ziemlich zerbissen. Aber dasjenige, das man im Mund der Leiche gefunden hat, war noch in gutem Zustand.“
Immerhin, dachte Alain. Vielleicht führt das ja weiter.
Dubois beugte sich etwas über den Tisch.
„Da ist noch eine andere Sache“, murmelte Dubois. „Dieser Renard.“
„Hatte ich dir das noch nicht gesagt? Leo Renard ist schon seit Jahren nicht mehr am Leben. Der Mann auf dem Foto hat seine Identität angenommen.“
Dubois blickte nachdenklich drein und nickte dann entschieden.
„Das ergibt ein Bild“, meinte er dann. „Ich habe das Foto nämlich scannen und vervielfältigen lassen.“ Während er das sagte, holte er es aus einer Schublade heraus und gab es Alain zurück. „Eine Rundum-Abfrage sozusagen. Krankenhäuser, Leichenhalle, etc. …“
„Und?“
„Irgendjemand behindert die Ermittlungen, Alain. Plötzlich macht es Schwierigkeiten, an bestimmte Daten heranzukommen. Wir bekommen keine vernünftigen Auskünfte über diesen Mann. Ich weiß noch nicht, woher der Wind da weht.“
Alain lehnte sich zurück.
„Willst du damit sagen, dass jemand von der Sûreté nationale die Hand über diesen Renard hält?“
Die nationale Sicherheitspolizei also.
Das ergab Sinn.
Dubois sagte: „Ja, so ist es.“
„Was wirst du unternehmen, Paul?“
Dubois zuckte die Achseln.
„Jedenfalls werde ich nicht versuchen, mir an einer Mauer den Schädel einzurennen! Wenn sich mein Verdacht bestätigt, sind meine Möglichkeiten am Ende.“
„Klingt nicht gut!“
„Was soll ich machen, Alain?“
11
„Ich hatte Ihnen gesagt, Sie sollten keine Wunderdinge erwarten“, sagte Alain Boulanger an Marc Franchon gewandt. Der Agent saß hinter seinem Schreibtisch und machte ein ziemlich missmutiges Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände.
„So war das auch nicht gemeint, Monsieur Boulanger!“
„Ich wollte Ihnen einfach nur darstellen, was ich inzwischen weiß. Und es liegt nun an Ihnen, ob ich weitermachen soll.“
„Sie meinen, Renard ist aus eigenem Antrieb untergetaucht.“
„Ja. Keine Entführung oder so etwas. Da bin ich mir fast sicher.“
„Und der falsche Lebenslauf?“
„Ich weiß es nicht. Zeugenschutzprogramm vielleicht oder etwas anderes, was auch in die Richtung geht.“
„Und woran denken Sie da?“
„Er war darauf getrimmt, sich Telefon- und Autonummern zu merken. Er könnte ein Polizist gewesen sein. Oder ein Mann vom Geheimdienst.“
„Ganz egal, wer oder was Renard ist! Er scheint mir in Schwierigkeiten zu sein, und ich möchte, dass Sie ihn finden.“
Alain zuckte die Achseln. „Meinetwegen“, brummte er.
12
Theo Villette arbeitete bei der Sûreté nationale, der nationalen Sicherheitspolizei und besaß ein hübsches Haus in Paris-Montrouge, wo er mit seiner Frau lebte.
Alain stellte seinen Mercedes am Rand der breiten Allee ab. An beiden Seiten waren schlanke, hochaufragende Bäume, durch deren Kronen der Wind raschelte.
Eine schöne Gegend, dachte Alain. Villette war eben ein Mann von Geschmack.
Alain ging zur Haustür und klingelte. Eine Frau öffnete, die auf ihrem Arm ein Baby trug, das den Privatdetektiv mit großen Augen ansah. Die Frau kannte Alain nur von einem Foto, das Theo Villette immer bei sich trug. Und das Kind war noch nicht auf der Welt gewesen, als Alain Villette zum letzten Mal begegnet war.
„Guten Tag. Mein Name ist Boulanger. Sie werden mich nicht kennen, aber ich muss dringend mit Ihrem Mann sprechen.“
Ihr Blick war misstrauisch.
„Warten Sie einen Moment!“, sagte sie dann und verschwand. Als sie zurückkehrte, hatte sie das Kind nicht mehr auf dem Arm. Sie bat Alain herein und führte ihn in ein Wohnzimmer mit klobigen Polstermöbeln und einem niedrigen Tisch aus Glas. „Setzen Sie sich!“, sagte sie. „Mein Mann steht gerade unter der Dusche. Er kommt aber gleich. Wollen Sie etwas trinken?“
„Danke, nein“, erwiderte Alain.
Es dauerte nicht lange, bis Villette den Raum betrat. Und bis dahin herrschte mit wenigen Unterbrechungen ein verlegenes Schweigen.
Theo Villette blieb in der Tür stehen. Er trug Jeans und T-Shirt. Sein Haar war noch nicht ganz trocken. Villettes Gesichtsausdruck blieb unbewegt. Nur seine Augen verengten sich ein wenig.
„Tag, Monsieur Boulanger! Lange her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben.“
Der Privatdetektiv nickte.
„Seit der Rinaldo-Geschichte nicht mehr.“
Villette verzog das Gesicht zu einem etwas gezwungen wirkenden Lächeln, trat an Alain heran und gab ihm die Hand.
„Das müssen drei oder vier Jahre her sein.“
„Könnte stimmen.“
Die Blicke der beiden Männer trafen sich einen Augenblick lang. Dann sagte Villette: „Wir hätten Frank Rinaldo damals ohne Ihre Hilfe nicht bekommen, Boulanger.“ Er lächelte.
„Wer ist dieser Rinaldo?“, fragte Villettes Frau.
„Ein Profi-Killer“, erklärte ihr Mann. „Sechs Morde konnte man ihm vor Gericht nachweisen, aber es waren vermutlich mindestens doppelt so viele.“ Villette atmete tief durch. „Ein paar von unseren Leuten waren auch unter den Opfern.“
„Oh …“, machte seine Frau, die von der Story offenbar zum ersten Mal hörte. Jedenfalls machte sie ein recht überraschtes Gesicht.
Villette wandte sich wieder an Alain.
„Ich bin jetzt nicht mehr im Außendienst“, sagte er. „Ich hatte die Nase voll. Ziemlich bald nach der Sache damals habe ich mich versetzen lassen.“
„Und was machen Sie jetzt?“
„Jetzt schiebe ich an meinem Schreibtisch eine verhältnismäßig ruhige Kugel und komme auf der Karriereleiter ganz gut vorwärts.“
Alain verstand. Villette hatte inzwischen eine Familie gegründet, und da war es sicher das Beste für ihn, nicht mehr jeden Tag Kopf und Kragen zu riskieren.
Villette beugte sich etwas vor.
„Ich nehme an, Sie sind nicht einfach nur zum Vergnügen hier, Boulanger.“
Alain hob die Schultern ein wenig.
„Nein, leider nicht“, murmelte der Privatdetektiv, während Villettes Augen ein wenig schmaler wurden.
„Was wollen Sie?“, fragte er.
„Ein Gespräch unter vier Augen.“
„Meinetwegen.“
Madame Villette verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Als sie den Raum verlassen hatte, sagte Alain: „Es geht um einen Mann, von dem ich vermute, dass er vielleicht mal bei der Sûreté war. Sein Name ist Leo Renard, aber dieser Name ist falsch. Es scheint, als hätte er die Identität eines Toten angenommen.“
Villette runzelte die Stirn.
„Was ist mit diesem Mann?“
„Er ist vermutlich in Gefahr. Vielleicht lebt er auch schon nicht mehr. Jedenfalls ist er wie vom Erdboden verschwunden. Kurz zuvor hatte er eine handgreifliche Begegnung mit zwei Männern, die ihn vielleicht entführen oder umbringen wollten.“
Villette hob die Augenbrauen.
„Und was kann ich jetzt dabei für Sie tun?“
„Ich brauche einen Tipp, wer hinter Renard her sein könnte.“
Villette nickte.
„Und wie kommen Sie darauf, dass Renard in unserem Laden gearbeitet hat?“
„Erst dachte ich, dass er vielleicht mal in einer heiklen Sache Zeuge gewesen ist.“
„Und das denken Sie jetzt nicht mehr.“
„Renard konnte sich hervorragend Nummern merken. Von Telefonen und Autos. Das riecht für mich nach Polizei.“
„Ein ehemaliger Undercover-Agent, der eine neue Identität bekommen hat?“
„Zum Beispiel.“
„Aber wir borgen uns unsere Legenden nicht von Toten, Monsieur Boulanger. Das sollten Sie wissen. Das machen wir weder bei Zeugen, noch bei unseren eigenen Leuten.“
„Ja“, murmelte Alain. „Das hat mich auch gewundert.“ Er legte das Foto von Renard auf den Tisch.
„Ist er das?“, fragte Villette unnötigerweise.
„Ja. Auf der Rückseite habe ich alles Wichtige über ihn notiert.“
„Ich kann Ihnen nichts versprechen, Boulanger. Obwohl ich Ihnen noch einen Gefallen schulde.“
„Aber Sie können es versuchen.“
Er sah Alain einen Augenblick lang an und seufzte dann. „Okay“, meinte er. „Aber bitten Sie mich nie wieder um so eine Art von Gefallen!“
„Versprochen“, erwiderte Alain.
Villette machte nur eine wegwerfende Handbewegung.
13
Alain hatte die Hälfte des Weges zurück nach Paris-Mitte hinter sich, da meldete sich Jeanette über das Autotelefon.
„Paul hat bei mir in der Agentur angerufen“, sagte sie. „Seine Leute haben den Zahnarzt ausfindig gemacht, bei dem der Blonde vor seinem Tod noch gewesen ist.“
„Na, großartig!“
„Warte, ich gebe dir die Adresse durch. Liegt in Grenelle.“
Boulanger hatte an den Armaturen des 500 SL einen kleinen Block, auf dem er mit einer Hand mitschrieb. „Okay“, murmelte er dann. „Ist Paul schon unterwegs?“
„Ja, aber du wirst ihn sicher noch antreffen, wenn du dich etwas beeilst!“
„Was ist mit Renard? Hast du noch etwas über ihn herausfinden können?“
„Im Augenblick versuche ich herauszufinden, ob es an der Universität Studenten gab, die Renards nicht gerade alltägliche Sprachenkombination belegt hatten. Vielleicht kommen wir ihm so auf die Spur.“
„Vielleicht war er gar nicht in Paris-Dauphine.“
„In dem Fall sieht es finster aus. Aber einen Versuch ist es wert!“
Alain trat das Gaspedal des 500 SL durch und hoffte, dass im Moment keine Streifen auf den Straßen patrouillierten. Als er dann die Adresse erreichte, die Jeanette ihm genannt hatte, war Dubois schon da. Alain sah es an dem Dienstwagen des Commissaires, der vor der Praxis geparkt worden war. Die Sprechstundenhilfe wollte Alain erst gar nicht vorlassen.
„Ich gehöre zu Commissaire Dubois“, murmelte Alain in gedämpften Tonfall, während die Patienten im Wartezimmer interessiert die Ohren spitzten.
„Dann ist das etwa anderes“, meinte daraufhin die Sprechstundenhilfe. „Kommen Sie mit!“
Sie führte Alain einen kurzen Flur entlang und fragte dabei, ob er ein Commissaire sei.
„Ermittler“, gab Alain zur Antwort. Dass er kein Mitglied der Polizei war, erwähnte er natürlich nicht.
Der Zahnarzt hieß Mauvoison, machte einen ziemlich schmächtigen Eindruck und trug eine ziemlich dicke Brille.
„Hallo, Alain“, dröhnte Dubois. „Ich bin auch gerade erst gekommen.“
Mauvoison musterte Alain eine Sekunde lang. Dann sagte er: „Wie gesagt, der Mann nannte sich Garnier. Robert Garnier. So hat er es jedenfalls angegeben.“
„Haben Sie sich seine Papiere zeigen lassen?“, fragte Dubois.
Mauvoison hob die Schultern.
„Warum sollte ich?“, fragte er. „Der Mann hat bar gezahlt. Sein Zinkkäppchen hatte sich gelöst. Es war auch schon ziemlich zerbissen. Er brauchte unbedingt ein neues, weil sonst auch noch die Unterfüllung nach und nach herausgebrochen wäre.“ Mauvoison zuckte die Achseln. „Eine Sache von wenigen Minuten.“
„Ist Ihnen noch irgendetwas an ihm aufgefallen? Hat er vielleicht was gesagt?“
Dubois‘ Stimme klang nicht so, als ob er noch viel Hoffnung hätte, hier auf eine heiße Spur zu treffen.
„Er sprach etwas seltsam“, berichtete Mauvoison.
„Ein Akzent?“, mischte sich Alain ein.
„Ja.“
„Haben Sie eine Ahnung, was für einer das gewesen sein könnte?“
Mauvoison überlegte einen Moment, nahm dann die Brille ab und rieb sich kurz die Augen. Dann sagte er: „Spanisch oder Italienisch, wenn ich mich nicht völlig irre. Auf jeden Fall ausländisch.“
Dubois seufzte. „Ich danke Ihnen“, knurrte er und wandte sich zum Gehen.
Alain folgte ihm.
„Willst du nicht noch die Sprechstundenhilfe befragen, Paul?“
„Das habe ich schon.“
„Und?“
„Die erinnert sich kaum noch an den Mann. Mehr als Dr. Mauvoison wusste sie auch nicht.“
Wenig später waren sie bei den Wagen. Dubois wurde von der Dienststelle angerufen. Er sagte nicht viel. Nur zweimal „Okay!“, aber die Art, wie er das sagte, verriet, dass überhaupt nichts okay war.
Alain trat zu ihm.
„Neuigkeiten, Paul?“
„Abwarten. In meinem Büro sitzt jemand und wartet auf mich. Jemand von der Sûreté national.“ Dubois zuckte die Achseln. „Kann sein, dass der Fall jetzt für mich zu Ende ist.“
14