Tick Tock Alice - Jennifer Petri - E-Book

Tick Tock Alice E-Book

Jennifer Petri

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Beschreibung

Als Alice' beste Freundin Emily entführt wird, bricht für sie eine Welt zusammen. Doch damit nicht genug: Kurz darauf erhält sie verschlüsselte Hinweise von einem Unbekannten, der sich „Das weiße Kaninchen“ nennt und mehr über ihr Verschwinden zu wissen scheint. Gemeinsam mit ihrem Stiefbruder Lewis und ihrer verhassten Mitschülerin Hannah begibt sich Alice auf die Suche und erkennt, dass „Das weiße Kaninchen“ vor nichts zurückschreckt. Nur warum existieren so viele Parallelen zum Wunderland und wer steckt hinter dem Pseudonym? Was passiert, wenn die Zeit gegen dich arbeitet und du sie nicht aufhalten kannst? Tick Tock Alice.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

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20 

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32 

33 

34 

35 

Epilog 

Danksagung 

 

 

 

 

 

Jennifer Petri wurde 1996 an der Ostseeküste in Kiel geboren und lebt auch heute noch in der Nähe der Stadt. Schon seit Kindertagen denkt sie sich ihre eigenen Geschichten aus und lässt dabei nur zu gerne mal den Tee kalt werden.

JENNIFER PETRI

 

 

 

 

 

 

 

Vollständige e-Book Ausgabe 2019 

 

Copyright © 2019 ISEGRIM VERLAG in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt 

Covergestaltung: Ronja Schießl, www.riaraven.de

Coverillustrationen: © shutterstock.com 

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden.

 

ISBN: 978-3-95452-821-9 

 

www.isegrim-buecher.de 

 

 

 

 

Für jeden, der einfach alles riskieren würde.

Prolog 

 

 

Die goldenen Sonnenstrahlen fielen durch das geöffnete Fenster und blieben an einem vergilbten Stück Papier hängen. Es lag direkt vor ihm auf dem alten, zerkratzten Holzschreibtisch, bereit, die Tinte in sich aufzusaugen, die seine Worte hinterlassen würden.

Seine Hand wollte zittern, doch er ließ es nicht zu. Mit der anderen hielt er sie ganz fest, atmete mit kontrollierten Zügen die noch warme Luft von draußen. Ein. Aus. Ein. Aus.

Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckte er zusammen, denn er wusste, dass er sich beeilen musste. Sie würden ihn finden. Immer. In seinem Kopf hörte er schon die eiligen Schritte, die gedämpften Stimmen, das frohlockende Lachen, das obgleich es so schön klang, so viel Unheil vorhersagte. Und mit ihm fänden sie auch sie.

Hinten in der Ecke hörte er ihre gedämpften Schreie, die sich im schmutzigen Tuch verfingen und die keiner außer ihm hören würde.

Er konnte sich nicht konzentrieren. Die Verzweiflung, die an jeder seiner Fasern nagte, war überall spürbar, so präsent wie kaum ein anderes Gefühl zuvor.

Vielleicht half es, wenn er draußen etwas beobachtete. Etwas Friedliches. Etwas Unschuldiges. Vielleicht ein Tier.

Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts entdecken, was ihn beruhigen würde. Es war, als würde alles Schöne vor ihm davonlaufen.

Ohne jede Vorwarnung hörte er die Motorgeräusche eines Autos, weit in der Ferne. Sie kommen. Eigentlich hätte er es wissen müssen.

Hastig, darauf bedacht die Geräusche gering zu halten, stand er auf und schloss das rostige, alte Fenster.

Dann ergriff er mit verschwitzten Fingern noch einmal den Stift und gab dem Zettel seine letzten, geschwungenen Buchstaben.

Tick Tock, Alice.

 

Ein Tag zuvor 

 

«Sieht es auch wirklich gut aus?», fragte ich nun schon zum hundertsten Mal und zitterte innerlich vor Nervosität. Zweifelnd wollte ich wieder nach dem kleinen, blauen Handspiegel zu meiner Rechten greifen, doch Emily gab mir einen sanften Klaps auf die Hand, sodass ich sie schnell wieder zurückzog und mich seufzend in meinen Stuhl zurücksinken ließ.

«Kennst du Pumuckl?», fragte sie und biss sich ebenfalls etwas angespannt auf die Unterlippe. Vorsichtig zog sie die durchsichtigen Handschuhe aus, die nun voller roter Farbe waren und pfefferte sie ins Waschbecken.

«Nicht wahr, oder?», rief ich panisch und wünschte mir jetzt schon meine blonden Haare zurück, die ich gerade gegen rote eingetauscht hatte. Den Grund dafür hatte ich jetzt schon wieder vergessen.

Emily rümpfte die Nase und schien nachzudenken. «Okay, der Vergleich war jetzt echt etwas doof. Wie wäre es mit Arielle der Meerjungfrau? Jetzt siehst du ungefähr so aus wie sie.»

Auch wenn ich in meiner Kindheit die Geschichte von Arielle geliebt hatte, fand ich auch diesen Vergleich nicht besonders reizvoll.

«Dürfte ich bitte endlich den beknackten Spiegel haben?», bettelte ich und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Wenn es tatsächlich blöd aussah, würde ich den Verkäufer aus dem Drogeriemarkt, der mir statt der geplanten braunen Farbe die rote aufgequatscht hatte, weil die ja angeblich so schön zu meiner blassen Haut und den blauen Augen passte, höchstpersönlich verantwortlich machen. Wieso hatte ich mich auch nur darauf eingelassen?

Wortlos reichte Emily mir den Spiegel und lächelte aufmunternd.

«Es wäscht sich ja raus», tröstete sie mich und nickte, um ihren Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen. «Auf der Packung steht, dass es nur acht Wochen hält.»

«Nur?»

Ich wollte damit nicht einmal eine Stunde durchs Dorf laufen! So würde ich ja gleich zum Hauptgesprächsthema werden. Man hätte mir sagen sollen, dass blonde Haare zu hell waren, um sie einfach so rot zu tönen. Statt einem dunklen, verführerischen Ton, den man mir versichert hatte, sah ich nun tatsächlich so aus, als hätte ich zu lange mit meinem Tuschkasten gespielt oder eben Arielle imitiert.

«Können wir das wieder rauswaschen? Jetzt sofort?» Flehend sah ich zu Emily rüber, die noch einmal die Packung studierte.

«Nö», antwortete sie. «Das hält erstmal. Ich muss übrigens auch los. Meine Schicht im Café fängt gleich an.» Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln und drückte mir einen feuchten Kuss auf die Stirn, dann ließ sie mich mit dem Grauen allein.

Es dauerte genau eine Stunde und sechzehn Minuten, bis ich mich traute, das sichere Badezimmer zu verlassen und drei Türen weiterzugehen, um mein Zimmer zu erreichen, das mir gerade viel zu weit weg vorkam. Gut, ich hatte nicht nur einfach herumgesessen, sondern versucht, die Farbe herauszuwaschen. Leider vergeblich.

Würden nur Mama und ich hier wohnen, wäre ich womöglich schon längst zu ihr gelaufen und hätte mir sagen lassen, dass alles halb so wild war. Ich hätte mich gründlich ausheulen und mir einen Tee machen lassen können, aber da sie vor einem Jahr einen neuen Mann kennengelernt und ihn nach sehr kurzer Zeit geheiratet hatte, konnte ich nun nicht mehr in allen peinlichen Varianten durchs Haus wandern. Das schloss so ziemlich alles mit ein. Vom Burger versifften T-Shirt bis hin zum Evakostüm oder eben auch die roten Haare.

Mamas neuer Mann hatte nämlich nicht nur ein paar Klamotten und einen stinkenden Fußballsessel im Gepäck gehabt, sondern auch meinen neuen Stiefbruder Lewis. Es wäre nur natürlich gewesen, hätte ich ihn auf den ersten Blick nicht leiden können. Ich hätte ihn nervig und absolut blöd finden sollen. Irgendwann wären wir aber trotzdem zu einer Familie zusammengewachsen und er hätte die Rolle meines großen Bruders übernommen. Doch nichts davon war eingetreten.

In Wahrheit hatten wir uns kennengelernt, bevor wir überhaupt geahnt hatten, dass sein Vater und meine Mutter irgendwelche gemeinsamen Pläne schmiedeten oder sich überhaupt kannten. Dass die beiden sich trafen, hatten wir nämlich erst erfahren, als alles zu spät war und die Koffer beinahe schon vor der Tür gestanden hatten. Man würde vermuten, dass in einem kleinen Dorf, wie meinem in Norddeutschland, jeder jeden kannte, aber tatsächlich hatte ich das Internet und die hartnäckigen Überredungskünste von Emily gebraucht, um Lewis zu finden. Wir hatten dreieinhalb gemeinsame Dates gehabt, wobei das halbe nur zustande gekommen war, weil wir uns zufällig auf der Straße gesehen und dann einen Kakao getrunken hatten. Dieses besagte halbe Date war gleichzeitig auch unser letztes gewesen.

Zwei Tage später war dann die Bombe geplatzt und mir war klar geworden, dass meine zarten, verliebten Schmetterlinge nun sterben mussten. Leider hatten ein paar von ihnen überlebt. Dämliche Mistdinger. Änderte aber trotzdem nichts an dem Dilemma, von dem ich nicht einmal meiner Mutter hatte erzählen können.

 

Bevor noch irgendwer auf die Idee kommen konnte, durch die Tür zu platzen und mich zu überraschen, schloss ich sie lieber gleich von innen ab. Verzweifelt suchte ich dann nach meinem alten Cap, das noch irgendwo in den Tiefen meines Kleiderschrankes sein musste. Als ich das schwarze Teil endlich gefunden hatte, raufte ich all meine Haare zusammen und stopfte sie so gut es eben ging darunter.

Zugegeben, gut sah das nun wirklich nicht aus, besonders, weil noch einige rote Strähnen den Weg nach draußen gefunden hatten. Aber vermutlich besser als zuvor. Vorhin war es mir nicht aufgefallen, aber als ich mich umdrehte und in die Ecke sah, fehlte dort etwas. Meine Staffelei, auf der eigentlich eine Leinwand hätte stehen müssen, war leer. Das Bild, an dem ich ganze fünf Tage gemalt hatte und auf das ich wirklich stolz war, hatte einen Weg gefunden, zu verschwinden. Wütend und etwas besorgt zwang ich mich aus meinem Zimmer zu gehen, um danach zu suchen. Oder besser gesagt, um meine Mutter anzuschreien.

«Wo ist es?», rief ich aufgebracht, noch während ich die Treppe hinunter stampfte. Vorbei an den zahlreichen Bildern an der Wand, die symbolisieren sollten, dass wir eine richtige Familie waren, was wir aufgrund besagten Dilemmas eben nicht waren. Mama, die gerade Radio hörend und schief singend den Abwasch erledigte, warf sich das Handtuch über die Schulter, stemmte eine Hand in die Hüfte und lehnte sich mit der anderen gegen die Spüle.

«Wo ist was, Alice?», fragte sie und lächelte dabei. Aus der Ruhe bringen ließ sie sich nicht so einfach.

Da sie schon des Öfteren die Bereitschaft gezeigt hatte, meine Bilder einfach zu nehmen, um sie irgendwohin zu verstauen, war ich der Überzeugung, dass es dieses Mal genauso gewesen sein musste. Wer sollte es denn auch sonst genommen haben?

«Mein Bild, Mama», antwortete ich nun etwas ruhiger, starrte sie aber dennoch eindringlich an, als ob ich dadurch ihre Gedanken und den Standort der Leinwand in Erfahrung bringen würde.

Sie seufzte einmal tief und widmete sich dann wieder ihren Tellern, als hätte sie jetzt irgendwie mehr erwartet. «Ach, Alice. Mach die Augen auf. Dein Bild ist im oberen Flur. Ich glaube, Lewis hat es dort aufgehängt.»

Lewis? Jetzt war es an mir, verwirrt zu sein.

«Okay …», murmelte ich, zog die Stirn kraus und war schon auf halbem Weg nach oben. «Tut mir leid.»

«Ach ja…», rief sie noch und ich blieb kurz stehen. «Nimm bitte den Hut ab. Hübsch ist das nicht gerade.» Hut … okay.

Schon auf den letzten beiden Stufen der Treppe sah ich, dass meine Mutter richtig gelegen hatte. Am Ende des Flurs fand ich das farbenfrohe Bild mit den riesigen Pilzen, den gebogenen Ranken und den Blumen, die Gesichter besaßen. Wie kam Lewis dazu, in mein Zimmer zu gehen, es zu nehmen und irgendwo aufzuhängen? Gott, was fiel ihm ein?

Ich wollte es gerade abhängen, um es wieder in mein Zimmer zu befördern, da öffnete sich plötzlich eine der Türen und Lewis trat heraus. Mit einem Handtuch rieb er sich über sein blondes, ungekämmtes Haar, das wirr nach allen Seiten hin abstand. Wie angewurzelt blieb ich stehen und beobachtete ihn dabei, wie er in sein Zimmer gehen wollte, während ich mich seltsamerweise ertappt fühlte. Wieso stand ich hier und starrte meinen Stiefbruder einfach nur an, anstatt ihm vorzuwerfen, mein Bild genommen zu haben? Doch scheinbar hatte er mich noch nicht bemerkt.

Ich wollte warten, am besten unsichtbar, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Irgendwie hatte mein Mut mich nun doch verlassen. Das war oft so, seit wir zusammenwohnten. Ich traute mich kaum noch, mit ihm zu sprechen. Wieso, wusste ich nicht. Vielleicht hatte ich einfach Angst, dass wir uns immer noch so gut verstanden, wie bei unseren Dates, und das die Sache nur noch mehr verkomplizieren würde. Nach dem Bild konnte ich ihn später noch fragen. Oder es einfach lassen, auch wenn mir die Tatsache, dass er in meinem Zimmer gewesen war, nicht recht war. Doch dummerweise stand ich noch immer auf den alten Stufen der Treppe und verlagerte unabsichtlich mein Gewicht. Noch bevor er die Hand am Türgriff hatte, war ein ziemlich lautes, protestierendes Knarzen aus meiner Richtung zu hören.

Prompt blieb er stehen, ließ das Handtuch in seiner Hand sinken und drehte sich unerwartet schnell zu mir um. Erschrocken erwiderte ich seinen Blick und tat so, als hätte ich nicht schon die ganze Zeit hier gestanden.

Ehe er sprach, wartete er noch ein paar Sekunden, was alles unnötig in die Länge zog.

«Müsstest du gerade nicht irgendwo sein?», fragte er mit rauer, dunkler Stimme, die mir wie keine andere durch und durch ging, und zog eine Augenbraue in die Höhe. Ich räusperte mich kurz, bevor ich ihm eine Antwort gab. Was Besseres als ein grunzendes Geräusch, das eigentlich das Wort ›Nein‹ beinhalten sollte, bekam er dann aber doch nicht. Aber er nickte und schien verstanden zu haben. «Mir gefällt übrigens dein Bild», sagte er und zeigte mit dem Finger zu dem Grund, weshalb ich mein Zimmer überhaupt verlassen hatte.

Das war meine Einladung, also brabbelte ich in Höchstgeschwindigkeit drauflos, ohne Rücksicht auf Verluste. «Wieso hast du es genommen? Und warum warst du überhaupt in meinem Zimmer? Ich meine, du kannst doch nicht einfach so in mein Zimmer gehen und dir meine Sachen ansehen und beschließen, was davon mitzunehmen. Das ist doch … Das ist doch schließlich Privatsphäre, oder?»

Oh Gott, Alice, dachte ich schockiert und biss mir auf die Zunge. Wieso hatte ich all das gesagt? Peinlich berührt, krallte ich meine Finger fester ums Treppengeländer.

Lewis schüttelte bloß verwundert den Kopf.

«Wie gesagt, ich finde es schön und dachte, es würde im Flur gut aussehen.» Nun war er im Begriff in seinem Zimmer zu verschwinden, doch ohne eine eindeutige Antwort würde er mir nicht so schnell davonkommen. Auch wenn ich mich gerade mächtig blamiert hatte, musste ich es einfach wissen. Ich holte tief Luft und wappnete mich innerlich.

«Erklärt aber nicht, warum du überhaupt in meinem Zimmer gewesen bist», erwiderte ich, diesmal ohne zu brabbeln, und ging nun endlich die letzten Stufen nach oben. Als ich direkt vor ihm stand, fragte ich mich, wieso um alles in der Welt ich diese Diskussion überhaupt führen wollte. Er grinste mich an und biss sich unmerklich auf die Lippe. Wie sehr ich das hasste … Denn immer wenn er das tat, durchströmte Wärme meinen Körper und ließ mich erschaudern.

«Die Tür stand offen», antwortete er und lachte dabei leise. «Ich hab es vom Flur aus gesehen.»

Pause. Zugegeben, das klang logisch. Ich runzelte über meine Annahme, er wäre einfach so in mein Zimmer gegangen, die Stirn. Eventuell hatte ich mir das auch ein Stück weit gewünscht, weil es von Interesse an mir gezeugt hätte, auch wenn das ziemlich paradox war. Die leichte Enttäuschung, die ich trotzdem verspürte, ließ aber zumindest darauf schließen.

Plötzlich sah er mich merkwürdig an, mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis. Ehe ich etwas dagegen tun konnte, schnappte er sich mein Cap und meine roten Haare fielen locker über meine Schultern. Sein Blick dabei war undefinierbar.

«Willst du mit dem Sams konkurrieren?» Aus seinem anfänglichen Grinsen wurde ein schallendes Lachen, das immer lauter in meinen Ohren klang und mich innerlich ganz klein werden ließ.

«Nee, mit Arielle», konterte ich wütend, riss ihm das Cap aus der Hand und verschwand augenblicklich in meinem Zimmer. Jetzt hatte ich genau das erreicht, was ich zu verhindern versucht hatte.

 

Eine meiner Schwächen ist, dass ich mich ziemlich schnell langweile. Ich beschloss daher, Emily im Café zu besuchen. Im Gehen band ich meine Haare zu einem Zopf zusammen, damit sie nicht mehr ganz so auffielen. Allerdings war das wohl vergebliche Mühe.

Ich brauchte nur zehn Minuten mit dem Fahrrad, bis ich die Tür zu Emilys Arbeitsplatz öffnen konnte. Obwohl dieses Viertel sehr modernisiert war, schien der Besitzer sich zu weigern, mitzuziehen. Das Innere des Gebäudes versprühte einen alten Touch, der einen einhüllte, sobald man den Laden betrat. Er war klein und beinhaltete lediglich fünf Tische mit verschnörkelten, weißen Stühlen, deren Lack an einigen Stellen schon abblätterte.

«Alice», rief Emily begeistert, als sie mich sah und winkte mich wild gestikulierend zu sich. «Rate mal, wer eben hier war und einen kalorienarmen Café Latte bestellt hat?» Ich versuchte so zu tun, als würde es mich interessieren und studierte nebenbei die verschiedenen Kuchen und Muffins, bei denen es mir immer schwerfiel, mich für nur einen zu entscheiden.

«Es war Mia. Und zwar mit einem neuen Typen. Dunkle Haare, gebräunte Haut, relativ groß gebaut, aber das alles spielt keine Rolle, weil es eben nicht Lewis war!» Spätestens jetzt hörte ich doch zu.

«Haben sie sich geküsst oder so?», fragte ich bemüht beiläufig, ermahnte mich aber, mir nicht allzu viele Hoffnungen zu machen. Konnte ja sein, dass es bloß ihr Bruder war.

«Einmal. Bloß kurz, aber es hat definitiv gezählt», erwiderte Emily und fuhr sich mit der Hand durch ihre braunen Locken, die ihren Kopf wild umrahmten. Ich konnte nicht verhindern, dass ich erleichtert aufatmete. Seitdem Lewis mit seinem Vater in unserem Haus wohnte, hatte er schon öfter Mädchen mit nach Hause gebracht. Emily behauptete stets, er würde es bloß tun, um über mich hinwegzukommen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie recht hatte oder mich nur trösten wollte. Jedenfalls war Mia nicht nur einmal bei uns gewesen und ich hatte den Verdacht, dass daraus etwas Ernstes werden könnte, doch das hatte sich offenbar in Luft aufgelöst. Puff und erledigt. Auch wenn ich mir bewusst war, dass Lewis und ich nie mehr eine Chance haben würden, hegte ich den Wunsch, dass ihn dann auch keine Andere mehr haben sollte. Unrealistisch, aber – meiner Meinung nach – gerechtfertigt.

Emily zwinkerte mir zu und ließ das Thema fallen.

«Also», sagte sie und lehnte sich lässig gegen die Theke. «Was willst du diesmal?»

«Einen Café Latte mit Kalorien und», ich überlegte noch kurz und zeigte dann auf einen Schokoladenmuffin mit Sahne, «den da.»

In der Stunde, in der ich blieb, kamen und gingen viele Leute. Hätte Emily nicht gerade eine unzufriedene Kundin gehabt, die sich darüber beschwerte, dass es keinen kalorienarmen Kuchen gab, hätte ich den eigenartigen Kerl in der braunen Lederjacke gar nicht bemerkt. Seine Haare klebten in fettigen Strähnen am Kopf, sein Gesicht wirkte eingefallen und ungepflegt. Schätzungsweise war er Mitte vierzig, vielleicht auch älter. Aber das wirklich Seltsame war, dass er uns beobachtete.

Als die platinblonde Frau endlich das Weite gesucht hatte, versuchte ich Emilys Aufmerksamkeit unauffällig in seine Richtung zu lenken.

Sie verstand und warf ihm einen raschen Blick zu, bis sie ihn achselzuckend und mit einer Handbewegung abtat.

«Ich weiß, total gruselig. Er hängt ständig hier rum und glotzt doof durch die Gegend. Aber glaub mir, der ist harmlos.»

 

«Okaaay», stöhnte Emily langgezogen und blickte mir genervt entgegen. «Sag mir noch einmal, wieso wir hier sind.»

«Weil wir damit etwas Gutes tun», erwiderte ich schlicht und sah sie streng an. Vielleicht half es ja.

Emily blieb kurz stehen, holte eine Flasche aus ihrer Handtasche und tat so, als hätte sie ziemlichen Durst, nur um Zeit zu schinden und möglicherweise doch nicht mitkommen zu müssen.

«Es ist Samstag. Und es ist Nachmittag. Normalerweise sollte es verboten werden, an einem Samstagnachmittag nicht beim Shoppen oder im Kino zu sein und stattdessen in ein Altersheim zu gehen.»

Jetzt war ich es, die genervt stöhnte. «Emily», sagte ich, während ich theatralisch die Augen verdrehte. «Wir lesen ein paar Menschen etwas vor. Eine Stunde, höchstens. Das wirst du wohl überleben. Außerdem haben wir Ferien und du kannst noch an allen anderen Tagen shoppen gehen. Sogar Montagmorgen.» Sie schüttelte heftig den Kopf. «Da wäre ich mir nicht so sicher. Gib zu, du machst das bloß, weil deine Großmutter in diesem Heim gewesen ist.»

Damit lag sie nicht einmal falsch. Vor nicht allzu langer Zeit war meine Oma in diesem Seniorenheim gestorben, doch zu ihren Lebzeiten hatte ich sie oft besucht und ihr vorgelesen. Ein paar der anderen Älteren hatten immer gerne zugehört und so kam ich auch nach ihrem Tod noch her und las vor. Vermutlich, um mich ihr nah zu fühlen.

Das Besondere an diesem Heim war, dass es direkt auf einem Waldgrundstück lag. Ein ziemlich schmaler, unscheinbarer Sandweg führte zwischen hunderten Bäumen hindurch, die sich dem Himmel entgegen reckten, mündete auf einer kleinen Lichtung und führte genau zur Eingangstür des Altersheims.

«Komm schon, Em», meinte ich und zog sie weiter. «Wir müssen noch ein paar Minuten laufen. In der Zwischenzeit kannst du mir ja von deinem Date gestern Abend erzählen.» Damit konnte ich sie ködern. Sofort geriet sie in Erzähllaune und plapperte drauflos. Aber immerhin kam sie mit.

«Ich sag’s ja nur ungern, Alice, aber der Typ hatte echt mächtig einen an der Klatsche. Vielleicht hast du recht damit, dass man Männer aus dem Internet besser nicht treffen sollte. Sein Bild war viel – wirklich viel – besser, als er in Wirklichkeit aussah, ich sag nur Photoshop, und er hat die ganze Zeit irgendwelche komischen Sachen gefragt. Endgültig ins Aus geschossen hat er sich, als er das Essen nicht bezahlt hat. Wo gibt’s denn sowas?» Empört sah sie mich an und zog eine Augenbraue in die Höhe. «Im Ernst, das geht überhaupt nicht!»

Ich schüttelte den Kopf, war aber irgendwie doch selbstzufrieden. Schon oft hatte ich ihr gesagt, dass sie die Finger von Internetbekanntschaften lassen sollte. Wer wusste schon genau, wer sich hinter dem Onlineprofil verbarg? Gut, auf die gleiche Weise hatte ich Lewis kennengelernt, aber ich wusste ja, wie es ausgegangen war.

Hoffentlich würde sie jetzt endlich mal auf mich hören.

«Wie schade», antwortete ich nur, als ich den Eingang sah. «Wir müssen unsere Anwesenheit anmelden und dann können wir loslegen», sagte ich, nun irgendwie erleichtert, dass wir das Thema Dating beenden konnten.

Doch prompt blieb Emily stehen und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. «Melde du uns an, ich warte solange hier. Ich habe keine Lust, länger als nötig dort zu sein. Ich hasse den Geruch von alten Leuten.» Sie wedelte mit der Hand vor der Nase herum.

«Außerdem muss ich noch kurz meine Nachrichten checken. Ich hab schon den nächsten Kerl an der Angel.» Sie schenkte mir ein zuckersüßes Lächeln und fischte ihr Handy aus der Tasche. Gott, wo bekam sie die nur alle her?

Zwar war ich nicht begeistert, aber ich protestierte auch nicht.

Meiner Erfahrung nach hätte es ohnehin nichts gebracht und die Zeit, es zu versuchen, sparte ich mir dann doch.

Ich ging also durch die Schiebetür und sofort umhüllte mich dieser sonderbare Geruch, den ich nur von hier kannte. Ich konnte ihn nicht einmal irgendetwas Speziellem zuordnen. Emily hatte recht. Ich mochte ihn auch nicht.

Die ganzen Räumlichkeiten waren sehr steril und in schlichten Farben gehalten, was ich im Allgemeinen als nicht einladend empfand, mich hier aber kaum störte. Zumindest hingen hier ein paar große Bilder an der Wand, die schöne, beruhigende Landschaften zeigten. Warum ich mich trotz allem hier so ungeheuer wohlfühlte, konnte ich mir selbst nicht erklären.

Am Empfangstresen saß eine Frau, die mir noch sehr jung vorkam, vielleicht war sie noch in der Ausbildung oder gerade erst fertig. Schon oft hatte ich sie gesehen, aber ihren Namen merken konnte ich mir nicht. Gerade als ich Emily und mich mit einem Lächeln auf den Lippen angemeldet hatte und ich sie draußen wie ein kleines Kind abholen wollte, erschien ein wohl bekanntes Gesicht in der Sitzecke, das mich beobachtend betrachtete.

«Hallo, Hannah», rief ich seufzend und war nicht gerade begeistert, sie in den Sommerferien hier zu sehen. Sie ging in meine Klasse und irgendwie war sie so eine Art beliebte Schönheit Schrägstrich Streber Schrägstrich total eigenartige, undurchschaubare Person. Fakt war, dass sie niemand mochte, bis auf die Kerle, die einfach keine Ahnung hatten. Einschließlich mir.

«Besuchst du jemanden, Alice?», fragte sie, wobei ihr Gesicht keine Miene verzog. Immerhin waren meine Haare rot. Ich war schon ziemlich erleichtert, dass sie mich nicht darauf ansprach.

«Sozusagen», antwortete ich, wobei das – zugegeben – nicht allzu höflich klang.

«Ich auch», erwiderte sie. Großartig. «Übrigens, deine Haare sehen …» Weiter kam sie nicht, weil ich sie sofort unterbrach. Da hatte ich mich wohl zu früh gefreut.

«Ja, ich weiß. Pumuckl, Arielle und öhm … das Sams! Danke!» Mit diesen Worten verließ ich genervt das Heim und hatte vor, noch ein paar Minuten zu warten, bis wir wieder hineingingen, damit Hannah dann in einem der Räume verschwunden war, ohne dass wir uns noch einmal über den Weg laufen mussten. Doch als ich die süße Waldluft in meine Lungen einatmete, war es nicht Hannah, die verschwunden war.

«Emily?», rief ich und sah mich suchend nach ihr um. Doch viel mehr als Bäume konnte ich nicht sehen. Grün. Grün. Grün. Das gab’s doch nicht! Kaum wandte ich ihr den Rücken zu, flüchtete sie einfach. Möglicherweise hatte dieser Kerl sie ja auch sofort treffen wollen und sie war darauf angesprungen. Etwas wütend drehte ich mich noch einmal nach allen Seiten um. Doch nach ein paar Sekunden verwarf ich den Gedanken wieder. Sie würde mich nicht einfach so stehen lassen. Niemals.

Vielleicht versteckte sie sich irgendwo hinter einer Mauer, um mich zu erschrecken, ganz im Stil von früher, als es ihr immer riesengroßen Spaß bereitet hatte, mich zu ärgern. Einfach, weil sie keine Lust hatte reinzugehen. In der Eile stolperte ich mehrmals über den unebenen Boden, während ich einmal um das ganze Gebäude herumlief und verärgert ihren Namen rief.

«Emily? Em, du kannst jetzt rauskommen. Wir werden erwartet!» Ich blieb ein paar Sekunden regungslos stehen, horchte, ob eine Antwort kam, doch ich konnte nur meinen eigenen, unregelmäßigen Atem und das Rascheln der Blätter in den Baumkronen hören. «Komm schon, das ist nicht witzig. Wirklich nicht!» Mein Herz hämmerte immer schneller gegen meinen Brustkorb und ich war mir sicher, dass man es hören konnte, wenn man nur ganz genau aufpasste.

Meine Hände waren nass und klebrig vom Schweiß, als ich mein Handy aus meiner Handtasche fischte und nachsah, ob ich eine SMS oder einen Anruf verpasst hatte. Möglicherweise hatte es bei ihr ein Problem gegeben und sie hatte dringend weggemusst. Doch das Display zeigte mir weder einen entgangenen Anruf noch eine Textnachricht an. Gar nichts.

Mit fahrigen Fingern tippte ich Emilys Nummer ein und presste mir das Telefon ans Ohr.

Der zweite Grund, der mir einfiel, während das Piepen in meinen Ohren dröhnte, war, dass sie vielleicht dringend mal gemusst hatte. Sie hatte es schon immer gehasst, auf Toiletten zu gehen, auf denen auch fremde Menschen gewesen waren. Aber würde sie deswegen wirklich in den Wald pinkeln?

Hoffnungslos ließ ich das Handy sinken, kurz bevor die Mailbox anspringen konnte. Und in dem Moment, als ich schon auflegen wollte, hörte ich es. Die Melodie aus Die Tribute von Panem, die Emily als Klingelton gespeichert hatte, spielte irgendwo ganz leise im Hintergrund. Verwundert folgte ich dem Geräusch und als es abbrach, wählte ich noch einmal ihre Nummer. Da! Da war es wieder! Suchend sah ich mich um, bis ich die Quelle des Liedes ausfindig machen konnte. Mein Herz blieb für einen kurzen Moment stehen, als ich Emilys heißgeliebtes Handy im Gras liegen sah. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, machte sich in mir breit. Mit zittrigen Händen hob ich das Mobiltelefon auf und erkannte, dass das Display einen Sprung abbekommen hatte. War es nicht vorhin noch heil gewesen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Scheiße, irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht!

Hecktisch rannte ich wieder auf den Eingang zu, dorthin, wo ich sie zuletzt gesehen hatte, betend, dass mir jemand helfen würde. «Em!», rief ich noch einmal, während ich spürte, wie meine Kehle langsam trocken wurde und nach Flüssigkeit verlangte. Meine Stimme brach ab.

«Hilfe», wollte ich schreien, doch es war mehr ein Flüstern, dessen Atem geraubt wurde. Noch während ich versuchte zu begreifen, was ihr kaputtes Handy in meiner Hand zu bedeuten hatte, wusste mein Unterbewusstsein es schon längst.

Ich konnte nicht sagen, ob es Einbildung gewesen war. Ob mein Gehirn sich einen Streich mit mir erlaubte, um mich in die Irre zu führen. Doch in jenem Moment, als ich ein zweites Mal durch die Tür gehen wollte, hörte ich ein grollendes, unheilvoll klingendes Lachen, das zwischen den Bäumen widerhallte und nur für mich bestimmt zu sein schien.

Natürlich war es dumm. Jedes naive Mädchen in jedem x-beliebigen Horrorfilm handelte so. Aber zum ersten Mal verstand ich es wirklich. Es war wie ein Reflex. Ein Antrieb, der mich förmlich dazu zwang, meine Muskeln zu bewegen und ins Unbekannte zu rennen. Wusste ich überhaupt, wohin ich laufen musste? Nein. Sicher nicht. Aber ich musste es riskieren.

Noch knirschte der grobe Sand unter meinen Schuhen, dann bog ich vom Weg ab und spürte einen anderen Untergrund. Verzweifelt versuchte ich sämtlichen Wurzeln auszuweichen, über sie zu springen und nicht auf dem weichen Moos auszurutschen. Es gelang mir nicht immer. Ein paar Mal fiel ich hin, meine Jeans war an den Knien schon ganz feucht und grün und fühlte sich unangenehm an.

«Emily?», rief ich, ahnte aber bereits, dass sie mich vermutlich weder hören noch zu mir kommen konnte. Verdammt, wo steckte sie bloß?

Die Tränen stachen und brannten in meinen Augen und es fühlte sich an, als ob ich Feuer anstelle von Luft einatmen würde.

Überall um mich herum waren Bäume, die mich einengten und die immer dichter zu werden schienen. Jeder einzelne Winkel glich dem Nächsten, nichts kam mir mehr bekannt vor und doch erschien alles gleich. Aber das Schlimmste war, dass ich keine weiteren Spuren von Emily finden konnte.

Erst als ich mir mit der Hand meine zerzausten Haare aus der verschwitzten Stirn streichen wollte, bemerkte ich, dass ich ihr Handy noch immer fest umschlungen in meinen Fingern hielt.

«Em», murmelte ich leise, während mir Tränen die Wangen hinunterliefen und eine feuchte Spur zurückließen.

Plötzlich hallte ein furchtbarer Laut durch den Wald, so ohrenbetäubend, dass selbst die Vögel über mir kreischend ihren Platz auf den Bäumen verließen, und weckte in mir das Bedürfnis, es ihnen gleich zu tun. Erschrocken schaute ich von dem Handy hoch und ließ meinen Blick in jede Richtung gleiten. Was zum Teufel war das gewesen? So etwas hatte ich noch nie in meinem Leben gehört. Ich stockte. Nein, das war gelogen. Erst vor wenigen Minuten war ebendieses Lachen erklungen, als ich noch beim Altersheim gestanden hatte. Es schien von allen Seiten zu kommen und nirgendwo wirklich dazuzugehören. Emily war es nicht. So viel stand fest. Aber es musste etwas mit ihr zu tun haben, das spürte ich instinktiv. Denn weshalb sonst sollte es gerade jetzt erklingen, wo sie verschwunden war?

In meiner Irrationalität lief ich weiter geradeaus, dachte gar nicht darüber nach, was mir passieren könnte und traute mich immer tiefer ins Herz des Waldes hinein. Zweige schlugen in mein Gesicht und zerrten an meiner Kleidung, Schweiß drang mir aus sämtlichen Poren und vermischte sich mit dem Geruch nach Erde, Moos und diesem unverkennbaren Duft, den nur Wälder besaßen. Doch wie weit war ich schon gelaufen? Wie weit hatte ich mich vom Altersheim entfernt? Ich konnte es weder an der Entfernung noch an der Zeit festmachen. Plötzlich ergriff mich Panik. Mein Körper entschloss sich ohne meine Zustimmung, stehen zu bleiben und ich schrie aus Leibeskräften nach meiner Freundin, bis mir die Kehle brannte und mir jegliche Sauerstoffzufuhr verweigern wollte. Ich keuchte und versuchte verzweifelt, Luft zu bekommen. Doch was, wenn wirklich noch jemand hier im Wald war? Dann präsentierte ich mich gerade auf dem Silbertablett … Hallo, hier bin ich, komm doch her.

Eine Gänsehaut überzog meine Arme, stieg mir hinauf in den Nacken und ließ mich erschaudern.

Geh zurück, Alice, schoss es mir durch den Kopf. Lauf!

Mit bleischweren Knochen setzte ich mich wieder in Bewegung und versuchte den Weg zurückzufinden, während ich mich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, diesmal etwas bemühter, mir nicht jeden Ast ins Gesicht zu schlagen.

Lief ich überhaupt in die richtige Richtung? Ich war blind in den Wald gerannt, war von Angst weitergetrieben worden, auf der Suche nach dem Lachen, das mir so unheimlich erschien, aber scheinbar doch von Bedeutung war. Irgendetwas musste passiert sein. Freiwillig hätte Emily mich sonst nie einfach so stehenlassen.

Doch was hätte ich ausrichten können? Was hatte ich mir bloß dabei gedacht?

In meinen Kopf stahlen sich tausend Gedanken, die immer lauter wurden, wie das endlose Stimmengewirr einer Menschenmenge, das man einfach nicht abstellen konnte. Sie waren wie Nadelstiche, die sich immer weiter in mein weiches Fleisch bohrten und daran zerrten. Ich hätte von Anfang an die Polizei rufen sollen. Vielleicht wussten sie schon, wo Emily war. Sie konnte nicht weit weg sein. Möglicherweise war es doch nur etwas Harmloses, ein Missverständnis. So etwas wie Erleichterung durchströmte meinen müden Körper, als ich das große, moderne Gebäude des Altenheims zwischen dem Dickicht erkennen konnte. Hatte ich also doch den richtigen Weg gefunden. Doch wie lange war ich unterwegs gewesen? Ich versuchte schneller zu sein und sprintete auf den Platz zu, der so ruhig und friedlich dalag, als wäre gar nichts passiert und er der freundlichste Ort der Welt.

«Hilfe», schrie ich wild keuchend, noch während ich die Eingangstür aufstieß und fast über die Schwelle stolperte. Wie viel Zeit hatte ich bloß mit meiner sinnlosen Aktion verschwendet?

«Hilfe!» Meine Stimme war zitternd, gebrochen und voller Panik.

«Kindchen, was ist denn mit dir passiert?» Eine alte Dame im rosafarbenen Kostüm, die durch den Flur geeilt kam, lief auf mich zu und legte ihre warmen Hände auf meine. Als ich herunterschaute, erkannte ich, dass mein linker Handrücken blutete.

«Polizei», röchelte ich und versuchte tief Luft zu holen, was gar nicht so einfach war. «Meine Freundin, ich glaube, sie wurde entführt.» Die alte Dame nickte verständnisvoll.

«Das ist nicht gut, Kind. Wann ist das denn passiert?», fragte sie ruhig, verstand scheinbar rein gar nichts und sah zu dem leeren Platz der Empfangsdame. Vermutlich, weil sie etwas überfordert mit mir war. Vielleicht lag es auch an den Tabletten, die sie sicherlich bekam, dass ihr der Ernst der Lage nicht klar wurde. Meine Knie drohten nachzugeben.

«Ach du scheiße, Alice, was ist passiert?», rief eine mir bekannte Stimme aus der Ferne und noch nie war ich so froh gewesen, sie zu hören.

Hannah trat neben mich und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, während sie auf eine Erklärung wartete.

«Hannah, Schatz, ihre Freundin wurde mitgenommen», erklärte die Dame, die vermutlich Hannahs Großmutter war. Jedenfalls hatten sie denselben Ausdruck in ihren Augen und das Wörtchen «Schatz» war auch nicht ganz unerheblich.

«Wie mitgenommen?», fragte sie ungläubig und mir kamen erneut die Tränen, die wohl auch gar nicht versiegt waren.

«Sie … sie war plötzlich verschwunden. Einfach weg», schniefte ich und zog geräuschvoll meine Nase hoch. Mein ganzer Körper zitterte, ich spürte, wie das Blut in meinen Adern vibrierte. «Ihr Handy lag auf dem Boden und dann hab ich etwas gehört und bin in den Wald gelaufen, aber dort ist sie nicht gewesen. Wir müssen sofort die Polizei alarmieren», keuchte ich in einer weiteren Heulattacke.

«Kindchen», sagte die alte Dame und schüttelte fassungslos den Kopf. «Du kannst doch nicht einfach so in den Wald laufen. Ich bin mir sicher, es ist gar nicht so schlimm. Komm mit.» Sanft zog sie mich zu einem der Sofas. «Die liebe Hannah wird sich darum kümmern, dass die Polizei schnell hier ist.» Aufmunternd nickte sie mir zu und ich sah, wie Hannah tatsächlich den Notruf wählte und kurz darauf aufgeregt ins Telefon sprach. Dann rief die Dame nach jemandem. «Elisa?» Ihr Rufen war nicht sehr laut, aber trotzdem tauchte die Empfangsdame hinter der nächsten Ecke auf, als hätte sie nur auf ihren Einsatz gewartet. Wieso war sie nicht früher gekommen?

«Ja?», fragte sie und als sie mich sah, zuckte sie erschrocken zusammen. Ich wollte gar nicht wissen, was für ein furchtbares Bild ich abgab. Verdreckt, völlig außer Atem und einer Panikattacke nahe.

«Wir brauchen hier mal etwas zu trinken», sagte sie und Elisa verschwand, genauso schnell wie sie gekommen war, wieder um die Ecke.

Völlig aus der Fassung wischte ich mir den Rotz aus dem Gesicht und malte mir die schlimmsten Szenarien aus. Die ganze Welt fühlte sich gerade so surreal an, dass ich es gar nicht glauben konnte.

Hannah setzte sich neben mich und Elisa kam mit einem Glas kaltem Wasser zurück, das sie mir zaghaft entgegenstreckte. Als ich es umfasste, zitterten meine Hände so stark, dass ich befürchtete, das Glas nicht halten zu können.

«Die Polizei wird sofort hier sein», sagte Hannah und legte ihren Arm um meine Schultern. «Zeig mir mal das Handy. Vielleicht ist ein Anruf eingegangen oder so.»

Ungeschickt stellte ich das Glas auf den Tisch, dessen Inhalt dabei überschwappte, und zog das Handy aus meiner Hosentasche, in die ich es noch im Wald gesteckt hatte. Dann gab ich es Hannah, die es genaustens inspizierte.

«Der Akku ist leer», murmelte sie und gab es mir zurück. «Aber wenn wir es erst einmal aufgeladen haben, können wir möglicherweise eine Spur finden.»

«Sie ist weg, Hannah. Ich war nur ein paar Minuten hier und in der Zeit muss …» Ich brach ab. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Emily in dieser Sekunde durchmachen musste. Vielleicht steckte sie schon in irgendeinem dunklen Kellerraum, ohne jeglichen Funken Licht. Ich hätte sie zwingen müssen, mit mir zu kommen. Bei mir zu bleiben. Dann säßen wir jetzt im Gemeinschaftsraum und würden bei Tee und Keksen Geschichten vorlesen.

«Sie könnte angerufen worden sein. Jemand hatte einen Unfall oder so», murmelte Hannah halbherzig. Sie selbst schien nicht von ihrer Theorie überzeugt zu sein.

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus sprang ich auf und stieß dabei mit dem Knie gegen den Tisch, sodass das Glas auf den Boden fiel und in tausend kleine Teile zersplitterte, während das Wasser den Saum meiner Jeans tränkte.

«Ich muss sie finden», rief ich entschlossen und war schon auf halbem Weg nach draußen. Doch dann hielt mich jemand so abrupt an der Schulter fest, dass ich leicht zurücktaumelte und gefallen wäre, hätte die Person mich nicht in letzter Sekunde gestützt.

«Das hat keinen Sinn», sagte Hannah. «Alleine kannst du sie nicht suchen. Komm schon, die Polizei wird bald hier sein. Damit kannst du helfen. Indem du denen alles erzählst, was du weißt.» Skeptisch betrachtete ich Hannah. Ich war mir noch immer nicht sicher, ob sie mir glaubte oder mich schlichtweg für verrückt hielt. Eventuell auch etwas von beidem.

«Sie hat recht.» Elisa kam zu uns rüber und zog mich vorsichtig aufs Sofa zurück. «Du setzt dich und ich hole dir besser etwas Warmes. Tee beruhigt die Nerven. Dann rufst du deine Eltern an, damit sie herkommen können. Den ganzen Rest erledigt dann die Polizei.»

Nur schwer ließ ich mich davon überzeugen, dass es sinnvoller war, hierzubleiben. Letztendlich setzte ich mich dann aber doch und rief zu Hause an. Erst überlegte ich, besser Emilys Eltern anzurufen, aber ich beschloss, dass ich dafür nicht bereit war.

«Hallo?», meldete sich eine männliche Stimme.

«Ich will mit meiner Mutter sprechen», weinte ich, obwohl ich vorgehabt hatte, gefasster zu reagieren, doch Lewis’ vertraute Stimme gab mir einfach den Rest.

«Alice? Ist alles in Ordnung?» Er klang wirklich ernsthaft besorgt um mich. Aber ich hatte keine Zeit, mich darüber zu freuen. Das alles war so makaber.

«Bitte. Gib ihr das Telefon. Sie muss sofort herkommen.» Es fiel mir schwer, zu sprechen. Die Worte sammelten sich zu einem dicken Klos im Hals, den ich fast nicht überwinden konnte. Ich bekam sie kaum hervor, aber irgendwie musste ich ihm deutlich machen, dass ich jetzt einfach meine Mutter brauchte. Die alte Dame, deren Name mir noch immer unbekannt war, drückte tröstend meine Hand und schenkte mir ein knittriges Lächeln in ihrem faltigen, gutmütigen Gesicht.

«Wo bist du?», fragte Lewis und in seiner Stimme lag etwas Weiches, was mich geringfügig beruhigte.

«Im Seniorenheim», antwortete ich mit brüchiger Stimme und er legte auf. Einfach so. Ohne ein Wort des Abschieds, was ich insgeheim hasste. Selbst in Filmen verstand ich nie, woher die Menschen wussten, wann sie auflegen sollten. Aber heute sollte mir das egal sein. Inständig hoffte ich, dass er tat, worum ich ihn gebeten hatte.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich endlich das Geräusch von Autoreifen im Kies hörte, dann ein röhrender Motor, der abgestellt wurde, gefolgt von zuschlagenden Autotüren und schweren Schritten. In Wahrheit waren es bloß drei Minuten gewesen.

Kurze Zeit später begann eine weibliche Polizistin mir tausend Fragen zu stellen. Ich beantwortete sie alle. Ob mir irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war? Nein. Ob ich noch wüsste, was sie getragen hatte? Ich zeigte ihr ein Foto, welches Emily mir heute Vormittag geschickt hatte, um zu fragen, ob sie so gehen könne.

Als ich so erzählte und wie in Trance auf den braunen, hölzernen Tisch vor mir starrte, fiel mir doch noch etwas ein.

«Warten Sie», rief ich und wandte ihr mein Gesicht zu. «Sie hatte gestern ein Date mit einem seltsamen Typen aus dem Internet …» Ich dachte kurz darüber nach, was ich gerade gesagt hatte. «Und da war auch noch so ein schmieriger Kerl in dem Café, wo sie arbeitet. Emily sagte, er wäre öfter dort. Er hat uns beobachtet.»

Ich sagte ihr das, woran ich mich erinnerte. Den Chatverlauf zwischen Em und ihrer Bekanntschaft würden sie überprüfen können. Über den Mann im Café würden sie wohl Emilys Kollegen befragen müssen.

«Alice?», rief plötzlich jemand und ließ die Tür des Eingangsbereichs zuschlagen.

«Lewis, was tust du hier?», fragte ich entsetzt und sprang auf. Er sah völlig abgehetzt aus, seine Wangen waren gerötet und sein Atem ging stoßweise.

«Steckst du in Schwierigkeiten?» Er fasste mich an den Schultern und zog mich vorsichtig in seine Arme. Seine Wärme beschützte mich, hüllte mich völlig ein, was mich aber trotzdem nicht entspannte. Ich atmete tief seinen Geruch ein, um endlich nichts Fremdes mehr riechen zu müssen.

«Nicht ich», klagte ich und Tränen überkamen mich wieder.

«Emily.»

«Sind Sie ein Familienmitglied?», fragte die Polizistin. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie neben uns aufgetaucht war.

«Ihr Stiefbruder», antwortete Lewis und zog mich noch enger an sich heran. «Was ist denn passiert?»

«So wie es aussieht, wurde Emily Koch möglicherweise entführt. Der Sache werden wir sofort nachgehen. Könnten Sie Ihre Schwester in der Zeit nach Hause bringen? Ein paar meiner Kollegen werden sie später noch einmal kontaktieren.» Als sie Schwester sagte, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Lewis sah mich ungläubig an und ich spürte, wie sein Griff stärker wurde. Er war ganz blass geworden und sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen, aber ich schüttelte den Kopf. Einen kurzen Moment lang standen wir einfach so da, bis er der Polizistin zu verstehen gab, dass er sich um mich kümmern würde.

«Ich will nicht nach Hause, Lewis», nuschelte ich in seinen Pullover, doch er ignorierte mich.

«Komm jetzt», sagte er und dann ließ ich mich doch von ihm nach draußen führen, ohne nochmal einen Blick zurückzuwerfen. Kühle Luft schlug mir entgegen und als ich in den dichten Wald hineinsah, überkam mich eine Gänsehaut, die ich nicht wieder abschütteln konnte.

«Ich darf ja leider noch nicht ohne meinen Vater mit dem Auto fahren», sagte er entschuldigend, wirkte allerdings abwesend und zeigte auf sein blaues Fahrrad, das einsam und ungesichert an der Wand lehnte. «Setz dich einfach auf den Gepäckträger.»

Umständlich kletterte ich auf sein Fahrrad und schlang meine Arme um seinen Oberkörper, während mein ganzer Körper vor Anspannung zitterte. Ich war ihm dankbar, dass er mir Zeit ließ und ich nicht sofort alles, was passiert war, wiederholen musste, auch wenn mir klar war, dass er ungefähr tausend Fragen hatte. Ich war mir sicher, dass ich das noch oft genug würde tun müssen.

Während wir fuhren, zogen die Bäume an mir vorbei und wurden zu einer Masse aus grünen und braunen Farben. Irgendwo da draußen war sie. Musste sie sein.

Wo bist du nur, Emily?

 

Mein ganzer Körper zitterte und ich hatte Mühe, mich auf Lewis’ Fahrrad zu halten, als wir aus dem Wald fuhren und in eine belebte Straße einbogen. Diese ganzen Menschen, die Autos, das Geplapper, all das kam mir so unwirklich vor, so, als würde ich gerade in irgendein Paralleluniversum eintauchen und in einer völlig anderen Welt verschwinden.

Obwohl ich total neben der Spur war, fiel mir auf, dass wir nicht auf dem richtigen Weg waren.

«Wo willst du hin, Lewis?», fragte ich. Die Stimme, die aus meinem Mund gekommen zu sein schien, klang gebrochen und heiser vom ganzen Schreien. Zudem schmerzte mein Hals.

«Zu Emilys Eltern. Vielleicht hat sie ja auch einen dringenden Anruf bekommen und ist nach Hause gelaufen», antwortete er und ich spürte, wie sich seine Muskeln bei diesen Worten anspannten. Ich war fassungslos. Besonders, weil das jeder zu glauben schien, ich aber instinktiv wusste, dass das nicht sein konnte.

«Stopp!», rief ich laut und versuchte, mit meinen Fußspitzen den Boden zu berühren. Lewis zuckte so erschrocken zusammen, dass sein Rad leicht kippte und ich in letzter Sekunde vom Gepäckträger absprang, ehe ich der Länge nach hinfallen konnte.

«Egal, was gewesen wäre, sie hätte mir Bescheid gesagt. Sie hätte mich geholt. Du hast nicht alles mitbekommen, ich habe dir die Geschichte nicht erzählt.» Während ich sprach, gestikulierte ich wild, um meinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. Mir war nicht ganz klar, wieso es mir so wichtig war, aber er musste mich verstehen! Sie alle mussten das. Ich holte tief Luft, bevor ich weitersprach und wappnete mich gegen meine eigene Erzählung, mitsamt den Bildern, die in meinem Kopf erneut aufflackerten und lebendig wurden. Aber offenbar hatte Lewis mehr mitbekommen, als ich gedacht hatte. Trotzdem konnte es nicht alles gewesen sein.

«Da war ein Lachen. Mitten im Wald. Es erklang, nachdem ich ihr Handy im Gras gefunden hatte. Ich bin in den Wald gelaufen, um die Quelle zu finden und irgendwann tauchte es wieder auf, aber da war niemand. Dann bin ich sofort ins Altersheim zurück. Denkst du nicht, ich wäre nicht auf der Stelle zu ihr nach Hause gerannt, wenn ich glauben würde, dass etwas anderes los ist? Doch das hätte Zeit gekostet. Zeit, in der sonst etwas hätte passieren können. Deshalb habe ich die Polizei gerufen. Ich bin mir sicher, dass sie nicht einfach abgehauen ist.» Als ich meine eigenen Worte hörte, wurde mir deutlich bewusst, welchen Schaden ich eventuell angerichtet hatte, als ich blindlings in den Wald gelaufen war. Wie viel Zeit ich dadurch verschwendet hatte. Jetzt weinte ich wieder und erzitterte voller Hilflosigkeit. Auf einmal fühlte ich mich mitten auf der Straße, in der Menschen ihre Einkäufe erledigten und von der Arbeit kamen, einsamer als je zuvor. Ein paar der Passanten starrten mich an, doch es störte mich nicht. Diesmal war es mir wirklich gleichgültig.

«Moment mal, du warst im Wald?» Seine Stimme wurde lauter und er schien wütend zu sein. Verblüfft darüber, dass nur diese Information relevant für ihn war, holte ich einmal tief Luft, um mich zu wappnen. «Wie dumm, Alice! Du kannst froh sein, dass dir nichts passiert ist», rief er aus und schlug mit der Faust auf den Lenker seines Fahrrads.

«Natürlich war ich dort. Ich musste! Was denkst du, weshalb ich so aussehe?» Mit einer kurzen Handbewegung zeigte ich an mir herunter, auf meine schmutzigen und zum Teil kaputten Klamotten, an denen die Äste gezerrt hatten. Doch lange war ich nicht in Angriffsstimmung. Immer mehr Tränen rollten mir über die Wangen und ich schniefte unaufhörlich. Das hier war keine Situation, in der ich mich mit Lewis oder irgendjemandem sonst streiten wollte. Ganz und gar nicht.

Lewis’ Gesichtsausdruck wurde weicher, von der Härte von eben war kaum noch etwas zu erkennen.