Tiefes, dunkles Blau - Seraina Kobler - E-Book

Tiefes, dunkles Blau E-Book

Seraina Kobler

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Beschreibung

Kurz nachdem Seepolizistin Rosa Zambrano in einer Kinderwunschpraxis am Zürichsee Eizellen einfrieren lässt, wird ihr Arzt tot aufgefunden. Wem stand Dr. Jansen, der nebenbei ein erfolgreicher Biotech-Unternehmer war, im Weg? Erste Spuren führen in eine Villa an der Goldküste, in die alternative Szene, in Genforschungslabore und ins Rotlichtmilieu – und zu vier Frauen, die sich jede auf ihre Weise nicht mit dem abfinden wollen, was Biologie oder Schicksal vorgeben.

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Seraina Kobler

Tiefes, dunkles Blau

Ein Zürich-Krimi

Roman

Diogenes

Für R.

Gestern. Heute. Morgen.

Immer.

»Lasst uns Menschen machen … uns ähnlich!

Sie sollen walten über die Fische des Meeres

und die Vögel des Himmels.«

Genesis 1, 26

Von Weitem klangen die Kormorane wie meckernde Ziegen. Er konnte ihre metallisch glänzenden Köpfe sehen, die dort auf‌tauchten, wo er die Reusen im Wasser versenkt hatte. Am Hafen blinkten noch immer orange Sturmlichter. Die verdammten Biester hatten seine Verspätung ausgenutzt. Der Fischer begann, in seinen Bart zu fluchen. Früher hatten die Vögel hier auf ihrer Reise in den Süden nur kurz Rast gemacht. Seit einigen Jahren aber blieb die Kolonie sesshaft. Oft waren nur noch zwei, drei angeknabberte Egli in den Netzen, wenn er sie hochzog. Er öffnete die Kiste mit Ladykrachern, Knallfröschen und Monsterheulern und zündete gleich mehrere. Den fauligen Schwefelgeruch würde er für den Rest seines Lebens mit den Vögeln in Verbindung bringen. Mit leeren Netzen und dem ungläubigen Gesichtsausdruck des Mitarbeiters, den er nach zwanzig gemeinsamen Jahren hatte entlassen müssen. Während er die Reuse einholte, sprach er einem befreundeten Jäger aufs Band, dem er Kopfgeld für jeden geschossenen Vogel zahlte. Das Rattern der Winde wurde immer langsamer – sie war blockiert, der Fischer zog Handschuhe über seine schwieligen Hände. Das Seil fühlte sich an, als hätte er dennoch guten Fang gemacht, gespannt leuchtete er in die Tiefe. Die Lampe wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen, als ein Segeltuchschuh auf‌tauchte, der an einem nackten Fuß steckte. Dort, wo die helle Hose aufhörte, quoll weiches Fleisch hervor, blauviolett schimmernd. Er hatte schon einmal eine verweste Leiche im Wald gesehen, viele Jahre war das her. Das skelettierte Gesicht, an dem noch Hautfetzen hingen, hatte sich lange in seine Träume geschlichen. Ihn fröstelte. Schnell wählte er den Notruf und war erleichtert, eine menschliche Stimme zu hören.

1

Zehn Tage zuvor

Es heißt, die schönsten Städte der Schweiz liegen an einem Fluss und an einem See zugleich. Umspült vom Wasser, das von der schneereinen Gebirgskette herkommend durch ein offenes Tal strömt, vorbei an dicht besiedelten Ufern. Bis zuletzt die Stadt selbst aus dem Blau aufsteigt wie ein Traum. Und dort, am nördlichen Rand des Seebeckens, neben der noch jungen Limmat, beginnt die mittelalterliche Altstadt von Zürich.

Im Chez Manon, schräg gegenüber von der Predigerkirche, nahm die Kaffeemaschine zischend ihren Dienst auf. Noch müde Gesichter verschwanden hinter Tageszeitungen, die in Holzklammern steckten, bis Manon dickflüssigen Espresso in vorgewärmten Tassen servierte. Ein verschworener Moment der Einkehr, bevor die Geschäfte öffneten und Touristen die engen Gassen verstopf‌ten. Ganz in der Nähe erhob sich in einem geschlossenen Innenhof eine Esche. Erst auf Höhe der Dächer breitete sie ihre mächtigen Arme aus. Zu ihren Füßen lag ein Häuschen mit schiefergrauen Fensterrahmen. Eine Frau stand davor. Sie hatte ein Handtuch um die nassen Haare geschlungen, dazu trug sie einen Seidenkimono, der ihr jedes Mal über die Schulter rutschte, wenn sie sich bückte. Ihre Füße steckten in erdverkrusteten Garten-Clogs, wie man sie in den Baumärkten auf dem Land kaufen konnte. Rosa Zambrano knipste einen Zweig Verbene ab und war ganz zufrieden mit sich und der Welt. Denn die Welt, das waren rotbackige Radieschen, die versteckt zwischen Sommerkürbissen und dicken Bohnen wuchsen, oder in der Morgensonne ruhende Zucchini, deren safrangelbe Blüten schon sehr bald perfekt wären …

Statt wie sonst an ihrem freien Tag eine Runde auf dem Zürichsee zu rudern, musste sich Rosa heute beeilen. Sie ging ins Haus, legte den Eisenkrautzweig auf den Holztisch und stieg die knarrende Treppe hinauf. Die letzte Spritze hatte einen Bluterguss am Bauch hinterlassen. Sie suchte ein locker geschnittenes Sommerkleid aus dem Wandschrank. So wäre sie hinterher schnell wieder angezogen. Ein plötzliches Pfeifen rief sie zu ihrem morgendlichen Ritual. Sie eilte hinunter. Mit der einen Hand nahm sie den Wasserkessel von der Gasflamme, mit der anderen griff sie nach der gusseisernen Kanne für den Sencha. Ein Geschenk ihres Exfreundes. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und schob stattdessen einen Tritthocker vor das Regal. Im obersten Fach gab es eine nagelneue Glaskanne. Rosa stellte sie vorsichtig auf die Anrichte und zupf‌te Kräuter ab, bis nur noch lila überhauchte Blüten übrig waren. Nachdem sie kochendes Wasser in die Kanne gegossen hatte, funkelte der Inhalt bald schon wie geschmolzenes Gold. Zuletzt holte sie eine leere Eiswürfelform und verteilte die Blüten darin, füllte mit Wasser auf und stellte sie ins Eisfach. Dann sammelte sie die übrig gebliebenen Stiele ein. Auch sie würden ihren Platz finden: auf dem Kompost. Rosa ging ins Bad, das sich in einer Ecke der Küche befand. Eigentlich hatte sie sich schon lange vorgenommen, den Schuppen auszubauen, wo Spinnen und Kellerasseln zwischen geschichtetem Brennholz aus dem Stadtwald hausten. Aber es war wohl auch so, dass sie es nicht übers Herz brachte, die freistehende Badewanne mit den lackierten Füßchen aus der Küche zu verbannen. Sie stand in direkter Blicklinie zum Schwedenofen, sodass man während des Badens in knisternde Flammen schauen konnte. Wie fast alles in dem Häuschen hatte Rosa auch den Spiegel selbst montiert, vor den sie nun trat. Eine mit Silberfäden durchwirkte Strähne kringelte sich aus dem Frotteeturban. Sie verzog das Gesicht, glättete die Miene wieder und rieb Schwarzdornblütenöl auf Wangen und Hals. Anschließend öffnete sie, mehr aus Gewohnheit, den Kühlschrank und stieß die Tür gleich wieder zu: Auch wenn sie nicht die strikte Anweisung erhalten hätte, nüchtern zu erscheinen, hätte sie wohl keinen Bissen herunterbekommen. Im Garten stellte sie die dampfende Teeschale auf den Beistelltisch und setzte sich in den Liegestuhl unter der Esche. Rosa lehnte sich zurück. Zwischen den Ästen schien die Sonne durch und zeichnete flüchtige Muster auf ihr Gesicht.

2

Die Praxis lag etwas außerhalb. In einer der Gemeinden an der Seeküste, die nach der Farbe des Lichts benannt war, das abends die ausladenden Villen überzog. Als Rosa stadtauswärts radelte, standen beim Fußgängerstreifen am Bahnhof Tiefenbrunnen bereits erste Mütter und Väter auf dem Weg ins nahe Strandbad. Die Schiebegriffe der Kinderwagen waren so schwer beladen, dass die Gefährte wohl augenblicklich nach hinten gekippt wären ohne die als Gegengewicht festgeschnallten Kinder. Kühltüten. Klapp-, Liegestühle. Zusammensteckbare Strandmuscheln. Rosa fragte sich, ob das alles wirklich nötig war. Und sie wusste es nicht. Wie denn auch? Auf der Verkehrsinsel wiegten sich die Pappeln in der Brise. Ebenso wie die Masten der Segelschiffe, die im Hafen neben dem Betonwerk ankerten und Rosa an Essstäbchen denken ließen. Kurz darauf leuchteten die Plastiktische vor dem Klubhaus ihres Fischereivereins durch das Laubwerk. Doch ein Blick auf die Uhr ließ sie kräftiger in die Pedale treten. Jenseits der Stadtgrenze begann sich die Gegend zu verändern. Die blickdichten Zäune und Hecken wurden höher, nur durch schwere Eisentore unterbrochen. Auf geharkten Kiesplätzen standen Limousinen und Geländewagen mit niedrigen Zahlen auf den Nummernschildern, die regelmäßig versteigert wurden, was jedes Mal einige Millionen in die Stadtkasse spülte. Vor einem Anwesen mit Säulen aus Marmor schloss Rosa ihr Rennrad ab und löste den Stoff des Kleides, das sie für die Fahrt über den Knien zusammengeknotet hatte. Neben dem Empfangstresen thronte ein lebensgroßer Buddha.

»Haben Sie einen Termin?« Die schrille Stimme passte so gar nicht zum Plätschern des Zierbrunnens auf dem Tresen. Die Praxisassistentin schob ihre sorgfältig manikürte Hand über die Muschel des Telefonhörers.

Rosa riss sich vom Anblick des Buddhas los, dessen Hände, locker im Schoß ruhend, zu einer Schale gefaltet waren. »Ich bin etwas knapp dran. Entschuldigung.« Sie räusperte sich. Dann blickte sie wie beiläufig in Richtung Wartezimmer, um sich zu vergewissern, dass auch niemand mithörte.

»Ihr Name?«, schrillte es erneut. Die Tür war geschlossen. Rosa antwortete nun mit fester Stimme: »Ich heiße Zambrano.«

Fingernägel flogen wie Pfeilspitzen über die vollgeschriebenen Seiten des Kalenders. »Da haben wir es: Zambrano. Sie kommen zur Kryokonservierung?«

Rosa zuckte zusammen.

Die Assistentin strich den Eintrag durch. »Doktor Jansen braucht noch einen Moment. Aber das Untersuchungszimmer ist bereits frei.« Sie zeigte auf eine angelehnte Tür am Ende des Flurs, bevor sie den Telefonhörer wieder aufnahm.

Als Rosa sich an den geräumigen Tisch setzte, fasste sie sich an die Ohren. Die glühten und waren bestimmt tiefrot. Sie schüttelte ihre Locken darüber. Noch immer glaubte sie, sich rechtfertigen zu müssen. Ihre mittlere Schwester Valentina war schon Mutter. Und Alba, die Jüngste, würde es in wenigen Tagen ebenfalls werden. Es war nicht so, dass sie ihre kleine Nichte und ihren Neffen nicht mochte. Im Gegenteil: Sie bekochte ihre Familie regelmäßig. Oder zumindest sooft es der Dienstplan zuließ. Trotzdem erinnerten sie die Marmeladen- und Saucenflecken, von speckigen Händlein hinterlassen, jedes Mal an die Leerstelle in ihrem Leben. Alba war zwar altersmäßig weiter von ihr entfernt als Valentina, doch je länger sie erwachsen waren, desto unwichtiger wurde dieser Abstand. Und sie war es schließlich auch, die Rosa bestärkt hatte.

»Jetzt hör mal! Du kannst dich doch auch als Singlefrau befruchten lassen. Wenn du niemanden findest, dann gehst du in zwei Jahren einfach in eine Klinik ins Ausland. Dort kannst du alles machen lassen. Alles!« Ihre jüngste Schwester musste es ja wissen. Um schwanger zu werden, hatte sich ihre Partnerin vor einigen Monaten ebenfalls in Behandlung begeben. Erfolgreich, wie der kugelrunde Neunmonatsbauch zeigte, den Katrin vor sich herschob wie eine lebende Trophäe. Rosa wurde regelmäßig ungefragt mit Bildbeweisen überhäuft. Oder Rezepten, um die Plazenta nach der Geburt zu trocknen. Bloß nicht zu viel denken jetzt! Sie schloss die Augen. Versuchte es mit einer Atemübung. Nach zwei Durchgängen gab sie auf. Rosa bezweifelte, dass sie je lernen würde, sich beim absoluten Nichtstun zu entspannen. Lieber konzentrierte sie sich auf die großflächigen Drucke an der Wand. Die Tür öffnete sich, als sie gerade die Struktur einer Sanddüne studierte und darüber nachdachte, ob es für oder gegen die Erfolgsquote einer Kinderwunschpraxis sprach, wenn eine unfruchtbare Landschaft das Behandlungszimmer zierte.

Doktor Jansens Haare waren einen Tick zu lang, um zum Rest seiner Erscheinung im weißen Arztkittel zu passen. Wobei auch die modischen Segeltuchschuhe irritierten, die man barfuß trug. Sie erinnerten Rosa an den Skipper, bei dem sie Stunden für den Hochseeschein nahm. Auch Jansen hatte die Schwelle zum mittleren Alter bereits überschritten, was ihn aber eher noch attraktiver machte. Der Amorbogen seiner Oberlippe war geschwungen, dunkle Bartschatten drückten trotz gründlicher Rasur durch. Er schien zu jener Art Mensch zu gehören, für die es keine Probleme gab, sondern nur Lösungen. Zumindest war das Rosa bei ihrem ersten Termin vor einigen Wochen so vorgekommen, als er sie beruhigte: Dann verschaffen wir Ihnen mal die Zeit, die Sie brauchen. Und ihr zeigte, wie sie die Hautfalte am Bauch am besten dehnte, um sich die Hormone selbst zu spritzen.

»Bleiben Sie nur«, sagte er jetzt. Routiniert rieb er seine Hände mit Desinfektionsmittel ein, dessen Duft sich über sein Aftershave legte. Er grüßte im Vorbeigehen, ohne ihr die Hand zu schütteln. Setzte sich und klapperte mit der Tastatur seines Rechners. Da sie es selbst gar nicht mochte, wenn ihr jemand beim Schreiben auf die Finger schaute, wandte sich Rosa ab. Sie bemerkte, dass der Fotorahmen mit dezentem Goldrand verschwunden war. Er hatte sie bei den Vorbereitungsterminen irritiert, weil er nicht auf den Sitzplatz des Arztes ausgerichtet war, sondern leicht schräg stand. Als sollte jeder sehen können, wie er seine langen Arme um die Taille einer Frau schlang, während sich ihr rotes Kleid im Wind bauschte. Sie hatte so ein Lächeln … So eines, das bestimmt auf allen Bildern immer gleich aussah. Flankiert wurde das Paar von zwei nicht weniger perfekten Zwillingsjungs, die stolz Zahnlücke zeigten. Eine Bilderbuchfamilie, hatte Rosa gedacht. Während sich ihre rationale Seite kurz darüber wunderte, warum sie das so sehr abstieß wie anzog, auch nach all den Jahren noch.

»Ich habe noch zwei, drei Fragen. Dann kann es losgehen«, wandte sich Jansen ihr abrupt zu. »Wir können die Kinderfrage etwas hinauszögern …« Sein Adamsapfel hüpf‌te auf und ab. »Aber eine hundertprozentige Garantie gibt es natürlich nicht.«

Jetzt wollte er sich also doch noch absichern. Insgeheim war Rosa froh. Das relativierte den leicht überheblichen Eindruck, den er auf sie gemacht hatte. Auch wenn das nichts an den Tatsachen änderte: Ihre Fruchtbarkeit nahm mit jedem Tag, jeder Stunde, jeder Sekunde ab, mit der sie auf ihren 38. Geburtstag zuraste. Und nicht nur ihre Fruchtbarkeit: Bereits mit Ende zwanzig hatte der Großteil ihrer Körperfunktionen den Höhepunkt überschritten. Seit ihrem dreißigsten Lebensjahr verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit, demnächst zu sterben, alle acht Jahre. Bald schon würden ihre Zellen die Fähigkeit verlieren, Mutationen rückgängig zu machen. Kurz gesagt: Sie hätte eigentlich den nächstbesten Mann anspringen müssen! Stattdessen saß sie hier und ließ ihre eigenen Eizellen für viel Geld einfrieren. Rosa schielte auf die Uhr. Doch der Arzt schien keine Eile zu haben.

»Sie sind seit mindestens sechs Stunden nüchtern?«

Rosa nickte. Der homöopathische Schluck Kräutertee schien ihr ewig her.

»Hatten Sie schon einmal eine Vollnarkose?«

Wieder nickte sie. Und strich über die Stelle oberhalb des Knies. Vor einigen Jahren war dort abgestorbenes Gewebe durch ein dünnes Hauttransplantat vom Rücken ersetzt worden. Rosa spürte die Narbe kaum noch. Nur manchmal, wenn das Wetter wechselte, juckte der blasse, wulstige Hautfleck. Plötzlich fühlte sie sich, als wäre alle Kraft aus ihr herausgesaugt worden.

»Prima. Dann wollen wir mal sehen, ob der trigger shot erfolgreich war.« Jansen rollte auf seinem Lederhocker zum Untersuchungsstuhl. »Schon im Mutterleib enthalten weibliche Eierstöcke über 400000 Eizellen. Faszinierend, nicht?« Er drückte einen Knopf, und der Raum verdunkelte sich summend. »Bis zur Pubertät sterben aber die meisten ab. Nur etwa 500 erreichen im Laufe eines Lebens den Eisprung.«

Wie die anderen Male zuvor verschwand Rosa hinter dem Paravent und zog ihren Slip aus. Anschließend setzte sie sich in den Stuhl, der ihre Beine weit auseinanderspreizte. Der Arzt führte den Schallkopf in ihr Inneres ein. Auf dem Bildschirm leuchtete eine Struktur auf. Sie sah aus wie eine quer halbierte Knoblauchknolle.

»Da sind sie ja schon.« Er drückte noch etwas fester und zeigte nicht ohne Stolz auf die zehenförmigen Kammern. »Sieben prächtige Exemplare auf einmal.«

Bald darauf lag Rosa im Operationszimmer auf einer sterilen Liege, während ihr die Assistentin eine Papierserviette unter das Kinn schob.

Als sie wieder zu sich kam, verkrustete Speichel ihren Mund. Der Hals fühlte sich wund an, als hätte sie seit Tagen nichts getrunken. Sie wusste nicht, wo sie war. Wollte es gar nicht wissen. Mit dem Wellenrauschen im Ohr, das durch das gekippte Fenster drang, sank sie zurück in einen watteweichen Ozean. Als sie das nächste Mal aufwachte, ging es ihr besser. Der Zugang zur Dosierung des Propofols klebte noch immer an ihrem Arm. Rosa zog die freie Hand unter der Decke hervor und legte sie auf den Bauch. Dabei dachte sie an die fehlenden Eizellen, die nun schockgefroren bei minus 196 Grad lagerten. Und fragte sich, ob ein Kind erst entsteht, wenn eine davon befruchtet wird. Oder schon früher, nämlich bereits dann, wenn es von jemandem herbeigesehnt wurde.

 

»Ich kann Sie unmöglich in diesem Zustand fahren lassen.« Die Assistentin blickte vorwurfsvoll auf den Fahrradhelm, den Rosa gerade aufsetzen wollte.

Tatsächlich fühlte sie sich unsicher auf den Beinen. Dann würde sie das Rad halt schieben. Doch die Frau wollte partout nicht nachgeben. Eine halbe Stunde später rumpelte der Transporter auf den Vorplatz, mit dem Stella auf die Märkte im Umland fuhr, wenn sie ihre Keramik feilbot. Rosa nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Stella das Fahrrad in den Kofferraum lud. Am Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen neben einem Mini-Traumfänger. Rosa wurde übel.

»Fahren wir, ich kann Suki nicht zu lange alleine lassen«, sagte Stella, während sie den leeren Hundekorb neben das Fahrrad schob. »Du bist ganz schön bleich.« Sie ging um den Wagen herum. Und streckte Rosa eine Tüte Ingwerbonbons hin.

»Alba hat nicht abgenommen«, nuschelte Rosa, während sie eines der Bonbons in den Mund schob. Das Papier knisterte, als sie es zwischen den schweißnassen Handflächen zerknüllte und zu einer Kugel formte. Ihre Freundin war zwar nur ein knappes Jahr älter, doch sie hatte schon immer gewusst, dass sie keine Kinder wollte. Denn diese schafften für sie in erster Linie eines: Abhängigkeiten. Auf dem Weg zurück in die Stadt erzählte Rosa, was sich nun nicht mehr geheim halten ließ. Und hoffte, dass es nicht zu viel Unruhe mit sich bringen würde. Danach wollte sie nur noch eines: sich ins Bett legen und sehr, sehr lange schlafen. Ein Glück, dass sie die nächsten Tage vorsorglich freigenommen hatte.

3

Eine Woche später

Er hätte sich ein anderes Ende gewünscht. Eine finale Fassung mit einer Liebe, leuchtend wie Perseidenströme am Augusthimmel. Eine Liebe wie eine Sommernacht, in der das Leben explodiert – und alles stärker, schwerer und wärmer ist. Doch er schaffte es nicht. Obwohl er noch am Sterbebett daran arbeitete, hinterließ Giacomo Puccini, Schöpfer der berühmtesten Opern seiner Zeit, bei seinem Tod nichts als einen Stapel Notizen, die kein Ganzes ergaben: Turandot sollte Fragment bleiben.

Jetzt donnerte eine der Arien aus den mannshohen Boxen, die links und rechts der riesigen Leinwand unter Stoffbahnen versteckt waren. Nessun dorma! Nacht der Entscheidung. »Niemand schlafe«, befahl die mordlüsterne Prinzessin Turandot. Die jeden ihrer Verehrer auf eine Probe stellte. Und hinrichten ließ, wer nicht bestand. Moritz Jansen atmete mit der anschwellenden Stimme des Tenors ein, als sei es ihm so möglich, all dies für immer in sich aufzusaugen. Die Sonne, die im steinernen Parkett aus uraltem Quarzit gespeichert war. Und das Glück, das ihm, in Form von Alinas karmesinrot lackierten Zehen, über die Beine kitzelte. Sie saßen mitten auf dem weitläufigen Platz, der sich am Rande der Altstadt zwischen Bellevue, See und Theaterstraße aufspannt. Auf der Decke lagen noch Überreste des Picknicks, das aus gefüllten Weinblättern, Ziegenkäse und einer Baguette bestanden hatte. Vor ihnen erhob sich das Opernhaus im Licht der Scheinwerfer, die an diesem Abend für alle leuchteten. Auf dem Dach wachten Engel mit ausgebreiteten Flügeln, dazu Gottheiten in wallenden Gewändern, mit Schwertern und Schwänen. Unter ihnen auf dem Platz saßen lauter Menschen auf mitgebrachten Campingstühlen, noch feuchten Handtüchern oder einfach direkt auf dem Boden. Alina füllte den schäumenden Rest Rosé-Champagner in die beiden Kelche aus Kristallglas. Sie hatte sie auf dem Flohmarkt erstanden, ebenso wie das fliederfarbene Seidenkleid, das ein wenig so aussah, wie man sich ein Kleid für die Oper vorstellte, wenn man noch nie in der Oper war. Das rührte ihn. Außerdem sah sie hinreißend darin aus. Wenn sie sich sonst trafen, trug sie meistens Turnschuhe, locker geschnittene Jeans, die in geringelten Socken steckten, und irgendein Oberteil, das unter dem Laborkittel nicht störte. Mit spitzen Fingern öffnete sie ihre henkellose Tasche. Eine Clutch sei bei schulterfreien Kleidern unverzichtbar, hatte Alinas Mitbewohnerin erklärt und ihr kurz entschlossen ihre eigene in die Hände gedrückt. Alinas Gesicht leuchtete im Schein der Leinwand, als sie die – für diesen Zweck fein gemahlenen – MDMA-Kristalle in den Champagner streute, der unterdessen warm geworden war.

»Schmeckt bestimmt eklig.« Sie prostete ihm zu. »Macht dafür lustig.« Dann schwenkte sie ihr Glas, langsam und mit Bedacht, bis sich auch die Flüssigkeit im Kreis drehte. Und nippte daran. Jansen kippte den bitteren Satz auf dem Grund in einem Zug hinunter. Es war nicht das erste Mal, dass sie zusammen etwas nahmen. Aber das erste Mal, dass sie dabei nicht allein waren. Wobei er sich gerade nichts sehnlicher wünschte, als sie in kühle Laken zu legen. Er beugte sich zu Alina, so nahe, dass er die empfindliche Stelle an ihrem Hals berührte, und fragte, ob sie gehen wollten. Er liebte ihren Geruch. Zitrusschale mit einer Note von grünem Holz, darüber sauberer Schweiß. Auf den Rest des dritten Akts konnte er gut verzichten; geschrieben von einem ehemaligen Schüler des Maestros, der die hinterlassenen Notizen mit zuckrigem Pomp aneinandergeklebt hatte. Zu viel Alfano. Zu wenig Puccini.

Er stellte die hochhackigen Schuhe ordentlich vor Alina hin. Sie hatten etwas entfernt gelegen, wo sie von ihrer Trägerin zwei Stunden zuvor dankbar abgestreift worden waren. Dann schüttelte er die Brotkrumen aus der Decke und legte sie Alina um die nackten Schultern. Hand in Hand überquerten sie bei der Ampel die stark befahrene Seestraße und spazierten auf der Promenade in Richtung Utoquai, stadtauswärts. An den Absperrgittern entlang, die bereits für den Halbtriathlon am nächsten Tag aufgestellt waren. Es fühlte sich gut an, mit seiner heimlichen Freundin, die nun nicht mehr heimlich sein würde, durch die Nacht zu gehen. Und am kommenden Montag schon würden sie einige Tage zusammen in die Berge fahren.

Von immer weiter weg hörten sie den Schlussapplaus der Oper für alle, die Sopranistinnen, Tenöre und der Chor verneigten sich nun auf der strahlenden Balustrade über der Menge. Auf Jansens Oberlippe hatte sich ein salziger Schweißfilm gebildet. Alles war weich und flauschig, verschmolzen mit der Musik, die ihn erfüllte. Zusammen mit dem mitreißenden Gefühl, das einen überkommt, wenn man von einer Welt in eine andere übertritt und merkt, dass der innere Zustand und die äußere Umgebung endlich übereinstimmen. Wie das nur möglich ist, wenn man sich genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort befindet – und in der richtigen Gesellschaft. Lachen wehte durch die Luft, leicht und rund. Sein eigenes oder das der anderen, alles war eins. Wellen schoben sich vor und zurück, nicht nur am nahen Ufer, sondern auch in Jansens Ohren. Es war gar nicht möglich, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf.

»Puccini hätte das Ende gar nie finden können«, sagte er. Es knackste, als er die sich ankündigende Kiefersperre mit einem gezielten Ruck löste. »Es wäre nicht möglich gewesen, die Oper zu beenden. Nicht, solange er selbst – wie der Prinz in seiner Geschichte – die falsche Frau wollte«, fügte er hinzu. Er fasste an die Stelle, wo noch bis vor Kurzem der Ehering an seinem Finger gewesen war.

Alina blickte auf den See hinaus. »Hast du noch mal mit deinem Anwalt gesprochen?«

Weiter draußen schaukelten Schiffe mit brennenden Laternen, wie Glühwürmchen. Jansen glaubte für einen Moment, ein ihm nur zu gut bekanntes Motorboot entdeckt zu haben. Am Nachmittag hatte er dort zwei Stunden Lebenszeit verschwendet. Er ärgerte sich, aber nur kurz. Darauf war er gar nicht mehr angewiesen. Auf ihre Machtspiele. Und auf sie schon gar nicht. Dann schob sich die Panta Rhei vor den Schatten. Und die mit kaltblauen Lichtlinien umschlossene Reling des größten Ausflugsschiffs auf dem See wischte ihn einfach weg. Jansen drückte Alinas Hand noch fester. Sie fühlte sich seltsam heiß und kalt zugleich an. Zumindest die Sache mit seiner Noch-Ehefrau würde er hoffentlich regeln können. Auch wenn Alina daran zweifelte, dass sich zwanzig Jahre Ehe mal eben so in einen gütlichen Vertrag pressen ließen. Zu Beginn ihrer Beziehung war sie überzeugt gewesen, dass er eines Tages wieder verschwinden und zu seiner Frau zurückgehen würde. Seither gab er sich Mühe, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

»Moritz? Hörst du mich?«

»Der Anwalt … Sicher, ich ruf ihn an«, antwortete er. Woraufhin sich der Druck im Kiefer sogleich wieder aufbaute. »Aber erst, wenn wir wieder aus den Bergen zurück sind.«

Am Rand der Quaimauer saßen Menschen, unter Bäumen und auf Bänken. In Gruppen versammelt um portable Lautsprecher, aus denen Musik schallte. Viele verschiedene Stile und dennoch: alle gleich gemacht und kommerziell. Doch das störte Jansen nicht, heute nicht. Jemand sprang mit einem tiefen Schrei vom Steg, es platschte. Sie lagen auf dem Rücken im Gras. Neben ihnen standen vor Kälte beschlagene Plastikbecher mit Eistee. Wenn sich ihre Münder zu trocken anfühlten, rollten sie über den feuchten Tau zur Seite. Tranken in langen Zügen und genossen die Gänsehaut, die sich über den ganzen Körper ausbreitete: cutis anserina, eines der aufregendsten Beispiele für die schon in der embryonalen Entwicklung angelegte Verbindung des zentralen Nervensystems mit der Haut. Er hörte, wie Alina die schmelzenden Eiswürfel zwischen den Zähnen knackte. Der Bildschirm seines Telefons war noch immer schwarz. Keine Nachricht. Als Alina ihren Kopf in die Kuhle auf seiner Schulter legte, spürte er ihre Brustwarzen durch den Stoff hindurch und merkte, wie er eine Erektion bekam.

Alles drehte sich, als Jansen kurz darauf aufstand. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht, die er nicht mehr hatte schneiden lassen, seit sie zusammen waren. Dann klopf‌te er sein Jackett aus, wobei er als Allererstes nach der Speicherkarte tastete, die tief in der Innentasche verborgen war. Bereit für die Öffentlichkeit. Bereit für den Journalisten, den er kontaktieren würde, sobald sie aus den Bergen zurück wären. Bis dahin konnte er die Karte in Alinas Zimmer verstecken, da wäre sie sicher. Kurz darauf lösten sich die Umrisse einer Villa aus dem Schatten hoher Buchen. Mehrere Erker, eine Fassade aus behauenen Sandsteinquadern und turmartig aufragende Kamine verliehen dem Gebäude etwas Mysteriöses. Bei den aufziehenden Wolken erst recht. Baumwipfel strichen unruhig über die Szenerie. Fensterläden schlugen zu. Irgendwo klirrte Glas. Weiter hinten zuckte es, dort, wo sich über dem See die Alpen auf‌falteten und an schönen Abenden das Vrenelisgärtli glühte.

»Ich glaube, die schlafen schon alle.« Alina war, in die Picknickdecke gewickelt, dabei, das eiserne Eingangstor aufzuschließen – was ihr allerdings nicht auf Anhieb gelang. Sie presste einen Zeigefinger auf die Lippen. Kichernd betraten sie die imposante Halle, die sich zum Garten öffnete, von Zedern und Eiben verdunkelt. Drinnen schwebte noch die Hitze des Tages. Es roch nach Schnittblumen, die in hohen Vasen auf einem Tischchen am Eingang standen. Dahlien. Hortensien. Astern. Der Ballettsaal mit den gewienerten Böden lag still. Zuerst hatte Alina hier nur Tanzstunden genommen, um ihre Haltung zu verbessern, die unter dem vielen Stehen im Labor litt. Dann hatte sich die Möglichkeit ergeben, ein befristetes Zimmer in der Groß-WG zu mieten. Es befand sich am oberen Ende der gewundenen Freitreppe, die sie nun hinaufschlichen. Eine buschige Katze lag auf dem Sofa und hob gleichmütig den Kopf, als sie leise die Tür öffneten. Straßenlicht schien durch die bunt verglasten Scheiben und übertrug deren florale Muster auf die hellen Stoffkissen. »Raus mit dir!« Alina mochte keine Haustiere. Vielleicht merkte das die Katze. Vielleicht wollte sie ihr aber auch nur zeigen, dass sie schon länger da war. Ohne Eile spazierte die Katze über den Flokatiteppich in Richtung Ausgang und rieb sich im Vorbeigehen provokativ an Jansens Wadenbein.

»Scotch?« Alina zündete einige Kerzen an. Jansen schlang von hinten seine Arme um ihre Taille. Biss in ihr Ohrläppchen, fühlte, wie erneut Begehren in ihm aufstieg. Sie löste sich sanft und ging zum Barwagen, der vor einer Wand voller Bilder stand. Petersburger Hängung, hatte sie ihm erklärt, als er zum ersten Mal hier war. Verschiedenste Rahmen dicht an dicht, rund und eckig, von winzig bis spiegelgroß. Es gab naturwissenschaftliche Skizzen von Tieren, ein Riesenalk war da, Schmetterlinge, der Schädel eines Nashorns. Dazwischen Schnappschüsse: Mutter, Vater, Tochter und Sohn – in wechselnder Konstellation und Chronologie. Denkmäler der Erinnerung, wie sie in allen Familienalben vorkommen, mit denen man sich der eigenen Existenz vergewissert. Doch am wichtigsten schien Alina ein Bild zu sein, das in der Mitte platziert war. Es zeigte die Erde im Weltraum schwebend. Eine grünblaue Halbkugel, von Wolken umschleiert, die hinter dem Mond aufgeht. Aufgenommen von einem Astronauten der Apollo 8, dessen Mission es war, den Mond zu suchen – und der dabei die Erde fand.

Eiswürfel klackerten, als Alina die Gläser mit dem dicken Boden auf den Überseekoffer stellte, der als Couchtisch diente. »Earthrise«, sagte sie, seinem Blick folgend. »Das mag pathetisch klingen. Aber das Bild soll mich jeden Morgen beim Aufstehen und jeden Abend beim Einschlafen daran erinnern, dass wir nur Gast auf einer verschwindend kleinen kosmischen Oase sind. Mitten in der Unendlichkeit.«

»Ich frage mich eher«, sagte Jansen und zog sie wieder zu sich, »warum wir uns nicht schon viel früher begegnet sind.«

Alina legte ihren nackten Schenkel auf seinen Schoß und erwiderte: »Weil ich dann noch ein halbes Baby gewesen wäre?«

Er stöhnte gespielt auf. Dann ließ er seine Hand über die Innenseite ihres Beines hinaufgleiten.

»Im Ernst …«, sagte Alina. »Nur hundert Jahre, bevor das Bild entstand, schrieb Jules Verne über drei Abenteurer, die sich mit Kanonen auf den Mond schießen ließen – und mit Fallschirmen zurück auf die Erde kamen. Pure Science-Fiction, damals.«

Jansen lehnte sich tiefer in das Sofa hinein, er genoss den Geschmack nach rauchigem Torf, der ihm die Kehle hinunterbrannte.

»Das ist etwa so«, fuhr Alina fort, »wie wenn wir uns heute vorstellen, in ein anderes Sonnensystem reisen zu können.«

Er ahnte, worauf sie hinauswollte: »Oder dass unsere Spezies damit beginnt, sich nach eigenen Regeln weiterzuentwickeln. In seiner heutigen Fassung wäre der Homo sapiens nicht mehr als ein Zwischenstopp auf einer unaufhörlichen Reise zu einem vollendeten Dasein.«

»Sex hätte dann nur noch eine entspannende Funktion …«, sagte Alina. Sie stellte sein Glas weg und zog dann sein Hemd aus. In ihren weit geöffneten Augen sah er sich selbst. Seine Lippen streif‌ten die ihren zuerst nur, saugten sich aber bald fest. Wanderten über Achselhöhle und Bauchnabel, hinab zu den Fußsohlen. Jansen wurde unvermittelt klar, dass er, so wie er früher gewesen war, diese Art von Sexualität gar nie hätte praktizieren können. Doch nun passte alles auf eine geradezu vollkommene Weise zusammen. Alina spreizte die Beine, als er sie auf die Kissen bettete. Ohne ihren Blick zu verlieren, sank er auf den Teppich. Als er mit seiner Zunge ihre Klitoris suchte, begann sie, langsam ihr Becken zu bewegen. Er führte zwei Finger in sie ein, so wie sie es mochte, wobei sie seinen Rhythmus übernahm …

Als sie zum Orgasmus kam, durchflutete ihn eine Liebe und Lebendigkeit, die Körper und Seele auf‌lösten, ja vielleicht sogar die Zeit.

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Die ausfahrbaren Bürsten des Putzwagens der städtischen Reinigung dröhnten viel zu laut für ein Gefährt, das kaum länger war als ein Fahrrad. Das Dröhnen wurde immer lauter. Immer unangenehmer. Schließlich ohrenbetäubend. Rosa wich aus und fuhr quer über die Straße, bis zum Flussufer. Am Bellevue öffnete sich der Blick zum See, in dem sich ein glühender Morgen spiegelte, der einen weiteren brütend heißen Tag ankündigte. Eigentlich liebte Rosa diese Zeit im Sommer, wenn es schon hell war, aber die Bewohner der Stadt noch in tiefem Schlaf lagen. Nur der Gestank, der ihr in die Nase stieg, passte nicht so recht dazu: Stechender Uringeruch mischte sich mit dem von verschüttetem Bier. Auf den Stufen der Riviera, einer lang gezogenen Treppe, die das Ufer der Limmat vor der Quaibrücke säumte, lagen zertretene Bierdosen und halb leere Schnapsflaschen mit nikotingelb verfärbtem Inhalt. Ein angebissener Kebab trocknete in einer Lache aus Cocktailsauce. Normalerweise war die Stadt um diese Tageszeit so sauber, dass man barfuß hätte gehen können. Doch in den letzten Nächten war das Thermometer nicht unter zwanzig Grad gefallen. Mehrmals war die Situation rund um das Seebecken eskaliert. Messerstechereien, Raubdelikte und Auseinandersetzungen zwischen alkoholisierten Gruppen. Deshalb filmten nun Kameras an neuralgischen Punkten, worauf Schilder aufmerksam machten. Am Abend zuvor hatte außerdem eine Auf‌führung der Oper für alle Tausende hergelockt. Der Anlass war Teil einer breit angelegten Offensive, um das Zürcher Opernhaus im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern.

Als Rosa gehört hatte, dass Turandot aufgeführt wurde, wollte sie eigentlich unbedingt hin. Vielleicht, weil die Fußballweltmeisterschaft, welche die Oper weltberühmt gemacht hatte, zu ihren besten Kindheitserinnerungen überhaupt gehörte. Sie waren damals mitten in der Nacht nach Südfrankreich aufgebrochen, zu ihrer Großmutter mütterlicherseits. In Decken eingewickelt lag Rosa im Kofferraum, das leise Atmen ihrer jüngeren Schwestern wurde vom gleichmäßigen Brummen des Motors übertönt. In diesem Sommer aß sie zum ersten Mal Artischocken. Sie tunkte die harten Blätter in Mayonnaise und zog sie durch die Ritze zwischen ihren Zahnreihen. Anschließend badete sie ihre Finger in einer Schüssel mit lauwarmem Wasser, in dem Zitronenschnitze schwammen. Abends raunte und jubelte es überall in den Straßen, in Bars und Gärten, wo die Spiele auf flimmernden Fernsehapparaten übertragen wurden. Und über allem schwebte, dickflüssig wie Vanilleeis, das aus der Waffel tropft: Nessun dorma. Luciano Pavarotti eröffnete damit nicht nur das Turnier, er war auch der Erste, der die Hochkultur der Oper mit Popmusik zusammenbrachte – und damit die Hitparaden stürmte. Das Stück lief im Autoradio rauf und runter, wenn sie mit offenen Fenstern an den Stränden entlangfuhren und dabei ihre Hände in die backofenheiße Luft hielten …

Obwohl Rosa die Festivalatmosphäre auf dem Sechseläutenplatz mochte, hatte sie sich am Abend der Auf‌führung nicht mehr überwinden können, unter Leute zu gehen. Doch das war auch gar nicht nötig – wie beinahe alle großen Ereignisse in der Innenstadt trug der Schall auch Turandot in angenehmer Lautstärke bis in den Schwarzen Garten, wo sie bei einem Campari Orange mit hochgelegten Beinen gelauscht hatte.