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Hilfsbereite Raubkatzen, rachsüchtige Oktopoden, psychopathische Wasserinsekten und schamhafte Rentiere: Ja, auch Tiere haben einen individuellen Charakter. Diese Erkenntnis revolutioniert die Zoologie. Und als Kronzeugin gilt: die Kohlmeise Die großen Themen der Zeit sind manchmal kompliziert. Aber oft genügt schon eine ausführliche und gut recherchierte GEO-Reportage, um sich wieder auf die Höhe der Diskussion zu bringen. Für die Reihe der GEO-eBook-Singles hat die Redaktion solche Einzeltexte als pure Lesestücke ausgewählt. Sie waren vormals Titelgeschichten oder große Reportagen in GEO.
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Seitenzahl: 23
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Herausgeber:
GEO
Die Welt mit anderen Augen sehen
Gruner + Jahr GmbH & Co KG,
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg
www.geo.de/ebooks
Die Typen aus dem Tierreich
Von Anna-Maria Gentner
Zusatzinfos
Hundeverhalten: Eine Frage der Haltung
Extreme Charaktere: Vier tierische Typen
Primaten: Ganz nah am Menschen
Hilfsbereite Raubkatzen, rachsüchtige Oktopoden, psychopathische Wasserinsekten und schamhafte Rentiere: Ja, auch Tiere haben einen individuellen Charakter. Diese Erkenntnis revolutioniert die Zoologie. Und als Kronzeugin gilt: die Kohlmeise
Von Anna-Maria Gentner
Wenn ich meinen Garten betrete, werde ich augenblicklich zum Faktor in einem Persönlichkeitstest. Zum Störfaktor, um genau zu sein. Ein Trupp Kohlmeisen räumt das Gewirr der Rosen- und Waldrebentriebe, die sich auf der Holzpergola meiner Terrasse türmen. Einige Vögel suchen Zuflucht in der Buchenhecke am anderen Ende des Gartens. Andere fliegen nur ein paar Meter weit bis zur Felsenbirne an der Grenze zum Nachbargrundstück.
Ein paar ganz Mutige starten gar nicht erst. Sondern hüpfen nur eine Armlänge weit nach links in die Ranken. Von dort sehen sie zu, wie ich die Futterspender wieder auffülle.
Die Choreografie ist längst Routine. Ich mache ein paar Schritte vor, die Meisen weichen zurück, einige mehr, andere weniger. Ich könnte die Hand ausstrecken und einen der neben mir sitzenden Vögel berühren. Aber dann würde ich aus der Rolle fallen und vom Störfaktor zum Beutegreifer werden. Dieser Part ist jedoch bereits ideal besetzt mit den Katzen im Viertel, meine drei eingeschlossen.
Statt mit den Fingern streife ich das extravagante Federkleid nur mit den Blicken, bewundere die weißen Wangen, den schwarzen Schlips, den leuchtend gelben Leib, die selbstgewisse Haltung.
Ich streue frische Sonnenblumenkerne in die Futterampeln und checke die Meisenknödel. Sobald ich mich umwende, höre ich hinter mir den feinen Laut von Flügelschlägen.
Im Spiegel der Fensterscheibe sehe ich, wie drei der mäßig Zaghaften an den Ampeln landen. Aber die zwei Kecken sind ihnen, wie üblich, zuvor gekommen. Jede hält bereits ein Korn im Fuß und hackt darauf ein. Nur die scheuen Typen in der Buchenhecke zögern noch. Selbst wenn ich wieder im Haus verschwunden bin, warten sie bis zu zehn Minuten, ehe sie die Futterstellen anfliegen. Die besten Plätze sind dann längst belagert, aber die Schüchternen drängeln nicht. Sie holen sich ihre Portionen erst, wenn die Rüpel abgezogen sind.
Ein Garten-Idyll, eine banale Alltagsbeobachtung? Ja – und nein. Natürlich ist es nichts Neues, dass Vögel an Futterstellen um die besten Plätze rangeln. Das tun sie schon seit Darwins Zeiten plus/minus 120 Millionen Jahre. Und wer ihnen dabei genau zusieht, merkt, dass sich kein Vogel wie der andere verhält. Dass jeder bei dem, was er tut, seinen eigenen Stil hat. Was darauf schließen lässt, dass es auch bei Tieren so etwas wie individuelle Charaktere gibt.