Till und die Gefangenen im Nichts - Volker Mattheis - E-Book

Till und die Gefangenen im Nichts E-Book

Volker Mattheis

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Beschreibung

Der dreizehnjährige Till hat die besondere Gabe, in seinen Träumen an jeden Ort der Welt zu gelangen. Doch diese wunderbare Fähigkeit stellt ihn eines Tages vor eine gefährliche Aufgabe, die über diese Welt hinausreicht.

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Ganz besonders möchte ich mich bei meiner Frau bedanken, die mir geholfen hat, diese Geschichte zu erzählen.

Inhaltsverzeichnis

Ein Traum mit Folgen

Der Teufelsberg

Das Schloss im Nichts

Die Entscheidung

Die neue Schule

Der Geisterhund

Im Schlosskeller

Neue Freundschaft

Die Bibliothek

Tante Nora

Der Wurzling

Schatten

Grenzen verschwimmen

Der Ring

Der Stärkungstrank

Die fünf Türme

Der letzte Turm

Jule

Das Ende des Versteckspielens

Das Wiedersehen

Ein Traum mit Folgen

Gefangen in einem Wirbelsturm flog Till hoch durch die Luft, hin- und her gewirbelt von heulenden Sturmböen. Überraschend ließen ihn die tobenden Elemente fallen und er landete in einem dunklen, fensterlosen Raum.

Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers und eine kleine flackernde Kerze warf gespenstische Schatten an die Wand.

Elf Gestalten hatten sich versammelt. An einem der Tischenden saß, etwas erhöht, eine Zwölfte. Das musste der Anführer sein. Alle Anwesenden hatten ihre Gesichter mit Kapuzen verdeckt.

»Sind alle Vorbereitungen getroffen?«, fragte der Anführer mit tiefer Stimme.

»Ja, Prinzipal«, antwortete jemand.

Till konnte nicht erkennen, wer gesprochen hatte. »Das Zentrum der Magischen dieses Landes wird sich nicht mehr lange in dieser Welt befinden.«

Der Prinzipal am Ende des Tisches nickte. »Dann treffen wir uns wieder, sobald der Plan ausgeführt wurde.«

Die dunklen Gestalten schienen sich in Luft aufzulösen, und Till wurde wieder herumgewirbelt.

Es war stockfinster und kalter Regen peitschte in sein Gesicht. Wenige Sekunden später war er völlig durchnässt.

Nach einer Weile sah er tief unter sich die schemenhaften Umrisse eines Schlosses. Zahlreiche quadratische und runde Türme reckten sich in die Luft. Ein großes, kreuzförmiges Gebäude zerteilte das Innere des Schlossgeländes in vier Zonen.

Den Mittelpunkt bildete ein mächtiger Turm, der alle anderen überragte und sich wie ein mahnender schwarzer Finger in den Himmel reckte. Die vielen Lichter zeigten, dass das Schloss bewohnt war.

Dann wurde es übergangslos still. Der Sturm legte sich von einer Sekunde zur anderen und der Regen hörte auf. Ruhig schwebte Till über dem Schloss.

Ein Schrecken durchfuhr ihn wie ein Blitz, als er bemerkte, dass er nicht allein war. Eine dunkle Gestalt war zum Greifen nah an ihm vorbeigeflogen. Nach und nach erschienen immer mehr und begannen, einen großen Kreis über dem Schloss zu bilden.

Obwohl Till gut sichtbar sein musste, schienen sie ihn nicht zu bemerken. Er wollte fliehen, doch die Angst hielt ihn fest an seinem Platz. An die hundert dieser unheimlichen Figuren schwebten jetzt regungslos über dem Schloss.

Die Gestalt neben ihm bewegte den Arm und stieß einen dumpfen Ruf aus. Reihum taten es ihm die anderen nach und dann erschien wie aus dem Nichts vor jeder Gestalt ein grünes Lichtbündel. Daraus schossen fauchende Strahlen, die sich in der Mitte über dem Schloss trafen und mit einem ohrenbetäubenden Krach explodierten.

Ein leuchtendgrüner Kreis aus Licht flackerte auf und bestrahlte gespenstisch die Gebäude. Es breitete sich wie ein Mantel aus, um sich dann auf das Schloss zu legen. Wie zäher Sirup troff das Licht herunter und bedeckte alles, Türme und Häuser genauso wie den parkähnlichen Garten und die Einfahrt mit dem stählernen Tor.

Gleichzeitig bildeten sich über dem Boden weißschimmernde Nebelwolken, lösten sich von den Gebäuden und verflüchtigten sich wie Wasserdampf aus einem Teekessel.

Tief unten hastete eine Gestalt über das Schlossgelände. Von hier oben erschien sie winzig klein und war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Anscheinend rannte sie um ihr Leben.

Till verstand nicht, weshalb sich die Gestalt nicht im Schloss verbarg. Dort drinnen musste es bedeutend sicherer sein.

Dann hatte sie das Schlossgelände verlassen und verschwand vollends in der Dunkelheit. Das Leuchten des Schlosses tat ihr übriges und ließ die Umgebung noch finsterer erscheinen.

Angsterfüllt und fasziniert zugleich starrte Till auf das Geschehen, als er erneut von einem Wirbelsturm erfasst wurde. Kurze Zeit später beruhigten sich die Elemente wieder.

Diesmal befand er sich in einer großen Halle, wahrscheinlich im Inneren des Schlosses. Menschen rannten panisch schreiend umher. Die meisten von ihnen schienen nur wenig älter als Till zu sein.

Erneut wechselte der Ort. Er befand sich nun in einer von Kerzen erleuchteten Kammer. Zwei Frauen standen vor einem kleinen Fenster und starrten regungslos mit verängstigten Gesichtern auf den Schlosshof, wo Blitze zuckten und das grüne Licht langsam an den Mauern herunterkroch. Von draußen drang angsterfülltes Geschrei herein.

»Hallo«, rief Till, doch sie schenkten ihm keine Beachtung.

Sie hoben ihre Hände und schwenkten sie peitschend hin und her. Dabei murmelten sie unverständliche Worte.

Irgendwann ließen sie die Arme sinken und stützten sich auf dem riesigen Schreibtisch, um sich erschöpft anzusehen.

Als die Umrisse der Frauen zu flimmern begannen, stieß Till einen erschrockenen Ruf aus. Sie stöhnten auf, als hätten sie Schmerzen, dann verschwanden sie.

Dafür erschienen wie aus dem Nichts zwei leere Bilderrahmen an der Wand über dem Schreibtischsessel. Anfangs wie Rauch, dann fest und goldglänzend.

Dort, wo die Leinwände hätten sein müssen, brodelte es tiefschwarz. Schließlich bildete sich in jedem Bilderrahmen das Abbild einer der Frauen, die eben noch hier gestanden hatten. Sie hielten die Augen geschlossen, als ob sie schliefen.

Der Lärm draußen verstummte. Das Licht der Kerzen erlosch und auch das unheimliche Leuchten, das nun den Boden erreicht hatte, glühte noch einmal kurz auf, um dann wie ein erkaltendes Feuer zu verglimmen.

Eine gespenstische Stille legte sich über das Schloss und es wurde finster.

Abermals wurde Till herumgewirbelt. Er erkannte den dunklen Raum wieder. Zuerst glaubte er, der Traum würde sich wiederholen.

Doch dann begann eine der Gestalten zu sprechen.

»Es ist vollbracht«, sagte sie mit tiefer Stimme. »Ihre Macht in diesem Land ist gebrochen und ihr Zentrum zerstört.«

Till konnte nicht erkennen, wer gesprochen hatte, aber der Anführer nickte.

»Dann können wir mit unseren Vorhaben fortfahren. Die Menschen sind gierig und werden leicht zu lenken sein. Es ist trotzdem wichtig, dass wir so wenig wie möglich in Erscheinung treten.«

Eine kurze Stille trat ein. Dann sprach ein anderer.

»Es gibt genügend Menschen, die gerne in unserem Auftrag arbeiten möchten. Und die Übrigen werden es nicht bemerken. Die Menschen setzen ihren Verstand oft nur ein, um Rechtfertigungen für Dinge zu finden, die sie unbedingt tun oder haben wollen, in Wirklichkeit aber nur dem eigenen Vorteil dienen. Es wird ein Leichtes sein.«

»Sehr gut! Fahrt fort wie besprochen. Wir treffen uns in regelmäßigen Abständen wieder, damit ihr berichten könnt.«

Till erwachte kurz. Es war noch dunkel und er schlief gleich wieder ein. Wirre Traumfetzen begleiteten ihn, die er sofort vergaß, als er am nächsten Morgen schweißgebadet erwachte.

Der Teufelsberg

Der dreizehnjährige Till war ein eher stiller Junge, der wie viele Jugendliche seines Alters den alltäglichen Kampf mit seinen Eltern, den Lehrern und anderen Widrigkeiten des Lebens führte.

Er besuchte die örtliche Realschule und man hätte ihn eigentlich für einen ganz gewöhnlichen Jugendlichen halten können, wenn da nicht die Sache mit seinen Träumen gewesen wäre.

Denn Tills Träume waren so lebensecht, dass er nach dem Erwachen oft das Gefühl hatte, wirklich an den geträumten Orten gewesen zu sein.

Allerdings war er fast immer nur ein Beobachter, ohne selbst an seinen Träumen teilzunehmen. Das bedauerte er, denn es hätte sie ungemein bereichert und noch viel spannender gemacht.

Gewöhnlich verriet er seinen Eltern nichts davon, bis auf diesen einen Traum von einem Schloss, den er vor vier Jahren zum ersten Mal hatte und der seitdem regelmäßig wiederkehrte.

Till hatte nie ihre Bestürzung verstanden, als er ihnen davon erzählte. Ehe er sich versah, waren sie in eine weit entfernte Stadt gezogen. Hier wohnten sie einige Monate.

Als er dann unbedacht andeutete, dass der Traum weiterhin auftauchte, stand am nächsten Tag abermals ein Umzugswagen vor der Tür und sie zogen erneut um.

Till, der jetzt aus seinen Erfahrungen gelernt hatte, sprach fortan nicht mehr über seine Träume und so blieben sie eine Weile an dem Ort wohnen.

Doch nun schienen seine Eltern eine unerklärliche Unruhe und Rastlosigkeit erfasst zu haben. Bei ihrem dritten Umzug zogen sie aufs tiefste Land, etwas abseits von einer kleinen Stadt mit dem schönen Namen Sonnenbrunn. Das war vor zwei Wochen geschehen.

Seine Tante Nora, die ebenfalls in dieser Stadt wohnte, hatte ihnen ein winziges Häuschen besorgt. Wie das Städtchen befand es sich am Fuße eines Gebirges.

Eigentlich war es noch nicht einmal ein richtiges Gebirge, dazu war es zu klein. Ein paar Berge reihten sich aneinander, wovon der größte knapp dreihundert Meter hoch war.

Doch im Vergleich zu ihrer letzten Wohnung war das Haus für Till eine wesentliche Verbesserung. Er erkannte zum ersten Mal, dass es auch Vorteile haben konnte, nicht in einer großen Stadt zu leben.

Er wusste nicht, warum, aber er hatte den Eindruck, als wären seine Eltern seitdem zur Ruhe gekommen. Darüber war er sehr erleichtert, denn wegen der vielen Umzüge hatte er ständig die Schule wechseln müssen.

Aus diesem Grund, aber auch wegen der Tatsache, dass jedes Handy, welches er in die Hand nahm, den Dienst aufgab, hatte er in den bisherigen Orten kaum Freunde gefunden.

Er fühlte sich oft ausgeschlossen, wenn die anderen sich ohne ihn verabredeten. Und da er keine vernünftigen Erklärungen dafür geben konnte, mochten ihn die meisten seiner Schulkameraden nicht. Denn wenn man irgendwo dazu gehören möchte, ist es wichtig, zu reden und zu denken wie die anderen.

Till hatte mittlerweile einen Platz an der hiesigen Realschule von Sonnenbrunn gefunden. Er freute sich nicht darüber, denn warum sollte es ihm diesmal besser ergehen als auf der letzten Schule? Leider waren die Sommerferien fast vorbei, was bedeutete, dass übermorgen wieder die Schule begann.

Schweißgebadet erwachte Till am Samstagmorgen. Wie so oft in den letzten Wochen hatte er vom Untergang des unbekannten Schlosses geträumt. In seinen Ohren hallten noch die Schreie der verängstigten Menschen, und es dauerte eine Weile, bis er sich zurechtfand.

Sein Zimmer lag im ersten Stock des Hauses. Der kleine Garten vor Tills Zimmerfenster wurde bereits vom Sonnenlicht überflutet. Der wolkenlose Himmel strahlte in klarem Blau und lautes Vogelgezwitscher drang durch das Fenster. Der gestrige Wetterbericht hatte für den ganzen Samstag strahlenden Sonnenschein und heiße Temperaturen vorhergesagt.

Von seinem Zimmerfenster aus hatte er einen schönen Blick auf den kleinen Garten, den seine Mutter aufopfernd pflegte. Sie pflanzte nicht nur Blumen und Gemüse an, sondern auch eine ganze Reihe an Kräutern für Tante Nora, der Schwester seiner Mutter. Die Pflanzen gediehen prächtig und eine bunte Blütenpracht verwandelte den Garten in ein Meer aus Farben.

Seine Mutter hatte in der kurzen Zeit, in der sie jetzt hier wohnten, viel geschafft. Das Gemüse und die Blumen waren deutlich größer als in anderen Gärten, an denen Till vorbeikam. Scheinbar taugte der Dünger, den seine Tante herstellte, doch etwas.

Aber das Beste an seinem Zimmer war die Sicht auf den waldbedeckten Berg, an dessen Fuß ihr Haus stand. Zwischen ihm und dem Garten lag nur ein schmaler Streifen bewaldetes Land. Till konnte deutlich Teile einer Ruine zwischen den Bäumen auf dem Gipfel sehen. Dahinter versteckten sich einige kleinere Berge.

Die letzten Wochen waren extrem heiß gewesen. Der Boden war ausgetrocknet und eine Staubschicht hatte sich auf alles gelegt. Seltsamerweise blieben die Temperaturen in ihrem Haus recht angenehm, was Till auf die Nähe zum Berg zurückführte.

Im Gegensatz zu den kleineren Bergen, wo sich die Blätter wegen der Trockenheit bereits verfärbten, strahlte das Laub auf dem Berg vor ihrem Haus wie ihr Garten in sattem Grün. Er sah aus, als würde er regelmäßig in Wasser getunkt.

Tante Nora hatte ihnen einmal erzählt, dass die Bewohner des Städtchens ihn den „Teufelsberg“ nannten. Es ging das Gerücht um, dass vor langer Zeit Kinder verschwunden waren, die sich dort oben aufgehalten hatten. Doch so richtig konnte sich niemand mehr erinnern, da es vor gut hundert Jahren geschehen sein sollte, etwa zurzeit des Ersten Weltkrieges.

Dennoch hatte sich die Furcht bis heute gehalten und niemand versuchte, auf diesen Berg zu steigen. Die Tante versicherte aber, dass es der pure Aberglaube war.

Dafür erfreuten sich die übrigen Berge umso größerer Beliebtheit. Sie waren ein Anziehungspunkt für kurze Wanderungen und Ausflüge. Auf einem von ihnen gab es auch ein gutbesuchtes Café.

Doch Till zog es auf den Teufelsberg. Natürlich durfte er das seinen Eltern nicht sagen. Sie hätten es ihm verboten oder schlimmer, gleich wieder einen Umzugswagen bestellt.

Obwohl sie bislang nie auf dem Berg gewesen waren, schienen sie Angst vor ihm zu haben. Till vermutete, dass die Erzählungen seiner Tante nicht ganz schuldlos daran waren.

Eigentlich wusste er bis heute nicht, aus welchem Grund sie überhaupt so oft umgezogen waren, denn seine Eltern sprachen nie darüber.

Rasch streifte Till sich die Kleider über und fuhr mit der Hand durch das vom Schlaf zerzauste aschblonde Haar. Er lief die Treppe hinunter durch den Flur zur Küche. Seine Eltern hatten das Frühstück schon beendet und tranken noch eine letzte Tasse Kaffee.

Sie hatten beide eine Stelle als Angestellte in der Verwaltung des Städtchens gefunden. Das musste der langweiligste Job der Welt sein, wie Till glaubte. Er konnte sich nicht vorstellen, später einmal den ganzen Tag in einem Büro herumzuhängen, wie seine Eltern.

Während er herzhaft in sein Brötchen biss, eröffneten sie ihm, dass sie ab Donnerstag für vier Tage zu einer Tagung der Stadt mussten, die irgendwo im Norden des Landes stattfinden sollte. Das bedeutete für Till viele langweilige Stunden bei seiner Tante. Genervt verzog er das Gesicht. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

»Muss das sein?«, nörgelte er.

»Es ist doch nur für vier Tage«, versuchte seine Mutter ihn zu trösten.

»Wir wissen, dass wir dich in letzter Zeit viel allein gelassen haben. Aber es ist wirklich wichtig«, sagte sein Vater.

»Es ist immer alles wichtig«, stieß Till missmutig hervor.

»Ab nächstes Jahr wird es einfacher«, sagte seine Mutter. »Versprochen!«

»Na, was hast du denn heute geplant?«, fragte sein Vater im offensichtlichen Bemühen, das Gespräch auf ein freundlicheres Thema zu lenken.

»Weiß noch nicht«, antwortete Till ausweichend. »Vielleicht werde ich mir die Stadt ansehen.«

Sein Vater nickte zustimmend.

»Grüße Tante Nora, falls du noch zu ihr gehst«, sagte die Mutter.

»Äh, ich denke eher nicht.«

Seine Mutter hatte eine Augenbraue hochgezogen und sah ihn fragend an. »Du denkst eher nicht, dass du sie grüßt oder dass du zu ihr gehst?«

»Beides«, brummte Till.

Sie stieß genervt die Luft aus.

»Wenn wir erst einmal eine Weile hier wohnen, lernst du sicher auch andere Jugendliche kennen.«, versuchte sein Vater ihn zu trösten. »Ich verspreche dir, dass wir in den nächsten Jahren nicht mehr umziehen werden.«

Till nickte mundfaul. Es fiel ihm schwer, seinem Vater zu glauben, doch er wollte auf keinem Fall deswegen wieder einen Streit beginnen. Heute würde er auf den Teufelsberg klettern.

Rasch räumte er sein Frühstücksgeschirr vom Tisch und machte sich bereit für seinen Ausflug. Als er am Gartentörchen stand, hielt er inne und atmete tief die morgenfrische Luft ein. Nicht mehr lange, und es würde wieder sehr heiß sein.

Während sein Blick zum Gipfel wanderte, dachte er an den Augenblick, als er zum ersten Mal den Berg mit der alten Ruine erblickt hatte. Er konnte nicht sagen, warum, aber für einen kurzen Moment war ein tiefes Empfinden der Vertrautheit über ihn gekommen, das Gefühl, hier zu Hause zu sein.

Der Wald vor ihrem Haus reichte hinauf bis zum Gipfel des Berges. Ein angenehmer Luftzug wehte den Berg hinunter. Die Bäume standen so dicht, dass die Sonnenstrahlen nur mit großer Mühe bis zum Erdboden vordrangen.

Da es keinen angelegten Weg gab, nicht einmal einen Trampelpfad, gestaltete sich der Aufstieg schwerer, als Till angenommen hatte. Je weiter er vordrang, umso dichter standen Büsche und Bäume. Auch schien es ihm, dass sie mit der Zeit immer älter und knorriger wurden. Obendrein war der Weg recht steil und nach wenigen Minuten blieb er keuchend stehen.

Ein Eichhörnchen rannte, stimmlos keckernd, einen Baum hoch und von Ferne hörte er den Ruf eines Kuckucks.

Ein Geräusch aus dem Geäst über ihm schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er blickte hoch und sah auf dem Ast einer uralten, schiefen Eiche einen Vogel sitzen. Es war der seltsamste Vogel, der ihm bisher begegnet war.

Zuerst hielt er ihn für einen Schwan. Das Tier hatte einen langen Hals und sein Gefieder war schneeweiß. Doch dann lachte Till sich aus. Sicher hatte noch nie jemand von einem Schwan gehört, der auf Bäumen saß.

Der spitze Schnabel und die metallisch glänzenden Krallen wirkten sehr gefährlich und die eisgrauen Augen fixierten ihn regungslos. Sie folgten jeder seiner Bewegungen.

»Du hast hoffentlich schon gefrühstückt?«, murmelte Till beunruhigt. Der Vogel rührte sich nicht und starrte ihn unbeirrt an.

Er kam zu dem Schluss, dass es vielleicht besser war, sich aus dem Staub zu machen. Wer wusste schon, was diesem Tier sonst noch einfiel.

Langsamer als zu Beginn der Wanderung ging er weiter. Nach wenigen Minuten sah er in einiger Entfernung zu seiner Linken den Eingang einer Höhle. Das war zu interessant, um einfach weiterzugehen.

Gespannt schlug er sich durch das Buschwerk. Der Hang war sehr steil an dieser Stelle und er musste Obacht geben, dass er nicht wegrutschte. Zum Glück stand das Wurzelwerk der Bäume und Büsche so dicht, dass er nicht besonders tief fallen konnte.

Neugierig versuchte er, mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Das Ende der Höhle war nicht zu erkennen und kein Geräusch drang heraus. Ein stechender Geruch strömte aus dem Höhleneingang.

Am liebsten wäre er tiefer hinein gegangen, aber es war so finster, dass er die Hand vor Augen nicht mehr gesehen hätte.

Er nahm sich vor, beim nächsten Mal unbedingt eine Taschenlampe mitzunehmen. Wer wusste schon, welche interessanten Geheimnisse diese Höhle barg.

Der Wald wurde noch dichter, sodass kein Sonnenstrahl mehr den Boden erreichte. Viele der alten Buchen hatten ein gewaltiges Wurzelwerk entwickelt. Unentwirrbar verflochten breiteten sie sich in alle Richtungen aus und bildeten die wunderlichsten Formen.

Zwischen einigen hatten sich Taschen geformt, die sicherlich Schutz für kleine Tiere boten.

Andere erinnerten an Tiere, die sich ein Wahnsinniger ausgedacht hatte und in dem Zwielicht noch unheimlicher wirkten, als sie ohnehin schon aussahen.

Wurzeln reckten sich in die Höhe, verknoteten sich und wirkten wie lebendige Wurzelwesen, die sich jeden Moment fortbewegen konnten.

Ihm kam es vor, als wäre er in eine andere Welt geraten. Ab und zu sah er Bäume, die so dick waren, dass sein ganzes Zimmer ohne Probleme hineingepasst hätte.

Zahlreiche Lianen rankten sich die Bäume hoch oder baumelten von den Ästen herunter und verwandelten die Umgebung zusammen mit einer Unmenge an Luftwurzeln in einen Urwald.

Nach zwei weiteren Pausen erreichte Till schweratmend den Gipfel. Das Gelände, auf dem das Schloss stand, war bedeutend größer, als man es von unten vermuten konnte. Obwohl die Sonne bereits ihren Zenit erreicht hatte, war es hier oben angenehm warm.

Scheinbar war er an der Rückseite des Schlosses aus dem Dickicht getreten. Also musste es irgendwann einen anderen Zugang gegeben haben. Doch nach den vielen Jahren war alles zugewuchert.

Nichts ließ darauf schließen, dass es jemals breite Zufahrtswege gegeben haben könnte, um mit Pferdekarren Nahrung und andere Güter für die Schlossbewohner zu transportieren.

Dort, wo ein Teil der Rückwand gestanden haben musste, war der Hang geborsten und mitsamt einem Stück der Mauer den Berg hinuntergerutscht. Buchen und Eichen hatten von dem ehemaligen Gelände wieder Besitz ergriffen und beugten sich über den Abhang, als würden sie hinabschauen, um über das Tal zu wachen.

Er stellte sich an den Rand und sah zwischen zwei Bäumen über das Land. Die anderen Berge leuchteten im Sonnenlicht. Ihre Hänge waren deutlich weniger bewaldet, sodass er einige Frühaufsteher erkennen konnte, die bereits hinaufgewandert waren.

Während er sich umsah, überkam ihn urplötzlich wieder das heftige Gefühl, zu Hause zu sein. Eine Weile gab er sich diesem Glücksgefühl hin, bis sich der Gedanke an die Schule in seinen Kopf schlich. Sofort war jede Hochstimmung verflogen.

Von den Grundmauern des Schlosses war nicht mehr viel übrig. Es sah fast so aus, als ob das ganze Erdreich bis in die Kellerbereiche fein säuberlich abgetragen worden war.

Der Größe und Form nach zu schließen, musste es einst ein großes prächtiges Schloss gewesen sein. Doch vom ehemaligen Glanz waren nur noch einige Reste der Außenmauern und unzählige Löcher im Boden übrig geblieben, in denen freigelegte Treppen in tiefe gelegene Kellerräume führten, die die Zeit überdauert hatten.

Neugierig stieg Till ein paar Stufen hinab. Sie führten in einen kleinen Raum, der sich früher tief unter dem Schloss befunden haben musste. Anscheinend war diese Treppe schon immer der einzige Zugang gewesen, denn es gab hier unten keine weitere Tür.

Die Luft war angenehm kühl. Till wollte schon die Stufen wieder hinaufsteigen, als er eine leise Stimme hörte. Er hatte nicht verstanden, was sie sagte, doch seine Eingeweide zogen sich zusammen und ihm brach trotz der Kühle der Schweiß aus.

Da hörte er es wieder.

»Hilf uns!«, flüsterte die Stimme wie ein Windhauch.

So schnell Till konnte, rannte er die Treppe hoch. Oben angekommen blendete ihn jäh das Sonnenlicht und er stolperte über einen Felsbrocken. Dabei stürzte er der Länge nach zu Boden und schlug sich Knie und Handflächen auf.

Schweißgebadet und nach Luft ringend sah er sich um. Das war ja, als wäre er in einen seiner schlimmsten Träume geraten.

Bei dem Gedanken hielt er kurz inne. Dann lachte er erleichtert auf. Genau das musste es sein. Er zwickte sich so heftig in den Arm, dass die Stelle rot anlief, doch er erwachte nicht.

Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefasst hatte. Das helle Sonnenlicht wirkte beruhigend und ließ alles freundlicher erscheinen.

Du Trottel, schimpfte er mit sich. Da hast du dich schön selbst ins Bockshorn gejagt. Er war völlig allein hier oben. Wer sollte also mit ihm sprechen? Wahrscheinlich hatte er einen Windhauch mit einer flüsternden Stimme verwechselt.

Wie zum Beweis befeuchtete er den Zeigefinger und hielt ihn in die Luft. Doch es rührte sich kein Lüftchen.

Das hat nichts zu sagen, schimpfte er mit sich. Du musst noch einmal hinuntersteigen, dann wirst du sehen, dass da unten rein gar nichts ist, machte er sich Mut. Vorsichtig näherte er sich wieder dem Loch im Boden und starrte in das Halbdunkel. Nichts rührte sich.

Natürlich nicht, schimpfte er wieder mit sich. Weil da nichts ist!

Trotzdem war ihm nicht wohl zu Mute, als er bedächtig abermals die Treppen hinunterstieg. Unten angekommen stand er da und lauschte mit klopfendem Herzen. Doch alles blieb still.

Gut, dass wir das geklärt haben, dachte Till spöttisch, während er die Stufen wieder hochstieg.

Neugierig blickte er sich um und lief dorthin, wo er den ehemaligen Eingang zum Schloss vermutete. Nach allem, was man noch sehen konnte, mussten hier früher eine Menge Gebäude gestanden haben.

Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass Mittag schon vorbei war, und er spürte Hunger. Er setzte sich auf ein Stück Mauerreste und verdrückte die Brote, die er mitgenommen hatte.

Samstags fuhren seine Eltern für gewöhnlich in das Städtchen, um den Wocheneinkauf zu machen. Danach besuchten sie oft noch Tante Nora und das Mittagessen gab es dann erst spät am Nachmittag. Also blieb ihm genug Zeit, um sich weiter umzusehen.

Der Hang an der Vorderseite des Schlosses war ebenso verwachsen, aber weniger steil als der Weg, den Till hinaufgekommen war. Die Eichen und Buchen mussten hier sogar noch wesentlich älter sein als auf der Rückseite. Sie wirkten knorriger, noch verwachsener und standen viel dichter.

Dieser Berg war auf jeden Fall anders als alle anderen, die er bisher gesehen hatte. Ein wenig unheimlich, aber genau das machte ihn ja so interessant. Er würde sein Rückzugsort werden, und da außer ihm niemand hierherkam, gehörte der Berg wohl ihm.

Das Schloss im Nichts

Der Sonntag kam und Tills Laune sank auf einen Tiefpunkt. Der Gedanke, dass er morgen wieder zur Schule musste, noch dazu auf eine ihm völlig Fremde, versetzte ihn in Weltuntergangsstimmung.

Jeder Versuch seiner Eltern, ihn ein wenig aufzumuntern, misslang. Nicht einmal die Ankündigung, dass es zu Mittag sein Lieblingsessen geben würde, nämlich Brathähnchen mit Pommes, konnte ihm ein Lächeln entlocken. So verbrachte er den Nachmittag damit, lustlos seine Schulsachen zu packen.

Gegen Abend war seine Stimmung völlig dahin und er zog sich deprimiert in sein Zimmer zurück. Für gewöhnlich ging Till kurz nach zehn zu Bett und versuchte einzuschlafen. Doch heute fiel es ihm schwerer als sonst.

Ein riesiger Steinbrocken lag auf seiner Seele bei dem Gedanken an den morgigen Tag. Ruhelos wälzte er sich hin und her und es war schon nach Mitternacht, als er endlich einschlief.

Wieder einmal wurde er in seinem Traum von einem gewaltigen Wirbelsturm hoch in die dunkle Nacht getragen. Doch heute war es anders als sonst.

Jäh wurde er brutal heruntergerissen und stürzte hart auf einen Kiesweg. Wie es in einem Traum oft geschieht, blieb er aber unverletzt.

Ächzend hob er den Kopf und sah sich um. Vor ihm erhob sich in der Dunkelheit ein riesiges Gebäude. In einem spitzbogenförmigen Vorbau war eine große zweiflügelige Holztür eingebaut. Auf jeder Seite des Einganges befand sich ein runder Turm. Zwei alte Ritterrüstungen, die links und rechts der Tür in Nischen standen, sahen aus, als würden sie den Eingang bewachen.

Die Dunkelheit hatte nicht die Schwärze, die man des Nachts vorfindet, wenn kein Licht leuchtet. Sie war durchtränkt von einem kaum wahrnehmbaren grünen Schimmer, der ringsumher ein diffuses Licht erzeugte, und es waren keine Sterne am Himmel zu sehen.

Mühsam rappelte Till sich auf und legte den Kopf in den Nacken, ohne die Turmspitze noch erkennen zu können. Es musste ein mächtiges Gebäude sein, denn die Mauern verschwanden in allen Richtungen in dieser eigenartigen Schwärze. Die Fenster waren unbeleuchtet und schienen ihn heimtückisch anzustarren.

Die Tür musste mindestens drei Meter hoch sein und wirkte äußerst massiv. Mit aller Kraft drückte Till sich dagegen, aber sie rührte sich um keinen Millimeter.

Unschlüssig sah er sich um. Links und rechts des Weges stand das Gras hüfthoch. Anscheinend war es lange her, dass es geschnitten worden war. Offenbar hatte der Gärtner Urlaub. Till grinste.

Soweit er sehen konnte, standen einige mächtige Bäume auf dem Gelände. Das Schloss machte bei näherem Hinsehen einen verfallenen Eindruck. Einige Fensterläden hingen nur noch an einer Angel an der Außenmauer und mehrere Sprossenfenster waren zerbrochen.

Er überlegte, ob er das Gelände verlassen sollte, doch kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht keine so gute Idee war. Da er nicht wusste, wo er sich befand, würde er sich in der Dunkelheit womöglich heillos verlaufen.

Mit flauem Gefühl im Magen ging er an der Mauer des Schlosses entlang und versuchte, einen Blick durch eines der Fenster zu erhaschen. Doch alle Räume lagen in tiefer Finsternis.

Die Bäume trugen kein Laub und reckten die mächtigen Äste wie riesige Arme gespenstisch in die Luft. Nur ein kleiner Schatten huschte von Zweig zu Zweig. Wahrscheinlich war es ein Eichhörnchen oder irgendein Vogel.

Ihm war unheimlich zumute und er kehrte rasch zum Eingang zurück. Vielleicht war es besser, wenn er versuchte, in das Schloss zu gelangen, um darauf zu warten, dass er wieder erwachte. Schließlich konnte das alles nur ein Traum sein, denn er war ja eben erst zu Bett gegangen.

Till war es gewohnt, dass seine Träume sich oft sehr realistisch anfühlten, aber so echt wie heute waren sie ihm noch nie erschienen.

»Wach auf!«, sagte er beschwörend und schloss dabei die Augen. »Wach doch auf!«

Aber wenn es wirklich ein Traum war, so war er tiefer, als Till angenommen hatte, denn als er die Augen aufschlug, befand er sich immer noch vor dem Schloss.

Er stellte sich wieder vor die Tür und überlegte eine Weile, was er tun konnte, ohne dass ihm etwas Sinnvolles einfiel.

»Geh auf, du blödes Ding«, murmelte er schließlich ratlos.

Es war, als hätte die Tür ihn gehört, denn im gleichen Moment ertönte ein Klacken, und die beiden Türflügel schwangen knarrend auf.

Damit hatte Till nicht gerechnet. Andererseits musste es auch ein deutliches Zeichen dafür sein, das er in seinem Bett lag und schlief, denn so etwas passierte einem nur im Traum.

Sein Herz schlug mehrere Saltos auf einmal, als er zaghaft den Kopf durch den Türspalt streckte.

Vor ihm erstreckte sich eine große Halle, die im gleichen Moment, als die Tür sich öffnete, durch das warme Licht von Kerzen und Petroleumlampen erhellt wurde. Ein leichter Geruch von Bohnerwachs lag in der Luft.

Unschlüssig, was er nun tun sollte, stand Till da. Die Halle war so groß, dass das komplette Haus seiner Eltern bequem mitsamt dem Garten hineingepasst hätte.

»Hallo«, sagte er zaghaft und lauschte, doch nichts regte sich.

Auf der gegenüberliegenden Seite standen, durch ein Podest leicht erhöht, große schwarze Holztische der Länge nach vor einem offenen Kamin aneinandergereiht. Darin prasselte munter ein Feuer und strahlte eine wohltuende Wärme aus. Sogleich ließ Tills Anspannung nach.

Die Wände warfen die Geräusche seiner Schritte gespenstisch widerhallend zurück, als er zu den Tischen ging. Von hier aus sah er, dass in jeder Ecke des Raumes eine Ritterrüstung aufgestellt war.

Till beschlich das unangenehme Gefühl, dass sie ihn beobachteten. Obgleich er sicher war, dass er eigentlich zu Hause in seinem Bett lag und träumte, konnte er sich nicht gegen die Angst wehren, die plötzlich auf ihn einstürzte. Das musste ein Albtraum sein.

Wahrscheinlich fiel gleich irgendein Tier oder Monster über ihn her, bevor er schweißgebadet erwachte.

Er atmete tief durch und sah sich um. Die Halle besaß außer dem großen Eingangstor sechs weitere Türen, zwei links und rechts vom Kamin und je zwei an den Seitenwänden.

Der Fußboden bestand aus alten Holzdielen und an den getäfelten Wänden hingen so viele Ölbilder, dass sie einem Museum alle Ehre gemacht hätten. Nahezu alle zeigten Abbildungen von Menschen, vor allem von jungen Menschen.

Verwundert stellte Till fest, dass sie alle ungefähr in seinem Alter sein mussten, abgesehen von einigen wenigen älteren Personen.

Eine Treppe führte hoch zu einer Empore, die in alle vier Wände eingelassen war. Statuen blickten von dort oben herab, als würden sie den Raum bewachen. Zwei dieser Figuren waren umgestürzt. Sie hatten das Holzgeländer durchbrochen und lagen zertrümmert auf den Steinfliesen.

»Hallo, ist da jemand!«

Schaurig warfen die hohen Wände seine Stimme zurück, doch niemand antwortete. Nachdenklich sah er sich um. Irgendjemand musste hier sein, schließlich hatten sich die Kerzen und das Feuer bestimmt nicht von allein entzündet.

Vorsichtig näherte er sich der Tür links vom Kamin und presste sein Ohr an das Holz. Alles, was er hörte, war sein Herz, das wild pochte. Dann richteten sich seine Nackenhaare auf. Es war ihm, als hätte er flüsternde Laute gehört. Nicht aus dem Nebenraum, sondern hinter ihm aus der Eingangshalle.

Kribbelnde Hitze jagte durch Tills Körper und er wirbelte herum. Still und ruhig lag die Halle vor ihm. Wurde er jetzt verrückt?

Langsam wandte er sich wieder der Tür zu und nahm seinen ganzen Mut zusammen. Vorsichtig drückte er die Türklinke herunter und öffnete sie einen spaltbreit.

Mit angehaltenem Atem steckte er den Kopf hindurch und zuckte im gleichen Moment zurück. Auf der anderen Seite des großen Raumes befand sich eine weitere Tür, und dort stand jemand. Die Gestalt hatte ihm den Rücken zu gewandt und streckte gerade ebenfalls den Kopf durch einen Türspalt.

Um nicht laut aufzustöhnen, presste Till eine Hand vor den Mund und zog sich hastig zurück. Also war er nicht allein. Sein Herz klopfte, als versuchte es, aus seiner Brust zu hüpfen.

Was sollte er jetzt tun? Ängstlich lugte er wieder durch den schmalen Spalt. Die Gestalt stand immer noch da. Schließlich fasste er sich ein Herz.

»Hallo?«, rief er zaghaft und trat behutsam durch die Tür, bereit, sie schnell hinter sich zuzuwerfen, falls Gefahr drohen sollte. Doch da war der oder die Fremde bereits im nächsten Raum verschwunden.

Till dachte nach. Die Gestalt hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre sie hier zu Hause. Eigentlich wirkte ihr Verhalten eher so, als wäre sie ebenfalls fremd. Vielleicht konnten sie sich gegenseitig helfen?

Er fasste einen Entschluss und rannte durch die Halle zur Tür, durch die die Gestalt gerade verschwunden war. Er riss sie auf und sah, dass der Fremde bereits vor dem geöffneten Durchgang im hinteren Bereich des Raumes stand.

Irgendetwas verunsicherte ihn, er konnte nur nicht sagen, was es war. Dann erkannte er es. Die Gestalt kam ihm bekannt vor. Doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Es war kaum möglich, dass er hier jemanden kannte, in diesem unheimlichen Schloss?

Dann hielt er inne und sah sich überrascht um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Raum, in dem er sich gerade befand, genauso aussah wie die Eingangshalle, die er eben verlassen hatte. Ungläubig schüttelte Till den Kopf.

Dann startete er einen neuen Versuch und folgte der fremden Gestalt, die im gleichen Moment den nächsten Raum betrat. Till hastete quer durch die Halle, um sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Er war nur noch mäßig überrascht, als er sah, dass auch der nächste Raum eine genaue Kopie der Eingangshalle zu sein schien. Sahen hier möglicherweise alle Zimmer gleich aus?

Der Schweiß brach ihm aus allen Poren und er wischte mit dem Handrücken über seine Stirn. In diesem Moment hob auch der Fremde seinen Arm. Winkte er jemandem zu?

Till schloss die Tür zu einem Spalt und lehnte sich tief einatmend mit dem Rücken an die Wand. Was sollte er jetzt tun? Konnte er den Fremden ansprechen oder war es klüger, zu warten, bis er verschwand?

Nach einer Weile spähte er wieder in den anderen Raum. Die Gestalt stand immer noch da. Auch sie schien jemanden durch die Tür zu beobachten. Till nahm seinen ganzen Mut zusammen und rief noch einmal, diesmal lauter:

»Hallo!« Seine Stimme zitterte.

Doch die Gestalt rührte sich nicht. Sie konnte ihn doch unmöglich überhört haben. Till überwand seine Angst und trat in den Raum. Im nächsten Moment verschwand auch der Fremde.

Nur dass nicht, dachte er und warf alle Bedenken über Bord. Er rannte geschwind zur Tür, durch die der Fremde verschwunden war, und riss sie weit auf. Die Gestalt stand bereits an der nächsten offenen Tür.

»Bleib doch mal stehen …«, rief Till verzweifelt und winkte mit der Hand. Der Fremde blickte sich nicht um, aber zeitgleich mit ihm hatte auch er den Arm gehoben.

Till stutzte und sah jetzt genauer hin. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Unbekannte kam ihm deshalb so bekannt vor, weil er die gleiche Jeans und eine ebenso braune Jacke trug wie Till. Eigentlich sah die Gestalt von hinten genauso aus wie er selbst. Konnte das sein?

Probeweise hob er die Hand. Die Gestalt tat es ihm gleich. Tills Nackenhaare richteten sich auf und ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken.

Wie in Zeitlupe hob er den rechten Fuß und der Fremde vollführte die gleiche Bewegung. Gleichzeitig mit Till sprang er von einem Bein auf das andere. Dieser Fremde war - er selbst?

Was ging da vor sich? Er stand genau an dieser Stelle. Wie konnte er sich dennoch gleichzeitig auf der anderen Seite des Raumes befinden.

Till rannte zur Mitte des Saales. Vergeblich, sein „Doppelgänger“ war bereits im benachbarten Raum verschwunden.

Ratlos ließ Till sich auf den nächsten Stuhl fallen. In was für einen verrückten Traum war er da geraten?

Nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, sah er sich um. Sogar die gleichen Bilder wie in der Eingangshalle hingen an der Wand. Konnte es sein, dass er die Halle nie verlassen hatte? Das war verrückt.

Aber es war auch nicht verrückter, als sich selbst zu beobachten, sagte er sich. Andernfalls würde es bedeuten, dass hier alle Innenräume gleich aussahen. Doch wer konnte ein Interesse daran haben, ein so großes Schloss mit vielen identischen Räumen zu bauen.

»Wach endlich auf!«, stöhnte Till mit sich überschlagender Stimme.