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Alles begann damit, dass ihm ein seltsam unheimlicher Mann einen Brief seiner tot geglaubten Eltern übergab. Nicht im Traum hätte Toby, wie der dreizehnjährige Tobyas Thorsen genannt wird, vermutet, dass seine Pflegeeltern Hannes und Irmchen Kronlechner in ein Komplott gegen ihn verwickelt sein könnten. Wollten sie ihn doch tatsächlich kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag an einen geheimnisvollen Fremden ausliefern. Nur sehr knapp entgeht er der geplanten Entführung… Auf der anschließenden, abenteuerlichen Flucht lernt er die gleichaltrige Tini kennen, die ihm eine geheime Botschaft entschlüsselt, in der von ‚Lules Ende‘ die Rede ist. Dabei hat sich auch der geheimnisvolle Fremde, der ihm den Brief der Eltern übergab, als Zeitengänger und Freund des Vaters zu erkennen gegeben. Zusammen mit ihm gelangt Toby nach Verbola, einem Land hinter dem Gedankenhorizont der Menschen, wo er sich mit einigen der dort lebenden Zeitlinge anfreundet. Gemeinsam entdecken sie, dass mit ‚Lules Ende‘ eigentlich der letzte Tag im Monat ‚Elul‘ des jüdischen Kalenders gemeint ist. Schnell wird ihnen klar, dass nur noch wenige Tage bleiben, um Tobys Eltern zu befreien und einen verheerenden Angriff auf Verbola zu verhindern. Als sie die, für solche Notfälle, in den riesigen Höhlen von Verbolas Grenzgebirge deponierte Ausrüstung holen wollen, erleben sie eine böse Überraschung. Sie geraten in eine gefährliche Auseinandersetzung mit feindlich gesinnten Höhlenwesen und verlieren dadurch kostbare Zeit. Als Toby dann noch bei den heimlichen Vorbereitungen der eigentlichen Rettungsaktion gekidnappt und eingesperrt wird, droht ihr Plan zu scheitern…
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Seitenzahl: 427
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Benjamin Paul IddingsToby Thorsen und Lules Ende
Dieses Buch widme ichmeiner Ehefrau Gertraud,meiner Tochter Monique,meinem Sohn Marcel mit seiner Ehefrau Yvonneund meinem geliebten Enkelsohn Nico mit seinerzauberhaften kleinen Schwester Julia Sophie
Besonderer Dank geht an meinen FreundDr. John Murdoch,der mich nicht nur beraten hat und mir Mut machte,sondern das gesamte Werk (handschriftlich) ins Englischeübersetzte.
Dank auch an die geduldige Sandra Daubert,die Johns Übersetzung in den Computer brachte.
Dank an Heiko Kottke für all die Arbeit mit dem Buchcover.
Dank an die wunderbaren SchwesternEsther & Miriam Stein,die die Lektoratsarbeit erledigten.
Vorwort von Dr. John Murdoch
Einführung des Verfassers
1. Kapitel - Der geheimnisvolle Fremde
2. Kapitel - Im letzten Moment
3. Kapitel - Die Menschenjäger
4. Kapitel - Allein in der Nacht
5. Kapitel - Ein heimlicher Brief
6. Kapitel - Entkommen
7. Kapitel - Die Täuschung
8. Kapitel - Die geheimnisvolle Schatulle
9. Kapitel - Der neue Freund
10. Kapitel - Mit dem Kopf durch die Wand
11. Kapitel - Tinis Befreiung
12. Kapitel - Das Geheimnis der Dicscha
13. Kapitel - Grenzgänger
14. Kapitel - Verboten?
15. Kapitel - Zeitlinge – gibt´s die wirklich?
16. Kapitel - Ein ganz besonderer Tag
17. Kapitel - Das Kung Fu-Baby
18. Kapitel - Die Vorbereitung
19. Kapitel - Wann geht es endlich los?
20. Kapitel - Es wird ernst
21. Kapitel - Unerwarteter Besuch
22. Kapitel - Kein Saurier
23. Kapitel - Der gefangene Galazer
24. Kapitel - In letzter Sekunde
25. Kapitel - Auf Leben und Tod
26. Kapitel - Das zweite Versteck
27. Kapitel - Gefangen
28. Kapitel - Gefährlicher Ausflug
29. Kapitel - Rendezvous mit Jessica Alba
30. Kapitel - Im Herzen des Feindes
31. Kapitel - Die geheime Botschaft
32. Kapitel - Ein Großlügner im Stall
33. Kapitel - Die Befreiung
34. Kapitel - Kampf um die Freiheit
35. Kapitel - Die Flucht
Übersichtskarte
Karte Wutschlock Höhle
Karte Toro
Lexikon
Buchtipps
Als Benny mich bat, sein Buch ins Englische zu übersetzen, war ich zunächst skeptisch. Meine eigenen Teenager-Jahre liegen viele Jahrzehnte zurück, was konnte ich also aus einer Fantasy Abenteuergeschichte für junge Leute erwarten?
Dreihundertfünfzig Seiten sind eine Menge, wenn man sich, aufgrund des Alters, nicht mit den Ereignissen in der Geschichte identifizieren kann, die sich noch dazu nur langsam entwirren. So war ich beim Lesen zuerst nicht frei. Wie hätte ich auch mit Menschen mitfühlen können, die durch Wände gehen, oder in Räumen agieren, die von außen kleine Hütten zu sein scheinen, innen aber wie riesige Hallen aussehen? So fing ich langsam an, die Geschichte in eine andere Sprache zu bringen. Zu Beginn hatte ich, als über Siebzigjähriger, einige Schwierigkeiten, Sympathie mit den Charakteren von Toby, Tini, Ursu und den anderen bei ihrer Vertretung der Guten gegen die Bösen zu entwickeln. Es dauerte nicht lange, bis sich meine zurückhaltende Einstellung nachdrücklich zu ändern begann und die Frage „Was passiert jetzt?“ immer drängender wurde, als ich mich von einem spannenden Kapitel zum nächsten durcharbeitete.
Und weil Rainer in der Geschichte nicht geradeaus von Punkt zu Punkt geht, hält sich die Spannung nicht nur, sondern durch das gelegentliche Abweichen vom direkten Gang der Ereignisse wurde ich immer neugieriger und von echter Begeisterung ergriffen. Das war für mich ein starker Antrieb, die Übersetzung zügig zu vollenden. Schließlich wollte ich unbedingt wissen, wie es ausgeht! Jetzt würde ich zu gern die Bilder der Charaktere sehen und herausfinden, ob sie etwas mit denen in meinem Kopf zu tun haben. Ich bin ein echter Fan von Toby und Tini, doch Ursu scheint mir ein sehr vorsichtiger Verzögerer zu sein. Nun, - ich will nicht zu viel verraten. Machen Sie sich selber ein Bild, wenn Sie die Geschichte in diesem Buch genießen!
Dr. John Murdoch
Als ich mich entschloss dieses Buch zu schreiben, ahnte ich noch nicht, auf was ich mich da einließ und wie sehr mich diese Geschichte gefangen nehmen würde. Als ich dann fertig war, wusste ich genau, dass ich mit Toby Thorsen nolch lange nicht am Ende angekommen bin. So beschloss ich, dass dies das erste Buch einer Toby Thorsen- Reihe sein soll, die ich inzwischen als sechsteilige Serie geplant habe.
Das Erfinden der Geschichte war für mich selbst genauso spannend, wie die Abenteuer, die Toby darin erlebt. Ich wurde auch wieder vierzehn und manche Nacht, als ich den Computer ausgeschaltet hatte und zu Bett ging, konnte ich nicht einschlafen, weil Tobys Abenteuer in meinem Kopf einfach weiterging.
An einigen Stellen (zum Beispiel im 17. Kapitel, als der kleine Borli von Ursu erwischt wird) musste ich, während ich schrieb, so herzhaft lachen, dass meine Frau irritiert und neugierig heranstürmte, um sich zu erkundigen, was denn los sei…
Dies ist keine ‚Fantasy-Geschichte‘ im herkömmlichen Sinne. Es geht nicht um Magie, Märchen und Übernatürliches. Toby Thorsen ist auch kein Zauberlehrling. Allerdings verfügt er über technische Möglichkeiten aus der Zukunft und erkennt Dinge, von denen wir alle irgendwie wissen oder vermuten, dass es sie tatsächlich gibt. Er ist weder ein Draufgänger, noch ein Spinner. Er ist ein Junge, dem mit vierzehn schon sehr früh große Verantwortung übertragen wird. Immer wieder muss er sich entscheiden, immer wieder wählen, zwischen Gut und Böse, zwischen richtig und falsch…
Damit Du dich als Leser gut in die Geschichte hineinfindest und schnell orientieren kannst, habe ich ein Lexikon und drei Übersichtskarten an das Buchende gestellt.
Eine persönliche Bitte habe noch: Teil mir doch mit, wie Dir die Geschichte gefällt ([email protected]).
So, - und nun viel Spaß beim Lesen
Benjamin Paul Iddings
Toby hastete in dieser halbdunklen Gasse durch eine dichte Dunstwolke fürchterlichen Gestanks nach Müll und Exkrementen. Er hustete und würgte, so dass einige der Passanten erschrocken und besorgt hinter ihm her starrten. Immer wieder stolperte er über herumliegenden Unrat und drohte zu stürzen. Er hatte das Gefühl, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen, doch es war, als ob eine eiserne Faust ihn auf den Beinen hielt und vorwärts trieb. Diese grässlichen Typen aus der Nordstadt verfolgten ihn jetzt schon seit einer viertel Stunde und sosehr er auch versuchte, sich zu konzentrieren, - nicht ein einziger brauchbarer Gedanke war in seinem Kopf, der ihm helfen konnte, diese widerlichen Kerle abzuschütteln. Vielmehr jagten ihm die scheinbar unmöglichsten Bilder aus seiner Vergangenheit durch den Kopf. Fetzenartig sah er seinen brutalen Pflegevater, die hassverzerrten Gesichter seiner Verfolger, den ihn mitleidig anschauenden Lehrer, die meckernde Pflegemutter. Dazwischen tauchten immer wieder sehr kurz zwei Gesichter auf, ein Mann und eine Frau, die ihm scheinbar etwas zuriefen. Sein Puls raste…
Toby war dreizehn Jahre alt und hieß eigentlich Tobyas Thorsen. Sein Lehrer bezeichnete ihn oft mitleidig als ‚notorischen Einzelgänger‘, obwohl er selbst das ganz und gar nicht so empfand. Eigentlich war er ein sehr geselliger Typ, der gern mit Gleichaltrigen zusammen war. Er konnte sich von Herzen freuen, machte geistreiche Witzchen und sein Lachen war absolut ansteckend. Sogar Irmchen, seine heute manchmal ein wenig traurig wirkende Pflegemutter, konnte über seine Späße herzhaft lachen. Solange er zurückdenken konnte, hatten sie und ihr Mann Hannes ihm immer wieder erzählt, dass seine Eltern kurz nach seiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien.
Toby lebte nun schon seit vielen Jahren bei den Kronlechner´s. Wann genau er zu ihnen gekommen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Wahrscheinlich schon als kleines Baby. Sein Pflegevater Hannes war ein mürrischer und launischer Mann, der im Laufe der Jahre sein letztes bisschen Verstand versoffen hatte. Mindestens zweimal in der Woche betrank er sich, um dann seine Mitmenschen zu tyrannisieren. Regelmäßig verprügelte er im Suff seine Frau und danach war dann erfahrungsgemäß Toby dran. Man ging ihm besser aus dem Weg, wenn er in diesem Zustand war. Meistens schlief er nach der zweiten Flasche Rum laut schnarchend und grunzend ein. Tags darauf, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, kam er dann jedes Mal ganz weinerlich an und es tat ihm alles sooo leid. Jedenfalls sagte er das dann. Toby und Irmchen glaubten seinen Worten schon lange nicht mehr und eigentlich tat er den Beiden nur noch leid.
Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass Pflegemutter Irmchen früher eine sehr herrschsüchtige und geldgierige Frau gewesen war, die mit niemandem, außer ihrem Hannes, etwas zu tun haben wollte. In den letzten Jahren hatte sie sich allerdings sehr stark zum Positiven verändert. Heute war sie eine gottgläubige Frau, die viel betete und sonntags zum Gottesdienst ging. Sie pflegte regen Kontakt mit ihren Geschwistern – so nannte sie die Mitglieder ihrer Kirchengemeinde – und traf sich auch Wochentags regelmäßig mit einigen von ihnen in ihrer sogenannten ‚Hausgruppe‘. Durch die innere Ruhe und Freundlichkeit, die sie, trotz ihrer häufig unerträglichen Lebensumstände, heute ausstrahlte, war sie mittlerweile sehr beliebt. Für jeden hatte sie ein nettes Wort und alle Gespräche beendete sie mit einem ‚Gott segne dich‘. Außer ihrem Mann Hannes mochten die Menschen das!
Richard Momsen und seine Gang terrorisierten die Bewohner der Nordstadt schon seit vielen Monaten. Sie erpressten von einigen Besitzern kleinerer Ladengeschäfte Schutzgeld und überfielen immer wieder andere Jugendliche, um ihnen ihr Geld, Handys oder Markenklamotten abzunehmen. Sie hatten Toby vor dem Trödelladen vom Putzer – so nannten alle den alten Hubertus Van de Kust, der mindestens schon hundertfünfzig Jahre alt sein musste – entdeckt und da er allein war, schien er ihnen ein willkommenes Opfer zu sein. Nur knapp war Toby ihrem Angriff entkommen und nun jagten sie ihn laut johlend vor sich her. Er türmte in Richtung Hafenviertel, da sie ihm dummerweise den Weg nachhause abgeschnitten hatten. Im Hafen kannte er sich allerdings bei weitem nicht so gut aus, wie daheim am Güterbahnhof. Tja, - am Güterbahnhof kannte er wirklich jeden Winkel. Dort hätten diese Kerle kaum eine Chance ihn zu erwischen. Doch dieses Wissen half ihm im momentanen Schlamassel nicht weiter. So blieb ihm im Augenblick nur die Möglichkeit, sich in den engen Gassen des Hafenviertels irgendwie zu verdrücken und zu hoffen, dass er möglichst schnell ein passendes Versteck finden würde. Also hastete er an den schmuddeligen Hauseingängen vorbei, in denen gelegentlich Betrunkene ihren Rausch ausschliefen oder die vorbeikommenden Passanten um Geld anbettelten. Die aus vielen Hafenbars auf die Straße dringende Musik, der Lärm der Zecher, der Gestank von Fisch, Urin, Mülltonnen, - das alles nahm er nicht wirklich wahr. Er musste nur zusehen, dass ihm umgehend irgendetwas Gutes einfiel. Und das musste sehr schnell passieren, denn die Nordstädter kamen immer näher und er konnte ihr Gejohle bereits deutlich hören.
Wie war er eigentlich in diese blöde Situation hinein geraten? Ok, - die Kirchstraße lag im Revier der Nordstadtgang und sie hatten ihn in der Schule mehrfach gewarnt, sich dort ja nie blicken zu lassen. Aber es war genau diese Adresse, die er in der alten Zeitung gefunden hatte. Er musste dieser Sache einfach auf den Grund gehen.
Es war gestern, nach der Schule. Sein Pflegevater Hannes lag wieder einmal betrunken auf dem Sofa und signalisierte durch lautes Schnarchen und glucksende Geräusche, dass er für die nächsten paar Stunden außer Gefecht war. Toby hatte sich auf den Dachboden verdrückt. Er kam oft hier hoch, weil der Alte ja auch oft genug betrunken war. Meistens tauchte er dann in eine Traumwelt ein und stellte sich vor, dass er richtige Eltern hätte, die ihn lieben und verwöhnen würden. Er dachte auch oft an ein Mädchen, das er in jeder Pause auf dem Schulhof sah und bei deren Anblick ihm immer ganz anders wurde. Hier, in seinen Träumereien war er ein Held, der mutig für seine Freunde kämpfte und den alle mochten. Als er heute die Klappe der Bodentreppe hinter sich geschlossen hatte, schob er die alte Decke, die als Vorhang vor das Dachfenster hing, ein wenig zur Seite. Im diffusen Licht entdeckte er diese alte Seemannskiste in der hintersten Ecke des Dachbodens. Wie zur Tarnung lagen einige alte Klamotten darüber, doch Toby hätte schwören können, dass sie beim letzten Mal noch nicht dort gestanden hatte. Weil ihm allerdings auch nach angestrengtem Überlegen keine passende Erklärung einfallen wollte, hörte er einfach auf, sich über ihre Herkunft weiter Gedanken zu machen und entschloss sich, sie etwas näher zu untersuchen.
Das alte Vorhängeschloss zu öffnen, war wirklich ein Kinderspiel und zwischen unzähligen Papieren, Briefen und Gegenständen, die er nicht kannte, hatte er eine alte Zeitung gefunden, die sehr, sehr alt zu sein schien. Sie war völlig vergilbt und zerfleddert. Zuerst dachte er, dass es sich um ein altes Exemplar eines dieser kostenlosen Zeitungen handeln würde, die jeden Sonntag vor der Haustür lagen. Jedenfalls ließen Aufmachung und die Überschrift Toro-News so etwas vermuten. Erst nach einiger Zeit bemerkte Toby, das alles, was er hier las, mit völlig fremden Schriftzeichen geschrieben war; Buchstaben, die er noch niemals vorher gesehen hatte und die er überraschenderweise trotzdem lesen konnte. Das war wirklich sehr, sehr sonderbar und er kratzte sich nachdenklich am Kopf, als ihm eine Annonce ins Auge fiel, um die irgendjemand mit rotem Filzstift einen Kreis gezeichnet hatte. Seine Neugier war geweckt und er sah sich die markierte Stelle genau an. Es war die Reklame eines sogenannten Kolonialwarengeschäftes, dessen Namen er schon mal gehört hatte: Van de Kust! Die, ebenfalls mit rotem Stift, auf den Rand der Zeitung gezeichnete Straßenskizze ließ keinen Zweifel zu: Es handelte sich um den kleinen Kramladen in der Nordstädter Kirchstraße.
Toby erschrak regelrecht, als er das Rufen von Irmchen hörte und schnell riss er die Annonce mit der Skizze aus der Zeitung heraus. Er steckte den Papierfetzen in seine Hosentasche, legte alles andere rasch, aber sorgsam wieder in die Truhe zurück. Dann versteckte er sie erneut im hinteren Bereich des Dachbodens unter den herumliegenden, alten Klamotten. So würde sie bestimmt niemand finden! Wer auch schon? Außer ihm war hier seit Jahren niemand mehr herauf gekommen.
„Ich komme ja schon“, antwortete er den nun ungeduldiger klingenden Rufen seiner Pflegemutter. Bereits wenig später hatte er einen Entschluss gefasst: Er würde diesem Geschäft in der Kirchstraße einen Besuch abstatten, obwohl es im Gebiet der Nordstadtgang lag und obwohl er wusste, dass mit diesen Jungs nicht zu spaßen war.
Der große Schriftzug ‚Kolonialwaren‘ über dem Laden von Hubertus Van de Kust wirkte ebenso antiquiert, wie sein Besitzer selbst. Er bezeichnete sich gern als ‚Kolonialwaren-händler‘, obwohl diese Bezeichnung aus der Zeit stammte, als es noch Kolonien gab und in solchen Geschäften insbesondere Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee verkauft wurden. Alle nannten ihn nur ‚Putzer‘, weil er den ganzen lieben, langen Tag in seinem Geschäft mit Putzlappen und Staubwedel herumlief und die Waren und Auslagen putzte. Ob es die alten Bonbongläser und die Ständer mit den anderen Süßigkeiten auf dem Tresen waren, oder die enormen Mengen von Antiquitäten aus fernen Ländern in den Regalen und an den Wänden. Ob es die unzähligen Bücher in den Fächern hinter dem Tresen waren, oder die vielen ausgestopften Tierpräparate, zu denen einiges Federvieh genauso gehörte, wie ein ausgewachsener Löwe und ein Gorilla, der einen Arm nach oben hielt – ganz so, als ob er nach einem Ast griff – und mit der anderen Faust gegen seine Brust zu schlagen schien. Ob es die vielen Wanduhren waren, die eifrig um die Wette tickten und zu jeder vollen Stunde ein Konzert aus „bim bam“ und „kuckuck“ veranstalteten, oder ob es der Trödel und Kitsch aus unzähligen Wohnungsauflösungen war. Hubertus Van de Kust putzte alles mit unglaublicher Hingabe und Gewissenhaftigkeit. Gelegentlich verirrte sich auch tatsächlich ein Tourist hierher in die Kirchstraße. Dann strich sich der Putzer rasch die wenigen verbliebenen Haare mit beiden Händen nach hinten, sortierte seine Kleidung, putzte noch schnell zwei- oder drei Mal über seine alte Leinenschürze und ging mit dem freundlichsten Lächeln, zu dem er fähig war, auf den vermeintlichen Kunden zu, um ihm seine Schätze anzupreisen.
Toby hatte sich draußen vor dem Schaufenster hingehockt und betrachtete, durch die Annonce in der seltsamen Zeitung neugierig geworden, sehr aufmerksam die Auslagen. Und richtig! Plötzlich entdeckte er hinten links in der Ecke eine sehr aufwendig verzierte, kleine Schatulle aus Metall, die von ihrer Form so aussah, wie die geheimnisvolle Seemannskiste zuhause auf dem Dachboden. Nur eben viel kleiner, knapp so groß, wie eine Zigarrenschachtel. Das Besondere daran war, dass auf dieser Schatulle, zwischen den Verzierungen etwas in den gleichen seltsamen Schriftzeichen wie in der alten Zeitung geschrieben stand: ‚Kamrintis nuklah meranieht imanty verassnoh‘! Er konnte es zwar lesen, aber die Worte ergaben keinerlei Sinn. Toby starrte die wertvoll wirkende Schachtel wie elektrisiert an, als direkt dahinter der Vorhang beiseite gezogen wurde und das diesmal sehr ernste Gesicht des Putzers auftauchte.
Was war das? Er winkte Toby zu sich herein. Immer eindringlicher wurden seine Gesten und er bedeutete ihm durch Zeichen, dass er durch die Ladentür zu ihm kommen sollte.
Nachdem Toby seine Fassung wieder gefunden und sich entschlossen hatte, tatsächlich hineinzugehen, war da plötzlich dieses komische Gefühl: Du wirst beobachtet! Instinktiv riss er den Kopf herum und dann sah er sie; hinter den Büschen, im Vorgarten eines Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite: Richard Momsen und seine Gang! Das sah nach Ärger aus!
Die Erinnerung, dass dieser brutale Kerl ihn mit seinen Kumpels in der Vergangenheit bereits mehrmals nach der Schule aufgelauert und sein karges Taschengeld abgenommen hatte, war sofort in seinem Kopf. Im Sommer des vergangenen Jahres hatten sie ihm bei solch einer Prügelei sogar absichtlich den linken Unterarm gebrochen. Momsen zwang ihn damals mit den Worten ‚Halt ja dein Maul, sonst brennt eure Hütte‘ zu sagen, dass er unglücklich gestürzt sei und dass es dabei passiert wäre.
Ohne Rücksicht auf seine schwere Verletzung hatte er von seinem Pflegevater, der natürlich mal wieder völlig betrunken gewesen war, obendrein dann noch eine Tracht Prügel bekommen, weil Jacke und Hose bei der Klopperei kaputt gegangen waren. Danach brachte ihn Irmchen zum Knochenklempner, der den Arm behandelte und für mehrere Wochen eingipste.
Knochenklempner, – so nannten alle im Viertel Doktor Albert Friedemann, einen kleinen, etwas dicklichen Mann mit Nickelbrille. An der Tür zu seiner Praxis war ein großes Messingschild angebracht, das immer so glänzte, als ob es gerade frisch poliert worden wäre und auf dem stand: Doktor Albert Friedemann – Facharzt und Nuptiloge. Niemand wusste, was für ein Facharzt er eigentlich war und keiner hatte ihn jemals gefragt, was denn ein Nuptiloge sei. Dieser geheimnisvolle Arzt war damals ungefähr zur selben Zeit in der Güterbahnhofstraße aufgetaucht, zu der das Schicksal auch Tobyas zu seinen Pflegeeltern geführt hatte.
Während all diese Gedanken und Bilder durch seinen Kopf jagten, erledigten seine Beine, fast wie von selbst, eine für diesen Moment sehr vernünftige Tätigkeit: sie rannten - und das war auch gut so! Es war wirklich ein sehr ungünstiger Zeitpunkt, sich mit den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit auseinander zu setzen, denn die Dumpfbacken aus der Nordstadt waren ihm dicht auf den Fersen und er kannte sich hier im Hafenviertel nun wirklich nicht aus. Gerade war er an einer Frau vorbei gerannt, die sehr ärgerlich auf ein schreiendes Kleinkind einredete, als er stolpernd zu Fall kam.
Dieses blöde Katzenvieh war ihm, von rechts kommend, genau zwischen die Beine gelaufen und machte sich nun laut schreiend davon. Schimpfend und wüste Flüche ausstoßend, landete Toby daraufhin sehr unsanft in einem riesigen Haufen Müll, der, aus alten Kartons, Kisten und Zeitungen bestehend, am Straßenrand lag und ihn auf der Stelle komplett von der Bildfläche verschwinden ließ.
Nun lag er hier unter all dem Abfall und spürte das Wummern seines Herzschlages bis in die Fingerspitzen hinein. Alle Knochen taten ihm weh und er bemerkte, dass es an seinem rechten Knie feucht und warm wurde. „So ein Mist“, dachte er, „das ist Blut und das gibt wieder Ärger mit dem Alten.“
Er hörte deutlich, wie seine Verfolger grölend an dem Müllhaufen vorbei stürmten, ohne ihn jedoch zu entdecken. Schnell wurden ihre Stimmen leiser, bis sie kurz darauf gar nicht mehr zu hören waren.
Die Schmerzen waren vergessen und sein Puls hatte sich langsam wieder normalisiert. Toby grinste. Vorsichtig schob er ein bisschen von der Zeitung beiseite, die direkt auf seinem Gesicht lag, - gerade so viel, dass er etwas sehen konnte. Plötzlich schob sich die feuchte Nase eines schnuppernden Hundes durch die kleine Öffnung und eine scheinbar riesige, schlabbrige Zunge begann sein Gesicht abzulecken. Als die Luft rein zu sein schien, wühlte er sich aus dem Unrat heraus, stand auf und begann sich den Schmutz abzureiben. Rechtes Knie und rechter Ellenbogen waren kaputt und bluteten. Das war eigentlich nicht so schlimm, fand Toby, aber wegen dem zerrissenen Jackenärmel und dem Loch in der Hose würde er vom Alten bestimmt wieder Dresche kriegen.
Während er noch überlegte, ob und wie er diesem drohenden Ärger entgehen könnte, erschien plötzlich vor ihm, wie aus dem Nichts heraus, dieser höfliche, irgendwie ungewöhnlich aussehende Mann. Mit dem breitkrempigen Lederhut auf dem Kopf, dem Umhang aus gelblich-braunem Stoff, dem gepflegten Dreitagebart und den grauen, fast weißen Haaren, wirkte er schon fast ein wenig unheimlich. Irgendwie, wie aus einem Hollywood-Film entsprungen. So ein bisschen wie eine Mischung aus Indiana-Jones und Sean Connery, nur mit längeren Haaren. Allerdings zeigte der Fremde das freundlichste Lächeln, das Toby je gesehen hatte.
„Na, du Held“, sagte er mit einem sympathisch, väterlichen Tonfall.
„Hast wohl grad´ ´ne Menge Probleme, was? – Der Momsen; der alte Kronlechner; der Krall; und dann noch dein Vater… Möchte wirklich nicht in deiner Haut stecken, mein Freund.“
Das Wort ‚Vater‘ hatte der Mann irgendwie recht merkwürdig betont, doch noch bevor er intensiver darüber nachdenken konnte, legte er die Hand auf Tobys Schulter, was den kaum merklich zusammenzucken ließ.
„Hab´ hier ‘nen Brief für dich. Du bist doch der Tobyas Thorsen, oder?“ sprach er weiter und hielt ihm, ohne ein Antwort abzuwarten, einen zerknitterten Briefumschlag hin. Gerade, als er danach greifen wollte, ließ der Mann den Brief wie zufällig auf den Boden fallen.
„Woher kennen Sie…, woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte Toby ein wenig verwirrt, als er sich bückte, um den Brief aufzuheben. Er wartete die Antwort nicht ab und fragte weiter:
„Wieso haben Sie überhaupt einen Brief für mich und von wem ist er denn?“
Toby bekam keine Antwort, denn als er wieder hoch kam, war der Mann spurlos verschwunden. Überrascht und erschrocken blickte er suchend in alle Richtungen, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
Mittlerweile war die Dämmerung herein gebrochen und wenn er noch größeren Ärger vermeiden wollte, als er durch die kaputten Klamotten ohnehin schon haben würde, dann war es höchste Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Er verstaute den seltsamen Brief ungelesen in der Innentasche seiner Jacke und lief – nun im gemäßigten Dauerlauftempo – in Richtung nachhause.
Wieder schossen ihm jede Menge Gedanken durch den Kopf: Was war das für ein Mann gewesen, der da so plötzlich auf der Bildfläche erschienen war und genauso unerwartet wieder verschwand? Warum hatte der Putzer ihn zu sich herein gewunken? Was war das für ein Brief? Wieso kannte der Mann seinen Namen? Was war das für eine kleine Blechkiste im Schaufenster vom Putzer? Zwischen all diesen Gedankenfetzen erschien Toby immer wieder das fies grinsende Gesicht von Richard Momsen…
Schnaufend und prustend bog er zwanzig Minuten später in die Güterbahnhofstraße ein. Er lief jetzt etwas langsamer und ging die letzten Schritte in normalem Tempo, um wieder richtig Luft zu bekommen und beim Betreten der Wohnung nicht aufzufallen.
Vorsichtig und sehr leise öffnete er die Haustür. Alles war wie immer: Es stank nach Alkohol, Zigarettenrauch und Irmchens billigem Parfüm. Das laute Schnarchen des Alten war deutlich zu hören und signalisierte eine gewisse Gefahrlosigkeit.
„Soll er ruhig schnarchen, - dann kann er heute wenigstens keinen Alarm mehr machen“, dachte Toby, als er im Vorbeigehen einen kurzen Blick in den großen Garderobenspiegel warf, der im Flur an der Wand hing. Wie elektrisiert blieb er stehen! Hatte er das eben richtig gesehen? Er ging einen Schritt rückwärts, um wieder vor den Spiegel zu kommen. Das war doch nicht möglich! Er dachte kurz nach. Doch, doch, - er war vorhin gestürzt und dabei waren seine Sachen zerrissen! Doch jetzt im Spiegel sah er, dass da weder in der Hose, noch im Jackenärmel irgendwelche Löcher und Risse waren. Alles schien heile und in Ordnung zu sein.
Ungläubig tasteten seine Hände die Stellen hastig ab. Es war tatsächlich nichts mehr zu finden. Auch die Verletzungen an Ellenbogen und Knie waren völlig verheilt, so, als ob es nie auch nur einen Kratzer gegeben hätte. Während er darüber nachdachte, öffnete sich leise die Tür des Schlafzimmers.
„Da bist du ja endlich“, flüsterte Irmchen ihm erleichtert im Vorbeigehen zu und strich dabei durch seine zerzausten Haare. Sie zog ihn am Ärmel vorsichtig hinter sich her in Richtung Küche, während sie ihm durch den über den Mund gelegten Zeigefinger bedeutete, dass er leise sein sollte. Vorsichtig schloss sie die Küchentür, setzte sich an den alten Holztisch, vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann hemmungslos zu weinen:
„Ich schäme mich so“, schluchzte sie. „Du musst dich verstecken, Toby. Du musst sofort hier weg. Heute noch! Wir haben dich verkauft.“
„Ihr habt was?“, fragte Toby, der nur zu gut verstanden hatte, was seine Pflegemutter im gerade offenbarte. Er wartete ihre Antwort nicht ab und sprach weiter:
„Das könnt ihr doch nicht tun, - wir leben immerhin im einundzwanzigsten Jahrhundert.“
„Ich weiß, mein Junge. Ich weiß! Und doch haben wir es damals gemacht“, jammerte die Pflegemutter aufgewühlt, „wir haben viel Geld für dich bekommen. Damals, als sie dich zu uns brachten zehntausend Mark und heute nochmal fünftausend Euro! Hannes hat das Geld in seiner Hosentasche und morgen Abend wird dich dieser widerliche Kerl mit seinen Kumpanen abholen.“
Irmchen wurde von einem neuen, heftigen Weinkrampf geschüttelt. Toby trat zu ihr an den Tisch heran, setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl, sah ihr in die verweinten Augen und fragte:
„Warum, Muttchen?“
Er sagte immer Muttchen zu ihr, wenn sie traurig war.
„Warum nur habt ihr das gemacht? Ich habe euch doch nichts getan. Warum also habt ihr das getan?“
Irmchen rang nach Luft, versuchte sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen:
„Na ja, du weißt ja, dass ich früher mal ganz anders war. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber ich war damals wirklich kein guter Mensch. Wir nahmen das Geld, weil ich unbedingt ans Meer in den Urlaub wollte. Na ja, wir haben dann noch ein paar schicke Klamotten gekauft und ein bisschen gefeiert. Dann war es auch schon alle. In den ersten Jahren habe ich diese Sache dann einfach verdrängt und vergessen. Seit einiger Zeit ist das allerdings nicht mehr möglich und es ist, als ob jemand immer wieder seinen Finger darauf legen würde. Ach, wenn ich es doch nur rückgängig machen könnte. Bitte verzeih mir, mein Junge.“
Plötzlich riss Irmchen den Kopf ruckartig hoch und sah ihm direkt in die Augen:
„Es ist wirklich sehr ernst, Tobyas. Wir haben das Geld genommen und dieser feine Herr Krall sah nicht so aus, als ob er spaßen würde. Der hatte zwei kräftige Kerle dabei. Auch die sahen nicht so aus, als ob sie Komiker wären. Das ist also wirklich kein Spaß, Toby!“
Sie wischte sich mit der Rückseite der Hand die Tränen aus dem Gesicht, kramte ein altes, nicht mehr ganz frisches Taschentuch aus ihrer Schürze und putzte sich ausgiebig die Nase.
„Geh´ und pack dir schnell ein paar Sachen zusammen. Hier hast du ein bisschen Geld“, sagte sie, „die Geschwister haben das auf die Schnelle für dich zusammengelegt.“
Mit zittrigen Händen steckte sie ihm einige Geldscheine in seine Hosentasche.
„Bitte, Junge, - bitte melde dich zwischendurch regelmäßig beim Knochenklempner und sage ihm wo du geblieben bist, damit ich mir nicht solche Sorgen machen muss. Er wird mir deine Nachrichten immer zukommen lassen, ohne dass der Alte etwas merkt.“
Irmchen hatte Toby mittlerweile wirklich von Herzen lieb gewonnen und ihr Schluchzen wollte und wollte nicht aufhören. Vorsichtig öffnete sie die Küchentür und lugte in den Flur hinaus. Hannes, ihr rücksichtsloser, tyrannischer Ehemann schnarchte immer noch laut und gleichmäßig. Sie drehte sich zu Toby um, winkte ihn heran und flüsterte:
„Beeile dich und sei schön leise, mein Tobylein…“
Der schlich zu dem kleinen, vielleicht sechs Quadratmeter großen Abstellraum am Ende des Flurs, der die ganzen Jahre sein Zimmer gewesen war, um dort eilig einige Sachen zusammen zu packen. Er verstaute hastig alles in seiner alten Umhängetasche, die er normalerweise für den Transport seiner Schulbücher benutzte. Danach pirschte er sich leise nach oben, auf seinen geliebten Dachboden. Er schloss die Bodenluke ganz vorsichtig, um den Alten nicht doch noch vorzeitig auf zu wecken.
Da es draußen bereits stockdunkel war, suchten seine Hände die alte Taschenlampe, die immer links am Trägerbalken stand.
„Da bist du ja“, flüsterte er befriedigt, als er sie ertastet hatte. Ihr Lichtstrahl war nicht sehr hell, weil die Batterien schon ziemlich alt waren. Das Taschengeld, was er eigentlich für neue einsetzen wollte, hatte ihm Richard Momsen abgenommen. Na ja, jetzt war es sowieso egal. Als Erstes kroch er in die hintere Ecke des Dachbodens, in der er die Seemannskiste versteckt hatte. Außer den alten Kleidungsstücke, die er zur Tarnung seines Schatzes benutzt hatte und die auf dem Boden verstreut herumlagen, war dort nichts mehr zu finden. Das war doch nicht möglich! Sollte der Alte…? Der Gedanke nahm ihm die Luft. Hatte der Alte tatsächlich die Kiste gefunden? Er war wie gelähmt. Sein Herz raste. Die Augen sondierten den gesamten Dachboden, doch eigentlich erwartete er nicht, sie wieder zu finden. Vorsichtshalber kroch er trotzdem nochmal suchend in jeden Winkel des Bodens. Doch so sehr er sich auch abmühte: Die Kiste war und blieb verschwunden! Genauso mysteriös, wie sie aufgetaucht war.
Doch was war das? Ganz langsam und doch leise knarrend öffnete sich die Bodenluke einen kleinen Spalt. Toby erschrak und starrte angespannt in ihre Richtung. Wenn das jetzt der Alte war, müsste er sehen, dass er irgendwie abhauen könnte. Durchs Dachfenster vielleicht. Doch dann erkannte er im trüben Lichtkegel seiner Taschenlampe Irmchens Augen und er war ziemlich erleichtert.
„Nun beeil dich schon, Junge, - du musst los.“
Seine Pflegemutter ermahnte ihn flüsternd aber liebevoll zur Eile.
Es war stockfinstere Nacht und dicke Nebelschwaden hingen in den Straßen. Gelegentlich hörte man in der Ferne das Kläffen eines Hundes, auf das dann gleich mehrere andere mit lautem Gebell antworteten, sowie das Schreien und Fauchen von sich prügelnden Katzen. Der Mond war hinter einigen Wolkenfetzen nur schemenhaft zu sehen.
Da standen sie sich nun gegenüber, um Abschied zu nehmen: Irmchen, die in diesem Augenblick die unglücklichste Frau der Welt war und ihr Pflegesohn Tobyas, der nicht genau wusste, ob er traurig sein-, oder sich freuen sollte. Keiner von Beiden wusste, was die Zukunft bringen würde. Sie zog den Jungen zu sich heran und nahm ihn in die Arme. Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Sie küsste ihn heftig auf die Stirn und ihre rechte Hand zerwühlte seine Haare.
„Ach Junge, - wenn ich das alles doch nur wieder gutmachen könnte.“
Sie zog Toby zu sich heran, umarmte ihn erneut und flüsterte ihm ins Ohr:
„Du bist was Besonderes, mein Junge….“
„Ja, - na klar, Muttchen. Ich weiß…. “
„Nein, nein, - das meine ich nicht! Du bist wirklich ein besonderer Junge. Du hast Fähigkeiten, von denen du noch keine Ahnung hast, von denen du nichts weißt und du hast eine Aufgabe! Hörst du, - du hast eine sehr, sehr wichtige Aufgabe und diese Strolche wollen dich davon abhalten. Mehr weiß ich auch nicht.“
Toby löste sich aus ihrer Umarmung, sah ihr in die Augen und fragte:
„Sag mal, Muttchen, hat der Alte gestern oder heute so ´ne Holztruhe vom Boden runtergeholt?“
„Der? Der und auf ´n Boden hochgehen? Das wäre ja Arbeit! Nee, nee, mein Kleiner. Der war da ganz sicher nicht oben. Das hätte ich mitgekriegt.“
Irmchen war noch immer völlig aufgelöst und schluchzte nun wieder hemmungslos:
„Geh´ jetzt, Junge. Nun geh´ schon! Mach schnell! Gott im Himmel möge dich segnen und beschützen.“
Sie schob ihn sachte von sich weg in Richtung Gehweg.
„Bitte denk daran, dass du Kontakt zum Knochenklempner hältst. Vergiss das nicht, ich ängstige mich sonst zu Tode.“
„Ja, ja, mach ich“ versprach Toby im Losgehen.
Das „ich hab dich lieb, mein Junge, - ich hab dich sehr, sehr lieb“, das Irmchen noch flüsternd hinter ihm her rief, hörte er schon nicht mehr.
Während Toby über ihre Worte wegen seiner angeblich so wichtigen Aufgabe nachdachte, lief er einer ungewissen Zukunft entgegen. Schon sehr bald hatte ihn der dichte Nebel verschluckt…
Das Klopfen an der Wohnungstür klang sehr ungeduldig und Irmchen hörte deutlich mehrere Männerstimmen dahinter. Sie zuckte zusammen, weil sie genau wusste, wer da draußen stand.
„Hannes“ rief sie zaghaft nach ihrem, noch immer seinen Rausch ausschlafenden Mann. Als der auf das Rufen nicht reagierte und das Klopfen an der Tür immer heftiger wurde, verlor sie die Geduld, stürmte ins Wohnzimmer und riss ihrem Hannes wütend die Decke weg:
„Steh´ auf, du nichtsnutziger Trunkenbold! Da ist dein Besuch an der Tür. Du weißt, was die Kerle wollen. Komm gefälligst hoch und kümmere dich darum! Oder soll ich sie so hereinlassen? Eigentlich eine gute Idee! Dann können sie mal sehen, was du für eine Niete bist! Nur saufen, saufen und nichts arbeiten… Ach, - hätte ich doch damals nur auf meine Mutter gehört“, schimpfte sie und verschwand wieder in der Küche.
Hannes war auf Grund des Donnerwetters seiner Frau aufgewacht und versuchte nun, sich aufzusetzen. Dabei stellte er sich allerdings so ungeschickt an, dass er vom Sofa herunter rutschte und ziemlich unsanft auf seinem Hinterteil landete.
Bum, bum, bum… Das Klopfen an der Tür wurde inzwischen immer bedrohlicher.
„Aufmachen! Sofort aufmachen, sonst treten wir die Tür ein!“, schrien die Männer. Der Lärm schmerzte in Hannes Kopf und alles um ihn herum begann sich zu drehen. Er fühlte sich schlecht. Sehr schlecht sogar, denn er war vom Alkohol noch sichtlich benommen. Vorsichtig versuchte er aufzustehen, verfing sich dabei aber in der Wolldecke, die noch immer um seine Hüften geschlungen war. Er strauchelte, wollte sich am Tisch festhalten, was nicht gelang und riss dann im Fallen mit der Tischdecke die Obstschale, Flasche, Glas und den vollen, stinkenden Aschenbecher herunter. Scheinbar orientierungslos taumelte er nun in Richtung Wohnungstür, krachte mit voller Wucht gegen dieselbe und landete schließlich erneut auf dem Fußboden. Augenblicklich war das Trommeln an der Tür vorbei. Die Männer draußen mussten einen gehörigen Schreck bekommen haben. Hannes rappelte sich wieder auf, sortierte seine Kleidung, um dann zögerlich die Tür zu öffnen.
„Ja bitte?“ fragte er.
„Pass auf, du Kasper! Verarsch uns nicht! Du weißt genau, wer wir sind und was wir wollen! Karl Krall, dieser Name sollte dir bekannt vorkommen, alter Saufkopf! Du weißt schon, dein Wohltäter!“
Drei kräftige Kerle in langen, beigefarbenen Mänteln und mit schwarzen, breitkrempigen Hüten auf ihren Köpfen standen drohend im Treppenhaus. Sie sahen nicht so aus, als ob sie auf eine nette, kleine Unterhaltung vorbeigekommen wären. Schlagartig war Hannes hellwach. Er griff reflexartig in seine Hosentasche. Da war tatsächlich das Geld. Genau! Er hatte es gestern von diesem sauberen Herrn Krall bekommen. Es war genau die damals vereinbarte, zweite Zahlung dafür, dass er das Kind, was der Kerl vor knapp vierzehn Jahren vorbeigebracht hatte, heute wieder an ihn übergab. Er und sein Irmchen sollten den Bengel damals für einige Jahre in Pflege nehmen und kurz vor seinem vierzehnten Geburtstag wieder herausgeben. Dafür, und dass sie keine Fragen stellen, erhielten sie das Geld. Nun waren sie da, um seinen Pflegesohn Toby abzuholen und es galt noch immer: Keine Fragen stellen! Darauf hatte ihn der Typ soeben nochmal sehr deutlich hingewiesen. Eigentlich war es Hannes auch wirklich egal, was mit dem Bengel passieren sollte. Als der Kerl gestern mit dem Bündel Geldscheinen vor seinem Gesicht herum wedelte und dabei furchterregend grinste, hatte er zugegriffen und der Übergabe des Jungen für heute zugestimmt. Nun wollte er die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen. Er drehte sich um und rief in die Wohnung hinein:
„Toby! Komm her, Junge!“
Als er keine Antwort bekam, versuchte er den ungeduldigen Blicken seiner Besucher auszuweichen und grummelte vor sich hin:
„Wo steckte der Bengel bloß?“, um daran anschließend nochmal sehr laut zu schreien: „Tobyas! Komm sofort hierher, du Früchtchen!“
Als auch jetzt kein Toby erschien, begann er hilfesuchend nach seinem Irmchen zu rufen:
„Frau! Irmchen, komm her! Wo steckt denn der Bengel wieder?“
Er blickte dabei entschuldigend zu den drei Männern, die sich gewaltsam in die Wohnung drängten. Dabei schoben sie Hannes unsanft und sehr bestimmt zur Seite. Einer von ihnen packte ihn am Kragen, zog ihn ganz dicht zu sich heran und zischte wütend:
„Ich sag ´s dir zum letzten Mal: Verarsch uns nicht, Saufkopf.“
Er stieß den Betrunkenen angeekelt von sich weg, weil er dessen Alkoholfahne nicht ertragen konnte. Hannes stolperte rückwärts, verlor den Halt und fiel auf das Sofa. Fast gleichzeitig setzten sich die zwei anderen Männer rechts und links neben ihm hin, so dass er zwischen den Beiden eingeklemmt wurde. Hannes bekam echte Angst und begann unterwürfig zu stottern:
„Es… es tut mir wirklich sehr leid, meine Herren. Ich… ich weiß auch nicht, wo… wo der Bengel steckt und ich weiß, dass Ihre Zeit sehr kostbar ist.“
Die Männer begriffen langsam, dass ihr Gegenüber die Abmachung nicht einhalten konnte. Der hatte inzwischen die Geldscheine aus seiner Hosentasche hervorgeholt und hielt sie dem, der ihn gestoßen hatte, entgegen, während er stammelte:
„Es… es tut mir echt leid. Wirklich. Aber der Bengel ist weg. Sie sehen ja selbst. Hier, bitte, nehmen sie das Geld zurück und gehen sie.“
Der Mann lachte laut und höhnisch! Mit einer abwehrenden Handbewegung schlug er gegen das hingehaltene Bündel Banknoten, so dass diese wie Konfetti durch den ganzen Raum flogen. Wütend fauchte er Hannes Kronlechner an:
„Wir wollen das Scheiß-Geld nicht! Wir wollen den Jungen! Sofort!“
Hannes rief - die Männer rechts und links neben sich ängstlich anschauend – erneut nach Irmchen. Die war in der Küche anfangs noch sehr ängstlich gewesen. Je länger jedoch die unangenehme Situation in ihrem Wohnzimmer andauerte und sich zuspitzte, umso mehr ärgerte sie sich über das unverschämte Benehmen dieser drei Kerle. Sie geriet richtig in Rage, kramte ein großes Tuch aus der Tasche ihrer Schürze, wischte sich das Gesicht ab, schnäuzte sich ausgiebig darin und nahm dann einen riesigen Kochlöffel aus dem Wandregal. Sie schob die Ärmel ihrer Bluse hoch, atmete dreimal tief durch und stürmte ins Wohnzimmer.
„Jetzt ist aber Schluss!“ schrie sie die verblüfften Männer an. „Raus! Raus, aber ganz schnell!“
Mit einer Kraft, die man dieser zierlichen Frau nie zugetraut hätte, schlug sie mit dem Kochlöffel auf die drei Kerle ein.
„Ihr unverschämten Mistkerle! Ihr Flegel! Ihr solltet euch was schämen! Stehlt dem lieben Gott den Tag und belästigt kleine Leute, die sich gegen euch Banditen nicht wehren können! Raus, ihr Lumpengesindel! Raus aus meiner Wohnung, aber schnell!“
Sie trieb die völlig verdutzten Männer laut schimpfend und auf sie einschlagend vor sich her in Richtung Haustür. Als sich die ersten beiden im Treppenhaus in Sicherheit gebracht hatten, schubste sie den letzten hinterher und warf die Tür mit Schwung zu. Krachend fiel sie ins Schloss! Augenblicklich war alles ruhig.
Nach einem kurzen Augenblick hatten sich die drei Überrumpelten wieder gefangen und begriffen langsam, dass sie gerade alle Drei von einer kleinen Frau mit einem Kochlöffel rausgeschmissen worden waren. Von dieser Peinlichkeit durfte ihr Chef Karl Krall niemals etwas erfahren! Sie begannen von neuem gegen die Wohnungstür zu trommeln.
„Aufmachen, Du Schlampe! Sofort aufmachen, du Drecksweib! Gebt sofort den Jungen raus, sonst…“
In diesem Augenblick riss Irmchen die Tür auf und stand den erneut völlig überraschten Männern wutschnaubend gegenüber. Sie hatte inzwischen das umher liegende Geld aufgesammelt und schob die Geldscheine mit der linken Hand, dem direkt vor ihr stehenden Mann in den Ausschnitt seines Umhanges, ohne darauf zu achten, dass einige Banknoten zur Erde fielen. Mit der rechten Hand hielt sie ihm dabei den großen Kochlöffel drohend unter die Nase und fauchte:
„Schlampe? Hast Du gerade Schlampe zu mir gesagt?“
Der schwere Holzlöffel sauste auf den Kopf des Mannes herunter und es krachte dabei gefährlich.
„Der Junge wohnt hier nicht mehr! Habt ihr verstanden? Es gibt hier keinen Tobyas Thorsen mehr! Und ihr Gesindel lasst euch hier nie wieder sehen! Ihr Lumpen! Ich hetze euch die Polizei auf den Hals und jetzt macht, dass ihr wegkommt!“
Wieder krachte die Tür ins Schloss. Hannes saß mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund auf dem Sofa. Er war hellwach und hatte die Szene mucksmäuschenstill beobachtet. Was war das denn gerade gewesen? War das sein immer ruhiges, immer ängstliches Irmchen? Oder hatte er vielleicht nur eine alkoholbedingte Halluzination gehabt? Er suchte mit dem liebevollsten Gesichtsausdruck, zu dem er fähig war, Augenkontakt zu ihr. Sie jedoch würdigte ihn keines Blickes, als sie an ihm vorbei, Richtung Küche verschwand.
Toby war innerlich ziemlich aufgewühlt und lief ziellos durch die Nacht. Das Echo seiner Schritte wurde von den Häuserwänden scharf zurück geworfen und es fröstelte ihn ein bisschen. Nicht, dass er wirklich fror, so kalt war es noch nicht; es war dieses besondere, komische Kältegefühl, das er jedes Mal bekam, wenn es ihm ein bisschen unheimlich wurde. Dann liefen ihm Schauer durch den ganzen Körper, die sich anfühlten wie Millionen kleiner Nadelstiche, gepaart mit einer seltsamen Eiseskälte, die ihn wellenartig von oben nach unten durchflutete.
Plötzlich hörte er links neben…, nein, es war wohl doch eher hinter sich, ein deutliches Rascheln im Gebüsch. Er stoppte und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein, während eine noch heftigere Welle von Nadelstichen durch seinen Körper raste und ihn beinahe lähmte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und seine rechte Hand kramte hastig in der Umhängetasche nach der Taschenlampe. Vorsichtig und sehr langsam drehte er sich in Richtung des Geräusches, während er dabei die Taschenlampe behutsam aus der Tasche herauszog, das Gebüsch sorgfältig anvisierte, um dann plötzlich das Licht einzuschalten. Von der Helligkeit erschreckt sprangen im selben Augenblick zwei Katzen aus dem Buschwerk direkt vor Toby auf den Gehweg, um pfeilschnell und laut schreiend in einer Nebenstraße zu verschwinden.
Augenblicklich war die Spannung von ihm abgefallen und er bemerkte, dass seine Knie weich wurden und einzuknicken drohten. Ihm war ganz schlecht. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen und atmete tief durch.
„Nur Katzen“, sagte er erleichtert zu sich selbst, „nur Katzen.“
Er schaltete das Licht der Taschenlampe wieder aus, drehte sich zurück in die Richtung, in die er ursprünglich gegangen war und knallte schon beim ersten Schritt gegen etwas, was da vorher noch nicht gewesen war. Vor Schreck brachte er keinen Laut hervor und als sich eine kräftige Hand auf seine Schulter legte, hatte er das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.
„Was machst du denn um diese Zeit noch auf der Straße, Junge?“, hörte er eine männliche Stimme in gedämpfter Lautstärke fragen. Toby konnte noch immer nichts sagen. Es war, als steckte ihm ein dicker Kloß im Hals. Er zitterte am ganzen Körper. Die Stimme wurde jetzt freundlicher:
„Hab´ keine Angst, Junge. Es waren doch nur Katzen.“
Unter der großen Hutkrempe erkannte er im Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos das Gesicht vom Putzer.
„Herr…, Herr Van de Kust! Ich muss…, äh, ich will…, nein, ich meine, Sie sollten…“, stammelte Toby völlig entnervt.
Hubertus Van de Kust schaute ihn besorgt an und bedeutete ihm, durch den über die Lippen gelegten Zeigefinger, dass er leiser sein sollte.
„Schon gut, mein Junge. Beruhige dich erst mal. Du bist doch der Tobyas Thorsen, nicht wahr? Warst Du es nicht, der sich heute Nachmittag so interessiert die ‚Dicscha‘ in meinem Schaufenster angeschaut hat?“
„Ja, ja, - also ich meine nein; ich kenne keine Dicscha! Aber, wissen Sie? Also, sie haben mich verkauft! Ich kann nie mehr nach Hause zurück“, platzte es aus ihm heraus.
„Nicht so laut, Junge. Sie haben dich verkauft? Wer hat dich verkauft?“ wollte der Putzer wissen.
„Na, die Kronlechners! Meine Pflegeeltern! Irmchen, ich meine, meine Pflegemutter hat mich am späten Abend gewarnt und weggeschickt. Ich soll ja nicht zurückkommen, hat sie gesagt“, sprudelte es, nun ebenfalls flüsternd, förmlich aus seinem Munde hervor. „Der Alte war wieder völlig besoffen und hat ‘nen Haufen Geld genommen und dann sind Männer gekommen, die mich holen sollten.“
Der Putzer legte seinen Arm um Tobys Schultern und lenkte ihn mit leichtem Nachdruck über die Straße, während er dabei die Umgebung sondierte, so als ob er befürchtete, von irgendjemandem entdeckt, oder verfolgt zu werden.
„Du kommst jetzt erst mal mit zu mir und dann sehen wir weiter“, sagte er leise in einem wohltuend freundlichen Ton, der dennoch keinerlei Widerspruch zuließ. Erst jetzt bemerkte Toby, dass sie sich in der Kirchstraße befanden und direkt auf den Kolonialwarenladen von Hubertus Van de Kust zuliefen.
„Du hast doch da so ´ne Taschenlampe, nicht wahr? Sei doch so gut und leuchte mir mal auf das Türschloss, Toby Thorsen“, flüsterte der Putzer ihm zu, ganz so, als ob er be-fürchtete, durch zu viel Krach die Nachbarn zu wecken.
Er hatte ein großes Schlüsselbund aus der Hosentasche hervorgeholt und suchte ganz vorsichtig, um Lärm zu vermeiden, den passenden Schlüssel für die mit einem zusätzlichen Eisengitter versehene Ladentür. Drei verschiedene Schlösser mussten mit unterschiedlichen Schlüsseln geöffnet werden; eins oben, eins in der Mitte und eins im unteren Bereich der Tür. Als er den Eingang vorsichtig öffnete, wollte ein sehr einfacher Mechanismus gerade automatisch ein kleines Glöckchen betätigen, das innen im oberen Türrahmen befestigt war, doch Hubertus Van de Kust war schneller! Blitzschnell griff er durch den geöffneten Türspalt nach oben. Er erwischte die Bimmel, bevor sie ihren eigentlichen Zweck erfüllen konnte und dadurch vielleicht die ganze Umgebung geweckt hätte.
„Komm“, flüsterte er und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, einzutreten. Suchend fingerte er in der Dunkelheit nach den Schlüssellöchern, um die Tür wieder sicher zu verschließen.
Toby versuchte währenddessen, sich im Halbdunkel des Raumes zu orientieren. Durch den hereinfallenden Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos bewegten sich die Schatten der ausgestopften Tiere gespenstisch über Fußboden und Wände. Dazu spielten die unzähligen Wand- und Standuhren mit ihren ungleichen Tickgeräuschen ein unheimliches Konzert, was ihm kalte Schauer über den Rücken laufen ließ.
Noch bevor sich Toby darüber klar werden konnte, ob er sich fürchten sollte, oder vielleicht doch nicht, spürte er die Hand vom Putzer erneut in seinem Rücken. Der schob ihn mit den gemurmelten Worten „nun geh´ schon“ in Richtung eines Durchganges im hinteren Teil des Ladens. Durch einen schweren, dunkelroten Vorhang kamen sie in einen schmalen Flur, von dem nach rechts zwei geschlossene Türen abgingen. Auf der linken Seite führte eine klapperig aussehende Holztreppe ins Obergeschoß und Hubertus Van de Kust deutete dem Jungen, er solle dort hinauf, nach oben gehen. Das Knarren der Stufen erschien ihm zuerst bedenklich laut zu sein. Als allerdings plötzlich aus dem Laden ein furioses Konzert von vielen unterschiedlichen ‚bim-bam‘s´ und ‚kuckuck‘s´ zu hören war, ging er auf den letzten Stufen ganz normal. Oben angekommen, öffnete der Putzer mit einem Schlüssel, den er vom Türrahmen herunternahm, eine kleine, ziemlich niedrige Zimmertür und schob Toby hinein. Drinnen schaltete er das Licht an, doch die viel zu schwache Glühlampe machte den Raum nicht wirklich hell.
„Dies ist das Zimmer meiner Tochter Christin. Sie ist ungefähr in deinem Alter. Wirst sie sehr bald kennenlernen. Heute Nacht schläfst du hier, aber bitte, sei ganz leise. Ich weiß nicht, ob die Lumpen heute nochmal wieder kommen.“
„Welche Lumpen kommen heute vielleicht nochmal wieder?“, wollte Toby besorgt wissen.
„Mach dir keine Sorgen. Schlaf jetzt! Wir reden dann morgen beim Frühstück“, antwortete der Putzer. Er drehte sich im Hinausgehen nochmals kurz um und murmelte:
„Und bitte, lass bitte alles so stehen, wie es steht. Ich möchte nicht, dass es wieder Stress gibt, wenn Christin zurückkommt. Also, gute Nacht, Tobyas Thorsen.“
Leise verschloss er die Tür und Toby war allein…
Da stand er nun auf einmal mitten in einem typischen Mädchenzimmer. Zu allen Überfluss sollte er hier auch noch schlafen. Nur gut, dass ihn keiner seiner Kumpels sehen konnte. Er schaute sich um. Drei der mit Raufasertapete beklebten Wände waren in einem kräftigen rosa gestrichen. Igitt! Einige Poster von Tokio Hotel, Hannah Montana, High School Musical und Zac Efron waren an der einen Wand zu einer großen Collage drapiert und auf dem Bett lagen neben vielen kleinen Kissen, unzählige Stofftiere und Puppen. Er überlegte gerade, ob er nicht vielleicht doch auf dem Stuhl, im Sitzen schlafen sollte, als ihm der etwas muffige Geruch auffiel. Puhhh, wahrscheinlich hatte hier in den letzten Tagen niemand mehr gelüftet. Toby rümpfte die Nase; er wusste nicht genau, ob ihn nun wegen des seltsamen Gestanks, wegen der aufdringlichen rosa Farbe, oder wegen der vielen Puppen und Plüschtiere die Übelkeit überkam. Er schaltete das Licht aus, ging rasch zum Fenster hinüber und öffnete es vorsichtig. Mit kräftigen Zügen sog die frische Nachtluft in seine Lungen ein. Das tat wirklich sehr gut…
Die Ereignisse der vergangenen Stunden zogen noch einmal in seinen Gedanken an ihm vorüber: Die Seemannskiste auf dem Dachboden; er war sich sicher, dass sie vorher nicht da gestanden hatte. Die Zeitung in der unbekannten Schrift, die er trotzdem lesen konnte. Die kleine Blechschachtel im Schaufenster mit den gleichen, seltsamen Schriftzeichen, die jedoch Worte ergaben, die er nicht kannte. Die mit rotem Filzstift gezeichnete Straßenskizze neben der markierten Annonce des Kolonialwarenhändlers. Die wilde Flucht vor Momsen und seiner Gang. Und dann noch dieser seltsame Gandalf-Verschnitt mit dem großen Lederhut auf dem Kopf. Das freundliche Lächeln des geheimnisvollen Mannes hatte er augenblicklich klar vor Augen. Was hatte er nochmal gesagt? Deutlich erinnerte sich Toby an die Worte:
„Na, du Held“, hatte er gesagt, „hast wohl grad´ ´ne Menge Probleme?“
Und dann hatte er sie exakt aufgezählt, seine momentanen Probleme. Er kannte sie alle:
„Der Momsen; der alte Kronlechner; der Krall. Und dann auch noch dein Vater!“
Genau! So hatte er es gesagt. Auch, dass er nicht in Tobys Haut stecken wolle. Das Wort Vater hatte er dabei tatsächlich recht merkwürdig betont. Doch halt! Mit Vater konnte er ja gar nicht den Alten gemeint haben, denn er hatte ja vorher in seiner Aufzählung den ‚alten Kronlechner‘ namentlich genannt. Und dann noch dein Vater! Der alte Kronlechner und dann noch mein Vater…
Der Brief! Dieser Kerl hatte ihm doch einen Brief gegeben! Genau! Ein Brief! Wo war er denn bloß? Seine Hände durchwühlten die Hosentaschen. Nichts! Nachdem er die Vorhänge zugezogen- und das Licht wieder eingeschaltet hatte, schob er Kissen und Stofftiere seiner abwesenden Gastgeberin zur Seite und schüttete den gesamten Inhalt seiner Umhängetasche aufs Mädchenbett. Aufgeregt durchwühlte er alles. Wieder nichts! Sein Pulsschlag erhöhte sich langsam wieder und er spürte erneut deutlich, wie sein Herz kräftiger zu pumpen begann. Wo konnte dieser Brief nur geblieben sein? Während er sich auf die Bettkannte gesetzt hatte, überlegte er angestrengt, ob er ihn vielleicht auf dem Dachboden vergessen haben könnte. Vielleicht hatte er ihn gar verloren. Wie zufällig streifte, während des Nachdenkens, sein Blick die über dem Stuhl hängende Jacke. Augenblicklich fiel es ihm wieder ein! Die Innentasche! Dort hatte er den Brief hineingesteckt, nachdem er ihn von der Erde aufgehoben hatte und der Mann so plötzlich verschwunden war. In die Innentasche seiner Jacke!