Töchter des Aufbruchs - Marie Pierre - E-Book

Töchter des Aufbruchs E-Book

Marie Pierre

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Beschreibung

Das Pensionat an der Mosel öffnet seine Türen

Reichsland Elsaß-Lothringen 1910: Im mittelalterlichen Moselstädtchen Diedenhofen führt die junge Lehrerin Pauline Martin inmitten einer bunt gemischten Bevölkerung aus Deutschen und Franzosen ein Pensionat für höhere Töchter, die sie zu eigenständigen und selbstbewussten Frauen erziehen will. Als ihr neuester Schützling Suzette sich heimlich mit einem Soldaten trifft und kurz darauf spurlos verschwindet, bittet Pauline den preußischen Hauptmann Erich von Pliesnitz um Hilfe. Ihre enge Zusammenarbeit droht, die strengen Konventionen der Kaiserzeit zu sprengen. Und dann ist da noch Paulines neuer Gärtner Vincent, der ein dunkles Geheimnis hütet. Kann Pauline Suzette finden und den guten Ruf ihres Pensionats bewahren?

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Das Buch

Reichsland Elsaß-Lothringen 1910: Im mittelalterlichen Moselstädtchen Diedenhofen führt die junge Lehrerin Pauline Martin inmitten einer bunt gemischten Bevölkerung aus Deutschen und Franzosen ein Pensionat für höhere Töchter, die sie zu eigenständigen und selbstbewussten Frauen erziehen will. Als ihr neuester Schützling Suzette sich heimlich mit einem Soldaten trifft und kurz darauf spurlos verschwindet, bittet Pauline den preußischen Hauptmann Erich von Pliesnitz um Hilfe. Ihre enge Zusammenarbeit droht, die strengen Konventionen der Kaiserzeit zu sprengen. Und dann ist da noch Paulines neuer Gärtner Vincent, der ein dunkles Geheimnis hütet. Kann Pauline Suzette finden und den guten Ruf ihres Pensionats bewahren?

Die Autorin

Marie Pierre ist im Spannungsfeld der deutsch-französischen Grenzregion aufgewachsen. Ihre Studienzeit in Metz sowie die Geschichte ihrer Familie, die sich über Deutschland, Frankreich und Luxemburg erstreckt, inspirierten sie dazu, sich intensiv mit der Vergangenheit zu befassen. Besonders Lothringen ist sie sehr verbunden. Unter dem Namen Maria W. Peter schreibt sie historische Romane und Theaterstücke, von der Römerzeit bis hin ins 19. Jahrhundert, für die sie unter anderem mit dem Literaturpreis Homer ausgezeichnet wurde. Vielleicht war das Leben ihrer Großtante, die in der Zwischenkriegszeit ein Mädchenpensionat im lothringischen Bouzonville besuchte, der zündende Funke zu ihrer aktuellen Reihe.

Besuchen sie die Autorin auch auf ihrer Homepage: www.mariawpeter.de und auf www.facebook.com/mariawpeter.

Marie Pierre

Das Pensionat an der Mosel

Band 1

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Zitate aus Les Misérables – Die Elenden stammen aus den Übersetzungen von Paul Wiegler und Wolfgang Günther sowie Dr. G. A. Volchert.

Originalausgabe 02/2024

Copyright © 2024 by Marie Pierre

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Gefördert durch ein Künstlerstipendium im Rahmen der NRW-Corona-Hilfen

Covergestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von: Arcangel Images (Abigail Miles, Shelley Richmond, Crow’s Eye Productions), Bridgeman Images (United Archives/Carl Simon), Shutterstock.com (luck luckyfarm, Artnizu, AVA Bitter)Redaktion: Dr. Mechthilde VahsenKarte auf U2 und im eBook: © bei Pharus-Plan GmbH Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31069-1V005

www.heyne.de

Figuren der Handlung

Im Pensionat

Lehrpersonen:

Pauline Martin, Directrice, Institutsleiterin aus Metz

Eleonore Schmitt, junge Lehrerin aus dem Hannoveranischen, hinter deren steifer Fassade sich ein unkonventioneller Geist verbirgt

Fräulein Hildebrandt, eine regelbewusste, ältere Dame, der das laute Treiben im Pensionat irgendwann zu viel wird

Eine Bewerberin auf eine Stelle als Lehrerin, die gerade mal eine halbe Stunde bleibt

Hausangestellte:

»Lisbeth« Weber, aus Woerth im Elsass, Köchin, Haushälterin und gute Seele des Pensionats

Camille Rémy, Stubenmädchen aus der Nähe von Château-Salins in Lothringen

Vincent Lehmann, der neue Gärtner aus der preußischen Rheinprovinz, der auch Hausmeistertätigkeiten verrichtet

Thomas Engel, der die saubere Wäsche vorbeibringt und gelegentlich bei groben Arbeiten aushilft

Die Schülerinnen:

Suzette Manseaux, Tochter von Paulines Cousine aus Avignon

Louise Wendling, musisch begabte Schülerin aus Straßburg mit einem großen Kummer

Charlotte von Schwegat, Tochter eines Grubendirektors von der Saar

Marthe Gross, die mit ihren sozialen und sozialistischen Idealen nie hinter dem Berg hält

Sophie Loos aus Luxemburg, deren Interesse an der Frauenbewegung gerade neue Nahrung erhält

Brunhilde Klawe, Büchernärrin, deren Familie ursprünglich aus Neuruppin in Preußen stammt

Albertine Schwartz aus dem lothringischen Busendorf/Bouzonville

Esther David aus dem lothringischen Saargemünd/Sarreguemines

Gelsa von Kucharski, Tochter eines im elsässischen Zabern/Saverne stationierten preußischen Offiziers

Josefa Gruber, Tochter eines verwitweten bayerischen Offiziers

In der preußischen Garnison zu Diedenhofen

Erich von Pliesnitz, preußischer Hauptmann der Infanterie, aus Posen

»Franzl« Klein, sein aus der Nähe von Colmar stammender Offiziersbursche

Hermann Krüger, preußischer Leutnant mit besonderer Wirkung auf Frauen

Hauptmann Reinhold Welter, der seit seiner Rückkehr aus Saarlouis ein wenig verändert wirkt

Oberst von Tirzheim, der seine Vorurteile gegenüber Lothringern nicht ganz ablegen kann

Leutnant von Gerther, dem der Friedensdienst in der Garnison allmählich langweilig wird

In Saarbrücken

Hauptmann von Berndorff vom 8. Rheinischen Infanterieregiment Nummer 70 zu Saarbrücken, mit dem Erich eine alte Freundschaft verbindet

Major von Kliepke, ein schlechter Verlierer, dafür aber Mann mit gutem Gedächtnis

dazu ein übernächtigter Regimentsarzt und ein missgelaunter Zeitungssekretär, welche die Feierlichkeiten lieber anders verbracht hätten

Sonstige

Wachtmeister Schrotherr, ein Polizist, der sich für alles verantwortlich fühlt

Witwe Schleedorn, Erichs Zimmerwirtin mit verbesserungswürdigem Kochtalent

Stadträtin Gerber, aus dem preußischen Rheinland, die sich mit der Wohnsituation in Diedenhofen nicht so recht anzufreunden vermag

Frau Müller, ihre Leidensgenossin mit wesentlich positiverer Lebenseinstellung

Alphonse Mathieu, Gemüsehändler, der das Pensionat beliefert und für die Köchin Lisbeth gerne mal was zur Seite legt

Für meine geschätzte Literaturprofessorin

Patricia Oster-Stierle,

die mir im entscheidenden Moment

die richtigen Weichen gestellt hat

»Die Freiheit beginnt, wo die Unwissenheit endet.«

Victor Hugo

Kapitel 1

Diedenhofen/ThionvilleReichsland Elsaß-Lothringen, Juni 1910

»Du weißt nicht, was du da tust! Du zerstörst mein Leben!« Die zornig hervorgebrachten Worte wurden durch ein heftiges Aufstampfen des Fußes bekräftigt, was für einen kurzen Moment sowohl das Tintenfass als auch die in Gold gerahmte Fotografie der Metzer Kathedrale auf dem Schreibtisch zum Wanken brachte. »Ich bin erwachsen und lasse mich nicht länger bevormunden! Von niemandem mehr! Nicht von Maman und schon gar nicht von dir! Hast du gehört?«

Der letzte Satz glich einem empörten Aufschrei, der Pauline beinahe ein verständnisvolles Lächeln entlockte. Dieser Drang nach Freiheit, nach Selbstbestimmung. Wie gut sie das verstehen konnte. Liebevoll glitt ihr Blick über ihren Schützling, die sechzehnjährige Suzette, die mit zu Fäusten geballten Händen, geröteten Wangen und blitzenden Augen vor ihrem Schreibtisch stand. Die fleischgewordene Entrüstung.

Dennoch durfte sie ein solch undiszipliniertes Verhalten nicht durchgehen lassen. So setzte sie eine ernste Miene auf, reckte ihre Gestalt und erwiderte, ohne die Stimme zu erheben: »Zuerst einmal möchte ich dich daran erinnern, mich hier in der Schule korrekt anzusprechen. Ich mag so etwas wie deine Tante sein«, fuhr sie fort, ohne auf den Protest zu achten, »doch bin ich auch deine Lehrerin. Und deine Mutter, meine Cousine, hat dich meiner Obhut anvertraut.« Sie machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob das Mädchen, das noch immer mit zusammengepressten Lippen vor ihr stand, ihren Worten tatsächlich folgte. »Und aus diesem Grund wirst du dich auch an die Regeln halten, die in diesem Haus gelten. Für alle Schülerinnen. Also keine abendlichen Alleingänge und schon gar keine Männerbekanntschaften, weder innerhalb noch außerhalb dieser Mauern. Ich hoffe, wir haben uns diesbezüglich verstanden.«

Noch immer kostete es Pauline Mühe, den strengen Ausdruck aufrechtzuerhalten, doch konnte sie in diesem Punkt unmöglich nachgeben. Wollte sich das junge Ding am Samstagabend allein mit einem Mann treffen, einem preußischen Soldaten noch dazu!

Impossible! Völlig unmöglich.

Pauline mochte gar nicht daran denken, was ihre Cousine dazu sagen würde, wenn sie ein derart leichtsinniges Verhalten ihrer Tochter nicht umgehend unterbände. Ganz davon zu schweigen, was es für den Ruf ihres Pensionats bedeuten würde, sollte es sich herumsprechen, sie wäre nicht in der Lage, ihre Schülerinnen zu Anstand, Tugend und Moral zu erziehen.

Suzette war anzusehen, welche Beherrschung es sie kostete, nicht ein weiteres Mal aufzustampfen. »Leutnant Krüger hat eine glänzende Karriere vor sich. Ruhm und Ehre.«

»Vielleicht in Preußen«, erinnerte Pauline nachsichtig, »nicht in …«

»Aber Hauptmann von Pliesnitz hat ihm versprochen, er würde bald befördert und auf einen noch besseren Posten versetzt, und dann …«

Hauptmann von Pliesnitz? Pauline runzelte die Stirn.

Thionville – oder Diedenhofen, wie es offiziell unter deutscher Verwaltung hieß – war ein recht überschaubares Kreis- und Garnisonsstädtchen. Obgleich der Großteil der einheimischen lothringischen Bevölkerung nach wie vor nur wenige Kontakte mit den hinzugezogenen Altdeutschen pflegte und die Bewohnerinnen ihres Mädchenpensionats schon gar keine mit den hier stationierten preußischen und bayerischen Einheiten, so kamen ihr doch hin und wieder Gerüchte zu Ohren. Capitaine impitoyable wurde er hinter vorgehaltener Hand genannt, Hauptmann Gnadenlos. Und wenn auch nur die Hälfte dessen stimmte, was man sich über diesen von Pliesnitz erzählte, musste es einem Wunder gleichkommen, dass seine Männer überhaupt Ausgang erhielten oder nach Dienstschluss noch die Kraft hatten, sich abendlichen Vergnügungen hinzugeben.

Ob diese Tatsache einen Grund zur Beruhigung oder eher zur Besorgnis darstellte, war die Frage. Denn Pauline vertrat die Überzeugung, dass eine allzu strenge Zucht bei passender Gelegenheit statt des gewünschten Verhaltens oft das schiere Gegenteil bewirkte. Weshalb sie sich auch bei ihren Schülerinnen bemühte, die Zügel nicht zu fest zu halten, sondern hin und wieder etwas schleifen zu lassen.

In jüngster Zeit womöglich ein wenig zu sehr. Erneut schüttelte Pauline entschieden den Kopf. »Eine derartige Verabredung ist völlig unmöglich, das musst du verstehen. D’accord?«

»Absolut nicht einverstanden!«, schrie Suzette. »Ich lass mich nicht einsperren!« Hastig flog der Blick des Mädchens durch den Raum, als suche es nach einer Möglichkeit zu fliehen. »Das hier … Das ist keine Schule, das ist ein verfluchtes Gefängnis! Und wenn es mir nicht erlaubt ist, mich mit Hermann zu treffen, dann … dann …« Heftig schnappte sie nach Luft, doch schien ihr keine passende Drohung einzufallen.

Pauline setzte ein verständnisvolles Lächeln auf. »Was, ma chère, was dann?«, fragte sie ruhig.

»Dann ist mein Leben vorbei! Und Sie haben mich auf dem Gewissen!«, brach es aus Suzette heraus.

Belustigung und Mitleid zugleich stiegen in Pauline beim Anblick ihres Schützlings auf, dessen Gesicht so sehr um einen verzweifelten Ausdruck bemüht war und doch vor kaum beherrschter Wut glühte.

»So schnell stirbt man nicht, ma fille, das kann ich dir versichern«, erklärte sie geduldig. »Und was deinen Angebeteten, diesen Soldaten des deutschen Kaisers, angeht, so wirst du mir eines Tages vielleicht noch für meine Entscheidung dankbar sein.«

»Dankbar?« Suzettes Stimme überschlug sich fast. »Niemals werde ich dankbar sein, dass Sie mein Leben zerstört haben. Niemals, solange ich lebe. Ich hasse Sie! Ich hasse Sie! Hören Sie, solange ich …« Ohne den Satz zu Ende zu führen, wirbelte sie auf dem Absatz herum, rannte zur Tür, riss diese auf und schlug sie mit einem so lauten Krachen hinter sich zu, dass die zierlichen Porzellanfiguren in der Vitrine leise klirrten.

Pauline benötigte einen Moment, um den Ausbruch ihrer jungen Verwandten und Schülerin abzuschütteln. War sie in der Vergangenheit tatsächlich nicht streng genug gewesen? Hatte sie es versäumt, nachhaltig Grenzen und Regeln aufzuzeigen?

Nun, beim Großteil der Mädchen war dies bisher nicht nötig gewesen. Sie brachten meist eine gute Kinderstube und das notwendige Gefühl für Sitte und Anstand mit. Suzette, ihr jüngster Neuzugang, jedoch …

Pauline seufzte und erinnerte sich daran, wie erstaunt sie vor einigen Wochen gewesen war, einen Brief aus dem entfernten Avignon zu erhalten, mit dem Absender ihrer Cousine Dominique. Diese hatte sie inständig darum gebeten, Suzette, die zweitälteste ihrer vier Töchter, in ihrem Pensionat aufzunehmen. Suzette sei, so hatte ihre Cousine berichtet, ein echter Hitzkopf, den man kaum zu bändigen wisse. Und gerade jetzt, wo sie selbst unerwartet ein weiteres Mal niederkommen würde, sei sie nicht in der Lage, ihrer schwierigen Tochter die ihr angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. Und so hoffe sie, dass ihre Cousine Pauline mit Verständnis, aber auch der nötigen Strenge einen mäßigenden Einfluss auf das ungezügelte Temperament ihrer Tochter ausüben würde.

Nur kurz hatte Pauline nachgedacht, bevor sie einen Bogen Papier herausgezogen, die Feder in das Tintenfass eingetaucht und damit begonnen hatte, eine Antwort an ihre Cousine aufzusetzen und ihr zu sagen, dass ihre Tochter Suzette in ihrem Institut nahe der Place du Luxembourg herzlich willkommen sei.

Immerhin arbeitete Pauline schon seit einigen Jahren mit heranwachsenden Backfischen zusammen und glaubte zu wissen, wie man mit ihnen umzugehen hatte. Wie schwer konnte es also sein, sich um eine Neue aus der fernen Provence zu kümmern? Eine Verwandte noch dazu? Wahrscheinlich, so hatte Pauline damals gedacht, würde alleine der Ortswechsel dazu beitragen, dass sich ihre Nichte zukünftig ein wenig mehr zusammennahm.

Wie sehr sie sich geirrt hatte, wurde ihr bereits in den ersten Tagen nach der Ankunft des Mädchens deutlich. Eine mediterrane Schönheit mit pechschwarzen Haaren, dunklen Augen und einem solch unbändigen Temperament, dass es Pauline einerseits faszinierte, sie andererseits jedoch an den Rand der Verzweiflung brachte.

Zu behaupten, dass sich das Mädchen schwer daran täte, sich den Regeln und Strukturen des Pensionatslebens zu fügen, wäre eine Verharmlosung gewesen. Von Beginn an zeigte sie offenen Widerstand gegen alles, was sie als Einschränkung empfand. Und nun hatte sie wohl beim sonntäglichen Spaziergang die unselige Bekanntschaft eines jungen preußischen Leutnants gemacht, der in Thionville seinen Dienst ableistete.

Suzette war fest entschlossen, ihn wiederzusehen, und zwar am Samstagabend in einer Schankwirtschaft.

Die Vorstellung alleine war schon ein Gräuel für Pauline.

Als Lehrerin und überdies Institutsleiterin war sie dazu verpflichtet, ihre Schülerinnen zu untadeligem moralischem Verhalten anzuleiten und auch selbst über jeden noch so geringen Vorwurf erhaben zu sein. Besuche von Gastwirtschaften, Tanzlokalen, abendlichen Vergnügungen oder gar Herrenbekanntschaften, so etwas konnte Pauline leicht ihre Schullizenz kosten.

Zudem war hier, im sogenannten Reichsland Elsaß-Lothringen, das nach dem letzten Krieg im Jahr 1871 von Frankreich abgetrennt und dem Deutschen Kaiserreich zugeschlagen worden war, das Verhältnis zwischen der einheimischen Bevölkerung und den aus anderen deutschen Staaten zugezogenen Altdeutschen noch immer von Spannungen begleitet. Jemand wie Pauline, die es wagte, in ihrem Institut und ihrem Unterricht der Verbreitung der französischen Tradition, Kultur und Sprache weitaus mehr Platz einzuräumen, als von offizieller Seite vorgesehen war, stand ohnehin schnell unter Generalverdacht, auch in anderer Hinsicht den Anforderungen nicht zu genügen.

Da galt es, sich nicht zu sehr aus dem Fenster zu lehnen.

Nachdenklich ließ Pauline ihren Blick über die sorgfältig ausgewählte, ins sanfte Licht des Sommermorgens getauchte Einrichtung ihres Bureaus gleiten, ihres Arbeitszimmers, das auch als privater Salon diente: ein leichter, aus hellem Holz gezimmerter Schreibtisch, mehrere Regale mit Büchern, eine Vitrine mit ihrem persönlichen Teeservice und kostbaren Porzellanfiguren aus Sèvres, welche verschiedene Persönlichkeiten der französischen Literatur darstellten. Ein rundes Tischchen mit drei Stühlen in einem Erkervorbau, dessen Sprossenfenster mit Spitzengardinen behangen waren, vervollständigte die Einrichtung.

Dieser kleine, zur Straße gelegene Raum im ersten Stock, der sogenannten Beletage, war das Herzstück ihres kleinen Reiches, das sie mit so viel Mühe und persönlicher Hingabe aufgebaut hatte. Zunächst hatte sie hier einige Jahre Seite an Seite mit ihrer Patentante Adèle, der damaligen Leiterin, gearbeitet. Seit deren Tod stand sie dem Mädchenpensionat mit eigener Schule in alleiniger Verantwortung vor, als Directrice.

Die meiste Zeit über beherbergte es zwölf Schülerinnen, die teilweise klassenstufenüberschreitend unterrichtet wurden. Im Augenblick gab es derer jedoch nur zehn, da manche der preußischen Schülerinnen, wie in deren Heimat üblich, die Schule bereits an Ostern verließen, und nicht zum hiesigen Schuljahreswechsel im Sommer.

Trotz der Eigenmächtigkeiten, die Pauline sich bisweilen beim Lehrplan erlaubte, erfreute sich das Pensionat eines wachsenden guten Rufes und wurde von Töchtern wohlhabender Familien aus Lothringen und dem Elsass ebenso besucht wie von Sprösslingen deutscher Beamter oder hochrangiger Militärs. Vereinzelt lebten hier auch Schülerinnen aus dem Ausland, aus Luxemburg, der angrenzenden preußischen Rheinprovinz und sogar aus Frankreich, dem ehemaligen Mutterland.

Allerdings war Pauline die Entscheidung nicht leicht gemacht worden, das Elternhaus im heimatlichen Metz, der etwa dreißig Kilometer entfernten lothringischen Bezirksstadt, zu verlassen, um hier ihr eigenes Leben zu gestalten. Nur zu gut erinnerte sie sich an den entsetzten Gesichtsausdruck ihrer Mutter, als sie dieser ihren Entschluss mitgeteilt hatte, den Heiratsantrag eines reichen Bankierssohns abzulehnen und stattdessen das Erbe ihrer Patentante Adèle anzutreten. Als unverheiratete Lehrerin, noch dazu im weitestgehend deutschsprachigen Teil Lothringens. Und an die Standpauke ihres Vaters, nachdem dieser begriffen hatte, dass es ihr ernst damit war und ihr Ansinnen nicht einer momentanen Laune entsprang.

Trotz des dadurch hervorgerufenen Bruchs mit ihrer Familie liebte Pauline ihre Unabhängigkeit, die Verantwortung, welche ihr Beruf mit sich brachte. Vor allem aber liebte Pauline die Menschen, mit denen sie es tagein, tagaus zu tun hatte. Allen voran die ihr anvertrauten Mädchen, welche ihr kleines, aber feines Institut besuchten. Diese zu selbstbewussten jungen Frauen zu erziehen, die eines Tages ihr Leben selbst in die Hand nahmen, darin bestand ihre Lebensaufgabe, ihre ganz persönliche Erfüllung. Nur in seltenen, schwachen Momenten, da …

Ein lautes Klopfen unterbrach Paulines Gedanken.

Suzette? Beinahe musste sie lächeln. So einfach gab sich das Mädchen also nicht geschlagen.

Normalerweise war Willensstärke bei ihren Schützlingen etwas, das Pauline durchaus mit Wohlwollen betrachtete, bestand ihr erklärtes Ziel als Lehrerin doch darin, ihre Schülerinnen zu selbstständigem Denken zu erziehen, zur Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen. Sinnvolle Entscheidungen. Wozu man Suzettes derzeitiges Anliegen allerdings nicht zählen konnte.

Sie bemühte sich um eine strenge Miene und rief: »Herein!«

Sogleich öffnete sich die Tür. Doch das weibliche Wesen, das mit vor Zorn geschwellter Brust und dem grimmigen Ausdruck einer bis auf den Tod gekränkten Walküre in den Raum stolzierte, war keineswegs die erwartete Schülerin.

Das eng geschnürte Kleid aus dunkelgrauem Wollstoff, das noch aus dem vergangenen Jahrzehnt stammte, und die mit grauen Strähnen durchzogenen, zu einem strengen Dutt aufgesteckten Haare gehörten Fräulein Hildebrandt, einer der Lehrerinnen ihrer Schule, welche zudem die Aufgabe als Erzieherin innehatte.

Seit ihrer ersten Begegnung tat sich Pauline mit der steifen, völlig humorlosen Art der Frau schwer. Doch Fräulein Hildebrandt gehörte nun einmal zum Erbe ihrer Patentante, weshalb Pauline aufgrund ihrer Ansicht, jeder Mensch habe eine Chance verdient, die Lehrerin weiterbeschäftigt hatte.

In diesem Augenblick erinnerte Pauline ihre Ankunft eher an ein Schlachtschiff der kaiserlichen Marine, welches in frontalem Angriff einen feindlichen Hafen ansteuerte.

»Fräulein Martin!« Wie eine Bugwelle überschwemmten diese beiden Worte Pauline mit Vorwurf und Entrüstung. »Fräulein Martin!«, wiederholte die Ältere atemlos, wobei sie wie üblich Paulines französischem Familiennamen einen seltsam kantigen Klang verlieh. »Ich muss mich im höchsten Maße beschweren!«

Das war nichts Neues. Fräulein Hildebrandt war eigentlich ständig dabei, sich über irgendetwas oder irgendjemanden zu beschweren. Über die Faulheit der Schülerinnen. Über das heiße Wetter – oder auch das kalte, je nachdem, welches gerade herrschte. Über die Dekadenz der französischen Küche, welche die elsässische Haushälterin Lisbeth zu besonderen Gelegenheiten servierte. Oder über die bewusste Spärlichkeit der Mahlzeiten, wenn während der Fastenzeit statt Fleisch und Braten vermehrt Fisch auf den Tisch kam. Beides kulinarische Zumutungen für ihren preußisch-protestantischen Gaumen, wie sie nicht müde wurde zu beteuern. Hin und wieder war es auch der Lärm auf der Straße, der ihr Migräne verursachte, oder der Lehrplan, dem sie sich beugen musste.

Mit gewissem Interesse neigte Pauline ihren Kopf der aufgebrachten Lehrperson zu, gespannt, was diesmal ihren leicht erregbaren Unwillen angefacht hatte.

»Dieses Mädchen! Dieses welsche Gör!« Fräulein Hildebrandt keuchte, während sich rote Flecken auf ihrem Gesicht bildeten, die einzigen Farbtupfer zwischen ihrem mausgrauen Kleid, den grauen Augen und dem ebenfalls grauen Haar. »Ich werde mir nicht mehr länger die Dreistigkeit dieses un-mög-lichen Geschöpfes …« – sie zog die einzelnen Silben des Wortes derart abgehackt in die Länge, dass es Pauline unwillkürlich an das Knattern eines preußischen Repetiergewehrs erinnerte – »… bieten lassen.«

Pauline kräuselte ihre Stirn und ahnte schon, um welches der zehn Geschöpfe es sich handelte, die zu unterrichten sie die Ehre – gelegentlich auch die Bürde – hatte.

Sie sollte recht behalten.

»Diese Susanne!« Nach wie vor weigerte sich Fräulein Hildebrandt, den Namen des Mädchens auf Französisch auszusprechen. »Dieses völlig sittenlose Mensch!«

Wortlos hob Pauline die Brauen. Eine solche Einschätzung war nun doch ein wenig übertrieben. »Was hat sie Ihnen getan?«

Diese direkt gestellte Frage schien die ältere Lehrerin aus dem Konzept zu bringen. Offensichtlich hätte sie lieber noch ein wenig weiter lamentiert.

»Sie untergräbt die Disziplin der anderen Schülerinnen mit ihren impertinenten Ideen, ihrer Launenhaftigkeit, ihrer … ihrer Triebhaftigkeit …«

Tadelnd schnalzte Pauline mit der Zunge. Zwar gestand sie sich ein, dass Suzettes Eigenwilligkeit, gepaart mit ihrem Leichtsinn, durchaus eine explosive, nicht ungefährliche Mischung ergeben konnte. Doch der Wunsch eines Mädchens, sich in den Schmeicheleien und der Gesellschaft eines Mitglieds des anderen Geschlechtes zu sonnen, war wohl eher natürlich denn sittenlos zu nennen. Zumindest, wenn man nicht – wie Fräulein Hildebrandt – schon als alte Jungfer das Licht der Welt erblickt hatte.

»Und eben gerade, da ist sie mir auf dem Flur entgegengekommen. Es sind recht enge Flure hier im Haus …« Sie bedachte Pauline mit einer derart strafenden Miene, als sei das ihre ganz persönliche Schuld. »Statt mir auszuweichen und mich vorbeizulassen, hat mich dieses unmögliche Gör angerempelt und beinahe von den Füßen gerissen!« Die Flecken in ihrem Gesicht nahmen ein noch tieferes Rot an. »Und ohne sich wenigstens zu entschuldigen, wie es sich in einem solchen Fall gehört, ist sie einfach weitergelaufen. Können Sie sich das vorstellen?«

Pauline konnte. Besonders nach dem heftigen Wortwechsel von vorhin, der das Mädchen offensichtlich zu dieser rüden Reaktion verleitet hatte. Und dennoch …

»Das alles haben Sie alleine zu verantworten! Sie ganz alleine!«, unterbrach Fräulein Hildebrandt ihre Überlegungen. »Eine Lehrerin sollte den Kindern ein Vorbild sein, in Sitte, Anstand und Moral. Das beginnt schon mit der Kleidung und dem Auftreten. Sie jedoch …« Verächtlich glitt ihr Blick über Paulines safranfarbenes, nach der neuesten französischen Mode geschneidertes Kleid, das mit einigen schlichten, aber durchaus raffinierten Details aufwartete. »Sie stolzieren herum wie ein Pfau, setzen den Mädchen Flausen in den Kopf, liederliche welsche Ideen, die deren Moral untergraben, sie zu oberflächlichen, eitlen Geschöpfen …«

»Fräulein Hildebrandt«, versuchte Pauline, nun doch gekränkt, ihr Gegenüber zu mäßigen, allerdings ohne Erfolg.

»Aber wen wundert’s? Vierzig Jahre gute deutsche Verwaltung hier im Reichsland Elsaß-Lothringen, und doch ist es nicht gelungen, den Ungeist der französischen Sittenlosigkeit und des Tugendverfalls auszutreiben und …«

»Fräulein Hildebrandt!« Pauline musste die Stimme heben, um dem Redeschwall Einhalt zu gebieten und sich Gehör zu verschaffen. Was jedoch nur für zwei Sekunden anhielt, in denen die andere ihre schmalen Lippen zusammenkniff. Dann öffnete sie diese wieder und holte zum Todesstoß aus. »Ich werde mir ein solches Verhalten nicht länger bieten lassen. Nicht in meinem Alter, nicht in meiner hart erarbeiteten gesellschaftlichen Position. Ich kündige hiermit. Sofort!«

Dann herrschte Stille.

Offensichtlich hatte Fräulein Hildebrandt mit diesem letzten, gut gezielten Schuss ihre gesamte Munition abgefeuert. Und dieser Schuss hatte gesessen.

Pauline öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder, unfähig, das Gehörte zu fassen.

»Das können Sie nicht tun«, sagte sie schließlich. In ihrem Kopf purzelten zahlreiche Argumente herum, mit denen sie an das preußische Pflichtbewusstsein der älteren Frau appellieren wollte, an ihren Sinn für Ordnung und ihr Verantwortungsgefühl.

Doch ein Blick in das verkniffene Gesicht der grauen Gestalt sagte Pauline, dass keines davon verfangen würde.

»Oh doch, ich kann«, gab Fräulein Hildebrandt dann auch gleich zurück. »Ich habe es nicht nötig, mich weiter auf derart impertinente Art behandeln zu lassen. Gleich morgen packe ich meine Sachen und verlasse dieses …« Ein weiteres Mal schnaubte sie, während ihr Blick abschätzig durch den Raum glitt. »… dieses unseriöse Haus.«

Mit diesen Worten fuhr sie herum und stapfte zur Tür, die sie mit einem höchst undamenhaften Knall hinter sich zuwarf.

Wieder schepperten die von Pauline so geliebten Porzellanfiguren.

»Abgang numéro deux«, murmelte Pauline. Dieser traf sie jedoch wesentlich härter als der von Suzette. Ihr kleines Institut umfasste nur drei Lehrerinnen, sie selbst mitgezählt, die sich gemeinsam um Unterricht und Erziehung, Schule und Pensionat kümmerten und dabei darauf angewiesen waren, effektiv wie ein Uhrwerk ineinanderzugreifen. Der plötzliche Wegfall einer von ihnen war daher mehr als herb zu nennen. Und zudem schwer zu ersetzen, so kurz vor Schuljahresende.

Resigniert stützte Pauline das Kinn in die Hände.

Bonté divine! Sie musste schnellstens Ersatz finden, bevor die Prüfungen anstanden. Am besten durch eine Zeitungsannonce oder vielleicht …

Es klopfte erneut.

Pauline hob den Kopf. Noch mehr Ärger für einen Tag? Da sie nichts davon hielt, unangenehmen Aufgaben auszuweichen, straffte sie sich erneut, setzte eine unverbindliche Miene auf und rief: »Entrez!«

Statt eines weiteren vor Zorn geröteten Gesichtes schob sich die rundliche, weiß beschürzte Gestalt von Lisbeth, der Haushälterin und Köchin, durch die Türöffnung.

»Und du, ma chère«, fragte Pauline schicksalsergeben, »mit welchen Hiobsbotschaften hast du aufzuwarten? Ist die Suppe verbrannt, ein Feuer in der Küche ausgebrochen? Oder haben Diebe die Speisekammer ausgeraubt?« An einem Tag wie diesem wahrscheinlich alles zusammen.

»Was, Mamsell?« Irritiert blieb die Köchin stehen. »Eigentlich wollte ich nur sagen, dass das Abendessen serviert werden kann. Soll ich nach den Schülerinnen läuten?«

Pauline zwang sich zu einem schiefen Lächeln. Zumindest eine gute Nachricht. Auch wenn es ihre derzeitigen Probleme keineswegs lösen würde, so wusste sie doch, dass es kaum einen Kummer gab, den eine raffiniert angerichtete Mahlzeit nicht zumindest erträglicher machen konnte.

Sie nickte der Frau zu. »Läute schon einmal, Lisbeth. Ich komme gleich in den Speisesaal.«

Doch ein unbestimmtes Gefühl sagte Pauline, dass an diesem Abend noch nicht einmal Lisbeths elsässische Kochkunst ihre düstere Stimmung aufhellen konnte.

*

Der Anblick der Mosel, die glitzernd und ruhig im Schein der Abendsonne dahinfloss, ließ Vincent in seinen Schritten innehalten, so überwältigt war er von dem Bild, das sich ihm bot, als er die Brücke betrat, um zur gegenüberliegenden Flussseite zu gelangen.

Die befestigte Uferpromenade war flankiert von stilvollen alten Gebäuden, darunter eine zweitürmige Kirche, deren Glocken gerade das Tagesende einläuteten. Der würzige Geruch des Sommers vermischte sich mit dem des Flusses und dem Duft nach Kaffee, frisch gebackenem Brot und gebratenem Speck, was darauf hindeutete, dass es Zeit für das Abendessen war.

Angekommen.

Für einen kurzen Augenblick ließ er seine Reisetasche sinken, schloss die Augen und atmete tief ein. So tief, als hätte er seit ewigen Zeiten nicht mehr die Möglichkeit dazu gehabt, klare, saubere Luft zu inhalieren. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem kurzen Lächeln. Es fühlte sich seltsam an, ungewohnt. Hatte er doch so lange weder Anlass noch Gelegenheit dazu gehabt. Aber nun …

Frei.

Endlich frei.

Er ließ den Gedanken auf sich wirken, ebenso wie den Anblick der Stadt und der Mosel, über der die rötliche Sonne unterging.

War er wirklich frei? Nun, nachdem er das verfluchte Preußen hinter sich gelassen hatte? Wäre er hier in der Lage, alles abzuschütteln, was ihn an die Vergangenheit kettete?

Grimmig verzog er das Gesicht. Das würde die Zukunft zeigen. Und die begann jetzt. Am besten damit, dass er sich nach einem halbwegs bezahlbaren Essen in einer Schankwirtschaft umsah.

Der Gedanke an ein üppig mit Käse und Schinken belegtes Brot und ein kühles Bier ließ seinen Magen knurren. Es musste eine Ewigkeit her sein, seit er zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Irgendwann am frühen Morgen, bevor er aufgebrochen war.

In den vergangenen Jahren, den schlimmsten seines Lebens, hatte er gelernt, von einem Tag auf den anderen zu leben und sich auf die nächstliegenden Dinge zu konzentrieren. An große, weitreichendere Pläne war gar nicht zu denken gewesen.

Morgen wäre immer noch Zeit, das zu tun, weshalb er eigentlich die Reise angetreten hatte. Zuerst aber wollte er sich ausruhen und sich orientieren, wusste er doch, dass der erste Eindruck von großer Bedeutung sein konnte.

Entschlossen schulterte er wieder seine Tasche und schaute sich um. Dann stapfte Vincent Lehmann in Richtung Stadt.

Kapitel 2

»So, und das hier bringst du zur Post. Es soll an verschiedene Zeitungen gehen.« Pauline hielt dem Jungen einen Stapel Briefumschläge hin, die alle in ihrer ebenmäßigen Handschrift adressiert waren. »Und nicht trödeln, mon garçon. Es ist eilig, ja?« Mit gespielter Strenge ahmte sie Fräulein Hildebrandts typische Handbewegung nach, indem sie mahnend mit dem erhobenen Zeigefinger wackelte.

»Dir kënnt eech op mech verloossen, Joffer«, gab Thomas im tiefsten Diedenhofener Platt zurück und gab grinsend die Zahnlücke frei, wo ihm seit einer Prügelei auf der örtlichen Kirmes ein seitlicher Schneidezahn fehlte. »Ich bring dat so schnell zur Post, datt Se gar nicht merken, datt ich weg war, wenn ich wieder hier bin.«

»Das ist mal ein Wort.« Pauline lächelte, als sie sich erhob und dem Jungen wohlwollend die Hand auf die Schulter legte. »Ich danke dir.«

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da war er bereits durch die Tür ihres Bureaus verschwunden.

Amüsiert schüttelte sie den Kopf, bevor sie wieder an ihrem Schreibtisch Platz nahm. Seit sie die Schule übernommen hatte, besserte Thomas Engel das Einkommen seiner Familie auf, indem er für sie Besorgungen und Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Sein Vater war Hüttenarbeiter bei der Firma Röchling gewesen, auf der Carlshütte, und vor einigen Jahren bei einem der zahlreichen Arbeitsunfälle ums Leben gekommen. Seitdem arbeitete seine Mutter als Wäscherin und verdiente kaum das Nötigste. Sein kleines Zubrot war eine willkommene Ergänzung zum Lebensunterhalt. Dabei stellte sich der nun Siebzehnjährige sehr willig, wenn auch nicht immer geschickt an. Doch hatte Pauline keinerlei Bedenken, ihn mit dieser wichtigen Aufgabe zu betrauen. Nach dem unerwarteten Ausscheiden von Fräulein Hildebrandt drohte der geregelte Tagesablauf im Pensionat mit Unterrichtsstunden am Vormittag und Nachmittag zusammenzubrechen, sodass schnellstmöglich Ersatz gebraucht wurde. Sie hoffte, durch Anzeigen in mehreren regionalen und überregionalen Tageszeitungen rasch Abhilfe zu schaffen. Am besten, bevor die Schülerinnen, allen voran ihre Nichte Suzette, damit begannen, ihr auf der Nase herumzutanzen.

Erschöpft lehnte sie sich zurück. Derzeit kam sie wenig zum Schlafen, da sie gezwungen war, sich alle Unterrichtsverpflichtungen mit der einzig noch verbliebenen Kollegin Eleonore Schmitt zu teilen. Dabei hatte sie so schon genug zu tun mit der Verwaltung der Schule und ihren eigenen Fächern. Gut nur, dass der Religionsunterricht durch die örtlichen Geistlichen der beiden Konfessionen erteilt wurde.

Sie rieb sich die Stirn und begann, die Arbeiten ihrer Schülerinnen zu korrigieren, eine Aufgabe, der sie üblicherweise mit großem Interesse nachkam, zeigten die Ergebnisse ihr doch, was die Mädchen gelernt hatten.

Heute aber … Lag es an der Müdigkeit oder an den Sorgen, die ihr im Kopf herumgingen? Irgendwie gelang es ihr nicht, sich darauf zu konzentrieren, was die Schülerinnen über das Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart in den Romanen Victor Hugos zu sagen wussten. Und das, obwohl Hugo zu ihren persönlichen Lieblingsschriftstellern zählte und seine Werke einen Ehrenplatz in ihrem Regal einnahmen.

Ein Klopfen ließ sie aufblicken. Der mit roter Tinte getränkte Federhalter verharrte schwebend über dem Blatt, als sie »Herein!« rief.

Lisbeth stand vor der Tür, ein wenig schuldbewusst, da sie wusste, dass Pauline während ihrer Arbeit nicht gerne gestört wurde.

Pauline nickte. »Oui?«

»Ein Bewerber, Mamsell«, sagte die Elsässerin. »Jemand, der an Ihrem Institut eine Arbeit sucht. Was soll ich ihm sagen?«

»Das ging aber schnell.« Pauline war irritiert. Thomas war doch erst vor wenigen Minuten losgerannt. Umso neugieriger war sie, wer da unten im Eingang stehen mochte.

Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, als sie den Blick auf den Stapel mit den Arbeitsheften richtete. Nun, die mussten sich gedulden.

Seufzend steckte sie den Federhalter wieder zurück in seinen Ständer und stand auf.

»Lass ihn draußen warten, Lisbeth. Und sag ihm, dass ich gleich unten bin.«

*

Vincent hatte sich das anders vorgestellt. So viel musste er sich eingestehen.

An die Stelle des Optimismus, den er bei seiner Ankunft in Diedenhofen verspürt hatte, war rasch Ernüchterung getreten.

Obgleich ihn nun Hunderte von Kilometern und mehrere Tagesreisen von jener Vergangenheit trennten, vor der er geflohen war, hatte er den Eindruck, dass sie ihn eingeholt hatte. Denn Diedenhofen – oder Thionville, wie auch immer man es nennen mochte – war eine Festungsstadt, in der, wie im Reichsland Elsaß-Lothringen durchaus üblich, preußische und auch bayerische Truppen stationiert waren.

Vincent konnte nicht verhindern, dass er beim Anblick blau uniformierter Offiziere noch immer zusammenzuckte und den verhassten Drang verspürte, strammzustehen. Trotz der verträumten Silhouette des lothringischen Moselstädtchens, über dem meist der Ruß aus den Hochöfen der ortsansässigen Eisenhütte hing, stieg in ihm das ungute Gefühl auf, erneut in die Falle getappt zu sein.

Aber noch hatte er einen Trumpf im Ärmel, eine letzte Karte, die er ausspielen konnte. Vorausgesetzt, er stellte sich geschickt an und es gelänge ihm, gewisse Begebenheiten seiner Vergangenheit unerwähnt zu lassen.

Der Anblick des Pensionats hatte etwas Respekt einflößendes an sich. Ein dreistöckiges, hell verputztes Gebäude, dessen sichtbares Mauerwerk aus dem für diese Region typischen goldgelben Kalkstein bestand. Ebenso die Umrandungen der Sprossenfenster, die gleichmäßig über alle Stockwerke verteilt waren und mit ihren geöffneten Läden ihn wie durchdringende Augen zu mustern schienen. Über dem Hauptportal wölbte sich ein halbrunder, schön geschwungener Halberker der dem fast klassisch streng gehaltenen Gebäude einen verspielten Zug verlieh.

Trotz des milden Wetters schwitzte er in seiner einfachen, aus grobem Leinen und Wollstoff bestehenden Kleidung, die sich noch immer fremd anfühlte. Mit einem Mal fragte er sich, was ihn zu diesem wahnwitzigen Plan verleitet hatte, der ihm sicher nur neuen Ärger einbringen würde.

Dessen ungeachtet zwang er sich, ruhig stehen zu bleiben und die von der etwas fülligen Haushälterin in breitem Elsässer Akzent angekündigte Ankunft der Besitzerin abzuwarten. Zu lange war er weggelaufen, zu lange vor sich selbst und dem Erlebten geflohen. Und wenn er seine Schuhe höchstpersönlich an diesem Pflaster festnageln müsste, er würde hier nicht fortgehen. Zumindest nicht, ehe er das getan hatte, weshalb er sich auf den langen Weg über die Grenze des Reichslandes gewagt hatte.

Der Anflug eines schlechten Gewissens überkam ihn. Er hasste es, Menschen zu täuschen. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit waren ihm mit in die Wiege gelegt worden.

Schritte näherten sich der Tür, dann öffnete sich diese und gab den Blick frei auf eine junge Frau in einem tadellos sitzenden, pfirsichfarbenen Kleid, mit aufgestecktem kastanienbraunem Haar und bernsteinfarbenen Augen, die ihn interessiert musterten.

Vincent spürte, wie seine Muskeln sich verkrampften. Nun lag es an ihm, seine Chance zu nutzen.

*

Der Mann, der an der Treppe vor der Tür stand, mochte Anfang oder Mitte zwanzig sein, so genau konnte Pauline es nicht sagen, denn der Schirm einer Schiebermütze warf einen Schatten über seine Züge. Seine Kleidung wirkte zwar sauber, aber einfach und bereits ein wenig abgetragen.

»Bonjour, Monsieur. Kann ich Ihnen helfen?«

Ein Hauch von Herausforderung und Trotz lag in seiner Körperhaltung, als er zu ihr aufsah und sie sein Gesicht sehen konnte, dessen untere Hälfte von einem Bartschatten bedeckt und das von der Sonne leicht gebräunt war. Das helle Haar trug er ein wenig länger als gemeinhin üblich, im Nacken berührte es fast den Kragen seiner beigefarbenen Wolljacke. Doch das Auffälligste an ihm waren seine Augen. In ihrem klaren, tiefen Blau wirkten sie wie ein unbestimmter Widerspruch zu seiner übrigen Erscheinung.

Einen kurzen Moment lang stockte Pauline. Etwas an diesem Mann kam ihr vage bekannt vor, ohne dass sie zu sagen vermochte, woher dieser Eindruck rührte. Waren sie sich schon einmal begegnet?

»Guten Morgen, Mademoiselle.« Trotz seines jungen Alters klang seine Stimme sonor, fast ein wenig rau. »Ich bin auf der Suche nach Arbeit, und wollte nachfragen, ob …«

»Bitte entschuldigen Sie.« Fragend zog Pauline die Brauen zusammen. »Kennen wir uns von irgendwoher?«

Für einen Augenblick meinte sie den Ausdruck des Erschreckens in den Augen des Mannes zu lesen. Dann aber wirkten diese wieder so ruhig und klar wie die Oberfläche eines Sees.

Er senkte den Kopf. »Nein, Mademoiselle. Nicht, dass ich wüsste. Es ist nur …« Kurz schien er unsicher, was er sagen sollte, dann schaute er sie direkt an. »Ich brauche dringend eine Anstellung, und bei einem Institut wie dem Ihren fällt sicher jede Menge Arbeit an. Da hinten beispielsweise …« Er wies mit dem Finger auf die entsprechende Stelle. »Da scheint ein Fensterladen ein wenig aus den Angeln geraten zu sein, und hier oben …« Er machte einige Schritte rückwärts und legte den Kopf in den Nacken. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist dort ein Dachziegel locker. Nicht, dass er noch jemandem auf den Kopf fällt.«

Ein wenig überrumpelt folgte Pauline seinem Blick, konnte aber nichts erkennen.

»Sicher verfügt diese Schule auch über einen Garten.« Noch immer sah er sie nicht wieder an, während er die Hände in den Hosentaschen vergrub. »Womöglich könnten Sie dort ebenfalls Hilfe gebrauchen. Das Gras kurz halten, Blumen, Hecken und Bäume pflegen … Was auch immer, ich bin für alle anfallenden Arbeiten zu gebrauchen.«

Sind Sie auch in der Lage, aufmüpfige Schülerinnen zur Raison zu bringen oder zumindest Mathematik zu unterrichten?, hätte sie am liebsten gefragt, hielt sich aber zurück.

Da war etwas im Blick des Fremden, in seinen Gesten, der Art, wie er sie anblickte … Irgendetwas, das ihr vertraut erschien und zugleich ihr Mitleid erregte.

»Wie heißen Sie?«, fragte sie daher und hoffte, dass der Name ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen würde.

Sein Blick ging zu Boden. »Vincent Lehmann.«

Vincent, kein allzu häufiger Name. Und Lehmann … Pauline überlegte kurz, musste jedoch feststellen, dass dieser Name ihr nichts sagte. Warum hatte sie dennoch das Gefühl, sich erinnern zu müssen?

»Was meinen Sie?«, hakte er schließlich nach und schob sich die Mütze aus dem Gesicht. »Haben Sie Arbeit für mich?«

Pauline zögerte. Jetzt im Sommer gab es im Garten mehr als genug zu tun, und wenn es wirklich stimmte, dass auch am Haus Reparaturen notwendig waren … »Eigentlich suche ich eine Lehrkraft«, gab sie unumwunden zu. »Jemanden, der die Schülerinnen in Mathematik unterrichten kann, in den Naturwissenschaften und …«

Ein schiefes, fast ein wenig entschuldigendes Lächeln trat auf Vincents Gesicht. »Als Lehrer würde ich sicher nicht durchgehen, aber sonst könnte ich ziemlich alles bewerkstelligen, was hier so anfällt. Wäre Ihnen damit auch gedient?«

Pauline zog die Nase kraus. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir im Augenblick einen zusätzlichen Angestellten leisten kann.«

Erneut legte er den Kopf in den Nacken und blickte in den blauen Himmel, an dem vereinzelt weiße Wölkchen hingen. »Ich bin neu hier im Reichsland und brauche nicht viel. Mit Unterkunft, Verpflegung und einem kleinen Obolus wäre ich zufrieden.« Er sah sie an. »Zumindest vorerst, bis ich mich bei Ihnen unentbehrlich gemacht habe.«

Gegen ihren Willen musste Pauline lachen und stellte fest, dass der junge Mann sie schon fast überzeugt hatte. Allerdings noch nicht ganz. »Ich weiß nicht so recht«, versuchte sie einen letzten Widerstand.

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mademoiselle?« Vincent krempelte die Ärmel hoch. »Was halten Sie davon, mir zwei Stunden zu geben, um im Garten etwas Ordnung zu schaffen, und Sie sich danach entscheiden? Wenn Ihnen das Ergebnis nicht zusagt, sind Sie zu nichts verpflichtet. Dann packe ich meine Sachen, und Sie hören nie wieder von mir.«

Etwas wie trauriger Schalk blitzte in seinen Augen auf, und wahrscheinlich war es dieser Blick, der es Pauline unmöglich machte, dem Mann eine Abfuhr zu erteilen.

Kurz entschlossen streckte sie ihm die Hand hin. »Einverstanden. Aber nur zur Probe.«

*

»Einen Gärtner, Mamsell?« Lisbeths raue, für eine Frau erstaunlich tiefe Stimme klang erstaunt.

»Einen Gärtner, in der Tat. Du musst doch zugeben, dass diese Entscheidung mehr als vernünftig zu nennen ist.« Verstohlen warf Pauline einen Blick auf die drei Kuchen, welche die Köchin für die kleine Kaffeetafel am morgigen Sonntag gebacken hatte: ihre beiden Klassiker, Gugelhupf und Heidelbeertarte, sowie einen Biskuitboden, der am nächsten Tag üppig mit Erdbeeren und Sahne belegt werden würde.

»Waren Sie nicht auf der Suche nach einer neuen Lehrperson?« Lisbeth sah nicht auf, während sie mit einem Lappen die letzten Spuren ihrer Backaktion beseitigte und die geräumige, blauweiß gekachelte Küche, deren Fenster zum Garten hinausgingen, wieder in einen tadellosen Zustand versetzte. Aber die Skepsis war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Das bin ich noch immer.« Paulines Blick war weiterhin auf die drei Kuchen gerichtet, während sie überlegte, ob die Tatsache, dass sie als Directrice, als Leiterin dieser Schule, für das leibliche Wohlergehen all ihrer Bewohner zu sorgen hatte, Vorwand genug war, vorab ein Stück davon zu kosten. Nur so zur Sicherheit …

»Doch musst du eingestehen, dass viele der Arbeiten nicht mehr zu schaffen sind, seit Fräulein Hildebrandt uns verlassen hat, die zusätzlichen Unterrichtsverpflichtungen und so …« Der köstliche Duft ließ das Wasser in ihrem Mund zusammenlaufen, und sie hatte Schwierigkeiten, sich auf das eigentliche Gesprächsthema zu konzentrieren.

»Da haben Sie recht«, brummte Lisbeth, die nun offensichtlich mit dem Zustand ihrer Küche zufrieden war. »Wir könnten hier wirklich Hilfe brauchen. Gerade jetzt im Sommer.«

»Eben.« Nur mit Mühe gelang es Pauline, ihre Augen vom Anblick der köstlichen Backwaren abzuwenden. »Thomas wird uns auch nicht mehr lange erhalten bleiben, entweder wird er eine Lehre beginnen oder eingezogen, und dann …«

Lisbeth runzelte die Stirn. Sie wirkte nicht vollends überzeugt. »Ich hoffe, Sie haben den Burschen auf Herz und Nieren geprüft.«

»Nun, er hat binnen drei Stunden das komplette Gras geschnitten und die Beete vom Unkraut befreit. Als Nächstes will er den losen Dachziegel befestigen. Er scheint wirklich zu wissen, was er tut. Außerdem«, fügte Pauline rasch hinzu, »konnte er Zeugnisse vorweisen. Er stammt aus dem Preußischen, der Rheinprovinz, und hält sich erst seit Kurzem hier im Reichsland auf.«

»Hat er gesagt, weshalb?« Lisbeths Argwohn schien noch nicht ganz verflogen.

»Aus persönlichen Gründen, sagte er. Deshalb kam es mir unpassend vor, weiter in ihn zu dringen«, gab Pauline zurück und spürte, dass ihr Appetit plötzlich verflogen und einem Gefühl von Unbehagen gewichen war. »Er versuchte zwar, es zu überspielen, aber er scheint einen Kummer mit sich zu tragen. Ich habe ihm gesagt, er könne im Gartenhäuschen wohnen, wenn er bereit sei, es wieder auf Vordermann zu bringen. Ach, vielleicht tat er mir einfach nur leid. Vielleicht … Bonté divine! Normalerweise kann ich mich auf meine Menschenkenntnis verlassen.«

Lisbeths Gesicht war noch immer ernst. »Das können Sie auch, Maidel. Das können Sie. Normalerweise.« Wie zur Beschwichtigung reichte sie Pauline ein kleines Tablett, auf dem leuchtend rote, gezuckerte Erdbeeren lagen.

Gedankenverloren griff Pauline danach und steckte sich eine davon in den Mund, ohne jedoch ihre Süße zu schmecken.

Zweifel überkamen sie. Sollte ihre Entscheidung voreilig gewesen sein?

Kapitel 3

Der Zorn hatte Suzette die ganze Nacht über wachgehalten. Und nun, da die Zeit gekommen war, stieß sie entschlossen die Decke beiseite, schob ihre nackten Füße auf den Boden und glitt aus dem Bett.

Quel culot! Was für eine Frechheit, sie wie ein Kind zu behandeln! Was dachte sich Tante Pauline, diese blaustrümpfige alte Jungfer, dabei? Nur weil sie selbst keinen Mann hatte, sollten wohl alle anderen ebenfalls in Keuschheit dahinvegetieren.

Bei diesem Gedanken schüttelte Suzette so heftig den Kopf, dass sich ihre schwarzen Haare, die sie am Abend zuvor geflochten hatte, aus dem Zopf lösten und sich wellig über ihren Rücken ergossen.

Sie lächelte grimmig. Umso besser.

Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie glaubte, das ganze Haus müsse davon aufwachen. Doch hätten selbst die Posaunen zum Jüngsten Gericht sie nicht von ihrem Vorhaben abbringen können. Diesmal nicht!

Rasch entledigte sie sich ihres Nachthemdes und griff im blassen Licht des hereinfallenden Mondscheins nach ihrem Mieder und den Kleidungsstücken, die sie sich bereits am Vorabend zurechtgelegt hatte. Zwar bereitete es ihr ein wenig Mühe, ihr Korsett ohne fremde Hilfe so zu schnüren, dass es ihr akzeptabel erschien, doch schließlich war es geschafft und sie schlüpfte erleichtert in Rock und Bluse.

Sie verfluchte die Dunkelheit, die es ihr unmöglich machte, sich etwas Puder und Rouge aufzulegen, wohl wissend, dass ihre Mutter schier in Ohnmacht gefallen wäre, wenn sie ihre Tochter damit erwischt hätte. Aber Maman war weit weg, und Tante Pauline schlummerte selig in ihren Kissen.

Jetzt oder nie!

Für einen kurzen Moment überkamen Suzette Zweifel, eine heftige Furcht erfasste ihre Glieder und wollte sie daran hindern, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

»Lâche!«, zischte sie sich selbst zu. Erbärmlicher Feigling!

Kaum einen Monat in diesem Pensionat, und schon war sie dabei, ihren Schneid einzubüßen.

Aber was, wenn Tante Pauline recht hatte? Wenn das, was sie zu tun gedachte, sie wirklich in Gefahr brachte oder zumindest ihren Ruf ruinieren könnte?

Papperlapapp! Was wussten die alle schon vom Leben? Ihre Mutter war über vierzig und ging gerade schwanger mit einem weiteren Nachkömmling, womöglich dem langersehnten Stammhalter, den ihr Vater sich nach vier Töchtern stets gewünscht hatte. Und Tante Pauline? Mit ihren 32 Jahren, einer Nase, die ständig in Büchern steckte, und ihren gelegentlich mit roter Tinte verschmierten Fingerspitzen war sie ohnehin für die Männerwelt verloren.

Zwar musste Suzette sich eingestehen, dass ihre Tante durchaus Wert auf ihr Äußeres legte und ihre Garderobe von ausgewählter, wenn auch dezenter Eleganz war. Doch sprachen ihr Verhalten und ihre verstaubten Anordnungen eine völlig andere Sprache.

Schnell schnürte sich Suzette die Schuhe und huschte auf Zehenspitzen in Richtung Tür. Zumindest versuchte sie es, konnte jedoch nicht verhindern, dass die Dielen bei jedem ihrer Schritte knarrten.

»Suzette?« Eine schlaftrunkene Stimme vom gegenüberliegenden Bett ließ sie innehalten.

Verflixt! Nicht bereit, sich aufhalten zu lassen, öffnete sie die Tür einen Spalt weit.

»Suzette? Bist du das?« Ein Blick zurück zeigte ihr, dass sich ihre Zimmernachbarin, ein verhuschtes graues Mäuschen namens Louise Wendling, in ihrem Bett aufgerichtet hatte und sie ansah. Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken, als sie offensichtlich begriff. »Du bist ja vollständig angekleidet! Großer Gott, was hast du vor?«

Einen Fluch unterdrückend, schloss Suzette die Tür wieder, um zu vermeiden, dass auch noch der Rest des Hauses aus dem Schlaf gerissen wurde.

»Ist das nicht offensichtlich?« Sie wusste, dass Angriff bisweilen die beste Verteidigung war. »Ich habe eine Verabredung, ein Rendezvous.«

Hätte Suzette behauptet, sie habe vor, die örtliche Bank auszurauben, hätte die Reaktion ihrer Zimmergenossin kaum entsetzter ausfallen können. »Du hast was? Aber …« Louise hielt inne, da ihr entweder die Worte fehlten oder die Fähigkeit, diese sinnvoll zusammenzusetzen. »Aber es ist mitten in der Nacht. Wie kannst du …?«

Verärgerung stieg in Suzette auf. Sie hatte etwas Besseres vor, als dieses unbedarfte, herumdrucksende Ding ausgerechnet jetzt darüber aufzuklären, zu welchem Zweck Männer und Frauen sich trafen.

»Ich kann sehr wohl«, zischte sie daher und baute sich vor der anderen auf. »Und du wirst mich nicht daran hindern. Hörst du?«

»Aber …« Louises Stimme klang schwach.

»Und wenn du auch nur ein Wort darüber sagst, wirst du Ärger bekommen, das verspreche ich dir.« Fieberhaft überlegte Suzette, womit sie diesem Unschuldslamm drohen konnte. »Dann wird die ehrenwerte Mademoiselle Martin so manches über dich zu hören bekommen, was du lieber für dich behalten würdest.«

Als hätte sie einen Schlag erhalten, fuhr Louise bei diesen Worten zusammen und starrte Suzette erschrocken, geradezu ungläubig an. »Das wirst du nicht tun«, flüsterte sie, doch ihre Stimme klang nicht überzeugt. »Du würdest doch niemals … Woher überhaupt …« Sie verstummte.

Aha! Also gab es wirklich ein Geheimnis, das dieses unscheinbare Wesen vor der Öffentlichkeit verbergen wollte. Très intéressant.

Aber im Augenblick hatte sie andere Sorgen. Musste sie doch unbedingt draußen sein, bevor er es womöglich satthatte, noch länger auf sie zu warten, und es sich anders überlegte.

»Wir haben uns also verstanden, n’est-ce pas?«, gab Suzette als letzte Warnung hinterher.

Dann öffnete sie hastig die Tür und verschwand.

*

Ein gebrüllter Befehl zerriss die Luft und hallte von den hohen, hell verputzten Außenwänden wider. Regungslos stand die Hitze zwischen den Gebäuden. Die Luft flirrte über dem sandigen Boden, drang ihm in Mund, Nase und Ohren, während ihn zugleich ein unendlich schweres Gewicht zu Boden ziehen wollte.

Sein Atem ging keuchend, seine Lungen brannten. Noch weitaus tiefer brannten aber der Zorn in ihm, der Hass und das Gefühl hilfloser Wut, das ihn von innen heraus zu verschlingen drohte.

Ein Stoß in den Rücken ließ ihn taumeln, wollte ihn zwingen, sich wieder in Bewegung zu setzen. Doch vermochte er es nicht, war nicht in der Lage, auch nur ein Glied zu rühren, sich einen Zoll weiterzubewegen.

Das Brüllen, das in sein Ohr drang, war nicht mehr das eines Menschen, es war das eines wilden Tieres. Eines Tieres, das Blut gewittert hatte. Jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt, seine Hände zu Fäusten geballt.

Der erste Hieb, der ihn traf, zersplitterte seinen Stolz, der zweite einen Knochen und der dritte traf ihn mit einer solchen Wucht, dass es ihn von den Füßen riss und er stürzte.

In bodenlose Tiefe, in Schwärze …

Mit einem Aufschrei fuhr Vincent aus dem Schlaf. Die Bilder seines Traumes zerflossen wie die spiegelnde Oberfläche eines Sees, in die ein Stein geworfen wurde. Sein Herz hämmerte so heftig, als sei er bergauf gerannt. Davongelaufen vor etwas, dem er seit Jahren zu entkommen versuchte.

Es dauerte einige Atemzüge, bis er begriff, dass er nur geträumt hatte und sich meilenweit entfernt von dem Ort befand, der ihn nicht loslassen wollte. In Sicherheit.

Sicherheit?

Schweißgetränkt klebte sein Hemd am Körper, sein Mund war trocken wie Stroh. Von den Bildern des Traumes benommen stand er auf, ging zu dem kleinen Tisch, goss sich aus dem Krug Wasser in ein Glas und leerte es in einem Zug.

Das Zirpen der Grillen und der klagende Laut eines Käuzchens drangen durch das geöffnete Fenster des Gartenhäuschens, das ihm als Quartier diente. Sein rasender Herzschlag verlangsamte sich, allmählich ließ das Zittern nach.

Tief atmete er aus, stellte das Glas zurück auf den Tisch.

Er wusste, dass er in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde. Wie stets, wenn ihn die Erinnerung übermannte, die Panik, das elende Empfinden vollkommener Hilflosigkeit. Schon gar nicht, solange er von festen Wänden umgeben war. Er brauchte Luft, brauchte den Anblick von Weite, des Himmels über sich. Das klaustrophobische Gefühl, das so sehr ein Teil von ihm geworden war, lauerte in allen Winkeln des Raumes und drängte ihn nach draußen.

Schnell schlüpfte er in seine Hose, öffnete die Tür des Gartenhäuschens und trat in die milde, sternenklare Sommernacht. Das blasse Mondlicht tauchte den Garten in geheimnisvolles Zwielicht. Das leise Rauschen der Blätter in den beiden Mirabellenbäumen, der betörende Duft der in voller Blüte stehenden Natur hüllten ihn ein. Ruhe breitete sich in ihm aus.

Nach so unglaublich langer Zeit endlich Ruhe.

Mit einem beinahe wohligen Aufseufzen kramte er Zündhölzer und eine leicht eingedrückte Zigarette aus der Hosentasche, die er sich ansteckte. Tief zog er den würzigen Tabakrauch in seine Lungen. Der Geruch vermengte sich mit dem des Sommers, eine angenehme Schläfrigkeit überkam ihn. Mit geschlossenen Lidern lehnte er sich an den Türrahmen und ließ die Geräusche der Nacht auf sich wirken. Leise und sanft.

Ein Knacken riss ihn aus dem Dämmerzustand, hastige Schritte, die durch das frisch geschnittene Gras huschten.

Sogleich war Vincent hellwach, alle Sinne geschärft. Wie von selbst flog sein Blick durch den dunklen Garten. Auf dessen Rückseite, wo eine mannshohe, nur durch ein schmiedeeisernes Tor durchbrochene Mauer das Grundstück von der Straße abschirmte, konnte er die Silhouette einer zierlichen weiblichen Gestalt ausmachen. Sie schien es eilig zu haben, denn sie warf keinen Blick zurück, sondern lief immer weiter.

Vincent stutzte. Wer mochte das sein? Eine der Lehrerinnen? Eine Schülerin? Doch wenn es sich tatsächlich um eines der Mädchen handelte, so wandelte es sicherlich auf verbotenen Pfaden. Eine Ausreißerin? Oder eine Diebin?

Was sollte er tun? Alarm schlagen? Versuchen, die Person zu überwältigen? Und dann? Das Letzte, was er im Augenblick gebrauchen konnte, war der Zusammenstoß mit der hiesigen Polizei.

Andererseits wäre es unverantwortlich, eine derartige Beobachtung einfach auf sich beruhen zu lassen.

Im schwachen Mondlicht sah Vincent, dass sich die Gestalt anschickte, über die Mauer zu klettern. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte er, dass sie sich an einem kräftigen, mit Knoten versehenen Seil hochzog, das ihr wohl jemand von der anderen Seite herübergeworfen hatte.

Das Mädchen lief also wirklich davon, ebenso wie die Zeit, die Vincent blieb, um eine Entscheidung zu treffen. Fest presste er seine Kiefer zusammen und duckte sich etwas mehr in den Schatten, um nicht gesehen zu werden.

Gerade als das Mädchen das obere Ende der Mauer erreicht hatte, sich ihr zwei Hände entgegenstreckten und ihr auf der anderen Seite wieder hinabhalfen, wusste Vincent, was er zu tun hatte. Was seine Pflicht und Schuldigkeit war.

Fast lautlos schlich er ebenfalls zur Mauer und zog sich daran nach oben. Vorsichtig warf er einen Blick auf die im Mondlicht liegende Straße, darauf bedacht, von dort aus nicht gesehen zu werden.

»Gut, dass du gekommen bist!«

»Mais oui. Ich hab’s doch gesagt.«

»Du bist ja mutig!«

Untermalt wurde dieses atemlose Gespräch durch das Geräusch heftiger Liebkosungen und Küsse.

»Ich verspreche dir, ich bringe dich auch zurück, bevor jemand dich vermisst.«

Diese Stimme!

Kaum merklich fuhr Vincent zusammen. Dieser Klang. Der schnorrende, fast ein wenig nasale Tonfall.

Dann wieder das Mädchen: »Das solltest du auch. Wenn man erfährt, was ich draußen tue, dann …«

Ein weiterer Kuss verschloss ihren Mund. Erst als der Mann von ihr abrückte, fiel das Mondlicht direkt auf sein Gesicht.

Vincent erstarrte.

Hastig duckte er sich ein wenig tiefer, während sein Puls raste. Bilder explodierten wie tausend Blitze vor seinem inneren Auge. Vorsichtig spähte er erneut in die Richtung der beiden Gestalten. Er hatte sich nicht getäuscht.

Aber wie war das möglich? Wie konnte das sein? Welch böse, ironische Macht des Schicksals spielte ihm diesen verfluchten Streich?

Einige Herzschläge lang lag Vincent wie betäubt auf der Mauer. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen.

Alles in ihm schrie danach, unbemerkt den Rückzug anzutreten und so zu tun, als hätte er nichts gesehen und nichts gehört.

Klüger wäre es. Und wesentlich besser. Besser für ihn und für all das, was er sich erhofft, was er seit Langem geplant hatte.

Aber dann … Wäre es nicht eine Sünde, hier zu schweigen? So zu tun, als ob er nichts gehört und gesehen hätte?

Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihm. Pflicht gegen Vernunft, die ihn drängte, vorsichtig zu sein. Dazu ein heftiger Zorn. Schließlich gewann die Pflicht.

Ruckartig richtete er sich auf. Die Straße unter ihm war leer. Er hatte zu lange gezögert!

Mit einem beherzten Satz landete er auf der anderen Seite. Ein scharfes Ziehen im Knöchel quittierte den harten Aufprall auf der gepflasterten Straße.

Hastig fuhr sein Kopf nach rechts und links. Keine Menschenseele war zu sehen. Atemlos lief er in die eine Richtung, doch verlangsamte er seine Schritte, als dort niemand zu sehen war. Keuchend machte er kehrt, um in die entgegengesetzte Richtung zu eilen. Schnell, bevor es zu spät war.

Doch auch dort: nichts. Nur die Silhouette einer streunenden Katze, deren Augen im Licht des Mondes grünlich aufblitzten.

Schwer atmend sank Vincent in die Hocke, schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen lautlosen Schrei.

Kapitel 4

Der zarte Cremeton des neuen Sonntagskleides, welches maßgeschneidert ihre schlanke Figur umschmeichelte und in gerader Linie bis zu den Knöcheln ging, hob Paulines Stimmung ebenso wie die morgendlichen Sonnenstrahlen, die durch das geöffnete Fenster ihres Schlafzimmers fielen und bereits jetzt einen schönen Tag verhießen.

Warm und weich hallte der Klang der Kirchenglocken von Saint Maximin über die altehrwürdigen Gebäude, Straßen und Gässchen der Stadt. Melodisch riefen sie die Gläubigen zur Frühmesse, die Pauline wie jeden Sonntag zusammen mit ihren katholischen Schülerinnen besuchen würde, während Eleonore Schmitt, die noch verbliebene Lehrerin, mit den Mädchen protestantischer Konfession am Gottesdienst in der benachbarten evangelischen Kirche teilnahm. Und anschließend – Paulines Mundwinkel hoben sich bei diesem Gedanken – würde ein üppiges Sonntagsfrühstück auf alle warten, zu dem Lisbeth nicht nur knusprige Brötchen und Croissants gebacken hatte, sondern auch allerlei Gelees und die von allen geliebte Mirabellenmarmelade aufdecken würde sowie frische Eierwaffeln mit Puderzucker.

In Anbetracht der erwarteten Genüsse huschte Paulines Zungenspitze verstohlen über ihre Lippen.

Und vielleicht würde am Nachmittag, vor der allgemeinen Kaffeetafel, Fräulein Schmitt ihnen einige ihrer Schallplatten zur Verfügung stellen, um diese im Salon, der ebenfalls als Musikzimmer sowie als Raum für Feiern und Festlichkeiten genutzt wurde, auf dem Grammophon zu spielen. Mochte Eleonore Schmitt nach außen hin – mit ihrer schwarz umrandeten Brille auf der schmalen Nase, der dunklen, schmucklosen Kleidung – auch das perfekte Bild einer prüden und pedantischen Lehrerin abgeben, für Pauline war sie eine unschätzbare Stütze im Schulbetrieb mit seinen täglich neuen Herausforderungen. Zudem vermutete sie hinter Eleonores altjüngferlicher Fassade ungeahnte Talente und womöglich mehr Weltoffenheit, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen würde. So war auch die Auswahl ihrer Musikstücke durchaus unkonventionell zu nennen. Neben den üblichen Klassikern schätzte sie die modernen Komponisten wie Ravel und Debussy. Kürzlich äußerte sie ihre Begeisterung für den in höheren Kreisen oft mit einem Naserümpfen bedachten Igor Stravinsky, dessen Musik konservative Kreise regelrecht brüskierte und dessen jüngstes Ballettstück vor Kurzem uraufgeführt worden war.

Man durfte also gespannt sein.

Obgleich Pauline es vorgezogen hätte, Lehrkräfte mit französischer Muttersprache einzustellen, und die jüngere, aus der Nähe von Hannover stammende Kollegin das Französische nur sehr holprig und mit deutlich hörbarem Akzent beherrschte, schätzte Pauline ihre Arbeit sehr.

Warum auch nicht? War es doch eine unumstößliche – wenn auch in Paulines Augen bedauerliche – Tatsache, dass man im Reichsland Elsaß-Lothringen, das seit nunmehr vier Jahrzehnten zum Deutschen Kaiserreich gehörte, zwar der deutschen, jedoch nicht unbedingt der französischen Sprache mächtig sein musste. Auch die Lehrerinnenseminare im Reichsland waren allesamt deutschsprachig.

Dabei war der Gebrauch des Französischen in Elsaß-Lothringen keineswegs verboten, sondern wurde sogar in den meisten hiesigen Schulen gelehrt. In Ortschaften mit einer mehrheitlich französischsprachigen Bevölkerung war sie sogar als Unterrichtssprache erlaubt. Dennoch wurde das Französische Jahr für Jahr immer weiter aus öffentlichen Einrichtungen und Institutionen des Reichslandes zurückgedrängt.

Womöglich war es Paulines ganz persönlicher Kreuzzug gegen den unaufhaltsamen Verlust der eigenen Identität, Kultur und Vergangenheit, den sie mit der Übernahme dieses Pensionats führte. Bei dem sie sich von Beginn an zur Aufgabe gemacht hatte, die regionalen lothringischen Traditionen ebenso zu pflegen wie den Gebrauch der französischen Sprache. Auch nahm die Vermittlung fundierter Kenntnisse der französischen Literatur, Kultur und Geschichte in ihrem Unterricht einen großen Raum ein. Und obwohl sie mit dieser Ausrichtung den Lehrplan des Straßburger Bildungsministeriums sehr frei interpretierte und deswegen schon zweimal von offizieller Seite ermahnt worden war, ließ sie sich nicht davon abbringen.

Die Eltern ihrer Schülerinnen jedenfalls hatten sich bisher noch nie über das Curriculum beschwert. Im Gegenteil, ihr Pensionat war gefragter denn je. Womöglich, so vermutete sie, lag dies an dem guten Ruf, den ihre Lehranstalt genoss, das Wissen darum, dass die Mädchen hier gehobene Umgangsformen, sicheres Auftreten und gepflegte Konversation in gleich zwei Sprachen erlernten. Noch dazu von einer Leiterin, die all das selbst beherrschte und auch ausstrahlte. Was darüber hinaus im schulischen Unterricht gelehrt wurde, interessierte ohnehin die wenigsten jener Väter, die ihre Töchter bei ihr anmeldeten. Galt den meisten von ihnen höhere Schulbildung für Mädchen doch gemeinhin als nachrangig. Eine Meinung, die Pauline keineswegs teilte und daher auch auf die fachliche Bildung ihrer Schülerinnen in allen schulischen Bereichen großen Wert legte.

Vorsichtig befestigte Pauline mit langen Nadeln einen weitkrempigen, dezent mit Seidenröschen und Schleifen verzierten Hut an ihrer sorgfältig aufgesteckten Frisur. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie Grund hatte, mit ihrem Äußeren zufrieden zu sein. Gerade als sie sich anschickte, nach unten in die Bibliothèque zu gehen, um sich vor dem Aufbruch zum Gottesdienst noch etwas mit Lektüre zu vergnügen, klopfte es an ihrer Zimmertür.

Hämmern wäre der treffendere Begriff gewesen, gefolgt von einer nur mühsam beherrschten Stimme.

»Mademoiselle Martin! Mademoiselle Martin!«

Sogleich erkannte Pauline ihre Kollegin Eleonore Schmitt. Beunruhigt riss sie die Tür auf. Das blasse, von Schrecken gezeichnete Gesicht der Lehrerin ließ sie das Schlimmste befürchten.

»Suzette ist verschwunden!«, brach es aus dieser hervor, ehe Pauline die Gelegenheit hatte, zu fragen, was geschehen sei. »Als ich die Mädchen heute Morgen weckte, war ihr Bett leer. Sie ist nirgendwo zu finden.« Die sonst so selbstbeherrschte Frau wirkte ernsthaft besorgt.

Paulines gute Stimmung zerplatzte wie eine Seifenblase. »Sind Sie sicher? Haben Sie überall nach ihr gesucht? Was sagen ihre Kameradinnen dazu? Wissen die vielleicht etwas?«

Wie eine Antwort auf diese Frage zeigte ihr ein Blick in den Flur, dass einige der Schülerinnen, bereits fertig für den Sonntagsgottesdienst gekleidet, im Flur standen und das Gespräch belauschten.

Geistesgegenwärtig zog Pauline die Kollegin ins Zimmer und schloss die Tür. »So, und nun erzählen Sie.«

Die etwas knochig wirkende, schwarz gewandete Frau in den Zwanzigern, deren farblose Haare am Hinterkopf zu einem festen, schmucklosen Knoten aufgesteckt waren, rang ebenso um Atem wie um Worte. »Wie jeden Sonntag habe ich die Mädchen um sieben Uhr geweckt, und da sah ich, dass Suzettes Bett verlassen war. Natürlich habe ich sogleich ihre Zimmernachbarin Louise darauf angesprochen. Die sagt jedoch, sie wisse von nichts. Am Abend seien sie noch gemeinsam schlafen gegangen, und dann am Morgen …« Fräulein Schmitts Stimme brach, und Paulines Gedanken überschlugen sich.

Hätte sie damit nicht rechnen müssen?

Wie ein Blitzschlag durchzuckte sie die niederschmetternde Erkenntnis in ihrem vollen Ausmaß: Suzette war verschwunden, und so, wie es aussah, die ganze Nacht über weggeblieben. Die Folgen davon waren nicht auszudenken. Doch zunächst musste sie jetzt …

Ehe sie den Gedanken zu Ende geführt hatte, riss sie die Tür auf und eilte die Treppe hinauf in das zweite Stockwerk, wo sich die Schlafräume der Mädchen befanden. »Louise?«, rief sie laut. »Wo in aller Welt steckt Louise?«

Wie das Rote Meer teilte sich das Grüppchen der teils verlegen, teils neugierig dreinschauenden Mädchen, als ihre Lehrerin auf dem schmalen Flur an ihnen vorbei zu Louises Zimmer lief, das diese mit Suzette teilte. Ohne anzuklopfen trat sie ein.