Der Weg der Frauen - Marie Pierre - E-Book

Der Weg der Frauen E-Book

Marie Pierre

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Beschreibung

Emanzipation, große Erwartungen und schwere Entscheidungen: das bewegende Finale im Pensionat an der Mosel

1912: Pauline Martin ist schockiert, als sie erfährt, dass ihre Schülerin Sophie in Metz bei einer Kundgebung für Frauenrechte verhaftet wurde. Obwohl sie bald darauf wieder entlassen wird, hat das Ganze Konsequenzen für Pauline, denn der Ruf ihres Pensionats hat erheblichen Schaden genommen. Als Sophie kurze Zeit später aus Luxemburg zurückkehrt, ist sie vollkommen verändert. Das einst selbstbewusste Mädchen ist nun blass, still, bisweilen geradezu apathisch. Pauline forscht nach und stößt in Sophies Elternhaus auf Ungeheuerliches. Gleichzeitig taucht Paulines ehemaliger Verlobter Roland in Diedenhofen auf und wirbt erneut um sie. Als Erich von Pliesnitz davon erfährt, zieht er sich enttäuscht zurück. Pauline muss sich entscheiden – und könnte dadurch alles verlieren.

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Seitenzahl: 671

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

1912: Pauline Martin ist schockiert, als sie erfährt, dass ihre Schülerin Sophie bei einer Kundgebung für Frauenrechte in Metz verhaftet wurde. Obwohl sie bald darauf wieder entlassen wird, hat das Ganze Konsequenzen für Pauline, denn der Ruf ihres Pensionats hat erheblichen Schaden genommen. Als Sophie kurze Zeit später aus Luxemburg zurückkehrt, ist sie vollkommen verändert. Das einst selbstbewusste Mädchen ist nun blass, still, bisweilen geradezu apathisch. Pauline forscht nach und stößt in Sophies Elternhaus auf Ungeheuerliches. Gleichzeitig taucht Paulines ehemaliger Verlobter Roland in Diedenhofen auf und wirbt erneut um sie. Als Erich von Pliesnitz davon erfährt, zieht er sich enttäuscht zurück. Pauline muss sich entscheiden – und könnte dadurch alles verlieren.

Die Autorin

Marie Pierre ist im Spannungsfeld der deutsch-französischen Grenzregion aufgewachsen. Ihre Studienzeit in Metz sowie die Geschichte ihrer Familie, die sich über Deutschland, Frankreich und Luxemburg erstreckt, inspirierten sie dazu, sich intensiv mit der Vergangenheit zu befassen. Besonders Lothringen ist sie sehr verbunden. Unter dem Namen Maria W. Peter schreibt sie historische Romane und Theaterstücke, die von der Römerzeit bis ins 19. Jahrhundert reichen und für die sie unter anderem mit dem Literaturpreis Homer ausgezeichnet wurde. Vielleicht war das Leben ihrer Großtante, die in der Zwischenkriegszeit ein Mädchenpensionat im lothringischen Bouzonville besuchte, der zündende Funke zu ihrer aktuellen Reihe.Besuchen Sie die Autorin auch auf ihrer Homepage:

www.mariawpeter.de und auf www.facebook.com/mariawpeter.

Lieferbare Titel

Töchter des AufbruchsSchwestern im Geiste

MARIE PIERRE

Das Pensionat an der Mosel

Band 3

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 06/2025

Copyright © 2025 by Marie Pierre

Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Dr. Mechthilde Vahsen

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Motiven von: Trevillion Images (Elisabeth Ansley), Bridgeman Images (United Archives/Carl Simon), Shutterstock.com (luck luckyfarm, Artnizu, AVA Bitter)

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29715-2V001

www.heyne.de

Figuren der Handlung

Im Pensionat

Lehrpersonen:

Pauline Martin, Directrice, Institutsleiterin aus Metz, die diesmal besonders schwere persönliche Entscheidungen zu treffen hat

Eleonore Schmitt, junge Lehrerin aus dem Hannoveranischen, hinter deren steifer Fassade sich ein unkonventioneller Geist verbirgt

Dr. Heinrich Marquardt, der neue Lehrer, der sich als Entwicklungshelfer rückständiger Landstriche wähnt

Hausangestellte:

Vincent Lehmann, Paulines Großcousin, der als Gärtner und Hausmeister im Pensionat angestellt ist, nun jedoch ganz eigene Pläne schmiedet

»Lisbeth« Weber, aus Woerth im Elsass, Köchin, Haushälterin und gute Seele des Pensionats

Camille Rémy, Stubenmädchen aus der Nähe von Château-Salins in Lothringen, deren Sohn Émile bei Pflegeeltern aufwächst

Thomas Engel, der regelmäßig saubere Wäsche vorbeibringt, Vincent bei groben Arbeiten unterstützt und gerne dem preußischen Wehrdienst entgehen möchte

Die Schülerinnen:

Barbara Andre, aus Saarlouis in der preußischen Rheinprovinz, kommt aus eher ärmlichen Verhältnissen, ist aber eine unverwüstliche Optimistin und Frohnatur

Ottilie von Dannenberg, aus Ostpreußen, deren Vater als hochrangiger Offizier in Zabern stationiert ist, sie ist auf Empfehlung von Gelsas Vater im Pensionat

Esther David aus dem lothringischen Sarreguemines/Saargemünd, die sich für Malerei und bildende Künste begeistert, ihre Eltern führen einen erfolgreichen Laden für Faïencerie, Porzellan und Haushaltswaren, jeden Tag wartet sie auf den Antrag ihres Theodor

Katharine und Gudrun Eisele, zwei Schwestern aus Stuttgart, deren Vater bei der Württembergischen Armee in Straßburg stationiert ist und deren besonderes Augenmerk auf die Geheimnisse der guten Küche gerichtet ist, mit dem Ziel, später eine eigene Restauration zu eröffnen

Marthe Gross, die weder mit ihren sozialistischen Idealen noch mit ihrer persönlichen Meinung hinter dem Berg hält, darüber hinaus eine sehr soziale Neigung hat und sich gerne um ihre Mitmenschen kümmert

Berthe Haußner, Tochter einer Lothringerin und eines bayerischen Offiziers, die ein wenig zwischen den Welten steht, im Pensionat aber lernt, sich anzupassen und einzubringen

Brunhilde Klawe, Büchernärrin, deren Familie ursprünglich aus Neuruppin in Preußen stammt, die von Kara Ben Nemsi träumt und regelmäßig die neueste Ausgabe der »Gartenlaube« bezieht

Gelsa von Kucharski, Tochter eines im elsässischen Zabern/Saverne stationierten preußischen Offiziers, mit Heimweh nach dem Brandenburgischen

Ernestine Küppers, deren Familie ursprünglich aus Düsseldorf stammt, zwischenzeitlich aber im lothringischen Forbach lebt, und deren Traum es ist, einmal Journalistin zu werden

Sophie Loos aus Luxemburg, die sich mit Marthe, Louise und Ernestine gerne über politische Themen austauscht und deren Interesse an der Frauenbewegung sie in massive Schwierigkeiten bringt

Louise Wendling, musisch begabte Schülerin aus Straßburg, deren Vater sich, allen Widerständen zum Trotz, für ein vom Deutschen Kaiserreich losgelöstes Elsass einsetzt

Ehemalige Schülerinnen:

Josefa Gruber, Tochter eines verwitweten bayerischen Offiziers aus Rosenheim, der in Lothringen Dienst tat

Suzette Manseaux aus Avignon, die vor einiger Zeit für großen Wirbel gesorgt hat und deswegen nach Hause zurückbeordert wurde

Albertine Schwartz aus dem lothringischen Busendorf/Bouzonville, die kurz vor Schulabschluss in ein Kloster eingetreten ist

Charlotte von Schwegat, Tochter eines Grubendirektors von der Saar, die im vergangenen Jahr große Unruhe in die Schulgemeinschaft gebracht hat

In der preußischen Garnison zu Diedenhofen:

Erich von Pliesnitz, preußischer Hauptmann des 3. Lothringischen Infanterieregiments Nr. 135, aus Posen, für seine unnachgiebige Strenge berüchtigt

»Franzl« Klein, sein aus der Nähe von Colmar stammender Offiziersbursche, dessen Hoffnungen auf bessere Zeiten jäh zunichte gemacht werden

Feldwebel Junkes, der sich keinen Reim auf die Veränderungen im Charakter des »gnadenlosen« Hauptmanns machen kann

Wilhelm Benninkov, ein junger Leutnant, der den Kummer über den Tod seines Vaters gerne in Alkohol ertränkt

Oberst von Tirzheim, der dem Kartenspiel und gehaltvollen Getränken äußerst zugetan ist

Leutnant Krenzer, der ihm gerne dabei Gesellschaft leistet

Ein junger Wehrpflichtiger, der nicht fassen kann, dass sein Hauptmann einmal Gnade vor Recht ergehen lässt

In der bayerischen Garnison von Diedenhofen:

Oberst Haußner, der mit einer Lothringerin verheiratet ist und sich große Sorgen um die Schulbildung seiner Tochter macht

Oberst von Thalen, dem an einem guten Nebeneinander mit den preußischen Kollegen gelegen ist

Hauptmann Berner, ein Kollege der beiden

Sonstige Bewohner von Diedenhofen/Thionville:

Wachtmeister Schrotherr, ein Polizist, der sich für alles und jeden verantwortlich fühlt

Witwe Schleedorn, Erichs Zimmerwirtin, hat chronisch schlechte Laune und ein verbesserungswürdiges Kochtalent

Walter Steinle, Briefträger

Madame Picou, Besitzerin eines Kurzwarenladens

Docteur Gaspard, Hausarzt des Mädchenpensionats

Doktor Stenzl, Arzt im Bürgerhospital von Beauregard

Alphonse Mathieu, Gemüsehändler, der das Pensionat beliefert und für die Köchin Lisbeth gerne mal was zur Seite legt

Anne Engel, Wäscherin, Thomas’ Mutter

Gebrüder Gierden*, Besitzer eines Ladens für Uhren, Schmuck und Hausrat (historisch belegt)

In Metz:

Jean Martin, Paulines Vater, Anwalt, mit besten Beziehungen zum französischen Teil Lothringens

Françoise Martin, Paulines Mutter, welche die Hoffnung auf eine standesgemäße Partie ihrer Tochter nicht aufgibt

Ninette, in Paris ausgebildete Köchin mit einem Talent für die gehobene französische Cuisine

Käthchen, Haushälterin aus Saint-Avold mit besonderer Begabung zum Geschichtenerzählen

Agnes, Dienstmädchen

Wachtmeister Schwehms, mit dem Pauline auf der Polizeidirektion Bekanntschaft macht

In Luxemburg:

Simon Loos, Sophies Vater

Hermine Loos, dessen Frau

Babette, deren Hausmädchen

Emma, Sophies Cousine

In Freimingen:

Émile Remy, Camilles Sohn

Madame und Monsieur Dejon, dessen Pflegeeltern

Giulia Petretti, ein Wirbelwind, der sich hin und wieder um den Jungen kümmert

Sonstige Personen aus Paulines Umfeld:

Roland Dulange, Bankier und Paulines ehemaliger Verlobter aus Nancy, der nach der Trennung eine andere geheiratet hat

Colette Dulange, geborene Lagrange (†), seine verstorbene Frau

Henri Dulange, ihrer beider Sohn

Patentante Adèle (†), Gründerin des Pensionats, der Pauline ihre Schule und die Liebe zum Unterrichten verdankt

Großtante Mathilde (†), die nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 einem preußischen Soldaten ins Rheinland folgte und deren Name in der ehrwürdigen Familie Martin seither totgeschwiegen wird, zugleich Vincents Großmutter

Historische Persönlichkeiten, die im Roman erwähnt werden:

Maria-Adelheid von Nassau-Weilburg, Großherzogin von Luxemburg (1912–1919), die für ihre Landsmännin Sophie ein besonderes Vorbild ist

Max Rubner (1854 – 1932), deutscher Mediziner und Physiologe, der die moderne Ernährungswissenschaft begründete

Für Myriam Bouchon,

französische Honorarkonsulin in Saarlouis,

und für Janine Loock,

Präsidentin der Union des Français de Sarre,

zwei starke Frauen, die beide mit großem Engagement die grenzüberschreitenden Verbindungen vertiefen und das Verständnis der Kulturen im Herzen Europas fördern.

Entwickelten sich denn alle Wesen in dieser Welt zu höheren Daseinsformen und nur sie und ihresgleichen blieben davon ausgeschlossen? Sie war das »junge Mädchen« – und musste es bleiben, bis man sie welk und vertrocknet, mit grauen Haaren und eingeschrumpftem Hirn in den Sarg legte?

Wusste denn keiner, dass es grausam war, eine Blume, die nach Entfaltung strebte, durch ein seidenes Band zu umschnüren, damit sie Knospe bleiben sollte? Wusste keiner, dass sie dann im Inneren des Kelches verrottete und faulte?

Gabriele Reuter

Kapitel 1

Mai 1912 Diedenhofen/ThionvilleReichsland Elsaß-Lothringen

Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft …

Lautstark und beschwingt hallte die populäre Melodie aus einer auf Hochglanz polierten Drehorgel über die Place du Luxembourg, den Luxemburger Platz, welcher sich an diesem Maientag des Jahres 1912 in strahlendem Sonnenschein und unter fast wolkenlosem Himmel zeigte.

Und obgleich man sich nicht in Berlin, sondern in dem über sechshundert Kilometer südwestlich davon entfernt liegenden Thionville befand, im offiziellen Amtsdeutsch Diedenhofen genannt, tat das der guten Stimmung, die dort herrschte, keinerlei Abbruch.

Schaulustige und Passanten flanierten über den Platz, der erst wenige Jahre zuvor durch den Abriss der Festungsumwallung und der dazugehörigen Stadttore entstanden war: einfache Arbeiter in Straßenkleidung ebenso wie vornehme Damen in eng geschnürten Sommerkleidern und mit beeindruckenden Hüten. Ein Grüppchen bayerischer Soldaten überquerte die Bahnschienen, welche den Platz durchschnitten. Kurz darauf fuhr rußend und schnaubend die kleine dampfbetriebene Straßenbahn ein, welche im Volksmund Jaengelchen genannt wurde. Mit lautem Quietschen blieb sie einen Moment stehen, spuckte einige Fahrgäste aus und zuckelte schließlich wieder von dannen.

»Hier war sie aber nicht dabei.«

»Wer?«

»Na, die Neue.«

»Unsinn, sie kommt doch nicht mit der Straßenbahn.«

»Nein, mit dem Au-to-mo-bil.« Das abfällige Augenrollen, mit dem Marthe Gross die vier Silben des letzten Wortes in die Länge zog, machte deutlich, was sie von einem derart unnötigen Luxus hielt.

Das teils begeisterte, teils neidische Aufleuchten in den Blicken ihrer Mitschülerinnen zeigte jedoch, dass sie mit ihrer Meinung ziemlich alleine dastand.

»Wunderbar! Ein eigenes Automobil.« Schwärmerisch legte Ernestine Küppers den Kopf ein wenig schief. »Wie formidabel es doch sein muss, einen eigenen Kraftwagen zu besitzen, fahren zu können, wohin man will.«

»Ferne Länder sehen! Abenteuer erleben!«, stimmte nun auch Brunhilde Klawe ein, und ihrer Miene war anzumerken, dass sie sich bereits wieder in ihrer Fantasie verlor.

»Als ob sie ausgerechnet eine Frau wie dich ans Steuer ließen«, meinte Berthe Haußner, wohl ob der langen Wartezeit ein wenig missgelaunt, und fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu. Für Mai war es schon recht warm. »Und außerdem, warum kommt sie dann so sp…«

»Wieso bitte soll denn eine Frau nicht am Steuer sitzen?« Beinahe kämpferisch hatte Ernestine sich vor der Klassenkameradin aufgebaut und schaute sie böse an. »Glaubst du etwa, Männer könnten das so viel besser?«

Berthe, ein wenig verdattert, schob trotzig das Kinn vor. »Besser als du allemal!«

»Meinst du?« Ernestines Gesicht war rot angelaufen. »Wie kommst du …«

»Du calme, mes filles!« Pauline war an das Grüppchen von Streithennen herangetreten und legte Ernestine beruhigend die Hand auf die Schulter. »Selbstverständlich gibt es keinen Grund, dass du nicht eines Tages das Autofahren lernen solltest. Doch selbst diese kontroverse Frage lässt sich gesittet ausdiskutieren, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu springen.«

»Aber sie hat …«, protestierte Ernestine erneut, nickte aber schließlich. »Oui, Mademoiselle.«

Erhitzt strich sich Pauline eine schweißfeuchte Haarsträhne aus der Stirn. Nicht nur die Gemüter der Mädchen bedurften einer Abkühlung. Es war für die Jahreszeit wirklich ungewöhnlich heiß.

Der bunt gekleidete Eisverkäufer, der seinen kleinen Wagen am Rande des Platzes aufgebaut hatte, kam Pauline gerade recht. Beinahe erleichtert kramte sie ihr Portemonnaie hervor und reichte Marthe, welche sie für die Vernünftigste hielt, etwas Geld.

»Hier, kauft euch jede eine Portion Eiscreme davon. Das sollte reichen. Aber benehmt euch anständig, d’accord? Nicht, dass die neue Schülerin glaubt, in einer Horde Barbaren gelandet zu sein.« Falls sie heute noch eintreffen sollte.

Ein allgemeines Aufjuchzen war die Antwort, und schon eilten ein knappes Dutzend Mädchenbeine unter flatternden dunkelblauen Röcken in Richtung des Eisverkäufers, der bei diesen Temperaturen sicher gute Geschäfte machte.

Pauline gönnte ihm diese von Herzen. Gerne hätte sie sich selbst mit einem köstlichen Eis erfrischt, hegte sie doch eine besondere Schwäche für gutes Essen im Allgemeinen und Süßspeisen im Besonderen. Da jedoch jeden Augenblick der Wagen mit der neuen Schülerin vorfahren konnte, hielt sie es für ein wenig unpassend, dieser als Institutsleiterin und zukünftige Lehrerin schleckend und schluckend entgegenzutreten. So stellte sie einmal mehr ihre persönlichen Bedürfnisse zurück, während sie nicht ganz ohne Neid den Mädchen hinterherblickte, die sich um den Eiswagen scharten.

Elf Schülerinnen beherbergte derzeit ihr kleines, gepflegtes Pensionat, welches sich hier ganz in der Nähe befand. Die aus Rosenheim stammende Josefa hatte das Institut zu den letzten Sommerferien verlassen, da ihr Vater, ein bayerischer Offizier, der hier in Lothringen stationiert war, zurück in die Heimat beordert worden war. Bereits während des vorherigen Schuljahres waren zwei Mädchen von der Schule gegangen, sodass es drei freie Plätze gab.

Diese waren nach den Sommerferien im letzten September von Neuankömmlingen besetzt worden: der rothaarigen Barbara Andre aus Saarlouis sowie Katharine und Gudrun Eisele, zwei Schwestern aus Stuttgart, deren Vater der württembergischen Armee angehörte, welche ebenfalls Garnisonen im Reichsland Elsaß-Lothringen unterhielt.

Den großen Paukenschlag hatte es indes gegeben, als Albertine im Dezember des vergangenen Jahres verkündet hatte, nach den Weihnachtsferien nicht in die Schule zurückzukehren. Nach langem, zähem Ringen hatte sie ihre Eltern davon überzeugt, ihr den Eintritt in einen Orden nicht länger zu verwehren und sie zukünftig die Mauern des Pensionats gegen die eines Klosters tauschen zu lassen.

Obgleich Pauline es sich nicht so recht erschloss, warum man mit diesem entscheidenden Schritt nicht auch bis zum Schulabschluss hätte warten können, legte sie Albertine in diesem Punkt keine Steine in den Weg. Bestand ihr erklärtes Ziel doch darin, die Schülerinnen zu bestärken, ihren eigenen Weg für ihr späteres Leben zu finden und diesen mit Entschlossenheit zu verfolgen. Wenn Albertine also für die Abgeschiedenheit des Ordenslebens berufen war, würde Pauline das respektieren.

Außerdem, dachte sie mit einem Anflug von Verbitterung, lebte sie selbst nicht ebenfalls fast wie eine Nonne? Gesellschaftlich abgeschieden, ohne Mann, ohne Familie, stets darauf bedacht, die Grenzen des Erlaubten nicht zu überschreiten. Selbst dann, wenn der Hunger nach Liebe sie, die bereits über 34 Lenze zählte, bisweilen mit einer Heftigkeit anflog …

»Bonjour, Mademoiselle.« Eine tiefe Stimme ließ Pauline sich umwenden. »So ganz alleine bei dem schönen Wetter?«

Pauline spürte, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog, als sie Erich von Pliesnitz erkannte, einen hier in der preußischen Garnison stationierten Hauptmann, dessen Bekanntschaft sie etwa zwei Jahre zuvor gemacht hatte, als eine ihrer Schülerinnen sich mit einem seiner Offiziere in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Trotz der anfänglichen Spannungen, die zunächst zwischen ihnen geherrscht hatten, war er seither ihrer Schule sehr verbunden … und ihrer Person.

Und so wurden Paulines Wangen noch eine Spur wärmer, als sie den Gruß erwiderte und einen Schritt näher an ihn herantrat.

»Keineswegs, mon capitaine. Tatsächlich bin ich zusammen mit meinen Schülerinnen hier.« Vage wies sie in Richtung des Eiswagens. »Doch habe ich ihnen bei der Hitze eine kleine Erfrischung erlaubt. Dort hinten wird die Meute gerade abgefüttert.«

Ein Ausdruck des Erstaunens trat in von Pliesnitz’ ernstes Gesicht. »Und Sie selbst gönnen sich nichts?«

Mit einem bedauernden Lächeln strich sich Pauline über das cremeweiße und vanillegelbe Kleid. »Malheureusement. Ich erwarte die Ankunft einer neuen Schülerin, die mir für diese Stunde angekündigt ist und von ihrem Vater im Automobil hergebracht werden soll. Da wäre es doch unschicklich, diese …«

»Mit einer Eiswaffel in Händen zu begrüßen«, vollendete der Hauptmann den Satz.

Pauline nickte. »Oder mit Flecken von Eiscreme auf dem Kleid.«

»Eine Nachlässigkeit, die ich mir bei Ihnen nicht wirklich vorstellen kann, Mademoiselle.« Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Züge, was ihn für einen Moment beinahe freundlich wirken ließ.

Dabei war von Pliesnitz in der Garnison für seine unerbittliche Strenge bekannt, was ihm bei seinen Männern den zweifelhaften Titel »Hauptmann Gnadenlos« eingebracht hatte.

»Ich nehme Ihre Worte als ein Kompliment.« Pauline hob den Kopf.

»So waren sie auch gedacht.« Er deutete eine Verbeugung an, und erneut stahl sich ein Lächeln auf Paulines Gesicht.

Trotz seines Rufs als harter Vorgesetzter war sein Verhalten ihr gegenüber stets tadellos und zuvorkommend zu nennen. Mehr noch, eine tiefe Freundschaft verband den wortkargen Hauptmann aus Posen und die junge Directrice aus dem französischen Metz, obgleich das preußische Militär für Pauline all das verkörperte, was sie verabscheute. Eigentlich …

Allerdings musste diese Freundschaft vorsichtig und in aller Distanz gepflegt werden, um auch nicht die Spur eines falschen Eindrucks zu erwecken. Erwarteten doch Staat und Gesellschaft von einer Lehrerin ein tadelloses Benehmen, das ihren Schülerinnen jederzeit ein Vorbild in Sachen Tugend und Moral war.

»Woher kommt Ihre neue Schülerin?« Erichs Worte holten Pauline wieder in das Hier und Jetzt zurück.

»Aus Ostpreußen, der Nähe von Insterburg.«

Erich hob die Brauen. »Ein weiter Weg für eine Reise im Automobil.«

Pauline nickte. »Heute kommt sie aber direkt von Saverne, aus Zabern im Elsass, wo ihr Vater als Major Dienst tut. Im selben Regiment wie Major von Kucharski, Gelsas Vater.«

Erich schmunzelte. »Eine warme Empfehlung Ihrer Schule also.«

»Ich vermute es«, entgegnete Pauline würdevoll, freute sich insgeheim aber sehr darüber. Hatte es in der Vergangenheit doch Ereignisse gegeben, welche beinahe ihr mit so viel Hingabe und Sorgfalt geführtes Institut in Verruf gebracht hätten. Besonders, da der Bruder einer Schülerin gedroht hatte, mit allerlei Klatschgeschichten an die Presse zu gehen.

»Ob der Herr Major wohl weiß, dass Sie die Tochter eines verurteilten Aktivisten in Ihrer Schule beherbergen und einen Verbrecher als Gärtner beschäftigen?«, fragte der Hauptmann leise, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Sich räuspernd straffte Pauline die Gestalt. »Louises Vater wurde im vergangenen Sommer aus der Haft entlassen. Und das Einzige, was er sich hatte zuschulden kommen lassen, war, für ein freies Elsass zu kämpfen, das nicht unter der Verwaltung Berlins steht. Und was meinen Gärtner betrifft, meinen Großcousin Vincent, genauer gesagt«, sie verlieh der verwandtschaftlichen Bezeichnung eine besondere Betonung, »wurde er von allen Anschuldigungen freigesprochen, wie Sie wissen. Nicht zuletzt dank Ihrer Intervention.«

»Ich weiß es.« Warm ruhte Erichs Blick auf ihr. »Aber wissen es auch die anderen?«

Ruckartig wandte sich Pauline ab. »Diejenigen, die es wissen wollen, wissen es. Und diejenigen, die hinter allem etwas Anstößiges finden wollen, werden es ohnehin tun, von daher …«

Sanft griff seine Hand nach ihrem Unterarm, drehte sie wieder herum und zwang sie, ihn anzusehen. »Es lag nicht in meiner Absicht, Sie zu beunruhigen oder Ihnen gar Vorwürfe zu machen. Es war lediglich der Versuch, nun …« Beinahe entschuldigend hob Erich die Schultern.

»… ein wenig belanglose Konversation zu führen?«, vollendete Pauline den Satz.

Erich nickte. »Doch fürchte ich, dass mir dies noch immer nicht besonders gut gelingt.«

»Nicht besonders, non!«, bestätigte Pauline, und ihr Blick ging an dem Offizier vorbei in die Ferne, wo sich irgendwo jenseits der Place du Luxembourg das blaue Band der Mosel erstreckte.

Wieder war es da, dieses Gefühl der Vertrautheit, diese seltsame Spannung, die sich immer zwischen ihnen ausbreitete, wenn Erich von Pliesnitz in ihrer Nähe war. Und nicht nur an diesem Tag verspürte Pauline den heftigen Drang, dieser nachzugeben. Diesem verschlossenen, bisweilen schroffen Mann ein wenig mehr von den Gefühlen zu zeigen, die sie ihm gegenüber verspürte, so ungehörig diese auch sein mochten.

Als ginge es diesem ebenso, hörte sie ihn sagen: »Ich nehme an, ich kann Sie noch immer nicht zu einer gemeinsamen Tasse Tee in eines der hiesigen Cafés überreden? Oder zu einem gemeinsamen Mittagessen? In aller Form und Anstand natürlich.«

Langsam wandte Pauline den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. In den Augen des Hauptmanns las sie den gleichen Schmerz, den sie auch selbst empfand bei dem Gedanken, sein Ansinnen ablehnen zu müssen. Dennoch tat sie es. »Sie wissen, dass es nicht möglich ist. Zudem …« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, doch Erich schien zu verstehen.

»Nun, vielleicht gibt es etwas anderes, mit dem ich Ihnen eine kleine Freude bereiten kann. Immerhin steht in Bälde Ihr Namenstag an, und da dachte ich …«

»Mein Namenstag?« Unwillkürlich zuckte Pauline zusammen. »Woher kennen Sie den denn? Als Protestant? Ich kann mich nicht erinnern, mit Ihnen darüber gesprochen zu haben.«

Erneut huschte ein Lächeln über sein Gesicht, verschmitzt und doch ein wenig traurig. »Es gibt eben Dinge, die ich einfach weiß. Oder wollen Sie etwa einem Offizier der preußischen Armee vorwerfen, nicht ausreichend informiert zu sein?«

Trotz der Fülle der Empfindungen, welche Pauline in diesem Moment überwältigten, konnte sie ein helles Auflachen nicht unterdrücken. »Non, non!«,antwortete sie rasch. »Dergleichen würde ich mir nie erlauben, mon capitaine.«

Wieder spürte sie, wie wohl ihr seine Anwesenheit tat, und auch wenn nie mehr zwischen ihnen sein durfte als eine vorsichtige Freundschaft, wollte Pauline bereits dafür dankbar sein.

Warm lag ihre Hand in der seinen, das weiche Leder seiner Handschuhe hatte etwas Tröstliches. Verstohlen schloss sie die Augen und genoss den Moment der Nähe.

»Mademoiselle! Mademoiselle!«

Rasch zog Pauline ihre Hand zurück und drehte sich um. Sah, wie ihre Schülerinnen nach und nach mit ihrem Eis in ihre Richtung geschlendert kamen.

»Vielen Dank für die großzügige Spende.« Brunhilde hatte sie als Erste erreicht, und ihre Zunge schien von der kalten Eiscreme ein wenig schwerfällig geworden zu sein. »Es schmeckt köstlich. Sie sollten es ebenfalls versuchen.«

»Das Geld hier ist noch übrig.« Mit ernster Miene ließ Marthe einige Münzen in Paulines Handfläche fallen, die diese rasch verstaute. »Nochmals besten Dank.«

»Grüß Sie Gott, Herr Hauptmann!«, ließ sich nun auch Berthe vernehmen. »Werden Sie uns bei der Kaffeetafel Gesellschaft leisten?«

»Nein, ich …« Der Angesprochene räusperte sich.

»Haben Sie schon von der neuen Schülerin gehört, die gleich eintreffen wird?«, fragte Brunhilde mit halb vollem Mund. »Für die hat Lisbeth extra den ganzen Morgen gebacken.«

»Aber sie hat sich ganz famos verspätet«, erklärte Ernestine, die schließlich ebenfalls zu dem kleinen Grüppchen gestoßen war. »Wir warten schon die ganze Zeit hier in der Hitze und verschrumpeln wie die Rosinen.«

Wirklich verschrumpelt sah das junge Mädchen, dessen erklärtes Ziel es war, einmal als Journalistin zu arbeiten, allerdings nicht aus.

Der unglückliche Gesichtsausdruck, mit welchem der gnadenlose Hauptmann auf die Redseligkeit der Backfische reagierte, ließ Pauline innerlich auflachen.

»Kein Anstand, die oberen Chargen«, murrte Barbara leise, deren flammend rotes Haar in der Sonne aufblitzte. »Unsereins könnte es sich gar nicht erlauben, unpünktlich zu sein.«

Mit einem wortlosen Nicken stimmte Marthe dieser These zu und hakte sich bei der Freundin unter.

Als hätte irgendjemand die unwilligen Klagen vernommen, war plötzlich von ferne das Brummen eines Motors zu hören, das typische Knattern und Rattern eines Automobils.

Ein Blick in die entsprechende Richtung zeigte Pauline, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Das musste die Neue sein, in Begleitung ihres Herrn Vaters, des Majors von Dannenberg.

»Mädchen!«, rief Pauline ihre Schützlinge zusammen, »eure neue Klassenkameradin scheint anzukommen. Stellt euch bitte in einer Reihe auf, um sie zu begrüßen.«

Warum muss sie ausgerechnet dann eintrudeln, wenn alle mit Eisschlecken beschäftigt sind, kam es Pauline in den Sinn. Kein sehr damenhafter Anblick.

Nun denn … Sie schob ihr Kinn vor. So wurde auch gleich deutlich, dass man sich hier auch um das leibliche Wohl der Mädchen kümmerte. Und überhaupt, es wäre ja nicht notwendig gewesen, sie alle so lange warten zu lassen. Gehörte Pünktlichkeit doch zu den großen Tugenden.

Sie wandte den Blick. Eine schwarze, auf Hochglanz polierte Limousine rollte in ihre Richtung.

»Ich empfehle mich dann besser, Mademoiselle.« Kaum merklich hatte von Pliesnitz Haltung angenommen, leises Bedauern stand auf seinem Gesicht. Pauline widerstand dem Drang, ihn zum Bleiben aufzufordern. Das hier war ihre Aufgabe.

Und so nickte sie nur und sah dem Hauptmann einen verstohlenen Moment nach, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Neuankömmlinge richtete.

Kapitel 2

Ein allgemeines »Ah« und »Oh« war die Reaktion auf den Anblick des prächtigen, im Schein der Nachmittagssonne schimmernden Fahrzeugs. Am Steuer saß ein Chauffeur in Livree und Schirmmütze. Erst auf den zweiten Blick erkannte Pauline hinter diesem einen vielleicht fünfzigjährigen Mann in der Uniform eines Majors sowie eine junge Dame, deren Gesicht jedoch hinter der breiten Krempe eines Strohhuts verborgen lag.

Mit der Hand gab Pauline dem Chauffeur ein Zeichen, hier anzuhalten. Noch einmal heulte der Motor auf, bevor das Fahrzeug direkt vor ihr und den Mädchen zum Stehen kam. Unangenehm brannten die Abgase in Paulines Augen und Nase, doch verkniff sie sich damenhaft ein Husten oder auch nur das Verziehen der Miene. Dienstbeflissen stieg der Chauffeur aus, entbot einen flüchtigen Gruß und beeilte sich dann, die hinteren Türen zu öffnen, wo erst der Herr Major und schließlich dessen Tochter ausstiegen. Mit einem Meter Abstand blieb der Offizier vor Pauline stehen, schlug die Hacken zusammen und salutierte.

Mit einem Neigen des Kopfes erwiderte Pauline diesen Gruß und streckte dem Mann ihre behandschuhten Finger entgegen, welche dieser ergriff.

Ein heller Schnurrbart durchzog ein befehlsgewohntes Gesicht, das bereits einige Falten und Kerben aufwies.

»Willkommen in Thionville, Herr Major«, sagte sie leise, und es entging ihr nicht, dass der andere beim Klang des französischen Namens der Stadt kurz die Stirn runzelte. »Ich hoffe, dass Sie eine gute Reise hatten. Bei dem strahlenden Wetter.«

»Ja, Mademoiselle, sehr angenehm. Darf ich Ihnen meine Tochter vorstellen: Ottilie von Dannenberg. Wir sind erfreut, dass es uns gelungen ist, so kurzfristig einen Platz in Ihrem gut beleumundeten Institut ergattert zu haben. Hauptmann von Kucharski spricht nur in den höchsten Tönen davon.«

Pauline lächelte. »Das freut mich zu hören, Herr Major. Ich bin sicher, dass Sie ebenfalls zufrieden sein werden. Und nun …« Sie wandte sich an das junge Mädchen, das noch immer schweigend vor ihr stand, in einem Kleid aus rosenholzfarbener Seide.

»Erlauben Sie mir, Ihr Fräulein Tochter zu begrüßen.« Sie machte einen Schritt auf das Mädchen zu, das sogleich formvollendet knickste.

»Ich freue mich sehr, Aufnahme in Ihrer Schule gefunden zu haben.« Die Stimme klang leise, und noch immer konnte Pauline keinen ungetrübten Blick auf das Gesicht erhaschen, da es den Kopf gesenkt hatte.

Nun, zum Kennenlernen war später noch Zeit.

Sie wandte sich wieder an den Offizier. »Ich nehme an, Herr Major, Sie erweisen uns die Ehre eines kurzen Besuches. Zur Feier der Ankunft Ihres Fräulein Tochter hat Lisbeth, unsere Köchin, einige Spezialitäten der Elsässer Kaffeetafel vorbereitet. Nach der langen Reise verspüren Sie beide sicher Hunger und das Bedürfnis, sich etwas zu erfrischen.«

Zu ihrem Erstaunen schüttelte der Mann jedoch den Kopf und zog eine Taschenuhr an einer langen Kette hervor, die er mit einer routinierten Bewegung aus dem Handgelenk aufschnappen ließ. »Bedaure zutiefst, Mademoiselle. Doch muss ich zurück zu meiner Garnison. Die Reise hierher hat bereits länger gedauert als gedacht, und sicher verstehen Sie, dass ich dort nur schwer abkömmlich bin.« Ehe Pauline die Gelegenheit hatte, etwas darauf zu erwidern, hatte er dem Chauffeur bereits ein Zeichen gegeben, das Gepäck auszuladen. Eine Order, welcher dieser sogleich nachkam.

»Alors«, meinte Pauline ein wenig überrumpelt. »Dann wollen wir uns alle zurück ins Haus begeben. Es ist nicht weit, nur ein paar Schritte in diese Richtung. Venez!«

*

Der junge Wehrpflichtige mit dem Veilchen auf dem rechten Auge, einigen Schrammen auf der Stirn und der aufgeplatzten Lippe wirkte angespannt, während Erich ihn mit durchdringendem Blick musterte. Feldwebel Junkes, der dicht hinter dem Jungen stand, trat noch einen Schritt näher. »Los, Mann, rede.«

Der Wehrpflichtige schluckte.

»Sich nachts auf den Gassen zu prügeln, noch dazu mit einem Angehörigen der bayerischen Armee, die, wie Sie wohl wissen, ebenfalls dem deutschen Kaiser unterstellt ist und somit unsere …«, Erich räusperte sich, »unsere Verbündeten sind, bringt Schande über das gesamte Regiment und die Anwesenheit der deutschen Truppen hier in Lothringen noch weiter in Misskredit.«

Der Kopf des Wehrpflichtigen, welcher bei der Strafpredigt des Hauptmanns langsam hinabgesunken war, flog ruckartig nach oben. »Aber genau das«, setzte er an, unterbrach sich jedoch sogleich wieder.

»Genau was, Musketier? Was wollten Sie mir sagen?« Erich war vor dem Delinquenten stehen geblieben, der unter seinem eisigen Blick zu schrumpfen schien. Er wusste um seinen Ruf als Hauptmann Gnadenlos und auch darum, dass man es aus eben diesem Grunde so gerne ihm überließ, aufmüpfige Soldaten zu disziplinieren.

»Also, warum haben Sie das getan, Musketier?«, hakte Erich nach, und der unglückliche Ausdruck im Gesicht des jungen Mannes verstärkte sich.

»Es war eine persönliche Angelegenheit, Herr Hauptmann.« Sein Blick wich dem seinen aus.

»Es gibt nichts Persönliches, solange Sie diese Uniform tragen, Soldat«, donnerte er. »Zu jeder Stunde des Tages sind Sie Diener seiner Majestät des Königs, repräsentieren seine Armee und haben sich dementsprechend zu benehmen. Also, was hat Sie dazu veranlasst, sich wie ein Gassenjunge in den Straßen Diedenhofens zu prügeln?«

»Nicht zu vergessen, anschließend zu versuchen, sich der Verhaftung zu entziehen«, setzte der Feldwebel hinzu.

Erich warf diesem ob seiner Unterbrechung einen strafenden Blick zu, und sogleich nahm der Mann Haltung an.

»Nun denn, was war es?«

»Dieser Bayer …«, begann der Wehrpflichtige stockend. »Er hat … Er hat die Ehre eines jungen Mädchens geschmäht.« Offensichtlich wagte er es nicht, Erich anzusehen, sondern starrte weiterhin auf einen unbestimmten Punkt zwischen seinen Füßen.

»Die Ehre also«, gab Erich zurück. »Aha. Und wie steht es um Ihre eigene Ehre, Soldat, welche Sie mit dieser Prügelei so schändlich im Staub der Straße zurückgelassen haben? Haben Sie daran vielleicht auch einmal eine Sekunde gedacht?«

»Aber der Mistkerl hat sie geschmäht!«, brach es nun aus dem Jungen hervor, die Wangen flammend rot, die Hände zu Fäusten geballt. »Er hat sie ein … ein liederliches Frauenzimmer genannt, weil sie doch aus Lothringen stammt, was früher mal zu Frankreich gehörte, und … dann hat er sie weiter beschimpft, er nannte sie eine Hu…«

»Das reicht, Soldat«, fuhr Erich dem anderen in die Parade. »Ersparen Sie mir die schmutzige Ausdrucksweise der unteren Ränge.«

Nicht, dass die Wortwahl in Offizierskreisen immer so viel besser war, ging es Erich durch den Kopf. Zumindest nicht nach einigen Gläsern Bier oder Wein.

»Das konnte ich doch nicht auf ihr sitzen lassen, oder?« Etwas Flehendes lag in der Stimme des jungen Soldaten. »Es geht doch nicht an, ein Mädchen derart zu titulieren, nur weil sie Lothringerin ist. Dabei ist Catherine eine ganz Nette, die nur … Wie hätte ich so eine Gemeinheit auf ihr sitzen lassen können?«

Ja, wie hätte er das?, hallte die Frage hinter Erichs Stirn wider, wo sich plötzlich ganz eigene Gedankengänge formten. Überlegungen, die keineswegs dazu angetan waren, die nötige Strenge zu wahren.

»Es hätte einen anderen Weg geben müssen, Soldat«, herrschte er den Wehrpflichtigen an. »Einen, bei dem Sie nicht die Ehre Ihrer Compagnie in den Schmutz ziehen mussten, nur um die Ihres Mädchens zu retten.«

Dieser machte einen Schritt auf ihn zu, den Hauch von Hoffnung im derangierten Gesicht. »Dann verstehen Sie mich, Herr Hauptmann! Sie wissen, dass ich nicht einfach …«

Ein Stoß zwischen die Schulterblätter ließ ihn verstummen. »Reden Sie nur, wenn Sie gefragt werden, Kerl«, knurrte Junkes. »Außerdem weiß der Hauptmann keineswegs, was sich in Ihrem wirren Kopf abspielt.«

Fest presste Erich die Kiefer zusammen, die flehentliche Miene des jungen Soldaten auf sich gerichtet, dann ließ er heftig Luft aus den Lungen entweichen.

»Eine Woche leichter Arrest«, sagte er schließlich und drehte sich ruckartig weg. »Das wird Ihnen Zeit zum Nachdenken geben und um Ihre Verletzungen abheilen zu lassen. Feldwebel«, meinte er dann an Junkes gewandt, »kümmern Sie sich darum, dass der Arzt einmal nach ihm sieht. Nicht, dass sich die Wunde entzündet.«

Die Augen schienen dem Feldwebel aus dem Kopf zu quellen, als er erst den Delinquenten, dann Erich anstarrte.

»Haben Sie mich nicht verstanden, Feldwebel? Eine Woche leichter Arrest. Sie können wegtreten!«

»Aber Herr Hauptmann«, wagte dieser aufzubegehren, »der Kerl hat doch …«

»Sie haben meine Order vernommen, Junkes«, unterbrach Erich ihn kühl, »führen Sie diese aus!«

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte der Feldwebel erneut protestieren, er besann sich dann aber des militärischen Gehorsams und nahm Haltung an. »Zu Befehl, Herr Hauptmann!« Und an den jungen Soldaten gerichtet: »Komm mit!«

Erich glaubte noch den Ausdruck der Erleichterung auf dessen Gesicht zu erkennen, als er mit gesenktem Kopf dem Feldwebel nach draußen folgte.

Mit einem leisen Knall schloss sich die Tür hinter ihnen.

Oh, oh, kam es Erich nicht ohne Belustigung in den Sinn. Was würde das mit seinem Ruf anstellen, wenn sich herumspräche, dass der gnadenlose Hauptmann plötzlich Anzeichen von Milde zeigte?

Mit gespreizten Fingern fuhr er sich durch das kurz geschnittene Haar und spürte ein irrationales Grinsen in sich aufsteigen.

Ganz offensichtlich hatten Frauen wirklich einen schlechten Einfluss auf das männliche Geschlecht. Lothringische Frauen ganz besonders, wie sich gerade wieder gezeigt hatte.

Immer noch lächelnd schloss Erich die vor ihm liegende Akte und griff nach seiner Mütze.

Er hatte noch eine ganz eigene Angelegenheit zu erledigen. Eine, die ihn in einen Blumenladen führen würde.

Ob man dort auch gelbe Rosen führte?

*

»So, das ist dein Bett. Das auf der linken Seite. Und hier in den Kleiderschrank kannst du deine Sachen einräumen.« Paulines Blick fiel auf die beiden großen Gepäckstücke der neuen Schülerin, welche prall gefüllt waren. »Was hier nicht mehr hineinpasst, kannst du zusammen mit den Koffern dem Hausmädchen übergeben. Die wird dann alles für dich auf dem Speicher einlagern, bis du es wieder benötigst.«

»Ja, Mademoiselle.« Ottilie, noch immer in ihrem dünnen Sommerkleid und Strohhut, nickte sogleich und erwiderte die Anweisung ihrer neuen Lehrerin mit einem unverbindlichen Lächeln.

»Deine Zimmernachbarin Brunhilde wird dir behilflich sein und alles Wichtige zeigen«, fuhr Pauline fort. »Aber auch die anderen Mädchen werden dir bei Bedarf sicher gerne ein wenig zur Hand gehen.«

»Ja, Mademoiselle.« Wieder dieses kurze Lächeln, gefolgt von einem kaum merklichen Senken des Kopfes.

»Die Schülerinnen bewohnen die Zimmer der zweiten Etage, in der Regel zwei Mädchen zusammen. Die anderen elf Pensionärinnen wirst du bald kennenlernen. Wobei, es sind derzeit zehn, Sophie Loos befindet sich gerade auf einer Familienfeierlichkeit im heimatlichen Luxemburg. Sie wird aber in den nächsten Tagen zurückerwartet. Und Gelsa von Kucharski kennst du ja bereits.«

Noch immer erwiderte Ottilie nichts. »Am Ende des Flures befindet sich die Salle d’Eau, der Waschraum, in dem es auch Waschbecken mit fließendem Wasser gibt sowie einige Wannen, um bei Bedarf ein Bad zu nehmen.«

Erneut nickte Ottilie, während Pauline fortfuhr: »Das Réfectoire, also den Speisesaal im ersten Stockwerk, habe ich dir ja gezeigt. Da werden wir alle, Schülerinnen und Lehrerinnen gemeinsam, die Mahlzeiten einnehmen. Um pünktliches Erscheinen wird gebeten.«

»Selbstverständlich, Mademoiselle«, kam es wieder als Antwort, und Pauline seufzte innerlich. Sehr gesprächig war die Neue offensichtlich nicht, doch sagte ihr ein unbestimmtes Gefühl, dass die Ursache dafür nicht in Schüchternheit lag.

»Jede Schülerin verfügt in ihrem Zimmer über einen kleinen Sekretär, um die Schulsachen darin zu verstauen und dort auch die Hausaufgaben zu erledigen. Wobei die meisten es vorziehen, dafür nach unten in die Bibliothek im Erdgeschoss zu gehen, die du ja ebenfalls schon gesehen hast.« Pauline suchte den Blick Ottilies, die jedoch ihre Ausführung lediglich mit einem weiteren Lächeln quittierte.

Schließlich wandte sie sich zur Tür um. »Brunhilde, Louise, Marthe, bitte helft eurer neuen Kameradin beim Auspacken. Und dann kommt herunter ins Réfectoire.«

Kapitel 3

Beim Anblick der Köstlichkeiten, welche die frühsommerliche Kaffeetafel schmückten, lief Pauline das Wasser im Mund zusammen. Und nachdem sie da draußen, in der Hitze der Place du Luxembourg, schon auf ihr Eis verzichtet hatte, fiel es ihr schwer, genügend Contenance zu wahren, um ihre Zungenspitze nicht genüsslich über die Lippen huschen zu lassen.

Denn außer ihrer Schwäche für die neueste Mode litt die ansonsten stets korrekte Directrice Pauline Martin nur noch an einer einzigen weiteren: der für raffinierte Süßspeisen und Gebäck. Und gerade davon hatte Lisbeth am heutigen Nachmittag mehr als üppig aufgetischt. Neben ihrer besonderen Spezialität, dem elsässischen Gugelhupf mit in Rum getränkten Rosinen, thronte da ihre Tarte aux Myrtilles, ein Heidelbeerkuchen, für welchen Lisbeth ihre eisernen Vorräte an eingeweckten Früchten dezimiert hatte. Ein ähnliches Opfer hatte die Köchin für die daneben stehende Mirabellentarte bringen müssen, welche goldgelb in der Mitte der Tafel prunkte. In einer silbernen Schale türmten sich safranfarbene Madeleines, welche Pauline ganz besonders schätzte. Und in einer gläsernen Schale wartete eine riesige Portion gezuckerter und aufgeschäumter Sahne darauf, gleich von hungrigen Mündern verschlungen zu werden.

Dennoch wartete Pauline, bis alle Schülerinnen und auch ihre Kollegin Eleonore Schmitt Platz genommen hatten, und erklärte dann die gemeinsame Mahlzeit für eröffnet.

Während die Mädchen sich bedienten, sich lachend und plappernd die Teller füllten, schenkte sie sich selbst zunächst aus einer bauchigen Kanne kräftig gerösteten schwarzen Kaffee ein, gab einen großzügigen Löffel Zucker dazu und rührte das Ganze mit cremiger Sahne auf.

Dann erst gestattete sich Pauline, mit einer filigran geschmiedeten Silberzange ein Madeleineküchlein aus der Schüssel zu nehmen und auf ihrem Teller zu platzieren.

Mit gespreizten Fingern hob sie die blau-weiße Tasse an, während sie den Blick über die Mädchen gleiten ließ.

Mit gerade durchgedrücktem Kreuz, aber gesenktem Blick saß Ottilie inmitten ihrer neuen Mitschülerinnen, auf ihrem Teller ein bisher unangerührtes Stück Mirabellentarte.

»Alors, Ottilie«, sagte Pauline freundlich an das Mädchen gewandt. »Ich hoffe, du hattest eine gute Reise.«

Die Angesprochene hob den Kopf, ihre blauen Augen waren von schweren, dunklen Wimpern umrandet, die ovalen Züge wirkten ebenmäßig, ein Madonnengesicht, das nichts an Gefühlen preisgab.

»Die hatte ich, Mademoiselle. Vielen Dank.« Ein kurzes Lächeln, dann senkte sie wieder den Kopf. Mit der Gabel brach sie sich ein Stück von der Tarte ab.

Pauline nickte. »Das freut mich zu hören. Wie bedauerlich, dass dein Vater gleich wieder abreisen musste. Ich hätte mich noch gerne mit ihm unterhalten.«

Wieder ein kurzes Aufblicken, gefolgt von einem ebenso raschen Heben der Schultern. »Mein Vater hat viel zu tun. Er ist ein Mann mit großer … Verantwortung.«

Täuschte sich Pauline, oder lag ein Anflug von Stolz in den Worten des Mädchens? Oder war es etwas ganz anderes, gut getarnter Spott?

»Nun, sicher wirst du hier rasch Freundinnen finden«, entgegnete Pauline. »Gelsa neben dir kennst du ja bereits aus Saverne, wo eure Väter gemeinsam Dienst tun. Und das Mädchen dir gegenüber«, mit einem Nicken deutete sie auf eine Rothaarige, deren Nasenpartie von leuchtenden Sommersprossen überzogen war, »ist Barbara Andre. Sie kommt aus dem nahe gelegenen Saarlouis in der preußischen Rheinprovinz und besucht das Pensionat erst seit Beginn dieses Schuljahres, hat sich aber schnell eingewöhnt. Dir wird es sicher ebenso gehen.«

»Natürlich, Mademoiselle.« Ottilie nickte.

»Dann sind da noch Louise aus Straßburg, Esther aus Sarreguemines, Ernestine, die ursprünglich aus Düsseldorf stammt, deren Familie nun aber in Forbach lebt.« Wie immer, wenn sie über ihre Schülerinnen sprach, empfand Pauline Stolz. »Ernestine und Marthe hier sind kleine Weltverbesserinnen. Marthe möchte Krankenschwester werden. Solltest du dich also einmal schlecht fühlen, kannst du bestimmt jederzeit zu ihr kommen.«

»Immer gerne.« Marthes scharf geschnittenes Gesicht mit den hohen Wangenknochen hellte sich auf. Wohlwollend lächelte Pauline dem Mädchen zu, das zwar stets offen und schonungslos sagte, was es dachte, sich aber auch dann einsetzte, wenn jemand Hilfe benötigte.

Sie wandte sich wieder an die Neue. »Sicher wird es nicht lange dauern, bis du alles und jede hier kennst.«

Ein weiteres Mal blickte Ottilie auf, einen unverbindlichen Ausdruck auf dem Gesicht. »Selbstverständlich, Mademoiselle.«

»Und bestimmt«, fuhr Pauline fort, »wirst du hier auch so einiges finden, was dir Freude bereitet. Wir haben an Vor- und Nachmittagen Unterricht. Nach den Hausaufgaben hat jede Schülerin Zeit, ihren eigenen Interessen nachzugehen. Unser Haus verfügt ja über einen eigenen Musiksaal und eine gut ausgestattete Bibliothek. Liest du gerne?«

Als würde sie mit der Antwort zögern, hielt Ottilie in ihrer Bewegung inne, die Spitze der Kuchengabel fest in eine Mirabelle gebohrt.

»Wenn du Bücher magst, kann ich dir gerne welche ausleihen. Ich habe ganz viele davon«, platzte Brunhilde heraus. »Und von der ›Gartenlaube‹ habe ich die neuesten Ausgaben. Darin stehen auch immer schöne …«

»Vielen Dank, dann weiß ich ja, an wen ich mich wenden kann.« Ottilies glatter Antwort war nicht anzuhören, ob es sich dabei um eine Zustimmung oder Ablehnung handelte. Ihre Miene wirkte unverändert, wie in Stein gegossen.

Welch seltsames Mädchen.

Obgleich sich Pauline üblicherweise einer guten Menschenkenntnis rühmte, wurde sie aus Ottilie nicht so recht schlau. War es Schüchternheit, welche sie so wortkarg daherkommen ließ? Oder im Gegenteil irgendwelche Standesdünkel, die es ihr nicht erlaubten, im Beisein Gleichaltriger aus sich herauszugehen?

»Katharine und Gudrun Eisele hier«, nahm Pauline die Vorstellung wieder auf, »sind auch erst seit diesem Schuljahr bei uns. Sie stammen aus Stuttgart, ihr Vater ist hier bei den Württembergischen Truppen stationiert und …«

»… sie haben ein Geschmäckle für gutes Essen«, beendete Louise den Satz, was Pauline mit einem rügenden Heraufziehen der Augenbrauen quittierte, abgemildert durch ein Lächeln.

»Ständig hängen sie in der Küche herum«, erklärte nun Brunhilde, deren etwas gedrungener Statur man ansah, dass sie selbst einer gehaltvollen Mahlzeit keineswegs abgeneigt war, »und lassen sich von der Köchin in die verschiedenen Rezepte einweihen.«

»Ich möchte später mal eine eigene Restauration eröffnen«, erklärte Katharine, die Ältere der beiden, würdevoll und nahm sich noch ein Stück vom Heidelbeerkuchen. »Da kann man nie früh genug anfangen zu lernen.«

Eine Einstellung, welche Pauline absolut unterstützte. Sie war sehr stolz auf ihre kleine Schar Schülerinnen, die so viele unterschiedliche Interessen, so viele unterschiedliche Talente aufwiesen und sich in ihrer Schule so prächtig entwickelten. Die Arbeit mit den heranwachsenden Mädchen, diese beim Lernen und Reifen zu begleiten, war Paulines tiefste Berufung, das, was ihrem Leben Sinn und Erfüllung gab. Auch wenn es zeitweise große Mühsal bedeutete, Rückschläge und Enttäuschungen nicht ausblieben. Und in Momenten wie diesen, wenn alle so friedlich zusammensaßen, in dem Pensionat, das ihre Patentante mit großer Hingabe aufgebaut hatte, sich miteinander unterhielten und zudem noch Lisbeths köstliches Backwerk kredenzt wurde, glaubte Pauline, beinahe Momente des vollkommenen Glücks zu erleben.

Aber nur beinahe.

Ein feiner Schmerz durchzog ihre Brust, als sie daran dachte, welchen Preis sie tagtäglich dafür zu zahlen hatte, für ihre Freiheit, für die Möglichkeit, das zu tun, was ihr alles auf der Welt bedeutete.

Das Gesicht und die kräftige Statur Erich von Pliesnitz’ stiegen vor ihrem inneren Auge auf, gefolgt von einem Hauch von Hitze, als sie an den Kuss dachte, zu dem es im vergangenen Jahr zwischen ihnen gekommen war. In einem unbedachten Moment, da sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle gehabt hatten. Ein Kuss, aus Angst und Verzweiflung geboren, und doch voller Aufrichtigkeit, Wärme und Trost.

Obgleich seither nie wieder etwas Derartiges vorgefallen war, wussten sie beide, dass dies nicht an mangelnder Zuneigung lag, sondern ihre Distanz nur Paulines Position als Institutsleiterin geschuldet war, die ihr nicht mehr erlaubte, gleichwohl sie beide danach verlangten.

Mit einem Schluck Kaffee spülte Pauline den bitteren Geschmack herunter, der sich bei diesen Gedanken in ihrem Mund gesammelt hatte.

Genau genommen war Erich von Pliesnitz bereits der zweite Mann, auf dessen Bindung und Nähe sie für ihren Beruf, ihre Berufung verzichten musste.

Als junges Mädchen, damals selbst noch Schülerin, hatte sie erstmals ernsthafte Gefühle für einen jungen Mann gehegt: für Roland Dulange, einen Bankierssohn aus Nancy und Freund der Familie. Mit diesem war sie einige Jahre zunächst befreundet und zuletzt verlobt gewesen, eine Bindung, die von beiden Eltern gefördert worden war. Bestand zwischen den Familien Martin und Dulange bereits seit zwei Generationen eine besonders enge geschäftliche Beziehung, die durch eine Ehe der beiden Sprösslinge hätte weiter vertieft werden können. War es doch von Vorteil, wenn sich eine Anwaltsfamilie aus dem von Deutschland annektierten Teil Lothringens mit einer Bankiersfamilie aus dem französisch gebliebenen Landesteil verband.

Pauline selbst konnte die romantischen Gefühle nicht leugnen, welche sie dem ausnehmend gut aussehenden, kultivierten und zuvorkommenden jungen Mann entgegenbrachte. Sehr gut hätte sie sich mit diesem eine gemeinsame Zukunft und eine gemeinsame Familie vorstellen können.

Wäre da nicht ihre Patentante Adèle gewesen, die Pauline nach dem Schulabschluss für einige Wochen zu sich nach Thionville einlud. Einige sehr schicksalhafte Wochen, in denen Pauline nicht nur das Institut ihrer Tante kennenlernte, sondern auch ihre eigene Bestimmung für ihr weiteres Leben fand: ihren Wunsch, zu unterrichten, jungen Mädchen Wissen und Bildung zu vermitteln, ihnen den Weg in eine eigenständige Zukunft zu öffnen.

Und obgleich es Pauline unendlich geschmerzt hatte, zwischen Roland und ihrer Berufung wählen zu müssen, so war dieser Schmerz dennoch erträglich gewesen und irgendwann fast vollständig verblasst.

Bei Erich von Pliesnitz hingegen … Bonté divine!

War es nicht einfach eine Schande für sie als französischsprachige Lothringerin, dass sie ausgerechnet einem preußischen Offizier, einem Vertreter all dessen, was sie aus tiefster Seele verachtete, mehr Gefühle entgegenbrachte als einem Landsmann, der ihr all das hätte bieten können, was sie – und ihre Familie – sich von jeher für sie erhofft hatten: eine gehobene gesellschaftliche Position, finanzielle Sicherheit und durch ihre Heirat mit ihm als Franzosen womöglich sogar die Befreiung davon, weiterhin Untertanin des deutschen Kaisers sein zu müssen.

Und dennoch … Erneut schob sich Erichs Bild dazwischen, Wärme stieg in ihr auf, und das Seufzen, welches Pauline mit einem Mal unterdrücken musste, hatte nur am Rande mit dem köstlich süßen Aroma des Madeleines zu tun, welches auf ihrer Zunge wie Butter zerging.

Erich …

»Haben Sie mich gehört? Mademoiselle …?«

Tief aus den Gedanken gerissen, schaute Pauline auf und musste sich eingestehen, dass sie den Faden des Tischgesprächs verloren hatte.

»Bitte entschuldige, Louise, was hast du gesagt?«, fragte sie daher an die Schülerin gerichtet.

»Ich sagte, dass Ottilie auch Klavier spielt. Da wollte ich fragen, ob wir nachher im Salon ein wenig gemeinsam musizieren dürfen?«

Louise liebte die Musik, sie war leidenschaftliche Pianistin und spielte das Instrument, das sich im Salon genannten Musiksaal der Beletage befand, wahrhaft meisterlich. Noch immer bedauerte sie den Fortgang der irischen Lehrerin Rhona O’Meally, welche diese Liebe mit ihr geteilt, das Talent der Schülerin gefördert hatte.

Wenn das gemeinsame Musizieren half, Ottilie die Eingewöhnung zu erleichtern, war das sicher förderlich.

»Bien sûr, meine Erlaubnis habt ihr«, sagte Pauline erfreut und sah, wie Louises Augen aufleuchteten.

»Merci, Mademoiselle.«

Pauline entging indes nicht, dass keine vergleichbare Freude in den Augen der Neuen erkennbar war. Mit undurchdringlicher Miene hatte diese gerade ihr Stück Kuchen verzehrt und schob den Teller ein wenig von sich.

»Wer fertig ist, darf gerne schon aufstehen«, erklärte Pauline. »Und Gelsa, Ottilie kennt dich ja schon länger, vielleicht möchtest du sie auch ein wenig begleiten. Du spielst die Querflöte sehr schön, sicher wärt ihr ein gutes Terzett und könntet uns zum Sonntag etwas vorspielen.«

Kam es Pauline nur so vor, oder verschloss sich das etwas herbe Gesicht der Angesprochenen? Schließlich nickte diese aber. »Natürlich, Mademoiselle. Ich hole gleich mein Instrument.«

Mit diesen Worten stand Gelsa auf und verließ den Raum, andere Mädchen folgten, bis Pauline mit Eleonore alleine zurückblieb. Trotz des stets etwas steifen, altjüngferlich wirkenden Aussehens der aus Hannover stammenden Kollegin war diese die Stütze ihres Unterrichts und auch bei den Mädchen sehr beliebt. Verfügte sie doch über einen erstaunlichen Sinn für Geografie und war tief im Herzen eine Abenteurerin, welche sich die entfernteste Ecke des Deutschen Kaiserreiches als Wirkungsstätte ausgesucht hatte, um ihren Horizont zu erweitern.

Dass die gute Eleonore mit ihren ewig dunklen Kleidern, der spitzen Nase und der schwarz umrandeten Brille auch noch über eine gute Menschenkenntnis verfügte, zeigte ihre Miene, welche die gleiche Verblüffung ausdrückte, die Pauline selbst empfand.

»Bilde ich es mir nur ein, Mademoiselle«, sprach sie schließlich aus, was Pauline dachte, »oder war die Stimmung, die diese Ottilie ausstrahlte, tatsächlich ein wenig frostig?«

»Mehr als nur ein wenig«, gab Pauline zurück, »und Gelsa, die sie kennt, scheint keineswegs erfreut darüber, diese Bekanntschaft zu vertiefen.«

Eleonore nickte. »Den Eindruck hatte ich auch.« Ihr Gesicht wirkte besorgt.

Pauline spürte, wie sich diese Besorgnis auf sie übertrug. »Peut-être que … Nun, womöglich ist Ottilie nur etwas schüchtern. Zumindest weist sie tadellose Manieren auf, so viel muss man ihr lassen.«

»Ganz zweifellos. Es ist nur …« Eleonore schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig. Nur so ein … ein Gefühl.«

Eines, das Pauline durchaus teilte. Sie erhob sich. »Camille kann hier abräumen. Ich habe noch einen Satz Klassenarbeiten zu korrigieren. Halten Sie ein Auge auf die Mädchen?«

Fräulein Schmitt bejahte und stand ebenfalls auf.

»Ach, noch etwas.« Pauline wandte sich in der Tür noch einmal um. »Dieser Dr. Marquardt, der sich auf meine Annonce hin gemeldet hat, ist für diese Woche angekündigt. Vielleicht haben wir diesmal Glück und bekommen bald einen neuen Kollegen.«

Denn obgleich Pauline sich als durchaus eigenständige Frau bezeichnete, konnte ihr Institut eine weitere Lehrkraft gut gebrauchen. Besonders für Mathematik und die Naturwissenschaften.

»Das wäre wunderbar«, bestätigte Eleonore. »Dann wollen wir das Beste hoffen.«

Gemeinsam verließen sie den Raum.

Kapitel 4

»Warte, du hast hier etwas!« Sanft hielt Vincent Lehmann Camille am Unterarm.

»Où … Wo?« Die Angesprochene blinzelte.

»Ici«, antwortete er lächelnd. »Hier.« Wie zur Bestätigung griff er vorsichtig an das Häubchen auf ihrem Kopf, in dessen weißer Spitze sich ein Blatt verfangen hatte, zog es heraus und hielt es ihr hin. »So unordentlich kannst du dich in dem vornehmen Haus nicht sehen lassen.«

»Non?« Ihre Augen wurden groß, und die Geste, mit der sie den Kopf ein klein wenig schief hielt, wirkte beinahe kokett.

»Non«, bestätigte er, »auf gar keinen Fall.«

»Aber dann, Monsieur«, gab sie in ihrem weichen Akzent zurück, »Sie auch nischt ins ’aus dürfen. Schmutzisch, wie Sie sind.«

Mit den Fingerspitzen wies sie auf einige Flecken auf Vincents Hemd, die Spuren seiner Arbeit. Hatte er doch die Stelle des Gärtners im Pensionat inne und verrichtete zudem Hausmeistertätigkeiten.

Sein Lächeln wuchs in die Breite, als er Camille den Korb abnahm und sich ihre Hände dabei einen kurzen Moment berührten. Jedes Mal aufs Neue freute er sich zu sehen, wie sehr Camille, die als Hausmädchen im Pensionat arbeitete, ein wenig mehr aus ihrem Schneckenhaus kam. Als er sie vor zwei Jahren kennengelernt hatte, war sie sehr ängstlich, geradezu verhuscht gewesen. Ein Verhalten, welches er fälschlicherweise zunächst auf sich bezogen hatte. Erst später hatte er erfahren, dass Camille Opfer eines gewaltsamen Übergriffs gewesen und von einem preußischen Soldaten geschändet worden war und seither eine durchaus nachvollziehbare Furcht vor Männern hegte.

Dass sie sich trotzdem ihm gegenüber öffnete, mehr noch, sogar hin und wieder seine Nähe suchte, beglückte ihn gleich doppelt.

Zum einen, weil Camille dabei war, das Trauma zu verarbeiten. Aber auch, weil er selbst die Momente der Vertrautheit und die Freundschaft der jungen Frau genoss, die noch immer etwas stockend Deutsch sprach, aber tadellos ihre Arbeit verrichtete und eine große Bereicherung für das Institut darstellte.

Wieder ein Lächeln, das zugleich keck und etwas schüchtern wirkte. Vincents Herzschlag beschleunigte sich, und ein seltsam ungewohntes Gefühl von Glück überkam ihn, gefolgt von dem tiefer Zufriedenheit.

Dazu hatte er auch allen Grund. Dankbar ließ Vincent seinen Blick über die gepflegte Anlage streifen, sein Reich, in dessen kleinem Gartenhäuschen er zudem logierte.

Hier war alles, was er benötigte, alles, was ihn erfüllte. Eine Arbeit, die er liebte, ein Dach über dem Kopf und mit Lisbeth Weber als Köchin im Haus wahrscheinlich auch das beste Essen weit und breit. Und was noch viel wichtiger war: Menschen, die ihn und seine Arbeit schätzten, die ihm seine nicht immer ganz saubere Vergangenheit keineswegs nachtrugen. Vertraute, Freunde, ja sogar … So recht konnte er es immer noch nicht fassen … Sogar Familie. Denn auch wenn er die Tatsache lange Zeit verborgen gehalten hatte, aus Angst, des Hauses verwiesen zu werden, so war er der Cousin zweiten Grades, also der Großcousin von Mademoiselle Pauline.

Eine solch glückliche Wende des Schicksals hätte er nie zu hoffen gewagt, als er vor annähernd zwei Jahren an die Tür des Pensionats geklopft hatte. Ein ehemals Verurteilter, der seine Zeit in der berüchtigten Arbeitereinheit auf dem Ehrenbreitstein in Koblenz abgedient hatte, einer Strafeinheit der preußischen Armee, in der man mit harter Hand versuchte, politische Aufwiegler, Unruhestifter und Delinquenten unter den Soldaten zur Räson zu bringen. Obgleich Vincent zwischenzeitlich von allen damaligen Anklagepunkten freigesprochen und gesellschaftlich rehabilitiert worden war, konnte er die Erinnerungen an jene Zeit noch immer nicht ganz abschütteln.

Wenn auch Tag für Tag ein bisschen mehr. Woran auch Pauline ihren nicht unbeträchtlichen Anteil hatte, und Camille. Wieder lächelte Vincent.

Die junge Frau hatte ihren Korb mit frischem Schnittlauch gefüllt, der seinen würzigen Duft verbreitete. Auch das war eine von Vincents Neuerungen, auf die er nicht unbeträchtlichen Stolz empfand: das kleine Kräuterbeet, welches er im vergangenen Sommer angelegt hatte und das die Küche des Hauses seither mit frischen Gewürzen versorgte.

Camille erhob sich, und rasch nahm Vincent ihr den Korb ab. Gemeinsam gingen sie zur Küche, wo Lisbeth gerade damit beschäftigt war, die Karotten fürs Mittagessen klein zu schneiden.

Wohlwollend blickte sie zu ihnen herüber. »Ah, die beiden Turteltauben. Und mich alte Frau lasst ihr all die Arbeit alleine machen und auch noch auf die Kräuter warten.« Spielerisch drohte sie mit dem Küchenmesser, was Vincent ein Grinsen, Camille jedoch einen Hauch von Röte entlockte, der ihr außerordentlich gut zu Gesicht stand.

»Nous voilà«, beeilte diese sich zu sagen, »wir sind da«, und lief zum Spülstein, um den Schnittlauch von Erdresten zu reinigen.

Um seinerseits dem Vorwurf des Müßiggangs zu entgehen, legte Vincent rasch ein wenig Holz in dem schweren gusseisernen Ofen nach und schnupperte, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

In der Tat hatte er es gut getroffen.

»Du scheinst ja höchst genüssliche Gedanken zu hegen«, bemerkte die ältere Frau, während sie den letzten Karotten zu Leibe rückte und die Schalen im Eimer für Küchenabfälle entsorgte. »Older Schlowiner.«

Lachend zog er Lisbeth zu sich heran, ignorierte ihren leisen Protest und drückte ihre füllige Gestalt an sich. »Ich dachte nur darüber nach, wie glücklich ich mich schätzen kann, zwei so wundervolle Frauen an meiner Seite zu haben. Bin ein privilegierter Mann.«

Ein spielerischer Klaps traf ihn hinterm Ohr. »Charmeur, du.« Dennoch lachte die Elsässerin. »Ein altes Weib wie ich. Kümmere dich lieber um Camille, die könnte etwas Hilfe gebrauchen.«

Vincents Blick ging zu dem Hausmädchen, dann wieder zurück zu der Köchin. Er lächelte schief. »Ich seh schon, bei dir hat ein Mann wie ich leider nicht die geringsten Chancen. Wie konnte ich auch etwas anderes erwarten? Wo ich doch mal preußische Uniform trug.«

Erneut schnaubte Lisbeth auf. »Preuße? Papperlapapp. Seit wann ist ein Rheinländer denn ein Preuße?« Trotz des scherzenden Tonfalls klangen die letzten Silben aus ihrem Mund wie ein Schimpfwort.

»Seit etwa hundert Jahren«, gab Vincent trocken zurück.

Was Lisbeth ein Knurren entlockte. »Pah!« Sie schüttelte den Kopf. »Außerdem ist deine Großmutter doch Lothringerin. Und diese Seite ist stärker in dir.«

»Meinst du?« Erst im vergangenen Jahr hatte Vincent den Mut gefasst, Pauline und den anderen im Haus seine wahre Herkunft zu offenbaren. Dass seine Großmutter ebenfalls aus Metz stammte, nach dem verheerenden Krieg 1870/71 ihre Heimat jedoch mit einem preußischen Soldaten verlassen hatte. Mehr noch, dass diese Großmutter niemand andere als Paulines von der Familie geächtete Großtante Mathilde war, was sie beide, Vincent und Pauline, zu nahen Verwandten machte. Zu seiner großen Erleichterung hatte diese unverhoffte Enthüllung Pauline jedoch keineswegs schockiert, sondern im Gegenteil ihre Bindung noch weiter vertieft.

»Da bin ich ja beruhigt«, gab Vincent zurück, während seine Hand für einen kurzen Moment in die von Camille glitt. »Und ich habe schon befürchtet, für deinen Geschmack tummele sich zu viel preußisches Militär hier im Haus.«

Einen Moment lang sah Lisbeth ihn nur schweigend an, dann fuhr sie mit ihrer Arbeit fort und warf die klein geschnittenen Karottenstücke in die kochende Brühe.

»Womöglich«, sagte sie schließlich nach einer langen Pause, »gibt es nicht nur Schlechte unter ihnen.« Auch wenn sie den Namen nicht aussprach, war es klar, dass sie Erich von Pliesnitz meinte.

Überrascht sah er zu der älteren Frau auf. Wusste er doch, dass sie als junges Mädchen die grausamen Kämpfe in und um ihre Heimatstadt, dem elsässischen Woerth, miterlebt hatte. Weshalb sie auf die Preußen im Allgemeinen und das preußische Militär im Speziellen äußerst schlecht zu sprechen war.

Wenn sie ihre diesbezügliche Meinung nun revidierte, und sei es nur in diesem einen ganz speziellen Fall …

Vincent konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Es geschehen noch Zeichen und Wunder! Wenn Lisbeth Weber ihren Groll gegen den preußischen Kommiss verliert, muss Paulines Hauptmann wirklich ein ganz besonderer Mensch sein.«

Es zischte laut, als Lisbeth eine Handvoll Zwiebelstücke in die mit heißem Fett gefüllte Pfanne legte.

Eine Antwort indes erhielt Vincent nicht.

*

Die französische Aussprache der Neuen klang erbärmlich. Zwar hatte man Pauline vorab versichert, Ottilie habe bereits zuvor eine höhere Mädchenschule besucht, wo auch Französischunterricht auf dem Stundenplan stand, doch war davon nur wenig zu bemerken. Ihr Akzent wirkte so hart wie zwei Steine, die gegeneinandergerieben wurden, und stand im herben Kontrast zu ihren beinahe perfekt zu nennenden, wenn auch ausdruckslosen Gesichtszügen.

»Alors«, wiederholte Pauline, geduldig ein Aufseufzen unterdrückend. »Parle un peu de ta famille.« Erzähle von deiner Familie.

Ottilie, die links neben der Bank stand, straffte die Gestalt. »Mein Vater … also, mon père … ähm … Il est officier prussien. Er ist … il est … ein Major … major.«

Pauline nickte aufmunternd, erfreut darüber, einen halbwegs fehlerfreien und sogar verständlichen Satz zu vernehmen.

»Très bien. Et ta mère?«

»Meine Mutter?«, gab Ottilie überrascht zurück. »Ähm, also … sie … Elle ne fait rien.« Sie macht nichts.

Mit Mühe unterdrückte Pauline ein Stirnrunzeln. Schätzte sie es doch nicht sonderlich, wenn man die Aufgaben und Verpflichtungen einer Hausfrau und Familienmutter als Nichtstun bezeichnete.

Allerdings kannte sie die Frau Major von Dannenberg nicht und konnte daher nicht mit Sicherheit sagen, ob es in ihrem Fall vielleicht sogar stimmte.

Daher enthielt sich Pauline eines Kommentars und fragte stattdessen: »Et toi, qu’est-ce que tu veux faire dans ta vie?« Was möchtest du in deinem Leben machen?

Ein irritierter Gesichtsausdruck war die Antwort. Offensichtlich hatte sie die Frage nicht verstanden.

Pauline trat einen Schritt näher, wies mit der nach oben geöffneten Handfläche auf die Schülerin. »Toi. Qu’est ce que tu veux faire? Après l’école …«

»Sie fragt, was du später einmal machen willst, wenn du mit der Schule fertig bist«, übersetzte Louise, welche in der Bank hinter Ottilie saß, rasch. Pauline ließ sie gewähren.

Ottilies Miene veränderte sich, nachdenkliche Fältchen gruben sich in ihre makellose Stirn. Sie wirkte etwas ratlos, als habe sie sich über diese Frage bisher noch gar keine Gedanken gemacht.

Bien, dann war es an der Zeit, dass sich genau das änderte, dachte Pauline. Es war wichtig, ein Ziel im Leben zu haben und mit allen Kräften darauf hinzuarbeiten. Aufmunternd nickte sie der Schülerin zu. »Alors …«

Schließlich lächelte diese gewinnend. »Je ne sais pas«, begann sie zögerlich, fuhr dann aber auf Deutsch fort: »Ich weiß noch nicht, was ich später einmal machen werde. Doch ich bin sicher, dass meine Eltern die richtige Entscheidung für mich treffen werden. Und dann werde ich …«

Ein kurzer Blick durchs Fenster ließ Pauline innehalten: Mit strammen Schritten marschierte eine Gestalt in dunkler Polizeiuniform die Straße entlang, welche sie nur äußerst ungern zu Gesicht bekam. Die Miene so missmutig, dass man freiwillig die Straßenseite wechselte. Und wie es aussah, steuerte besagte Gestalt geradewegs auf die Tür ihres Hauses zu.

»Entschuldigt mich einen Moment, bitte!«, meinte Pauline rasch und erntete einige erstaunte Blicke ihrer Schülerinnen. Dessen ungeachtet eilte sie zur Tür des Klassenzimmers hinaus, durch den schmalen Flur und die Diele und erreichte die Haustür just in dem Moment, als die Klingel läutete.

Wenn der Uniformierte über diese unerwartet schnelle Reaktion überrascht sein sollte, so zeigte er es nicht, stattdessen reckte er das Kinn und schien sich bemüßigt zu fühlen, noch ein wenig finsterer dreinzuschauen.

»Guten Morgen, Wachtmeister Schrotherr.« Es kostete Pau