Tod auf Föhr - Cornelia Härtl - E-Book
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Tod auf Föhr E-Book

Cornelia Härtl

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Beschreibung

Mit der Flut kommt der Tod …
Der Nordsee-Krimi für fesselnde Lesestunden

Nach einem beruflichen Tiefschlag kehrt Kari Lürsen in ihre Heimat Föhr zurück, um in der Kate ihres verstorbenen Großvaters Ruhe zu finden. Doch kaum auf der Nordseeinsel angekommen, wird sie mit dem Selbstmord ihrer ehemaligen Schulfreundin Wiebke konfrontiert. Kari kann sich auf den plötzlichen Suizid ihrer Freundin keinen Reim machen. Auch der Abschiedsbrief, den Wiebke hinterlassen hat, kommt ihr komisch vor. Wieso hätte ihre Freundin sich umbringen sollen? Um Licht ins Dunkel zu bringen, stellt Kari eigene Nachforschungen an, was sie in die tiefsten Geheimnisse und Abgründe der Inselbewohner blicken lässt …

Erste Leser:innenstimmen
„Packend erzählter Kriminalroman mit durchaus überraschenden Wendungen.“
„Mich konnten vor allem die dichte Atmosphäre und die clevere Ermittlerarbeit überzeugen!“
„düster, mysteriös und höchstspannend“
„Ich liebe sowohl Insel- und Küstenkrimis als auch den Schreibstil von Cornelia Härtl – daher ein Must Read!“

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Seitenzahl: 366

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Über dieses E-Book

Nach einem beruflichen Tiefschlag kehrt Kari Lürsen in ihre Heimat Föhr zurück, um in der Kate ihres verstorbenen Großvaters Ruhe zu finden. Doch kaum auf der Nordseeinsel angekommen, wird sie mit dem Selbstmord ihrer ehemaligen Schulfreundin Wiebke konfrontiert. Kari kann sich auf den plötzlichen Suizid ihrer Freundin keinen Reim machen. Auch der Abschiedsbrief, den Wiebke hinterlassen hat, kommt ihr komisch vor. Wieso hätte ihre Freundin sich umbringen sollen? Um Licht ins Dunkel zu bringen, stellt Kari eigene Nachforschungen an, was sie in die tiefsten Geheimnisse und Abgründe der Inselbewohner blicken lässt …

Impressum

Erstausgabe Februar 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-067-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-079-0 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-069-1

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © Nordreisender, © BlickReflex.de shutterstock.com: © gyn9037, © Jiri Vatka, © Viesturs Jugs, © djgis, © Konstanttin Lektorat: Mona Dertinger

E-Book-Version 24.11.2023, 12:30:56.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Tod auf Föhr

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Tod auf Föhr
Cornelia Härtl
ISBN: 978-3-98778-069-1

Mit der Flut kommt der Tod …Der Nordsee-Krimi für fesselnde Hörstunden

Das Hörbuch wird gesprochen von Anja Kalischke-Bäuerle.
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Kapitel 1

Sonntag, 13. Februar

Kari Lürsen stand am Fenster einer Wohnung direkt oberhalb der Strandpromenade von Wyk und starrte auf das dunkle, aufgewühlte Meer hinaus. Am grauschwarzen Himmel zuckten Blitze, ein Donnerschlag folgte gleich darauf.

Das Wetter passte genau zu ihrer düsteren Stimmung.

Hinter ihr öffnete sich eine Tür, Porzellan klapperte. Sie drehte sich um und betrachtete die kleine, schmale Frau, die ein Tablett mit einem blau-weiß gemusterten Teeservice hereintrug. Erfreulicherweise hatte sie eine Flasche Rum dazu gestellt.

»Du magst wirklich nichts essen?«, fragte sie.

Kari schüttelte stumm den Kopf. Sie setzte sich in Bewegung, um Frau Jaspers zu helfen, das Tablett auf dem niedrigen Couchtisch abzustellen. Das Wohnzimmer, in dem sie sich befanden, war ein bisschen überladen und wirkte wie aus den 1970er-Jahren. Dabei war alles blitzblank, sauber und aufgeräumt. Der Duft des kräftigen Tees mischte sich in den der Möbelpolitur. Kari konnte sich an diesen Geruch aus ihrer Teenagerzeit erinnern. Wann immer sie ihre Schulfreundin Wiebke besucht hatte, hing er in deren elterlichem Wohnzimmer. Nun war Wiebke nicht mehr da und der Gedanke daran, was mit ihr geschehen war, zog Karis Herz zusammen. Sie ließ sich in einen der schweren Sessel fallen. »Wann ist es denn passiert?«, fragte sie leise.

»Vor zehn Tagen wurde sie morgens am Strand gefunden«, antwortete Wiebkes Mutter mit halb erstickter Stimme und fuhr sich mit dem Finger unter den vom Weinen geröteten Augen entlang, um eine Träne wegzuwischen.

Vor zehn Tagen. Da hatte Kari ihrem Vorgesetzten gegenübergesessen. Worte wie »unprofessionell«, »Gefahr für deine Kolleginnen und Kollegen« und »beispiellose Verantwortungslosigkeit« waren gefallen. Kari hatte sich das alles stumm angehört. Es war ihr unmöglich erschienen, sich zu äußern, geschweige denn zu verteidigen. »Es tut mir leid, Jo«, war das Einzige gewesen, das sie herausgebracht hatte. Ein derartig verpatzter Einsatz, das hatte es in ihrer Abteilung bisher nie gegeben.

»Du bist beurlaubt. Ich muss sehen, wie es weitergeht«, hatte Jo Weinheimer am Ende gesagt, bevor er Karis Dienstwaffe und ihren Dienstausweis kassiert hatte.

»Bleib erreichbar. Aber rechne nicht damit, dass es schnell geht.«

Das hieß, dass er versuchen würde, sie herauszuboxen. Ob es ihm gelingen würde, stand in den Sternen.

»Du bist doch bei der Polizei.« Frau Jaspers’ Stimme holte sie aus ihren Gedanken. Wiebkes Mutter rutschte unruhig auf ihrem Sessel herum.

»Ja«, antwortete Kari. Polizei verstand jeder. So lautete seit Jahren ihre Standardantwort, wenn sie nach ihrem Beruf gefragt wurde. In Wahrheit war sie beim BKA. Abteilung OE, zuständig für Zielfahndung und Zeugenschutz. Aber das sagte sie Frau Jaspers nicht. Stattdessen murmelte sie die übliche Lüge von der Verwaltung, in der sie angeblich arbeitete.

»Aber du verstehst doch etwas von solchen Sachen«, bohrte Wiebkes Mutter nach. Die Verzweiflung in ihren Augen traf Karis Herz ungefiltert. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend hier schon gesessen, den selbst gebackenen Butterkuchen gegessen und sich, zusammen mit Wiebke heimlich kichernd, die Schwärmereien der Älteren für seichte Schlager angehört? Wie oft hatte sie mit ihrer Schulfreundin und ihren Eltern spätnachmittags eine Runde Rommé gespielt, als Belohnung für die zuvor erledigten Hausaufgaben? Stets hatte Frau Jaspers dabei auf leise Art fröhlich gewirkt. Unerschütterlich in ihrem Mutterdasein. Manchmal hatte sich Kari im Stillen eine solch warmherzige Mutter gewünscht. Eine, die immer da war für ihre Tochter. Heute war ihr Gegenüber entsetzlich traurig, ja, sie schien sogar geschrumpft. Aber das war kein Wunder, wenn das einzige und innig geliebte Kind gestorben war.

»Was meinen Sie denn?«, kam Kari auf die Frage zurück. Sie rührte Zucker in ihren Tee und griff nach der Rumflasche. Sie trank für gewöhnlich wenig Alkohol, aber in den letzten Tagen waren einige der bisherigen Regeln ihres Lebens außer Kraft gesetzt worden.

»Ich …, wir sind so verzweifelt. Warum hat sie nie etwas gesagt? Ich dachte, sie wäre glücklich. Und dann, aus heiterem Himmel …« Ein Schluchzen unterbrach die Worte der Älteren. Sie beugte sich vornüber, die Arme um den Leib geschlungen als litte sie starke Schmerzen. Kari sah, wie zwei Tränen zu Boden fielen.

Sie erhob sich, kauerte sich neben Frau Jaspers und ergriff deren Hand. Die Haut war viel zu dünn, fühlte sich an wie Pergament. Wie alt war Wiebkes Mutter inzwischen? Schon Anfang siebzig. Die Jaspers hatten die Hoffnung auf ein Kind bereits aufgegeben gehabt, da hatte sich Wiebke angekündigt. Für das Ehepaar war die Geburt ihrer Tochter wie ein Wunder gewesen. Jetzt war Wiebke tot, sie war nur 32 Jahre alt geworden. Was für ein Schock für die Eltern. Die Freunde. Alle, die sie kannten.

»Und dass sie jetzt noch aufgeschnitten wird! Muss das denn sein?«

Ja, das musste sein. »Um jedwede Form von Fremdeinwirkung ausschließen zu können. Auch, um zu sehen, ob Wiebke vor ihrem Tod vielleicht etwas zu sich genommen hat«, erklärte Kari geduldig.

Frau Jaspers schien nicht zu verstehen, was sie damit sagen wollte.

»Alkohol. Beruhigungsmittel.« Drogen, aber das sagte sie nicht. »Eben alles, was ihr Urteilsvermögen hätte trüben können.« Sie ging nicht weiter auf das Thema ein. Das Fernsehen zeigte genügend ausufernde Szenen, die in der Pathologie spielten. So wenig vieles davon mit der Realität zu tun haben mochte, die Tatsache, dass man Tote bisweilen nicht nur von außen, sondern auch von innen anschaute, war tief in den Köpfen der Leute verankert. Genauso der charakteristische Y-Schnitt, der ja lediglich ein Teil des ganzen Prozedere war.

»Ob Carl etwas weiß?« Frau Jaspers hob plötzlich den Kopf. »Die beiden hatten doch Kontakt, oder?«

Karis älterer Bruder Carl lebte schon lange nicht mehr auf der Insel. Er und Wiebke waren als Teenager einige Jahre ein Paar gewesen. Eine enge, herzliche Beziehung, aber für beide nicht die wirklich ganz große Liebe.

»Ich weiß es nicht«, musste Kari gestehen. Der Kontakt zu Carl war seit einigen Jahren eher lose. Sie hatte sich auf ihren Beruf konzentriert. Sich mit Leib und Seele engagiert. Bis … ja, bis ihr dieser schreckliche Fehler unterlaufen war. Sie schob die Gedanken daran weg.

»Ich kann Carl fragen«, sagte sie und erhob sich. Aber was sollte ein Jugendfreund denn wissen darüber, warum sich jemand viele Jahre nach der Trennung das Leben nahm?

»Gibt es gar keine Hinweise?«, fragte sie, fast schon verzweifelt.

Frau Jaspers schniefte und zog ein bereits ziemlich malträtiertes Taschentuch aus ihrer Jackentasche, um sich die Nase zu putzen. »Sie hat diesen Abschiedsbrief verfasst. Dass sie vom Leben einfach genug hat. Sich viele Träume nicht erfüllt hätten. Und sie es darum hinter sich lassen möchte.« Ein Donnerschlag unterbrach sie, der Regen prasselte immer heftiger und ein starker Wind rüttelte an den Fenstern. »Sie wolle ins Licht gehen, hat sie geschrieben, um dort ihren Frieden zu finden.«

Kari fuhr sich mit dem Finger über die Stirn. So traurig das alles war, Wiebke hatte sich entschieden und was auch immer Frau Jaspers sich von ihr, Kari, erhoffte, es gab nichts, was sie tun könnte. Ihre Schulfreundin hatte sich das Leben genommen und nur sie alleine schien zu wissen, warum.

Kapitel 2

Montag, 14. Februar

Es hatte die ganze Nacht über geregnet und gestürmt. Die alten Fenster in der Kate hatten leise geklirrt und Kari fühlte sich am nächsten Morgen schrecklich ausgelaugt und unausgeschlafen. Herr Jaspers, der sich an dem Gespräch zwischen ihr und seiner Frau in keiner Weise beteiligt und sich den ganzen Abend über nicht hatte blicken lassen, hatte sie am Vorabend mit seinem Wagen nach Hause gefahren. Die Strecke zwischen Wyk und Utersum bei Dunkelheit, Wind und Wetter mit dem Rad zurückzulegen, wäre so gut wie unmöglich gewesen. Er hatte dabei kein einziges Wort gesprochen. Jetzt war der Himmel zwar wolkenverhangen, doch kam kein Wasser mehr von oben und der Wind hielt sich in Grenzen. Als Kari aus dem Haus trat, fuhr ihr dennoch die Kälte unter ihre Joggingkleidung. Langsam trabte sie los, lief aus dem Dorf hinaus in Richtung Meer, am kleinen Kurmittelhaus vorbei hinauf auf den Deich und dort weiter gen Hedehusum. Mehrfach wurde sie von anderen, die sportlich oder bei einem Spaziergang unterwegs waren, mit einem freundlichen »Moin«, gegrüßt. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, dass man diesen Gruß von morgens bis abends hörte. Es herrschte Ebbe, einige Wanderer und Muschelsucher waren im Watt zugange, aber schon in ein paar Stunden würde die Flut einsetzen, schneller, als viele, die nicht wie sie am Meer aufgewachsen waren, vermuteten. Die Nordsee war tückisch. Besonders die Priele füllten sich mit ungeahnter Geschwindigkeit und das schlickige Watt, das kalte Wasser und beizeiten sogar heimtückische Strudel und heftige Strömungen waren gefährlich. Niemand von den derzeit am Strand Anwesenden schien sich zu weit hinausgewagt zu haben. Eine Mutter stand neben ihren zwei Kindern, die vermutlich Wurmlöcher bestaunten oder einen Einsiedlerkrebs entdeckt hatten. Ein weiblicher Teenager lief mit gesenktem Kopf am Wasser entlang, als suche sie nach Muscheln oder Bernstein. Ein Mann stand am Strand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und sah mit großer Ruhe zum Horizont. Neben ihm saß sein Hund, ein dunkelbraun-weiß gescheckter Deutsch Drahthaar, der unbeweglich in dieselbe Richtung wie sein Herrchen blickte. Bilder des Friedens und der Gelassenheit, von der viele Norddeutsche ausreichend zu besitzen schienen. Nach einer halben Stunde kehrte Kari um. Zu Hause angekommen duschte sie, danach brühte sie sich einen starken schwarzen Tee und toastete sich zwei Brotscheiben, die sie mit Käse belegte. Sie war am Vortag nach Föhr gekommen und hatte am Bahnhof in Niebüll vor der Weiterfahrt nach Dagebüll, wo die Fähre ablegte, rasch ein paar Sachen gekauft. Die Kate ihres Großvaters väterlicherseits, ein weiß gekalktes, reetgedecktes Friesenhaus mit dunkelblauer Tür und ebensolchen Schlagläden, stand bereits eine Weile leer. Eine Nachbarin sah nach dem Rechten, machte offensichtlich hin und wieder dort sauber. Bei Karis Ankunft jedenfalls hatte es keinerlei unangenehme Überraschungen gegeben, kaum Staub, Fenster und Dach dicht und alles hatte an seinem Platz gelegen. Das war allerdings auch nicht schwierig, denn das ebenerdige Haus war nicht groß und dadurch recht übersichtlich. Vom kurzen Flur gelangte man direkt in einen offenen, gemütlichen Bereich mit Küche und Esszimmer. Von dort führte ein Durchgang zum Wohnraum, in dem in der kalten Jahreszeit stets ein Kaminfeuer brannte. Im hinteren Teil der Kate gab es zwei Schlafräume, einer davon war in den vergangenen Jahren nur sporadisch von zu Besuch weilenden Familienmitgliedern bewohnt gewesen. Das Badezimmer war winzig, mit Waschbecken und Dusche ausgestattet, das WC daneben separat. Die Kate war umgeben von einem weitläufigen Garten. Ein kurz geschorener Rasen, darauf verstreut einige alte Apfel- und Quittenbäume. Im hinteren linken Teil des Grundstücks stand eine Garage zu der ein, inzwischen reichlich eingewachsener, Grasweg führte. Daneben hatte Hein Lürsen irgendwann einen geräumigen Holzschuppen angebaut, der ihrem Fahrrad als Unterstand diente. Auch das hatte sie, wie die Kate, von ihrem Großvater geerbt. Die Garage war verschlossen. Von ihrer Mutter wusste sie, dass Hein sie verpachtet hatte. Weder Trine noch eines ihrer Kinder hatten die Notwendigkeit gesehen, an diesem Arrangement etwas zu ändern. Der Tod hatte den alten Seefahrer schnell und unspektakulär vor über einem Jahr geholt. Er war im Schlaf gestorben, so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Seither war Kari nur einmal hier gewesen, bei der Seebestattung und der anschließenden Zusammenkunft im Seemannskrug, einer Gastwirtschaft, die es nicht mehr gab. Danach war viel geschehen. Denn Karis Mutter, eine gebürtige Dänin, hatte das Haus am Triibergem, in dem Kari und Carl aufgewachsen waren und das ihr Mann, Karis Vater, ihr alleine vermacht hatte, verkauft. Ohne mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Kari spürte, wie sich ein bitterer Zug um ihren Mund legte. Obwohl sie Trine zum Teil verstehen konnte. Alle Familienmitglieder waren gestorben oder weggezogen. Warum hätte ausgerechnet sie bleiben sollen? Jetzt war Heins Haus alles, was Kari auf der Insel noch an Heimat hatte. Nun hatte sie darüber hinaus endlich auch die Zeit, sich in Ruhe darum zu kümmern. Von ihrer Mutter wusste sie, wo sie die Unterlagen fand, die sie benötigte. Hein hatte einen Zettel mit den Kontaktdaten aller für ihn wichtigen Personen in einer Schublade in der Küche liegen. Die klemmte ein wenig, und Kari musste daran ruckeln, bevor sie den Plastikordner mit dem linierten Din-A4-Bogen Papier darin herausziehen konnte. In Heins steiler und akkurater Schrift waren die Namen und Adressen von drei Personen notiert. An erster Stelle stand die direkte Nachbarin, Jette Beckum, die die Schlüssel für Heins Kate besaß und sich auch um das Grab von Karis Vater auf dem Friedhof St. Laurentii kümmerte. Kari hatte nicht vor, an dem Arrangement etwas zu ändern. Sie kannte die Frau, die schon ihr ganzes Leben nebenan wohnte. Da sie selbst nicht wusste, wie kurz oder lang ihr Aufenthalt hier sein mochte, würde sie sie lediglich über ihre Anwesenheit informieren. Der zweite Name gehörte einem alten Freund von Hein, einem Notar, der auch die Erbangelegenheiten geregelt hatte. Den konnte sie von der Liste streichen. Bent Sörensen wurde an dritter Stelle genannt. Das war also der Garagenpächter. Ihn kannte Kari nicht und sie wunderte sich über die Anschrift. War das nicht das Lokal Zur blauen Möwe, eine Kneipe, an der sie am Vortag vorbeigekommen war? Lange konnten er und Hein Lürsen sich nicht gekannt haben. Hein hatte in den letzten Lebensjahren kein Auto mehr besessen. Der Mietvertrag war ein Jahr vor seinem Tod abgeschlossen worden. Aber wieso mietete ein Mann, der, für die Verhältnisse am Ort, eine ganze Ecke weiter weg wohnte, hier eine Garage? Karis Neugier war geweckt. Am Schlüsselbrett hing ein Schlüssel für die Garage. Als sie sie öffnete, stieß sie einen überraschten Pfiff aus. Was sich unter der Abdeckplane verbarg, hatte mit einem einfachen Auto nicht viel zu tun. Ein Oldtimer der besonderen Art, ein silberfarbener Lamborghini Espada, war dort untergestellt. Sie hatte es beruflich einmal mit einer Autoschieberbande zu tun gehabt und wusste, dass es für diese Art von Automobilen einen Markt gab. Was der Wagen wohl wert war? Gefahren wurde er offensichtlich nicht, die Nummernschilder waren abgeschraubt. Sie hob die Plane ein bisschen mehr an, bevor sie sich eines Besseren besann. Wer wusste schon, was dieser Sörensen für einer war und wie er tickte. Manche Männer rasteten ja regelrecht aus, wenn nur der Hauch eines Kratzers an den Lack ihres Autos kam. Und bei diesem Stück … Den Schaden mochte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Besser, sie schloss die Tür wieder und tat so, als habe sie das Gefährt nie gesehen. Sie ging zurück ins Haus, trank den Rest ihres Tees und zog sich um. Sie hatte einen Besuch vor sich, der sich nicht verschieben ließ.

Kapitel 3

Wer Sesle Bracht aus ihrer Jugendzeit kannte, hätte unmöglich annehmen können, dass dieser teilweise reichlich rebellische Teenager einmal Pfarrerin werden würde. Auch Kari hatte lange Zeit das Bild einer dünnen jungen Frau mit hüftlangem, zerzaustem Haar im Kopf gehabt, die die Nächte durchtanzte. Sogar mal ein paar Tage verschwunden war – hinterher hatte sich herausgestellt, dass sie trotz des Verbots ihrer Eltern ein dreitägiges Open-Air-Konzert auf dem Festland besucht hatte. Besonders in ihrer Teenagerzeit hatte sie weder besonders angepasst noch brav gewirkt. Irgendwann musste sich das geändert haben und niemand war von ihrer Berufswahl mehr überrascht gewesen als Kari. An diesem frühen Nachmittag standen sich die beiden in Sesles Arbeitszimmer im Pfarrhaus der Kirchengemeinde St. Laurentii in Süderende gegenüber. Sesle war voller geworden – »Essstörungen hatte ich lange genug« –, die dunklen Haare trug sie zu einem ordentlichen kinnlangen Bob geschnitten und die warmen braunen Augen wirkten hinter den Gläsern ihrer modischen Brille lebhaft und groß.

»Schön, dich zu sehen.« Sie zog Kari an sich und drückte sie fest. Dann hielt sie sie auf Armlänge von sich, ihr Blick war getrübt. »Auch wenn der Anlass kein angenehmer ist.«

»Ich war gestern Abend bei Wiebkes Eltern. Sie verstehen die Welt nicht mehr.«

»Das ist auch nicht zu verstehen.« Sesles Augen glitten ab, schienen einen Moment ins Nirgendwo zu starren. »Kaffee?«, fragte sie dann. Daran hatte sich nichts geändert. Sesle war schon immer eine Kaffeetante gewesen. Als Kari nickte, nahm ihre Jugendfreundin die Glaskanne von der Kaffeemaschine und schenkte ihnen beiden ein. Mit den Tassen in Händen setzten sich die Frauen einander gegenüber an einen Tisch, der vermutlich sonst Gesprächen mit den Gemeindemitgliedern vorbehalten war.

»Weiß man schon, wann die Beerdigung stattfindet?«, wollte Kari wissen.

Sesle schüttelte den Kopf. »Die Leiche wurde bisher nicht freigegeben.« Sie verzog leicht den Mund beim letzten Wort. »Du, als Polizistin, weißt ja sicher, dass das bei Suiziden so üblich ist.«

Kari nickte. Wobei es an Wiebkes Freitod keinen Zweifel geben konnte. Sie hatte einen Abschiedsbrief verfasst, ihren Schlüsselbund in den eigenen Briefkasten geworfen. War bei Ebbe losgelaufen – wann und wo genau ließ sich aufgrund der wechselnden Strömungen kaum sagen –, in der einsetzenden Flut ertrunken und zwei Tage später angespült worden. Sie kannte sich aus mit den Gezeiten, den Tücken der See, denn sie war hier aufgewachsen. Sie wusste, dass man alleine nicht ins Watt ging. Ein Versehen konnte da ausgeschlossen werden. Dazu gab es keinerlei Anzeichen von Fremdeinwirkung. Wiebke war im kalten Wasser der Nordsee ertrunken, weil sie ihrem Leben ein Ende hatte setzen wollen.

»Wirkte sie denn bedrückt in letzter Zeit?«

Sesle schüttelte den Kopf. »Sie kam mir eher aufgekratzt vor. So, als freue sie sich auf etwas. Aber was das war …« Sie zuckte mit den Schultern. » … das weiß ich leider nicht. Sie kam immer seltener zu mir. In den Wochen vor ihrem Tod haben wir uns kaum noch gesehen.«

Dabei war die Freundschaft zwischen Wiebke und Sesle die engste innerhalb ihrer Gruppe gewesen und die beiden hatten als Kinder nicht weit voneinander entfernt gewohnt, bevor die Familie Jaspers nach Wyk gezogen war.

»Und Mareike?« Mareike war die Vierte im Bunde in ihrer Freundinnenclique. Zu Schulzeiten waren sie alle unzertrennlich gewesen. Danach hatten sie ihre Wege auseinandergeführt. Als sie sich vor knapp zwei Jahren zu Sesles dreißigstem Geburtstag zuletzt gesehen hatten, waren sie lediglich gute Bekannte, die von alten Zeiten schwärmten, aber in der Gegenwart nicht mehr wirklich viel miteinander anfangen konnten.

»Mareike ist voll auf Karrierekurs. Sie fährt auf Sylt mit einem Porsche herum und dreht irgendwelchen reichen Leuten teure Häuser an, die dann fünfzig Wochen im Jahr leer stehen!« Auf Sesles Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet. Es war ihr anzusehen, dass sie die Arbeit ihrer Schulfreundin kritisch bewertete.

»Sie ist jetzt auf Sylt?«

»Zumindest beruflich. Nachdem sie hier auf Föhr eher einen bescheidenen Umsatz hatte, scheint es dort zu boomen. Aber frag mich nicht nach meiner Meinung.« Sie blickte weg, als wollte sie nichts mit dem zu tun haben, was die Jugendfreundin trieb. Kari musste schmunzeln. Eines hatte sich nicht verändert. Wenn Sesle etwas kritisch sah, merkte man es ihr immer am Gesichtsausdruck an. Sie sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Apropos Arbeit. Gab es Ärger an Wiebkes Arbeitsplatz?«, bohrte Kari weiter. Auf der Suche nach einer Erklärung. Sesle zuckte mit den Schultern.

»Wiebke war nicht mehr glücklich mit ihrem Job im Drogeriemarkt. Fühlte sich unterfordert, wobei sie ja schon lange als stellvertretende Filialleiterin gearbeitet hat. Sie wollte etwas Neues anfangen. Was das war, darum hat sie ein großes Geheimnis gemacht.«

Bei diesen Worten flog die Tür auf und ein kleiner Junge stürmte ins Zimmer.

»Lars! Ich habe dir doch gesagt, dass du anklopfen musst«, ermahnte Sesle ihren Sohn liebevoll und mit einem Lächeln in den Augen.

»Klopf, klopf«, machte der Kleine und grinste Kari breit an.

Sesle schüttelte sanft den Kopf und strich ihrem Sohn über den flachsblonden Schopf. Lars war ganz der Vater. Alles an ihm schien zu leuchten. Das Haar, die helle Haut, die blauen Augen. Und wenn er auch sonst nach Magnus Bracht kam, würde er sehr groß, sehr breitschultrig und ein Mensch voller Herzenswärme werden. Bei dem Gedanken zog sich Karis Herz kurz zusammen. Sie gönnte Sesle ihr Glück. Doch beim Anblick der kleinen und überaus harmonisch wirkenden Familie hatte sie bereits zwei Jahre zuvor so etwas wie Neid verspürt. Jetzt kam Sesles Mann in den Raum. »Lars, Händewaschen.« Er war spürbar darum bemüht, seine Stimme streng klingen zu lassen, es gelang ihm jedoch ebenso wenig wie seiner Frau. »Moin Kari.« Er nickte ihr mit einem Lächeln zu, während er den Arm um die Schulter seines Sohnes legte und ihn sanft zur Tür dirigierte. Dann verschwanden Vater und Sohn und zurück blieb etwas in der Atmosphäre, das Kari zugleich fröhlich und traurig stimmte.

»Wie schön, dass ihr euch die Kinderbetreuung teilen könnt«, bemerkte Kari.

»Ja.« Sesle schob sich eine vorwitzige Strähne hinters Ohr. »Magnus kann sich seine Arbeitszeiten frei einteilen.« Sie blickte zu ihrem Schreibtisch, der recht voll wirkte. »Komm doch heute Abend zum Essen zu uns. Mein Mann kocht und wie üblich reicht das für eine Großfamilie.«

»Gerne. Aber bevor ich gehe, habe ich noch eine Frage. Kennst du einen Bent Sörensen?«

»Den Kneipenwirt der Blauen Möwe?« Sesle zog die Brauen fragend nach oben.

»Vermutlich ja. Er hat von meinem Großvater die Garage gemietet. Ich bin dem Mann bisher nicht begegnet. Ich frage mich, was er wohl für einer ist.«

»Tja.« Sesle rieb sich ausgiebig die Nase. »Ich kenne ihn kaum. Er ist kein Mitglied meiner Kirchengemeinde und kommt nie zum Gottesdienst. Da wir abends für gewöhnlich nicht ausgehen …« Sie beendete den Satz mit einer vielsagenden Geste.

Ja, vermutlich war es sowieso besser, wenn Kari sich den Mann selbst ansah. Doch jetzt musste sie erst ein paar Dinge einkaufen, danach die Kate auf Vordermann bringen und den Haken an der Hintertür erneuern. Gestern war ihr aufgefallen, dass er zu viel Spiel hatte. Als sie sich auf ihr Rad schwang, hatte der Wind aufgefrischt, aber es blieb trocken. Tief die würzig-salzige Luft einatmend fuhr Kari auf direktem Weg durch die Marschen zurück nach Utersum, um dort im einzigen Supermarkt einzukaufen. Eine halbe Stunde später war sie damit beschäftigt, ihre Einkäufe auszupacken, den Kühlschrank und die Vorratskammer zu säubern, das Bad gründlich zu wischen. Dann zeigte ihr ein Blick auf die Uhr, dass es kurz vor sechs und daher Zeit war, zum zweiten Mal an diesem Tag ihre alte Freundin Sesle aufzusuchen.

Kapitel 4

Die Wohnung spiegelte all das wider, was Sesle und ihrer Familie wichtig war. Große Fenster ermöglichten den Blick auf einen um ein weitläufiges Rasenstück liebevoll angelegten Garten voller Hortensien, Hundsrosen und Hagebuttensträucher, der selbst jetzt, im Februar, wunderschön aussah. Die Einrichtung war gemütlich, ohne plüschig zu wirken. Überall standen gerahmte Fotos von Familie und Freunden. Gleichzeitig war alles kindgerecht arrangiert. Als Kari ankam, lag der kleine Lars schon im Bett. Im Kamin knisterte ein Feuer und aus der zum Wohnzimmer hin offenen Küche zog der Duft nach Geschmortem durchs Haus. Sesles Mann winkte ihr lediglich kurz zu, bevor er sich wieder dem Herd zuwandte.

Kari kannte Magnus kaum. Er war einige Jahre älter als sie und in Niebüll aufgewachsen, wo er eine kleine Homestageing-Firma gegründet hatte. Wenn Leute ihre älteren Immobilien verkaufen wollten, hübschte er sie auf. Sorgte dafür, dass weder Gerüche noch altmodische oder abgewohnte Möbel, angegraute Tapeten oder verschlissene Teppichböden Käufer abschreckten und den Preis drückten. Im Gegenteil: Ein attraktiver wohnlicher Eindruck sorgte für gute Verkaufspreise. Aus diesem Grund unterhielt Magnus ein kleines Netzwerk von Handwerkerfirmen, sowie ein Lager für Möbel und Wohnaccessoires. Er wurde sowohl von Verkäufern direkt als auch von Maklerunternehmen beauftragt und sein Service musste sich trotz der Kosten wohl lohnen. »Du glaubst gar nicht, wie sehr der erste Eindruck sich auf das Kaufverhalten auswirkt. Menschen müssen eine Idee davon bekommen, was sie selbst aus einem Haus machen könnten, ohne direkt die viele Arbeit zu sehen, die sie nach dem Kauf hineinstecken müssten. Außerdem will doch niemand das Vorleben eines Hauses mitkaufen«, hatte Magnus ihr vor zwei Jahren erzählt. All das gelte auch für Immobilien in begehrten Lagen. Kari hatte schon damals den Eindruck gewonnen, dass Magnus sein Geschäft mit Begeisterung und Elan führte.

Während Sesle sich und ihrem Gast ein Glas Wein einschenkte, schlenderte Kari in dem großen Raum, einer Kombination aus Ess- und Wohnbereich, herum. Beeindruckt wanderten ihre Blicke über raumhohe, gut gefüllte Bücherregale, bevor sie das Klavier registrierte, das schräg vor einem der Fenster zur Gartenseite hin stand.

»Du hast wieder angefangen?«, wollte sie von Sesle wissen. Die hatte sich in Teenagerjahren mehr schlecht als recht mit dem Unterricht geplagt.

»Ja und nein«, entgegnete sie mit einem leichten Lächeln. »Unser Sohn soll es lernen. Er scheint, so hat es uns eine Pädagogin erklärt, ungewöhnlich musikalisch zu sein.« Kari kam es etwas übertrieben vor, für einen Dreijährigen gleich ein Klavier zu kaufen, aber Sesle ging derartig in ihrer Mutterrolle auf, dass es für sie wohl selbstverständlich war, die Begabung ihres Sohnes zu fördern.

»Was gibt es denn zu essen? Es riecht lecker«, wechselte Kari das Thema.

»Salzwiesenlamm mit Schwarzwurzelgemüse, eines unserer Lieblingsgerichte«, antwortete Sesle, bevor sie einen Schluck von ihrem Wein trank.

Tatsächlich stellte sich das Lammgericht als hervorragend heraus. Das Fleisch war auf den Punkt gegart und man schmeckte dezent die Würze aus Kräutern und Senf. Magnus heimste eine ganze Reihe von Komplimenten sowohl von seiner Ehefrau als auch von ihrem gemeinsamen Gast ein. Als Nachtisch kredenzte er eine köstliche rote Grütze und Kari konnte den angebotenen Schnaps nicht ablehnen, denn sie fühlte sich im wahrsten Sinne des Wortes kugelrund.

Kein Wunder, dass Sesle ein bisschen zugelegt hatte in den vergangenen Jahren. Aber es stand ihr gut. Neidlos musste Kari anerkennen, dass ihre Jugendfreundin extrem entspannt und in sich ruhend wirkte. Ganz im Gegensatz zu ihr selbst, aber das war kein Thema für den heutigen Abend. Allen, die sie gefragt hatten, hatte Kari dieselbe Antwort gegeben. Sie habe Urlaub und wolle sich ein bisschen dort erholen, wo sie einen Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht hatte. Da alle Föhrer ihre Insel liebten und sie für die meisten davon darüber hinaus der schönste Platz auf dieser Erde war, wunderte das niemanden.

»Ich habe noch ein paar Fotos von Wiebke. Willst du sie sehen?«, fragte Sesle, nachdem das Mahl beendet, der Tisch abgeräumt war und die Espressomaschine in der Küche zischte. Während Magnus den Geschirrspüler einräumte und sich jegliche Hilfe energisch verbat, gingen die beiden Frauen zur Sitzgarnitur. Sesle fummelte an ihrem Handy herum, verband es mit dem Fernseher. Dann erschien das erste Foto auf dem Bildschirm. Es zeigte Mareike, Wiebke, Sesle und Kari. Die vier Frauen hatten sich die Arme um die Schultern gelegt und strahlten in die Kamera. Im Hintergrund sah man den mit Ballons und Lampions geschmückten Garten der Brachts, an Stehtischen prosteten sich kleine Grüppchen zu.

»Das war an deinem Geburtstag vor zwei Jahren«, sagte Kari.

»Ja. Das letzte Mal, als wir alle vier zusammen waren«, antwortete Sesle, bevor sie das nächste Bild aufrief. Wiebke und Sesle saßen in einem Lokal, die Weingläser erhoben in Richtung der Person, die fotografierte. Weitere Fotos waren bei einem Strandspaziergang und um die Weihnachtszeit entstanden. Und dann war da noch ein Sommerbild, wiederum aufgenommen in Sesles Garten an deren Geburtstag. Wiebke saß auf einer Bank, sie hielt einen Kuchenteller in der Hand und blickte direkt in die Kamera. Etwas in diesem Blick verursachte Kari eine Gänsehaut. Er schien so voller Schmerz und Sehnsucht. Es war, als präsentiere sie ihre Seele völlig nackt. Kari schluckte schwer. Es war eines der Fotos, bei denen man sich beim Betrachten unwillkürlich vorkam wie ein Voyeur, weil die Person auf dem Bild, ohne es zu wissen, in diesem Moment tief in ihr Innerstes blicken ließ. Auf einmal bekam sie eine Ahnung davon, dass die früher immer so fröhliche Wiebke auch eine andere Seite gehabt haben könnte. Etwas, das verborgen geblieben war, sogar vor ihren Freundinnen.

»Fällt dir nichts auf an ihr?«, fragte Kari.

»Was meinst du?«

»Ihr Blick. So … melancholisch.«

Sesle antwortete nicht sofort. »Ja, du hast recht«, meinte sie dann. »Merkwürdig.«

Kari blickte weiterhin auf den Bildschirm. Versuchte, tief in Wiebkes helle blaue Augen einzutauchen. Was hatte sie so verzweifelt werden lassen? Jetzt erst bemerkte sie, dass ihr Blick ganz leicht an der Kamera vorbeiging. Und dann durchzuckte sie ein Gedanke, der so ungeheuerlich war, dass sie ihn sofort ignorieren wollte. Sie tat es nicht. »Wer hat das Foto aufgenommen?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Das? Mein Mann«, antwortete Sesle, die just in diesem Moment von eben diesem Mann abgelenkt wurde, der zu ihnen getreten war.

»Möchte jemand noch einen Schnaps?«, fragte er und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch trocken.

Kari und Sesle schüttelten unisono den Kopf.

»Ich muss dann langsam«, sagte Kari. Sie war zwar kein bisschen müde, hatte aber nach all der familiären Harmonie, dem üppigen Essen und den Gesprächen, die natürlich zwischendurch immer wieder auf Wiebkes Freitod gekommen waren, das Gefühl, ihren Kopf auslüften zu müssen. Bevor sie ging, warf sie einen weiteren Blick auf das Foto. Es hatte sich nichts verändert und in Kari wuchs eine beklemmende Vermutung.

Kapitel 5

Es war etwas windig und der Jahreszeit entsprechend frisch. Kari schwang sich auf ihr Rad und fuhr von Sesles Haus in Süderende den direkten Weg nach Utersum. Dort entschied sie sich, nicht in Richtung Kate abzubiegen, sondern weiterzufahren in den Jaardenhuug. Es war noch recht früh, gerade mal Viertel nach zehn. Für jemanden wie sie, die die letzten Jahre in einer Großstadt verbracht hatte, sicher keine Schlafenszeit. Sie würde sich die Blaue Möwe und den Wirt Bent Sörensen einmal genauer ansehen. Im Laufe des Abends hatte sie auch Sesles Mann Magnus nach Sörensen gefragt. Aber wie schon seine Frau schien er den Kneipenwirt kaum zu kennen. Warum also sich nicht direkt einen Eindruck von demjenigen verschaffen, dem Karis Großvater seine Garage vermietet hatte. Während Kari ihre Richtung änderte, gingen ihr die Bilder des Abends nicht mehr aus dem Kopf. Es war eindeutig, jedenfalls für sie, dass Wiebke den Fotografen angesehen hatte. Mit einer so schmerzhaften Sehnsucht im Blick, dass allein die Erinnerung daran Kari wieder einen Kloß im Hals bescherte. Das Naheliegende erlaubte sie sich erst jetzt zu denken. War Wiebke in Sesles Mann verliebt gewesen? In den Mann ihrer besten Freundin? Hatte sie Liebeskummer gehabt? Oder – und bei dieser Überlegung breitete sich ein fader Geschmack in Karis Mund aus – waren die beiden, von Sesle unbemerkt, ein Paar gewesen? Hatte Magnus mit Wiebke Schluss gemacht, hatte sie deshalb keinen Sinn im Leben mehr gesehen?

Das Lokal Zur blauen Möwe befand sich in einem zweistöckigen, rotbraunen Bau. Durch die Buntglasfenster fiel schummriges Licht auf den Asphalt. Das beleuchtete Schild über der Tür wirkte wie frisch gewienert. Als Kari die wenigen Stufen hinaufschritt, schlug ihr schon im Windfang Stimmengewirr entgegen. Sie zog die Tür auf, blieb einen Moment stehen und ließ den Raum auf sich wirken. Dunkles Holz, der Boden reichlich abgetreten, die halbrunde Bar glänzend poliert. Direkt neben dem Eingang drei Nischen, weiter hinten locker gestellte Tische. Sie ging zur Theke. Im Gegensatz zu den Tischen, die alle belegt waren, gab es hier noch einige freie Plätze. Kari hangelte sich einen der hohen, mit rotem Samt bespannten Hocker hinauf. Ihr Blick fiel dabei auf die Spiegelwand, vor der eine beachtliche Anzahl von Spirituosen aufgereiht war. Zwischen einer hellblauen Gin-Flasche und einem Waldbeeren-Likör schaute ihr ihr eigenes Gesicht entgegen. Ihr schulterlanges haselnussbraunes Haar war zerzaust und sie fuhr sich mit den Fingern durch, um es zu glätten.

»Moin schöne Frau.« Vor ihr war der Wirt aufgetaucht. Jedenfalls vermutete Kari, dass es sich um Bent Sörensen handelte. Er war ein kleines Stück größer als sie, vermutlich etwas über eins achtzig, schlank, mit breiten Schultern. Ein Typ, den man sich gut als Model für Outdoor-Kleidung vorstellen konnte.

»Moin«, antwortete sie spröde. Der Mann strahlte etwas aus, das alle ihre inneren Stacheln dazu brachte, sich aufzustellen.

»Sie sind von hier?« Er wischte mit dem Lappen über den Tresen und betrachtete sie ungeniert.

»Wieso?«, wollte sie irritiert wissen. Zwar gab es um diese Jahreszeit eher wenige Touristen, dennoch wunderte sie sich über seine Bemerkung.

»Die Touris sagen immer Moin Moin.« Er lachte schelmisch. »Aber ihren Augen nach könnten Sie auch vom anderen großen Meer stammen.«

»Was meinen Sie denn damit?« Der Kerl redete in Rätseln.

»Ostsee. Bernstein.« Er grinste und zeigte dabei eine Reihe weißer, schön geformter Zähne.

Puh! Wenn das seine Art der Anmache war.

»Ich nehme einen trockenen Weißwein«, beendete sie das Geplänkel. Wie hätte sie seine Augen beschrieben? Heller Schiefer vermutlich. Und die Haare schwarz wie Kohle. Vielleicht doch eher Pirat als Model.

»Stets gern für Sie beschäftigt«, antwortete er, zwinkerte ihr dabei zu und brachte gleich darauf das Gewünschte. Erfreulicherweise ohne weitere komische Bemerkungen. Der Wein war fruchtig, frisch und perfekt gekühlt, und während sie die ersten Schlucke trank, beobachtete sie den Kerl so unauffällig wie möglich.

»Bent, noch ’ne Runde!«, rief jemand von einem der Tische. Der Angesprochene nickte und begab sich zum Zapfhahn. Er war es also wirklich. Sie hatte nicht vor, ihm gleich zu erzählen, wer sie war. Seine neue Vermieterin. Wollte sich erst einmal ein Bild machen von diesem Mann. Und geriet dabei unweigerlich in eine Gedankenschlaufe, die ihr nicht guttat.

So hatte es angefangen. Damit, sich ein Bild zu machen von jemandem. Bei einer verdeckten Ermittlung. Sie war gut darin. Zwar kein Super-Recognizer wie ihr damaliger Partner. Auch nicht mit einem fotografischen Gedächtnis ausgestattet wie eine ihrer Kolleginnen. Doch sie konnte sich viele Details merken und vor allen Dingen Gespräche präzise wiedergeben. Der Mann, auf den sie angesetzt war, hatte sich schnell als jemand erwiesen, der ganz anders war als erwartet. Sie wusste zum damaligen Zeitpunkt nicht alles, was sie hätte wissen müssen. Jo, ihr Vorgesetzter, hatte das später damit begründet, dass auch die besten Ermittlerpersönlichkeiten nicht immer in der Lage waren, sich so unwissend zu stellen, wie sie sein sollten, um sich der Zielperson unbefangen zu nähern. Sie hatte ihre Rolle gut gespielt. Hatte es geschafft, keinerlei Misstrauen zu erregen. War nah dran gewesen. Sehr nah. Zu nah. Zu nah am Feuer. Und sie hatte sich verbrannt. Gewaltig. Nicht nur ihre berufliche Ehre hatte gelitten, auch ihre Seele. Ihr Selbstbewusstsein war erschüttert und ebenso ihr Gefühlsleben. Sie schüttelte die Gedanken ab. Es nutzte nichts, über Dinge zu brüten, die man nicht mehr rückgängig machen konnte.

»Schmeckt er Ihnen?« Bent Sörensen war vor ihr aufgetaucht. Er stützte sich auf seiner Arbeitsplatte ab und betrachtete sie intensiv. Unter seinem aufgekrempelten dunkelblauen Hemd zeigten sich überraschend muskulösen Unterarme. Kari hob den Blick.

»Danke, ja. Ist sehr lecker.«

»Noch einen?«

Sie hatte bereits bei Sesle zwei Gläser Wein getrunken, wenngleich sparsam eingeschenkt, und einen Schnaps. Es war besser, zu gehen.

Sie setzte gerade zu einem »Nein, danke« an, als Sörensen fortfuhr. »Sie könnten mir helfen. Ein neuer Lieferant hat mir eine Probierflasche dagelassen. Sauvignon Blanc. Ich trinke ja eher Bier, wie die meisten meiner Gäste. Da bräuchte ich eine qualifizierte Meinung. Geht natürlich aufs Haus, das ist ja klar.«

»Wenn bei Ihnen fast alle Bier trinken, warum dann der Aufwand? Dieser Grauburgunder schmeckt sehr gut.«

»Na ja. Manchmal schneit hier dann doch eine schicke Frauensperson herein. Oder eine Mädelsclique zum Vorglühen, bevor es in einen der Clubs in Wyk oder aufs Festland geht. Da möchte ich etwas bieten können. Man muss was tun, um sich hier halten zu können.« Wieder das Lächeln. Fast wie eine Zahnpastawerbung. Kari war sich sicher, dass dieser Mann keine Gelegenheit ausließ, seinen Charme zu versprühen. Oder das, was er dafür hielt, um weiblichen Gästen etwas zu bieten.

»Danke schön. Vielleicht ein anderes Mal.« Sie rutschte vom Hocker,

»Schade«, murmelte er. »Das hat vor ein paar Wochen ein weiblicher Stammgast auch gesagt. Aber dann kam sie nicht mehr wieder.«

»Das kann ja noch werden«, entgegnete sie leichthin.

»Wohl kaum. War ein endgültiger Abschied.« Er hatte schon die auf der Theke liegenden Münzen eingesteckt und nach Karis leerem Glas gegriffen, als die wie vom Blitz getroffen innehielt.

»Was haben Sie gesagt?«

»Dass mich schon einmal jemand deswegen versetzt hat. Nur leider für immer.«

Kapitel 6

Sie war geblieben und hatte den Wein probiert. Möglicherweise hatte es sich einfach um eine Art Lockmittel gehandelt. Doch nachdem sie begriffen hatte, dass dieser Sörensen nicht nur ihren Großvater gekannt hatte, sondern auch Wiebke, war ihre Neugier geweckt gewesen.

»Erzähl mir von ihr«, bat sie ihn. Sie waren unkompliziert zum Du übergegangen. Inzwischen hatte sich die Kneipe merklich geleert. Außer ihnen war lediglich ein älteres Paar anwesend, das nur Augen füreinander hatte, und eine Dreierrunde Männer, die bei Bier und Korn in wechselnder Lautstärke die Themen des Lebens abhandelte.

»Du wirst es sowieso erfahren, hier am Ort spricht man von nichts anderem als diesem Selbstmord.«

Suizid, korrigierte sie innerlich sofort. Verdammte Berufskrankheit.

»Sie war häufig hier im letzten Jahr. Kam immer alleine. Ging immer alleine. Sie war schwer einzuschätzen. Wirkte häufig orientierungslos, dann wieder traurig. Bei ihren letzten Besuchen hier war sie anders drauf. Aufgekratzt. Optimistisch. Hatte Pläne.«

»Pläne? Was für Pläne denn?« Karis Zunge war schon ein bisschen schwer. Sie winkte ab, als Bent nachschenken wollte.

»Keine Ahnung. Ich höre so viele Dinge jeden Abend.« Er schien nachzudenken. »Doch, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie hatte vor, sich selbstständig zu machen. So was in der Art. Hatte wohl ihre Berufung gefunden.«

Das wurde ja ständig verwirrender!

»Außerdem wirkte sie wie frisch verliebt.«

»Also kam sie doch nicht immer alleine.«

Er schüttelte den Kopf. »Doch. Sie war nicht mit dem Typ hier. Ich habe sie in Wyk gesehen. Ist ungefähr ein halbes Jahr her. Sie hockten in der Milchbar und hatten nur Augen füreinander. Aber der Kerl ist nicht von hier. Habe ihn weder vorher noch nachher wieder gesehen.«

»Hat sie dir nichts erzählt?« Kari war auf einmal hellwach. Mit wem hatte Wiebke so engen Kontakt gehabt? Magnus konnte es nicht gewesen sein, den hätte Bent erkannt.

Statt zu antworten, stellte er ihr eine Gegenfrage. »Warum interessierst du dich denn für diese Frau?«. Nach diesen Worten deutete er fragend auf die Kaffeemaschine.

»Gerne. Schwarz, mit etwas Zucker«, beantwortete sie zunächst die nonverbale Frage. Dann entschloss sie sich, ihm reinen Wein einzuschenken. »Ich kannte Wiebke. Sie und ich, wir sind eine Zeit lang zusammen zur Schule gegangen. Hatten uns inzwischen aus den Augen verloren. Es ist jetzt zwei Jahre her, dass ich sie zuletzt sah.«

»Du kommst also tatsächlich von hier?«

Sie nickte. »Ich bin Hein Lürsens Enkelin.«

Bent hielt mitten in der Bewegung inne. »Ach herrjeh«, sagte er dann langsam. »Heins Erbin. Die Polizistin.« Er wirkte, als müsse er das erst mal verdauen. »Meine neue Vermieterin. Hätte mir gleich auffallen müssen. Dein dänischer Vorname … deine Mutter ist ja von dort. Warum hast du nichts gesagt?«

Er wirkte etwas beleidigt.

»Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen und war mir anfangs nicht sicher, ob du du bist. Hättest ja auch ein Angestellter sein können.«

Bent brummte ein paar unverständliche Worte. Dann zeigte er mit dem Finger auf sie. »Du bist Polizistin. Bist du etwa aus beruflichen Gründen hier?« Er machte den Eindruck, als überlegte er nachträglich, ob er ihr etwas erzählt hatte, das gegen ihn verwendet werden konnte.

Kari musste wider Willen lachen beim Anblick seiner geschockten Miene.

»Du kannst beruhigt sein. Ich bin privat hier. Aber ich habe erst gestern von Wiebkes Tod erfahren und frage mich, was sie dazu bewogen hat, ihr Leben zu beenden.«

»Das fragen sich in einem solchen Fall immer viele Menschen. Die Hinterbliebenen ahnen oft nichts.« Bent stellte den Kaffee vor ihr ab. Er duftete so aromatisch, dass Kari zu schnell trank und sich die Zunge verbrannte. Die folgenden Schlucke nahm sie vorsichtig zu sich und schweigend.

»Wir müssen den Mietvertrag für die Garage umschreiben«, informierte sie den Kneipenwirt dann. »Ich mache das gleich morgen.« Mit diesen Worten rutschte sie vom Hocker und zog ihren Pulli glatt. »Danke für den Wein. Ich würde ihn an deiner Stelle auf die Karte nehmen.«

Bent bedankte sich und brachte sie zur Tür. Als sie ins Freie trat, zog sie den Reißverschluss ihrer gefütterten Lederjacke hoch. Ein kühler Wind blies ihr die Haare um den Kopf.

»Wo wohnst du? In Heins Kate?«, wollte Bent wissen.

Kari nickte und schloss ihr Rad auf. Mit einem Mal war sie hundemüde und konnte es kaum erwarten, in ihr Bett zu kommen. »Bis die Tage.« Sie schwang sich auf ihren Drahtesel, hob grüßend die Hand und strampelte los. Auf dem Heimweg gingen ihr immer wieder Bents Worte durch den Kopf. Wiebke hatte Pläne für eine berufliche Veränderung gehabt. Und dann? Was war geschehen, dass sie alles über den Haufen geworfen hatte? Doch es gab an diesem Abend keine Antwort auf diese Fragen.

Wiebke hatte mit ihrem Leben abgeschlossen, das ging aus dem Abschiedsbrief klar hervor. Sie war bei Ebbe ins Watt gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Was, wenn sie es sich anders überlegt hatte und es einfach zu spät gewesen war? Die Flut bereits die Priele gefüllt und ihr den Rückweg abgeschnitten hatte? Kari schauderte bei dem Gedanken daran, dass das durchaus im Bereich des Möglichen lag. Dann wäre Wiebke im eiskalten Wasser ertrunken, vielleicht im Schlick festgesteckt, unfähig, sich zu retten. Oder in eine der gefürchteten Strömungen geraten. Sie hatte alles gut vorbereitet. Sie war kurz vor ihrem Suizid krankgeschrieben gewesen, sodass ihr Fehlen im Betrieb nicht auffiel. Ihren Eltern hatte sie am Tag vor ihrer Entscheidung am Telefon gesagt, sie fühle sich müde, würde versuchen, ein paar Tage kürzer zu treten. Als die zwei Tage nichts von ihr gehört und sie auch nicht erreicht hatten, waren sie in Wiebkes Wohnung gefahren. Dort hatten sie auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer den handgeschriebenen Abschiedsbrief gefunden. Wiebke hatte ihr Handy ausgeschaltet und ihren Schlüsselbund beim Verlassen des Hauses in den eigenen Briefkasten geworfen. Es war klar, was das bedeutete – sie wollte nicht mehr zurückkehren. Was sie danach, in ihren letzten Stunden, getan hatte, war ungewiss. Handy und Tasche, alles hatte die Flut mitgenommen. Nur die Leiche, die hatte sie zurückgebracht.

Kapitel 7

Dienstag 15. Februar