Tod des Autors. Kein Kriminalroman - Brigitte Hutt - E-Book

Tod des Autors. Kein Kriminalroman E-Book

Brigitte Hutt

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  • Herausgeber: 100 Fans
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Wie gut kennen wir die Menschen, die wir lieben? Als Simon während einer Lesereise unter seltsamen Umständen verstirbt, muss sich seine Witwe Maria dieser Frage stellen. Auf der Suche nach den Hintergründen seines Todes stößt sie auf immer mehr Ungereimtheiten. Als der Journalist Guido bei ihr auftaucht, weil er Simons Biografie schreiben soll, hat sie genug von den Geheimnissen. Sie nutzt die Chance und schließt sich dem Journalisten an. Gemeinsam reisen sie um die ganze Welt, um das mysteriöse Leben des verstorbenen Autors zu erforschen. Nach und nach schält sich nicht nur ein Bild des Toten heraus, sondern viele verschiedene. Die meisten davon sind Maria völlig fremd und rücken ihre frühere Beziehung in ein ganz neues Licht.

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Seitenzahl: 497

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Brigitte Hutt

Tod des Autors

Kein Kriminalroman

 

Brigitte Hutt

Tod des Autors

Kein Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

Nachdruck 2018

© 2017 by riva (powered by 100 FANS), ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Umschlagabbildung: Franck Boston/Shutterstock.com, Nitr/Shutterstock.com

Satz: Carsten Klein, München

Druck: Books on Demand GmbH, NorderstedtPrinted in Germany

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print: 978-3-95705-020-5

ISBN E-Book (PDF): 978-3-95708-032-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95708-033-2

Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter

www.100fans.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Teil 1

Autor

Teil 2

Student

Teil 3

Sucher

Teil 4

Verfolger

Teil 5

Mensch

 

Dieses Buch ist gewidmet meinenunermüdlichen Unterstützern,allen voran Christine, Monika, Silke,Ingrid, Mathilde und natürlich Manfred,sowie dem liebevollen Andenken an den Mann,dessen Tod mich zu dieser Geschichte inspiriert hat.

TEIL 1 – AUTOR

Das Zittern wollte nicht aufhören. Die Buchstaben im Display tanzten unsicher vor ihren Augen. Aus – auf – aufgelegt. Aus. Das Wort ging ihr wieder und wieder durch den Kopf, und sie verstand es nicht. Aus. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Der Anruf aus Venedig. Gebrochenes Deutsch. »Signora Ermane?« Dann die trotz des Akzents deutlich zu verstehende Aussage: »Ihr Mann ist zusammengebrochen, tot.« Tot. Simon, der lebenslustigste Mensch, den es gab, der liebevollste, zärtlichste, begeistertste … Jetzt kamen die Tränen. Nein, bitte, nein, das konnte nicht sein, das durfte nicht sein. Nein!

Nach einiger Zeit hatte sie sich so weit gefasst, dass sie anfing zu überlegen, wie es jetzt weitergehen solle. Sie musste sich zusammenreißen, aufhören zu zittern. Überlegen, was jetzt zu tun sei. Sie musste, musste unbedingt, mit jemandem reden. Das Ganze klären. Verstehen. Aufklären. Sie musste nach Venedig, am besten mit jemandem, der Italienisch sprach, musste klären, was wirklich los war, ob Simon wirklich – sie konnte den Satz immer noch nicht zu Ende denken. Dann griff sie entschlossen wieder zum Telefon, lehnte sich an die Wand, um das Zittern zu unterdrücken, und rief Max an. Der meldete sich mit dem üblichen begeisterten »Maria, meine Liebe, wie geht es dir?«. Da war es um ihre Fassung geschehen. Sie brachte zwischen krampfhaften Schluchzern nur noch einzelne Worte wie »Simon … Venedig … tot« hervor. Gott sei Dank begriff Max schneller als sie vorhin und sagte: »Ich komme. Bin gleich da, ganz ruhig.«

Sie rutschte an der Wand hinunter auf den Teppich und starrte blicklos vor sich hin, Gedanken im Kopf umherwirbelnd.

Simon. Die Liebe ihres Lebens. Simon. Mit Anfang zwanzig hatte sie ihn zum ersten Mal getroffen, in Frankfurt, auf der Buchmesse. Maria Hermann, Studentin der Anglistik, schlank, sportlich, fleißig, vorzeigbar, blaue Augen, glatte, meist sorgfältig zusammengebundene dunkelblonde Haare, freundlich, höflich, fand bei solchen Gelegenheiten immer einen Job. Damals arbeitete sie zeitweise für einen Cateringservice im Messezentrum. Soeben ein Tablett mit belegten Brötchen bei einem Verlagsstand ausgeliefert, flog ihr der Geldbeutel in hohem Bogen davon. Eine Gruppe von drei Männern brach in Lachen aus. Sie fand das gar nicht lustig, fühlte das Blut in ihr Gesicht aufsteigen und baute sich vor den dreien auf. »Gut, dass Ihnen so was nie passiert, was?«, rutschte ihr heraus, bevor sie sich bremsen konnte. Einer der Männer schaute sie erstaunt an. »Wie meinen Sie, bitte?« Die anderen redeten und lachten weiter. Maria dämmerte, dass sie gar nicht über ihr Missgeschick gelacht hatten, ja es nicht einmal bemerkt hatten.

Sie stammelte eine Entschuldigung und bückte sich nach dem Geldbeutel, der unter einen Prospektständer gerutscht war. Beim Wiederaufrichten stieß sie prompt gegen denselben Mann, der sie freundlich lächelnd festhielt. »Langsam, junge Dame. Kann es sein, dass Sie eine Pause brauchen? Vielleicht darf ich Sie auf einen Kaffee einladen, dort drüben an der Bar?«

Maria schaute auf die Uhr. Ja, eigentlich stand ihr jetzt eine Pause zu. Und so durcheinander, wie sie gerade war, war das nächste Tablett potenziell gefährdet – also Kaffee. Sie nickte, gefühlt immer noch rot im Gesicht. Der Mann ließ ihren Arm nicht los und führte sie zur Cafébar.

Er hieß Simon Ohlberg, war Mitte dreißig, hatte gerade einen Bestseller veröffentlicht und knüpfte hier auf der Buchmesse fleißig Kontakte. Aber was viel wichtiger war, zumindest für Maria: Er war der personifizierte Charme, überspielte ihre Verlegenheit, stellte die richtigen Fragen, erzählte amüsante Anekdoten, und zwanzig Minuten später zitterte Maria nicht mehr wegen ihres Geldbeutelmissgeschicks, sondern nur noch, weil seine Hand immer noch ihren Arm berührte. Was für ein Mann! Kein Vergleich mit sonst jemandem, den sie kannte. Oh, wenn sie doch nur wüsste, wie sie für ihn interessant sein könnte!

Trotz ihres Gefühlswirrwarrs meldete sich ihr Pflichtbewusstsein, und sie erklärte ihm, dass sie zurück zur Arbeit müsse. Simon Ohlberg strahlte sie unverändert an und fragte direkt: »Und morgen, nach Messeschluss, haben Sie da schon was vor?«

Kurz darauf richtete sie wieder Häppchen und Brote an, ein freundliches Lächeln für jeden Kunden, aber im Kopf nur noch: »Morgen Abend, Sunset Bar, Simon.«

Türklingeln riss sie aus ihren Tagträumen. Nur mühsam wurde ihr die Gegenwart wieder bewusst. Richtig: Sie war in München, in ihrer Wohnung, ihrer und Simons schöner Schwabinger Wohnung, und – da war dieser Anruf vorhin gewesen.

Wieder klingelte es, und sie hörte gedämpft eine Stimme: »Maria? Maria, um Himmels willen, mach doch auf!« Sie rappelte sich auf, wankte durch den Flur und öffnete die Wohnungstür. Max, wie immer etwas atemlos, schoss in die Wohnung, zog sie in seine Arme und hielt sie eine Weile einfach nur fest. Dann schob er sie ein wenig von sich, schaute ihr forschend ins Gesicht und fragte: »Kannst du erzählen? Was ist passiert?«

Jetzt musste sie nicht einmal weinen. Mit ziemlich monotoner Stimme berichtete sie alles, was sie von dem Anruf noch wusste.

»Einfach so? Einfach so zusammengebrochen?« Max schien genauso ungläubig zu sein wie sie. »Und mehr weißt du nicht?«

»Nein. Nein … Ich denke, ich muss hinfahren, oder? Formalitäten erledigen, die … oh Gott!« Ihr wurde bewusst, dass sie jetzt schon nicht mehr an der Wahrheit zweifelte.

»Weißt du, Max, ich habe ja eigentlich immer darauf gewartet. Nein, nicht gewartet, aber … aber ich war doch immer irgendwie darauf vorbereitet, weißt du? Irgendwann würde er wieder gehen, das wusste ich doch immer. Und wir waren so lange zusammen, es war so viel mehr, als ich erwartet hatte. Irgendwann würde Schluss sein, das wusste ich immer. Nur … so plötzlich, und … tot … das … das hatte ich … verstehst du? Ach«, sie brach ab, hilflos, merkte selbst, wie wirr ihre Sätze klangen.

Max schaute sie immer noch stirnrunzelnd, zweifelnd an. »Er war nicht krank oder so etwas? Er war doch einfach nur auf Lesereise, ja? Wie immer? Wie so oft?«

»Ja, sicher. Nein, er fühlte sich wohl, hat sich gefreut auf die Lesereise und auf den kleinen Abstecher nach Venedig. Und genau da – vor zwei Tagen haben wir noch kurz telefoniert, alles war wie immer. Er hat gefragt, ob er mir was mitbringen solle. Wir haben miteinander gelacht und uns auf die nächste Reise gefreut, da würde ich dann wieder mal dabei sein. Alles wie immer.

Aber weißt du, ich wusste doch immer, dass es nicht für ewig sein würde, dass irgendwann … wenn es nicht ein anderes Leben, eine andere Frau sein würde, dann eben, na ja, er war 66, verstehst du?«

»66 ist bei Weitem kein Alter, in dem man einfach tot umfällt. 86 vielleicht, ja, aber …«

Max brach ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Auch er schien verwirrt und überfordert. Er war seit Ewigkeiten Simons Freund, verwaltete seine Finanzen, manchmal auch seine Termine, denn Simon hatte seine Chaosphasen. Gehabt. Hatte gehabt. Simon war nicht mehr.

Maria strich Max zart über die Wange. »Wir müssen – wohl lernen, es zu begreifen, Max. Auch wenn es schwer ist. Schwer!« Sie schluckte mühsam. »Was müssen wir denn jetzt tun?«

Sie spürte, wie nah ihr die Panik war. Nur jetzt nicht nachgeben, dachte sie. Es gibt jetzt genug zu tun, und trauern kommt später. Und ist dann vielleicht auch nicht mehr so schlimm.

Max hob das Telefon vom Boden auf und inspizierte die Nummer des letzten Anrufs. Kurz entschlossen drückte er die Wähltaste. Maria beobachtete ihn. Simons Freund, Simons Schatten. Mittelgroß, mittelblond, immer etwas nachlässig gekleidet, immer etwas im Schatten von Simon, dem gut aussehenden, strahlenden, in jedem Outfit perfekt gekleideten Simon. Jetzt nicht an Simon denken! Sie hörte Max italienisch reden, dann wieder zuhören, wieder reden, erregt diesmal. Er stellte sich ans Fenster, hörte noch mal zu, antwortete einige Male: »Sì, sì, no – sì.« Dann nahm er Stift und Zettel von Marias Schreibtisch und notierte sich einiges. »Sì, grazie.« Noch ein paar Sätze, sie hörte »domani«, also »morgen«, heraus. Dann beendete er das Gespräch.

»Sie erwarten uns, morgen. Simon – Simons Körper«, er holte Luft, »ist ins Krankenhaus gebracht worden, aber sie haben nur noch den Tod feststellen können. Wir sollen uns um die Überführung kümmern. Wir könnten den Nachtzug nehmen! Packst du ein paar Sachen, ja? Und – ja, dann muss wohl – soll ich mit dem – dem Bestatter reden, oder machst du das lieber selber?«

Jetzt schien auch Max sich in Aktivitäten flüchten zu wollen.

»Nachtzug ist gut«, antwortete sie, »und ja, wenn du das mit dem Bestatter angehen könntest – ich wäre dir sehr dankbar. Ich … muss … irgendwie noch seine Familie, seine Schwester – ach.«

Jetzt flossen doch wieder Tränen. Max drückte sie an sich. Nach einer Weile sagte er: »Ich hole dich so in eineinhalb Stunden ab, ist das in Ordnung?«

»Ja, sicher. Und – danke, dass, dass …«

»Schon gut, Süße. Dafür bin ich ja da.«

Max schien es jetzt eilig zu haben und warf die Wohnungstür hinter sich zu. Maria suchte eine Reisetasche und füllte sie mechanisch; Jeans, Bluse, Jacke, Wäsche. Sie war nie besonders modebewusst gewesen, hatte immer praktische Kleidung bevorzugt. Ganz im Gegensatz zu Rena, Simons Schwester. Sie war Kleinunternehmerin, managte zwei Schreibwarenläden in Langenhagen bei Hannover, sah immer perfekt aus, immer das richtige Outfit zu jeder Gelegenheit, immer die richtigen Worte zu jedermann. Wie Simon. Sie musste Rena anrufen, bald. Sie und Simons Schwester waren nie recht warm miteinander geworden; ob sie da jetzt die richtigen Worte fand? Rena war um einige Jahre jünger als Simon, war die pragmatischere von beiden, hatte auch nicht seinen Türöffner-Charme. Ganz im Gegensatz zu ihren zwei Söhnen, die Simon im Wesen sehr ähnlich waren. Aber Simon und Rena standen sich sehr nah, das wusste sie. Der Schriftsteller und Frauenversteher Simon und die energische, tüchtige, aber doch immer betont weiblich wirkende Unternehmerin Rena. Ein schönes Paar, die beiden. Oft hatte man schon Rena und ihre Söhne für Simons Familie gehalten, da sie gelegentlich bei öffentlichen Anlässen dabei waren.

Und wenn sie nun einen von den Jungen anrief? Ihn bat, es seiner Mutter zu erklären? Sie griff zum Telefon und suchte die Nummer von Jonas. Besetzt. Während sie Alexanders Nummer suchte, klingelte das Telefon. Jonas rief zurück. »Mary, my dear, was kann ich für dich tun?«

Simons Charme, Simons Stimme. Gott, war das hart.

»Sim… äh … Jonas, Onkel Simon ist … ist …«, sie holte noch einmal Luft, »ist heute in Venedig … gestorben.« Es war heraus, das war heraus. Schnell sprach sie weiter. »Max und ich fahren hin, du weißt schon, sein Freund Max, gleich nachher, mit dem Nachtzug. Bitte, Jonas, sagst du es bitte deinen Eltern und deinem Bruder? Ich kann … grad nicht. Wir melden uns dann bei dir wieder, ja?«

Am anderen Ende war erst mal Schweigen. »Jonas?«

»Ja. Du bist sicher?« Jonas’ Stimme klang gepresst.

»Ja. Da kam ein Anruf von der italienischen Polizei. Und Max hat dort noch einmal angerufen und nachgefragt. Er spricht ja Italienisch. Ich hätte es ja höchstens mit Englisch versuchen können, aber wenn Italiener Englisch sprechen, ist das ja kaum verständlich …«, sie brach ab, weil ihr eigenes Geplapper ihr auf die Nerven ging. »Jonas, bitte, ich kann es doch selbst noch kaum glauben. Deshalb muss ich ja hin, ganz schnell.«

Jonas unterbrach sie: »Wie? Wie ist es denn passiert? Was ist genau passiert?«

Maria zuckte mit den Schultern, bevor ihr einfiel, dass Jonas das nicht sehen konnte. Dann sagte sie: »Er ist zusammengebrochen, und … ich weiß auch nichts Genaues. Ich muss erst mal da hin. Bitte, sag du es den anderen, und ich melde mich dann wieder, ja? Bitte!«

»Ja, klar.« Ein langer Seufzer war zu hören, und dann: »Das musste ja wohl passieren.«

»Was meinst du damit?« Maria war verwirrt.

»Ach nichts, nur … na, du weißt ja, wie umtriebig er immer war. So jemand stirbt nicht an Altersschwäche.« Jonas’ Stimme war heiser, fast tonlos, dann räusperte er sich und wurde etwas lauter. »Ein schneller Tod, Maria, so hätte er sich das doch auch gewünscht. Kein Leiden, kein Kampf. Versuch, es so zu sehen, ja?«

»Ja.« Maria spürte Jonas’ Versuch, sie zu trösten, und ging dankbar darauf ein. Noch ein paar hilflose Floskeln hin und her, und sie beendeten das Gespräch; Maria mit einem leicht unguten Gefühl, das sie nicht benennen konnte. Hätte sie doch Rena …? Jonas, mit dem sie sich immer so gut verstanden hatte … Hatte sie etwas falsch gemacht? Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, und schaute auf ihren Schreibtisch. Was war noch zu tun? Die Übersetzung, an der sie gerade arbeitete, war erst nächste Woche fällig. Sollte sie ihren Auftraggeber trotzdem anrufen und über ihre Reise informieren? Ach nein, zuerst Klarheit schaffen, zuerst Venedig. Sie warf ihr Mobiltelefon in die Handtasche, das musste genügen. Dann ging sie ins Bad, um sich etwas herzurichten. Viel Make-up benutzte sie nie, aber jetzt sah sie zum Fürchten aus, so konnte sie nicht aus dem Haus gehen. Die schulterlangen, dank Friseur immer noch dunkelblonden Haare waren schnell zu einem Pferdeschwanz gebunden, etwas Puder, das musste genügen. Mit fünfzig musste man nicht mehr wie dreißig aussehen. Sie musterte sich stirnrunzelnd im Spiegel, versuchte, einen Gedanken festzuhalten. Es wollte ihr nicht gelingen.

Als später Max klingelte, um sie abzuholen, stand der Gedanke ihr plötzlich klar vor Augen: Wieso hatte Jonas gewusst, dass es ein schneller Tod gewesen war?

*

Von der nächtlichen Zugfahrt über die Alpen blieb ihr nichts im Gedächtnis. Geschlafen hatte sie kaum. Bilder aus der Vergangenheit hielten sie wach. Simon damals in Frankfurt, zuerst Freund und Berater, den sie ob seiner Weltgewandtheit und seiner Eloquenz bewunderte, dann Liebhaber, der ihre Gefühlswelt nur zu gründlich durcheinanderwirbelte. Sie hatten sich einige Male abends getroffen, in unterschiedlichen Lokalen, hatten etwas getrunken, etwas gegessen, und Simon hatte schmunzelnd akzeptiert, dass sie in der Regel selbst zahlen wollte. Dann lud er sie ins Kino ein, in einen Film, der Maria tief berührte. Simon spürte das, zog sie in seine Arme – und dann waren sie, zumindest in Marias Augen, ein Liebespaar. Einige Monate ging sie wie auf Wolken, war »Simon« ihr erster und ihr letzter Gedanke eines jeden Tages. Dann eröffnete er ihr, auf charmante Weise, zu der ihr kein »Aber« einfiel, dass er nun Deutschland, ja sogar Europa verlassen müsse. Für lange Zeit. Für sein neues Projekt. Sein nächstes Buch.

Ein letztes Abendessen, ein letztes zärtliches Miteinander – und zurück blieb eine unglückliche, verwirrte Frau, die ihm trotz allem nicht böse sein konnte.

Wie hatte sie dann gelebt? Die nächsten Jahre waren in ihrer Erinnerung monoton, unwichtig. Sie hatte ihr Studium später in München fortgesetzt und beendet, hatte nach einigen kleineren Jobs eine Stelle in einem renommierten Verlag gefunden. Hatte für einige Zeit eine Beziehung gehabt mit einem Kollegen, nichts Ernstes. Von Simon las sie gelegentlich in Zeitschriften, mal über ein neues viel gelobtes Buch, mal über eine Liaison, mal über eine Preisverleihung.

Und dann, eines Sonntags, war Simon wieder da.

Es war einer dieser letzten schönen Septembertage gewesen, an denen man mittags noch einmal die Sonne auf der Haut spüren kann, an denen die ganze Stadt draußen zu sein scheint. Maria war durch die Isarauen geradelt und streckte nun auf einer Bank die Beine von sich. Spürte die Wärme, freute sich zu leben. Merkte auf einmal, dass jemand sie beobachtete. Ein Mann stand ein paar Meter von ihr entfernt, trotz der Wärme in eine gefütterte Jacke gehüllt, den Kragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen. Simon. Oder besser: ein Schatten des Simons, den sie gekannt hatte: die Haare dünn geworden, das Gesicht blass mit tiefen Furchen, ernst. War er es wirklich?

Er kam näher, blieb vor ihr stehen, streckte eine Hand aus, sagte leise: »Maria.«

Diese Szene vor allen anderen war es, die ihr immer wieder durch den Kopf ging, in all diesen Jahren immer wieder, auch jetzt auf der Zugfahrt über den Brenner. Er hatte so seltsam ausgesehen, so erschöpft, krank. Sie hatten ein paar Worte gewechselt, an die sie sich nie erinnern konnte. Fremd waren sie sich geworden, und schweigend saßen sie eine ganze Weile nebeneinander auf der sonnigen Parkbank, Simon in seine warme Jacke gehüllt.

»Was tust du in München?«, fragte Maria schließlich.

»Dich suchen«, war seine Antwort.

Er war längere Zeit krank gewesen, erfuhr sie dann, danach zur Kur, und München war die Stadt, in der er »in die Zivilisation zurückfinden« wollte, so hatte er es ausgedrückt.

Als der Zug in Venedig einfuhr, erwachte Maria aus einem unruhigen Dämmerschlaf. Max nahm ihrer beider Taschen und führte Maria in ein Café in Bahnhofsnähe. Er stürzte einen Espresso hinunter und ging danach telefonieren. Maria schlürfte ihren Kaffee langsam und fühlte dankbar die Wärme und das belebende Gefühl in ihrem Körper. Allmählich drangen auch die italienischen Gesprächsfetzen der anderen Café-Gäste in ihr Bewusstsein. Die Sonne schien durchs Fenster. Herbst in Venedig, gar kein Vergleich zu München jetzt im November. In Venedig hatte Simon ihr einen Heiratsantrag gemacht, vor fast fünf Jahren. Simon hatte Venedig geliebt, war oft dort gewesen. Sein erster Bucherfolg hatte in Venedig gespielt, ein historischer Roman, der die Serenissima in ihren Licht- und Schattenseiten zeigte. Der Bestseller, über den sie sich kennengelernt hatten. Für seine weiteren Bücher hatte er Schauplätze in aller Welt gewählt, was Recherchereisen von Zentralamerika über den Mittleren Osten bis Zentralchina erfordert hatte. Aber nach Venedig war er immer wieder zurückgekehrt, aus Liebe zu dieser Stadt und ihrem Zauber, und er hatte Maria damit angesteckt.

Das war in den Jahren in München gewesen, in der Zeit, die in den Isarauen begonnen hatte, mit seinem Satz »Dich suchen«. So verwirrt war sie, ihn wiederzutreffen, ihn so verändert wiederzutreffen, dass sie ganz vergessen hatte, nach der Bedeutung dieses Satzes zu fragen. Warum hätte er sie suchen sollen? Und warum, wie, sie finden sollen? Er war berühmt, kannte überall Menschen, sie dagegen war eine unbedeutende Verlagsmitarbeiterin. Die Frage nach dem Warum war ihr allerdings erst viel später gekommen. Damals war sie nur von Mitleid erfüllt gewesen, weil er so krank aussah. Ein paar Tage lang hatte sie ihn bemuttert: kochte für ihn, traf ihn zu Spaziergängen, redete mit ihm über dieses und jenes. Wenn sie es sich genau überlegte, redete vor allem sie. Zwei Wochen blieb er in München, und in dem Maße, wie sein gealtertes Aussehen ihr vertraut wurde, wuchs der alte Zauber wieder, sah sie sein gelegentlich wieder aufblitzendes Lachen, hörte die Wärme in seiner Stimme. Bevor er abreiste, auch jetzt auf Recherchereise, zurück in seinen Alltag, wie er es ausdrückte, fragte er sie, ob er wiederkommen solle. So, wie sie ihn angestrahlt hatte, war keine Antwort mehr nötig gewesen.

Max kam zurück ins Café, winkte dem Wirt, noch einmal Kaffee zu bringen, und ließ sich, sichtlich erleichtert, auf den Stuhl fallen.

»Alles so weit geregelt«, sagte er.

Maria durchzuckte eine wilde Hoffnung – Max so entspannt, so – sollte alles doch ein Irrtum gewesen sein? Ein verrückter, entsetzlicher … Aber Max sprach schon weiter.

»Im Krankenhaus erwarten sie uns. Ich habe ein Wassertaxi bestellt. Für einen weiteren Kaffee reicht die Zeit aber noch. Magst du nichts essen?« Maria schüttelte stumm den Kopf und umklammerte die Tasse mit frischem Kaffee, die der Wirt vor sie hinstellte, um das erneute Zittern ihrer Hände zu verbergen. Wie konnte Max nur so locker sein? So nüchtern über … darüber reden? Sie trank den Kaffee in kleinen Schlucken, ließ Max bezahlen, folgte ihm zum Wassertaxi, ließ sich durch die Kanäle fahren, ohne etwas von der Stadt wahrzunehmen, folgte ihm über den noch fast leeren Campo bis zum Krankenhaus. Dort führte man sie in ein leicht abgedunkeltes Zimmer mit einem einzelnen Bett in der Mitte, darauf eine stille Gestalt.

Simon. Die Realität. Die Unvermeidlichkeit. Sie bemühte sich, die Beine zu straffen und die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Vorsichtig berührte sie die Hände des Liegenden, die man ihm vor der Brust gekreuzt hatte. Kalt, fremd fühlten sie sich an. Simon, der Wärme so gebraucht hatte, der so leicht gefroren hatte, lag hier so kalt, so allein.

Sie starrte auf sein blasses Gesicht hinunter, die geschlossenen Augen. Betete stumm, er möge sie doch anschauen. Von dem Gespräch zwischen Max und dem anderen Mann im Zimmer – ein Arzt? – bekam sie nicht viel mit, auch nicht, als der fremde Mann ins Deutsche wechselte. Als Max sie an der Schulter herumziehen wollte, fauchte sie ihn an: »Kann ich bitte einen Augenblick meine Ruhe haben?«

Die beiden Männer verließen das Zimmer, dann war alles still. Warum, Simon, fragte sie wortlos, warum? Was ist passiert?

Irgendwann öffnete sich die Tür wieder, und der fremde Mann trat herein. »Signora«, sagte er sanft, »Signora, potrebbe cortesemente rispondere ad un paio di domande – äh, können Sie, äh, paar Fragen beantworten, bitte?«

Sie blickte erstaunt auf. »Aber ich weiß doch selbst nichts, ich war doch gar nicht hier«, entgegnete sie und wunderte sich, dass ihre Stimme so normal klang.

»Ihr Mann war, ähm, gesund?«, fragte der andere. Sein Deutsch war trotz Akzent gut verständlich.

»Ja, sicher. Bisschen erhöhter Blutdruck vielleicht. Sonst nichts«, sie zögerte, »jedenfalls nicht dass ich wüsste. Er hat eigentlich nicht über seine Gesundheit gesprochen. Haben Sie denn keinen Grund gefunden, wieso …«, sie konnte nicht weitersprechen.

»Ärzte ‘aben bis’er nichts finden können«, meinte er. »‘atte Ihr Mann, äh, Feinde?«

»Feinde? Aber wieso das denn? Die Ärzte? Sind denn nicht Sie der Arzt?« Maria war verwirrt.

»Nein, Signora Ermane, vielleicht ‘aben Sie nicht verstanden, vorhin? Ich bin von Polizei, Collani ist meine Name.«

»Polizei? Hören Sie, allmählich verstehe ich gar nichts mehr. Was wollen Sie von mir? Und«, sie wurde plötzlich lauter, »wenn Sie schon so gut Deutsch sprechen: Ich heiße Hermann, Hermann, ja?«

Sie drehte sich zu Simons Körper um, erschrocken, als ob sie ihn gestört hätte, und brach in hilfloses Schluchzen aus. Der Mann führte sie zu einem Stuhl und hielt sanft ihre Hand, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

»Geht wieder, Signo – Frau ‘Ermann?«, fragte er mitleidig. Sie nickte und fragte ihrerseits: »Wo ist Max – äh, Herr Kreutzer?«

»Er telefoniert, wegen Sarg und Transport und so. Frau ‘Ermann, bitte keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Machen Sie keine Sorgen, bitte. Wir müssen Formalia beachten, verstehen Sie bitte.«

Warum fragen Sie dann nach Feinden?, wollte sie entgegnen, war aber zu erschöpft. Max kam wieder herein und streckte die Hand nach ihr aus.

»Komm, meine Liebe, komm, wir können hier nichts mehr tun. Schlafen wir ein paar Stunden, bevor wir zurückfahren.«

»Zurückfahren? Und – Simon?« Sie blickte noch einmal zu dem stillen Körper, der ihr so fremd und doch so vertraut war.

»Der Bestatter kümmert sich, Liebes«, Max schob sie behutsam aus dem Raum, »wir gehen jetzt erst mal in Simons Hotel.«

Simons Hotel, seine Sachen, das stand ihr ja auch noch bevor. Maria biss die Zähne zusammen und ließ sich aus dem Krankenhaus führen. An der Pforte drückte ihr jemand einen großen Umschlag in die Hand, den sie verständnislos anstarrte. »Was ist das?«

»Seine Sachen«, sagte Max, »was er bei sich hatte. Uhr, Ring, Schlüssel, Handy und so. Schau mal kurz rein, ob es vollständig ist.« Er schob sie hinaus auf den Campo.

»Vollständig? Woher soll ich denn das wissen?« Maria blinzelte in die Sonne, geblendet nach dem abgedunkelten Zimmer und den gedämpft beleuchteten Gängen. Sie schaute abwechselnd Max und den Umschlag an. »Max, bitte –«, sie streckte ihm den Umschlag hilflos entgegen.

Plötzlich rempelte jemand sie an, sodass sie Max in die Arme flog. Den Umschlag ließ sie erschrocken los. Max stieß sie zurück und rannte davon. Maria blieb zitternd stehen. Schritte hinter ihr: Der Mann von der Polizei, Colloni oder Goldoni oder so, stand vor ihr.

»Ist passiert was? Signora?« Er schaute sie prüfend an. Sie wusste nicht recht, was sie antworten sollte, suchte nach Worten. Da kam Max zurückgerannt, keuchend, mit wirrem Haar. »Taschendieb! Dieb! Er hat«, er brach ab, um zu Atem zu kommen. »Die persönlichen Dinge, den Umschlag – warum hast du ihn denn nicht eingesteckt, zum Teufel?«, fuhr er Maria plötzlich an. Ihr dämmerte allmählich, was geschehen war. »Jemand hat mich angerempelt und mir diesen Umschlag weggenommen«, erklärte sie dem Polizeibeamten, »und Max ist ihm nach. Du hast doch noch gesagt, ich soll hineinschauen, Max, ich kann doch nichts dafür …«, sie brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Die zwei Männer standen regungslos vor ihr. Dann nahm der Polizist sie vorsichtig an den Schultern und zog sie leicht an sich.

»Va bene, Signora, ist gut, alles gut«, sagte er leise, dann zu Max: »‘aben Sie ihn gesehen, der Dieb? Können Sie beschreiben?« Max antwortete: »Es ging so schnell. Ich habe Maria angeschaut, sonst niemanden. Er war etwa so groß wie ich, Jeans, kurze dunkle Jacke, dunkle Haare – mehr weiß ich nicht. Ich bin ihm nach und hab ihn da drüben noch laufen sehen, dort um die Ecke laufen. Als ich da ankam, hab ich ihn nicht mehr finden können. Ach, Maria, es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Bitte, komm.« Er zog sie zu sich, und der Polizist ließ sie sofort los. »Maria, es tut mir so leid«, wiederholte Max.

Maria machte sich los und holte tief Luft. Keinen Moment länger ertrug sie dieses Affentheater. Mühsam versuchte sie das Schluchzen einzudämmen und brachte die Worte heraus: »Bring mich … ins Hotel … jetzt.« Sie drehte sich um, schluckte krampfhaft die Tränen hinunter und steuerte auf den Kanal zu, wo ein Wassertaxi wartete. Sie kletterte hinein, Max sprang hinterher. »San Zaccharia«, sagte er zum Fahrer. Maria setzte sich und kämpfte weiter um ihre Fassung. Was hatte Max über den Umschlag gesagt? Uhr, Ring, Handy. Sein Ring. Sein Ehering. Sie schaute auf ihren eigenen. Seiner war nun fort, fort wie er selbst. Sie fühlte sich grenzenlos müde und allein.

Das Wassertaxi legte an, und Max half ihr heraus, führte sie die Gasse entlang zur Albergo Bernarda. Dort war sie schon einige Male mit Simon gewesen, hatte das verwinkelte Haus mit den unregelmäßigen Zimmern immer sehr genossen. Max wechselte ein paar italienische Worte mit dem alten Mann am Empfang, der Maria mitfühlend anblickte. Sie schaute schnell weg – bloß nicht schon wieder heulen. Dann gingen sie hinauf in Zimmer 104. Simons Zimmer. Das mit dem winzigen Bad war es, Simon hatte es immer »Damenbad« genannt, und mit dem romantischen Balkönchen, wo gerade zwei zierliche Stühle Platz fanden, oder einer mit einem Mann und einer Frau auf seinem Schoß. Oh Gott, oh nein!

Max schob sie ins Zimmer, stellte ihre Tasche auf die Kommode und sagte etwas von »Formalitäten erledigen« und »ruh dich bitte aus«. Dann war sie allein. Allein mit dem hohen Fenster, der Blumentapete, dem dominanten Himmelbett, den altmodischen Stühlen, den dunkelgrünen Vorhängen, und dort drüben Simons Reisetasche. Allein. Sie ließ dieses Wort auf sich wirken, das so gar nicht zu diesem freundlichen Zimmer zu passen schien. Allein. Sie musterte das Zimmer, als sähe sie es zum ersten Mal. Das Aquarell an der Wand. Das Buch auf dem Nachttisch. Simons Notizbuch auf dem kleinen Schreibtisch. Eine zweite kleinere, rote Tasche darunter, mit einer hübschen Schließe. Plötzlich drehte sich alles um sie, und sie ließ sich auf das Bett fallen. Nur einen Moment, dachte sie. Nur …

Sie erwachte von einem Geräusch. Die Tür? Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht, und plötzlich war alles wieder da. Sie war in Venedig, im Bernarda, und Simon, Simon war nirgends mehr. Was hatte sie geweckt? Sie drehte sich zur Tür um, da war niemand. Egal, jemand war wohl durch die Tür des Nebenzimmers gegangen, die Wände waren hier nicht so dick. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Was war jetzt zu tun? Ach ja, Max kümmerte sich um alles. Der gute Max. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen. Stöhnend stand sie auf und griff nach ihrer Tasche, um ins Bad zu gehen. An der Wand sah sie wieder Simons Reisetasche stehen. Die kam später an die Reihe, jetzt erst mal frisch machen. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Fremd kam sie sich vor im Spiegel, dunkle Ringe unter den Augen, die Augen verquollen. Tasche – irgendwas war mit einer Tasche, aber es fiel ihr nicht ein. Das Denken fiel so schwer.

Als sie Max’ Stimme hörte, fuhr sie zusammen. Schnell richtete sie Haare und Kleidung etwas her und verließ das Bad. Er kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Meine Liebe, wie geht es dir? Hast du etwas schlafen können? Geht es etwas besser?«

»Ja, geht schon. Und – danke. Danke, dass du dich so um alles kümmerst. Ich bin ja keine Hilfe dabei.« Maria ließ sich in seine Arme ziehen und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Musst du auch nicht, musst du nicht sein. Ich mach das schon.« Max strich ihr über die Wange. »Lass uns einen Happen essen gehen, ja? Das Zimmer ist bezahlt, und wir können mit dem Nachtzug zurück.«

Maria schob sich von ihm weg, sah ihn stirnrunzelnd an. »Und … und … Simon?«, fragte sie und versuchte, ihre Stimme sachlich klingen zu lassen.

»Der Bestatter kümmert sich. Simon wird in einem L… – in einem Auto zurückgebracht, sobald es möglich ist, und wir können in Ruhe die Feierlichkeiten planen.«

»Nach Feiern ist mir gar nicht«, antwortete Maria trocken und lauschte erstaunt ihren eigenen Worten, aber diese Art von unfreiwilligem Humor tat ihr erstaunlicherweise gut. Fester fuhr sie fort: »Und nach Essen eigentlich auch nicht.«

Max schien sich über ihre Reaktion nicht zu wundern. »Maria, bitte versuche, etwas zu essen. Du darfst jetzt nicht zusammenklappen, hörst du?« Max griff nach ihren Händen und drückte sie fest, fest und lange. Sie schaute unwillkürlich hin und sah einen langen, frischen Kratzer auf Max’ Handrücken.

»Woher hast du das denn? Tut das nicht weh?«, fragte sie. »Was?« Max folgte ihrem Blick. »Oh, ich weiß nicht – wohl bei der Verfolgungsjagd passiert. Nicht schlimm.« Er zog seine Hände zurück und fuhr fort: »Ich geh auch noch kurz ins Bad, ja?«

Maria blieb allein zurück und ließ noch einmal ihre Blicke durch das friedliche Zimmer schweifen. Hier hatten sie vor fünf Jahren ein spontanes romantisches Wochenende verbracht, Zimmer 104 im Bernarda. Ein beeindruckender Rosenstrauß hatte auf dem Tischchen gestanden, und Simon hatte sie darauf zugeschoben. »Maria, mi amore, mon amour, querida, my precious one, die sind für dich. Und bevor du fragst, meine kleine Vernunftfee: Ja, es gibt einen Grund. Ich finde, wir sollten endlich heiraten. Willst du? Willst du mich heiraten, meine Liebste, meine Maria?«

Sie schaute erneut auf ihren Ehering. Die Ringe hatten sie in Venedig erstanden. Weißgold mit einer zierlichen, schwungvollen, unregelmäßig eingravierten Linie. »Unsere Lebenslinie« hatten sie sie genannt, und sie hatten das Gefühl gehabt, diese Ringe wären eigens für sie beide erfunden worden, für Maria und Simon, das Traumpaar.

Max kam wieder aus dem Bad. »Komm, Süße, gehen wir. Jemand vom Hotel packt Simons Sachen, das musst du jetzt nicht tun. Komm. Zu Bruno, das kennst du doch sicher, was meinst du?« Er schob sie aus dem Zimmer, aber Maria machte sich los. »Seine Tasche – hatte er gar nichts ausgepackt?« – »Nicht viel«, antwortete Max und öffnete den Schrank, »nur Toilettensachen und ein Hemd. Komm lieber. Quäl dich nicht damit.«

Maria war zu erschöpft, um sich zu wehren. Sie ging mit Max in das kleine Lokal Da Bruno, akzeptierte ein paar Antipasti und ein Glas Wein und überließ sich den Bildern in ihrem Kopf. Simon war immer für eine Überraschung gut gewesen. Er war, als er in München auftauchte, recht gut im Geschäft, wie er das genannt hatte, und, kaum von der nächsten Recherchereise zurück, hatte er die Wohnung in Schwabing gekauft. Dachgeschoss, riesiger Balkon, Blick bis zum Englischen Garten. Denkmalgeschützte Fassade, Lift. Frisch renoviert, alle modernen Bequemlichkeiten. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, für jeden von ihnen ein Arbeitszimmer. Eine Traumwohnung. Nie hatte er ihr erzählt, was er dafür bezahlt hatte. Mehr als zehn Jahre hatten sie hier miteinander gelebt, sofern man eine Beziehung mit monatelangen Trennungen »miteinander« nennen konnte. Dann erst kam der Heiratsantrag, und in den letzten fünf Jahren war Simon fast sesshaft geworden. Er hatte sogar erwogen, von München wegzuziehen, am liebsten ins Ausland, aber Maria hatte sich dagegen gewehrt. Sie arbeitete seit Jahren freiberuflich, damit sie wenigstens gelegentlich mit Simon reisen konnte, hatte Freunde, Kollegen, Kunden in München und Umgebung, und sie war stolz darauf, mit ihren Übersetzungen ihr Leben selbst bestreiten zu können. Daher begleitete sie Simon zwar gelegentlich bei Lesereisen oder anderen PR-Aktionen, aber ins Ausland ziehen kam für sie nicht infrage. Auch wenn vieles per Internet möglich war, man musste sich doch immer mal zeigen bei den wichtigsten Kunden. Und neue akquirieren. Und ihre Sprache war nun mal Englisch; Simon dagegen träumte von Italien oder Spanien oder gar Südamerika. Es hatte ihm nicht gefallen, dass sie sich dagegen so wehrte, aber er hatte es akzeptiert. Einstweilen. Sie war sich sicher gewesen, dass er darauf zurückkommen würde. Auch das war nun vorbei. Aber immerhin war er noch einmal in Italien gewesen. Wen er hier wohl getroffen hatte? Und – wo war er eigentlich zusammengebrochen?

»Max, wo ist es eigentlich passiert?«, fragte sie. Max schaute sie verwirrt an. »Was passiert?«, entgegnete er. »Na, der Zusammenbruch. Ich habe es so verstanden, dass Simon sofort ins Krankenhaus gebracht worden ist, also kann er ja nicht allein gewesen sein, oder?«

Max runzelte die Stirn. »Ist das denn jetzt noch wichtig?«, fragte er. Maria war empört. »Alles ist wichtig! Ich will wissen, was er noch erlebt hat, was passiert ist, wo, wie. Verstehst du das nicht? Simons letzte Tage, und ich war nicht dabei. Ich muss es wissen!«

»Ist ja gut«, beschwichtigte Max sie, »soviel ich weiß, war da eine kleine Party, in einem der venezianischen Palazzi, mit Freunden oder Kollegen. Sie haben gelacht und getrunken und gegessen, alles ganz normal. Und dann …«

»In welchem Palazzo? Bei wem denn? Ich möchte jemanden sprechen, der dabei war!« Maria ließ sich nicht beirren.

»Ach, Mädchen, ich weiß es gerade nicht. Wenn du unbedingt willst, frage ich nach, aber hat das nicht Zeit?«

»Aber wir sind jetzt hier, jetzt könnte ich den Gastgeber sprechen, erfahren, wie es war. Verstehst du das nicht?«

»Aber wir müssen zurück. Es ist so viel zu erledigen, nicht nur für die … die Bestattung, auch im Verlag und mit der Presse, und mit der Bank und so, du weißt schon. Ich muss in jedem Fall zurück, und du sprichst doch kein Italienisch. Lass uns das später noch mal besprechen, ja? Ich meine, das macht doch auch nichts ungeschehen.« Seine Stimme wurde leiser.

Maria biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte er recht. Die gerade in ihr erwachte Energie fiel wieder in sich zusammen. Nichts ungeschehen, dachte sie. Nein, es ist nichts mehr zu ändern. Und sie hatte sich immer und immer wieder vorgenommen, sollte sie Simon jemals wieder verlieren, würde sie nach vorn schauen. Aber nie hatte sie sich vorgestellt, dass sie ihn auf diese Weise verlieren könnte.

*

München war grau und kalt, wie meistens im November. Maria flüchtete sich in die Wärme ihrer Wohnung, die ihr aber wenig Trost bot. Meistens lief sie unruhig durch alle Zimmer, nahm Gegenstände in die Hand, nur um sie an anderer Stelle wieder abzulegen. Lief aus dem Haus, in den Park oder in ein Geschäft, ohne recht zu wissen, was sie da tat oder warum. Griff zum Telefon, legte es wieder hin. Schlief unruhig, trank Kaffee, bis sie Magenschmerzen bekam.

Nach zwei leeren Tagen hatte sie das Gefühl, aus dem Fenster springen zu müssen. Sie konzentrierte sich mühsam auf diesen einen vertrauten Gedanken, auf ihr Mantra in all den Jahren, all den Zeiten, in denen Simon mehr unterwegs als zu Hause gewesen war: »Irgendwann wird es zu Ende sein, und das Leben wird, muss weitergehen.« Also Aktivitäten. Immer noch keine Nachricht von Max, dass sie nun die Bestattung vorbereiten könnten; wenn sie ihn anrief, vertröstete er sie nur. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versuchte, die angefangene Übersetzungsarbeit wieder aufzugreifen. Nach drei missglückten Sätzen gab sie auf.

In ihrem Kopf waren jetzt andere Dinge, und um ihn wieder freizubekommen, musste sie etwas tun, was Simon betraf, musste sie sich an den Spuren festhalten, die er hier in der Wohnung hinterlassen hatte. Er hatte ein Testament gemacht und bei jemandem hinterlegt, das wusste sie, das würde sich ergeben. Um so etwas, auch um Presse und Verlag, aufzulösende Verträge und Ähnliches kümmerte Max sich. Aber hier in der gemeinsamen Wohnung gab es Simons Arbeitszimmer: sorgfältig aufgeräumte und meistens geschlossene Aktenschränke und zwei mit Papierstapeln übersäte Tische. Max hatte ihr angeboten, auch hier die Papiere durchzusehen, aber das hatte sie abgelehnt. Ihre und Simons Wohnung Max zu überlassen, das wäre ihr wie ein Vertrauensbruch vorgekommen. Das war ihr Privatleben, da musste sie selbst Ordnung schaffen. Nach erneut unruhigem Schlaf, heißem Kaffee und ein paar Löffeln Joghurt ging sie die Papierstapel an. Auf dem Schreibtisch lagen Briefe, E-Mails, etliche Mappen mit Notizen zu neuen Projekten. Sie blätterte das alles flüchtig durch und legte es dann auf einen Stapel, dem sie in Gedanken den Namen »für Max« gab. Sein Notebook hatte Simon mitgenommen auf die Reise. Maria hielt inne. Und wo war das jetzt? Max hatte Simons Gepäck in den Flur gestellt. Maria ging hinüber und öffnete die Reisetasche. Simons Geruch. Sie schloss die Augen, überwältigt von seiner Präsenz. Langsam und tief atmete sie und versuchte, sich zu konzentrieren, die Beherrschung zu wahren. Himmel, was kam noch alles?

Was wollte sie noch gleich mit der Tasche? Richtig, Notebook. Mit zusammengebissenen Zähnen hob sie Hemden und Hosen hoch, spähte darunter. Aber es war kein Notebook zu finden. Maria überlegte. Im Geiste ging sie noch einmal durch Zimmer 104, sah die braune Reisetasche an der Wand und die andere, kleinere Tasche – halt, wo war denn die? Sie hatte die Tasche flüchtig wahrgenommen, kannte sie aber nicht. Eine neue Computertasche? Und wo war sie jetzt? Sie griff zum Telefon und wählte Max’ Nummer. Nur Mailbox, dann eben später. Was jetzt? Zurück zum Schreibtisch. Sie durchblätterte einige weitere Stapel, fand Berufliches und Privates und sortierte. Irgendwann war die Platte des Schreibtisches aufgeräumt, und es blieb der andere, der sogenannte Kampftisch. Der war erheblich unübersichtlicher, aber da musste sie eben durch. Diverse Stapel mit »Randnotizen«, die Simon gesammelt hatte, um sie eventuell mal verwenden zu können, vor allem geografische und historische Themen. Die meisten ließen sich ganz gut sortieren. Auf einigen fand sie kryptische Abkürzungen, die konnte sie nicht zuordnen. Aber brachte das jetzt noch was? Würde jemand an Simons Projekten weiterarbeiten? Arbeiten können?

Als sie sich dann durch die Schubladen und Fächer des Tisches arbeitete, durch Stifte, Haftnotizen, alte Adressbücher und Visitenkarten in allen Sprachen, stieß sie schließlich auf die große verschlossene Kassette, in der Simon wichtige Dokumente aufbewahrt hatte. Die musste sie wohl auch durchsehen, obwohl ihr zumute war, mehr noch als in diesem Zimmer überhaupt, als ob sie seine Privatsphäre verletzte. Sie brauchte den Schlüssel. Es gab zwei; einen hatte Simon immer bei sich getragen, einen verwahrte Maria bei ihren eigenen wichtigen Dokumenten in ihrem eigenen Schreibtisch. Während sie den holte, grübelte sie über den Verbleib von Simons Schlüssel nach. Hatte Max den? Reisetasche? Computertasche?

Sie schloss die Kassette mit ihrem Zweitschlüssel auf und hob den Deckel. Zuoberst lag Simons Reisepass. Maria erschrak – wieso war der hier? Ach richtig, im EU-Ausland hatte er ihn nicht gebraucht, und seinen Personalausweis hatte er ja bei sich gehabt. Bei sich gehabt – jetzt fiel es ihr wieder ein: der Umschlag mit den Sachen, die der tote Simon bei sich gehabt hatte. Uhr, Schlüssel, Ring, so etwas hatte Max gesagt, da musste auch der Personalausweis dabei gewesen sein. Der Umschlag, den der Taschendieb nun hatte. Ob Max das bei der Polizei angegeben hatte? Jetzt ärgerte sie sich doch, nicht mitgegangen zu sein. Sie würde ihn fragen; später. Zeit spielte ja jetzt keine Rolle mehr, Simon würde nicht zurückkommen. Nie mehr.

Sie gab sich einen Ruck, nahm den Pass und blätterte ihn durch. USA. Mexiko. Brasilien. Israel. Jordanien. Libanon. Israel. Schon wieder? Von einem Buchprojekt zu Israel wusste sie nichts. Über Iran, das alte Persien, hatte er nachgedacht, da hatte er ihr einiges erzählt, was aber wohl noch vage war. Und nun war er im Nahen Osten herumgereist, ohne ihr davon zu berichten? Sicher, seine Arbeit ging sie zunächst einmal nichts an, aber eigenartig war das doch, er erzählte doch immer gern von Reiseerlebnissen – hatte erzählt. Vergangenheit.

Sie legte den Pass seufzend beiseite und griff nach der schwarzen Ledermappe darunter. Da klingelte es an der Wohnungstür. Maria erhob sich unwillig, aber auch ein bisschen erleichtert über die Ablenkung, und ging zum Spion. Ein älterer grauhaariger Mann stand da, korrekter Geschäftsanzug, nichtssagendes Gesicht. Vertreterbesuch konnte sie jetzt eigentlich gar nicht brauchen. Sie wollte sich schon abwenden, da klingelte es erneut. Wütend riss sie die Tür auf. Bevor sie den Vertreter abkanzeln konnte, hielt er ihr ein Mäppchen mit einem amtlichen Siegel hin.

»Frau Hermann? Guten Tag, mein Name ist Brauer, Kriminalhauptkommissar, und hier mein Kollege ist der Herr Rührig. Würden Sie uns bitte auf ein paar Minuten hereinlassen.«

Ein zweiter jüngerer Mann stand plötzlich daneben, gleiches amtliches Siegel in der Hand, und beide zeigten deutlich, dass es sich bei aller Höflichkeit kaum um eine Frage handelte.

»Was – wollen Sie?«, fragte Maria unsicher, ließ aber beide in den Wohnungsflur. Sie steckten ihre Ausweise ein, und der jüngere zog stattdessen ein Notizbuch hervor.

»Die italienische Polizei untersucht immer noch den Tod Ihres Gatten – zu dem wir Ihnen unser herzlichstes Beileid aussprechen möchten – und wir helfen dabei. Immerhin war sein Hauptwohnsitz und Lebensbereich ja in München. Wir müssen ein paar Dinge klären, Frau Hermann, bei denen Sie uns helfen können.«

Maria runzelte die Stirn. »Polizei – untersucht? Hauptwohnsitz? Bitte, wovon reden Sie eigentlich?« Während sie sprach, stand ihr plötzlich wieder der italienische Polizist vor Augen, den sie im Krankenhaus in Venedig gesprochen hatte. War Ihr Mann gesund?, hatte er gefragt. Und auch: Hatte er Feinde? Sie hatte das ausgeblendet, verdrängt. Der Münchner Beamte sprach schon wieder weiter, und sie konzentrierte sich mühsam.

»… müssen wir die Umstände klären, müssen klären, ob vielleicht ein Tötungsdelikt vorliegt. Dazu müssen wir die letzten Tage Ihres Gatten rekonstruieren. Können Sie uns bitte dabei helfen?«

Schon wieder eine Frage, die eigentlich keine war. »Tötungsdelikt?« Das war das Wort, das vor allem in Marias Bewusstsein brannte. »Warum sollte jemand Simon töten wollen? Wer sollte das wollen?«

»Das möchten wir herausfinden, Frau Hermann. Die Digitalisspuren könnten auch von einem Medikament stammen. Hatte Ihr Mann Herzprobleme? War er in ärztlicher Behandlung?«

Sie standen immer noch im Flur. Maria nahm mechanisch eine Visitenkarte von der Pinnwand und reichte sie dem Beamten, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Digitalis? Davon hatte noch niemand gesprochen. »Doktor Treffauer«, sagte sie, »hier steht alles drauf. Er war seit Jahren Simons Hausarzt. Aber da war nichts Ernstes; bisschen erhöhter Blutdruck, gelegentlich Migräne. Ach ja, letztes Jahr was mit dem Magen. Simon hat immer gelacht und gesagt, Ärzte finden immer was, um ihre Patienten zum Wiederkommen zu animieren. Sie haben sich ganz gut verstanden, er und der Doktor, waren auch schon mal zusammen im Fitnesscenter. Fragen Sie ihn selbst, er wird Ihnen auch nichts anderes sagen. Simon ist – war – Mitte sechzig, da hat man immer mal was, aber was Ernstes? Herzprobleme? Digitalis? Das hätte er mir doch gesagt. Oder? Dann hätte er doch mal angefangen, kürzerzutreten, weniger zu reisen, oder?« Sie hatte immer schneller gesprochen, fast hysterisch.

Brauer ging darauf nicht ein. »Erzählen Sie mir von seinen Reisen«, sagte er, »vor allem von dieser letzten.«

»Er war dauernd auf Reisen. Das war sein Leben. Meistens, um ein Thema zu recherchieren oder ein Land kennenzulernen, aber diesmal ist er auf Lesereise durch Österreich gegangen. Sein letztes Buch spielt zum Teil in den österreichischen Alpen, und es findet großes Interesse dort. Und es ist einfach ein Vergnügen, ihm zuzuhören, er liest so mitreißend, wie er schreibt.« Maria schluckte. Las. Schrieb. War. Sie ballte unwillkürlich die Fäuste und sprach schnell weiter. »Und dann hat er beschlossen, über den Feiertag am 1. November einen Abstecher nach Venedig zu machen, zum Ausruhen.« Sie stockte und überlegte. Hieß das nicht vielleicht, dass er sich etwas schonen wollte? »Venedig … war … immer seine Stadt. Dorthin fuhr er oft zum Auftanken. Einfach zum Eintauchen in eine Welt, die es eigentlich gar nicht mehr gibt. So hat er es ausgedrückt. Er schrieb doch historische Romane. Gute«, fügte sie heftig hinzu. »Nicht diesen inflationären Unfug, den heute alle schreiben.«

Die Beamten wechselten einen kurzen Blick, dann beugte der jüngere sich tief über sein Notizbuch. Sein Kollege wandte sich zur offenen Wohnzimmertür und schaute hinein. Was war denn jetzt wieder? Maria war irritiert.

»Oh, bitte, meine Herren, entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Setzen Sie sich bitte.« Maria ging nun endlich auch ins Wohnzimmer. »Möchten Sie etwas trinken?«

Beide lehnten höflich ab, setzten sich aber auf die Couch und schauten sich um. Maria folgte ihren Blicken. Weiße Wände, drei moderne Gemälde eines mexikanischen Künstlers; Simon hatte sie vor Jahren mitgebracht. Die silbergrauen Polstermöbel mit bunten Kissen hatte Maria ausgesucht, ebenso den Glastisch. Der Schrank aus dunklem Holz war antik, für so etwas hatte Simon ein Händchen. Gehabt. Bücherschränke gab es hier keine, dafür umso mehr in ihrer beider Arbeitszimmer, und auch im Schlafzimmer. Wohnzimmer und Küche waren »bücherfreie Zone«, hatten sie ihren Gästen immer erklärt. Dafür gab es hier Topfpflanzen und auf einem niedrigen Regal bunte Kartons mit Fotos. Mit denen konnte Simon sich stundenlang beschäftigen, wenn er denn mal zu Hause war. Maria wandte schnell den Blick ab und fragte: »Was wollen Sie noch wissen?«

»War das üblich, dass er allein solche Erholungsreisen gemacht hat, ohne Sie?«, fragte Brauer.

»Sicher, wenn er ohnehin unterwegs war wie jetzt. Aber wir waren auch oft zusammen weg. In Venedig oder anderswo. Aber nur, wenn ich auch Zeit hatte.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich übersetze, freiberuflich. Aus dem Englischen. Und ich arbeite an Schulbüchern mit. Auch Englisch.«

»Sprechen Sie weitere Sprachen? Herr Ohlberg sprach doch auch Italienisch und Spanisch. Und Sie?«

»Nein. Doch, studiert habe ich auch Irisch und Französisch, ja, aber ich brauche es nicht mehr viel, und das spreche ich längst nicht so fließend wie Simon seine Fremdsprachen. Er war halt viel im Mittelmeerraum unterwegs, und auch in Südamerika. Da war Spanisch wichtig.«

»Kennen Sie Fulvio Bonestati?«, fragte plötzlich der Polizist namens Rührig.

»Wer ist das?«

»Der Besitzer des Palazzo Solpino.« Sie blickten einander eine Weile schweigend an. Dann fragte Maria leise: »Ist das da, wo, wo … es … passiert ist?«

»Ja. Es gab einen Empfang im Palazzo Solpino, für Freunde, Bekannte, Geschäftspartner des Herrn Bonestati. Dort war Simon Ohlberg auch zu Gast. Und dort ist er, nach Genuss eines Cocktails und einiger Antipasti, zusammengebrochen.«

Maria holte tief Luft. »Ich kenne weder den Palazzo noch den Herrn – nein, nie gehört. Woher kannte Simon ihn?«

»Wir hofften, das könnten Sie uns erklären«, sprach nun Brauer wieder. »Hat er Ihnen nichts von dieser Einladung erzählt?«

»Nein. Vielleicht war er mehr zufällig dabei? Simon kennt – kannte unglaublich viele Leute.«

»Zufällig sicher nicht. Der Herr Bonestati wählt seine Gäste stets sehr sorgfältig aus. Er war zu seiner aktiven Zeit ein hohes Tier im italienischen Auswärtigen Amt, nicht unumstritten. Man sagt ihm diverse Verbindungen nach, sowohl zur CIA als auch zur Mafia, und noch einiges mehr. Und er soll auch heute noch an vielen Fäden ziehen, wird gemunkelt. Er selbst hält sich bedeckt. Sagt Ihnen das was?«

Maria schüttelte den Kopf. »Vielleicht … vielleicht brauchte er Informationen von ihm? In seinem Kopf entstehen beständig neue Buchideen, wissen Sie. Und dann recherchier…te er, wo immer möglich.«

»Das genügt kaum für eine Einladung bei Bonestati«, erwiderte Brauer. »Was wissen Sie sonst über seine Reisen?«

»Nicht so viel«, sagte Maria langsam, nachdenklich. »Er war so ziemlich überall in der Welt, aber am liebsten in Südamerika. Die Kolonialisierungsgeschichten dort, da hat er gern recherchiert. Darüber hat er ja auch drei Bücher geschrieben, zwei davon absolute Bestseller, ...«

»Könnten wir seinen Pass sehen?«, unterbrach der Polizist namens Rührig schnell, »und vielleicht auch alte, entwertete Pässe? Hat er die aufbewahrt?«

»Ja, ich … war gerade dabei, Papiere durchzusehen. Warten Sie.« Sie holte den Pass aus der Kassette und gab ihn Rührig. »Aber weiter bin ich noch nicht. Eilt das denn?«

Rührig blätterte kurz durch den Pass und schrieb etwas in seinen Notizblock. »Nein«, sagte er dann und gab ihr den Pass zurück, »eilt nicht. Aber wenn Sie weitere Pässe finden, bringen Sie sie uns bitte. Hier, meine Visitenkarte. Sie erhalten selbstverständlich alles zurück, was Sie uns überlassen.«

Maria nahm die Karte und starrte darauf. »Aber warum das alles?«, brach es aus ihr heraus. »Warum ist das alles plötzlich so wichtig? Simon ist tot, die Reisen sind Vergangenheit, gestorben ist er in Venedig, nicht in Rio. Warum?«

»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Hermann.« Nun sprach Brauer wieder. »Sicher möchten Sie doch auch wissen, ob Ihr Mann ein gewaltsames Ende gefunden hat, nicht wahr? Und dazu müssen wir abklopfen, wen er gekannt hat und wen er sich womöglich zum Feind gemacht hat. Das verstehen Sie doch sicher, oder? Haben Sie übrigens seinen Personalausweis und sein Mobiltelefon wiederbekommen?«

»Seinen … ach, die Sachen, die der Taschendieb in Venedig gestohlen hat? Nein, davon habe ich nichts gehört oder gesehen.«

»Gut, dann wollen wir fürs Erste nicht länger stören. Vielen Dank für das Gespräch, liebe Frau Hermann. Und danke hierfür.« Er hielt die Visitenkarte von Dr. Treffauer hoch. »Wir melden uns bei Ihnen.« Beide standen auf und wandten sich zur Tür.

»Halt, warten Sie.« Maria sprang auf. »Heißt das … ist das, das hier, Ihre Untersuchungen, ist das der Grund, warum wir – warum Simon – warum wir noch keinen Termin machen konnten? Ich meine, für …«

»Ja, natürlich«, die Beamten sahen sie erstaunt an. »Aber die Gerichtsmedizin in Venedig ist wohl fertig; dann wird der Leichnam bald überführt. Danke, wir finden allein hinaus.«

Zurück blieb eine sprachlose Maria, die sich in ihrer Wohnung und in ihrem Leben umblickte, als sähe sie alles zum ersten Mal. Tötungsdelikt. Digitalis. Tötungsdelikt. Panik machte sich in ihr breit, alles schwirrte in ihrem Kopf. Schwirrte noch, als das Telefon klingelte. Sie griff mechanisch danach und schrie hinein: »Was?«

Nach einer kurzen Pause hörte sie eine etwas unsichere Stimme: »Maria? Hier ist Isabell. Du, ich hab’s in der Zeitung gelesen. Es ist so furchtbar. Warum hast du mich nicht gleich angerufen? Es tut mir so leid für dich! Kann ich irgendetwas für dich tun? Wann ist denn die Beerdigung?«

Isabell, ihre älteste Freundin, noch aus Frankfurter Zeiten. Isa, die auch ihre erste Beziehung mit Simon hautnah mitbekommen hatte. »Isa, entschuldige, hier war grad … also, es ist grad alles so verworren. Ach, wär schön, wenn wir reden könnten. Aber … du wirst sicherlich arbeiten müssen? Den Termin haben wir noch nicht. Er ist noch in Venedig.«

Wieder eine kurze Pause, in der die Anruferin die Informationen zu verarbeiten schien. Oder zu sortieren, dachte Maria, die sich nicht sicher war, ob sie geradlinige Sätze zusammengebracht hatte. »Isa?«

»Ja. Du, ich komme gern für ein paar Tage; werde schauen, dass ich Überstunden abfeiern kann, ja? Also, wenn du möchtest?«

»Ja, ja, bitte.« Maria war einfach erschöpft.

Nach ein paar tröstenden Worten und dem Versprechen, sich morgen wieder zu melden, beendete Isabell das Gespräch. Zu schön wäre es, mit einem vertrauten Menschen einfach nur zu reden. Isabell war Redakteurin beim Hessischen Rundfunk, eine richtige Karrierefrau, groß, blond, attraktiv und durchsetzungsfähig. Sie hatten nur sporadisch Kontakt, aber jedes Mal war das vertraute Verhältnis zwischen ihnen schnell wieder da. Mit niemandem sonst war Maria so eng, von Simon abgesehen, nicht einmal mit ihrer Mutter. Die hatte sie noch von Venedig aus benachrichtigt. Mutter hatte für Simon geschwärmt, in beinahe lächerlicher Jungmädchenart, und Maria hatte das immer ein wenig peinlich gefunden. Nun war sie natürlich untröstlich gewesen. Sie schien Simons Tod als ihren persönlichen Verlust zu empfinden. Nun ja, Simon hatte ihrer Mutter altersmäßig beinahe näher gestanden als ihr selbst, aber er war Marias Mann gewesen, niemandes sonst. Sie hatte das Telefonat mit ihrer Mutter mit dem Hinweis auf die Kosten eines Auslandsgesprächs kurz gehalten.

Isa war genau die Richtige jetzt. Maria legte den Pass auf Simons Dokumente und schloss fürs Erste die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

*

Sie erwachte schwitzend, mit klopfendem Herzen, aus wilden Träumen, an die sie sich nur unklar erinnerte. Simon war darin immer wieder aufgetaucht, hatte die Hand ausgestreckt, sie hatte danach greifen wollen – und dann war er entweder weg oder ging zu einer anderen Person. Er war weg – das war wohl die Botschaft: Sie musste sich klarmachen, dass es nun ohne ihn weitergehen musste. Seufzend stand sie auf und ging ins Bad.

Gestern hatte sie Max nicht mehr erreichen können, und sie war doch so begierig darauf, mit ihm zu reden. Um sich abzulenken, hatte sie sich erneut an ihre Übersetzungsarbeit gemacht, und diesmal war es erstaunlich gut vorangegangen. Das gab ihr ein gewisses Gefühl der Normalität. Trotzdem blitzten immer wieder diese seltsamen neuen Informationen in ihrem Gehirn auf: Digitalis, gewaltsamer Tod, Polizei. Das musste sie irgendwie in den Griff kriegen, und Max war eben ihr erster Ansprechpartner, wann immer es um Simon ging. Max würde genauso erschüttert sein wie sie, und zusammen könnten sie sicher besprechen, wie es nun weitergehen sollte.

Sie brühte sich einen starken Kaffee auf und schaute auf die Uhr. Acht Uhr durch. Sollte, konnte sie Max um diese Zeit schon anrufen? Ihre innere Unruhe gab ein klares Ja zur Antwort, und sie nahm den Kaffee mit zum Schreibtisch, wo das Telefon lag. Aber wieder antwortete nur Max’ Mailbox. Unschlüssig sah sie auf ihre Arbeit. Was nun? Kurz entschlossen wählte sie dann die Nummer ihres Auftraggebers im Verlag. Auch er war nicht zu erreichen, aber seine Assistentin kondolierte Maria und bot ihr Unterstützung an. »Einen zeitlichen Aufschub, das wäre, was ich jetzt bräuchte«, sagte Maria. Die Assistentin zögerte, deutete Drucktermine an, für die sie ja auch nichts könne, Rahmenbedingungen und dergleichen. Maria beendete das Gespräch abrupt. So kam sie nicht weiter. Noch ein Versuch bei Max; diesmal nahm er das Gespräch an.

»Max, um Himmels willen, wo steckst du nur immer? Ich muss dich dringend sprechen! Du glaubst nicht …«

Max unterbrach sie: »Ich dich auch. Frühstück im Café Pio? In zwanzig Minuten?« Maria war erstaunt, sagte aber erleichtert zu. Als sie im Flur nach ihrem Mantel griff, blickte sie unwillkürlich auf die Tür zu Simons Arbeitszimmer. Nach kurzem Zögern öffnete sie sie. Dort stand noch die Schublade offen mit der Kassette darin, ebenfalls offen, so, wie sie sie hinterlassen hatte, als die Polizei bei ihr geklingelt hatte. Ihr wurde klar, dass sie sich gerade vor dem Sortieren von Simons Papieren drückte, aber jetzt musste sie erst mal diese ganzen Polizeifragen mit Max besprechen.

Im Café Pio war es ruhig um diese Zeit. Schwabing stand so früh nicht auf. An zwei Tischen jeweils ein Zeitungleser, die anderen Tische waren frei. Jede Sitzgruppe bestand aus anderen Möbeln, was den Anschein einer Privatwohnung schuf. Ein Lokal, das Max und Simon gleichermaßen gemocht hatten.

Max war schon vor ihr eingetroffen und schwatzte mit dem Wirt, einem freundlichen Italiener, den alle Pio nannten, obwohl er weiß Gott wie hieß. Maria nickte dem Wirt zu und zog Max an den Sofatisch. »Max, die Polizei war bei mir. Sie untersuchen Simons Tod. Auf Gewalt. Auf … auf … Vergiftung oder so was. Digitalis. Und sie haben gefragt, ob er krank sei. War. Und ob ich seinen Personalausweis wiederbekommen habe. Oh Max, ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll. Verstehst du das alles?«

Max rührte beinahe hektisch Zucker in den Espresso, den Pio auf den Tisch gestellt hatte. Maria wartete. Endlich sagte er: »Sie haben den Leichnam freigegeben. Wir können die Beerdigung planen. Ich habe die Familie schon benachrichtigt, Rena und die Kinder. Was hältst du von Freitag? Müsste klappen. Willst du nicht den Mantel ausziehen?«

»Max? Hörst du mir eigentlich zu?« Maria schrie es fast. Von ihrer eigenen Stimme erschrocken schaute sie sich in dem fast leeren Café um, aber niemand nahm Notiz von ihnen beiden. »Max!«

»Ja, ich habe dir zugehört. Sie haben, wie bei plötzlichen Todesfällen üblich, eine Untersuchung durchgeführt, haben Spuren von Digitalis gefunden, was auf ein Medikament oder auf Giftzufuhr zurückzuführen ist. Da Simon in ärztlicher Behandlung war, kann das geklärt werden. Der Dieb vor dem Krankenhaus ist nicht gefunden worden, aber der Umschlag. Nur Simons Ehering war noch drin. Schlüsselbund, Handy, Uhr: weg. Die SIM-Karte habe ich sperren lassen. Du solltest vorsichtshalber das Schloss eurer Wohnung auswechseln lassen.« Er zog den Ring aus der Tasche und legte ihn ihr hin.

Maria griff automatisch nach dem Ring und starrte Max an. »Du hast das alles gewusst? Das mit dem Gift? Und der Ring – seit wann hast du den denn wieder?«

»Sicher habe ich das gewusst. Jemand musste ja in Venedig mit den Behörden sprechen, du warst ja nicht in der Lage dazu. Als ich den Diebstahl angezeigt habe, war der Umschlag schon aufgetaucht. Die Gravur im Ring hat die Identifikation eindeutig gemacht.«

Sie drehte den Ring zwischen den Fingern. Ihre Ehe, in Gold gefasst. Plötzlich sagte sie: »Wieso lässt der Dieb denn den goldenen Ring zurück? Den hätte er sicher auch zu Geld machen können.«

»Ich weiß nicht«, sagte Max nachdenklich, »es musste wohl schnell gehen. Er hat in den Umschlag gegriffen, die großen Teile geschnappt und den Umschlag weggeworfen. Stelle ich mir vor.«

»Und du hast mir das alles nicht erzählt? Warum denn nicht?«

»Maria, du warst doch völlig durch den Wind! Ich wollte dich erst mal schützen, dir Zeit lassen. Und dir abnehmen, was möglich war.«

»Und dass dann die Polizei plötzlich vor der Tür steht, mich ausfragt und mich sicher für einen Volltrottel hält, das war auch ein Teil deiner Schutzmaßnahmen, ja?« Maria geriet in Wut. »Herzlichen Dank. Ich würde viel lieber verstehen, was da passiert ist, als von dir beschützt zu werden.«

»Beruhige dich, bitte. Da gibt es nichts weiter zu verstehen. Ich habe dir doch erklärt, dass die Polizei bei plötzlichen Todesfällen immer so vorgeht. Bitte such da nichts dahinter. Da ist nichts. Wir können uns jetzt darauf konzentrieren, von Simon Abschied zu nehmen. Für den Bestatter ist Freitag okay, und eine Grabstätte auf dem Nordfriedhof ist auch schon reserviert. In einer Ecke mit vielen Büschen, das hätte ihm gefallen, meinst du nicht auch?«

»Ach, das hast du alles schon geregelt? Alles ohne mich? Bin ich für dich auch der Volltrottel, ist das dein Programm?«

»Maria!« Max griff nach ihren beiden Händen, hielt sie fest und schaute ihr in die Augen. »Maria, du bist ja völlig durcheinander. Nein, du bist für mich alles andere als ein Trottel, du bist eine sensible Frau, die in tiefer Trauer ist, und …« Maria riss sich los, umkrampfte Simons Ring. »Danke. Ich bin noch genug bei Sinnen, um zu erkennen, wann ich vollgeschleimt werde. Dann mach deine Beerdigungsvorbereitungen nur weiter. Mit Rena kannst du vermutlich ohnehin besser als ich. Sag mir Bescheid, wann ich wo zu sein habe.«

Sie stürzte ihren Espresso hinunter und stürmte hinaus, die Hand