Tod eines Eisfischers - Anna Ihrén - E-Book
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Tod eines Eisfischers E-Book

Anna Ihrén

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Beschreibung

Eine Schiffsexpedition im Nordmeer – an Bord ein skrupelloser Killer

Winter auf der beschaulichen Schäreninsel Smögen. Ein Forschungsschiff läuft in den Hafen der Insel ein. An Bord ist der bekannte Meeresbiologe Kaj Malmberg, der am Abend einen wichtigen Forscherpreis verleihen soll. Doch dazu kommt es nicht: Malmberg wird brutal in seiner Kabine erstochen. Die Besatzung drängt darauf, die geplante Expedition ins Nordmeer fortzusetzen. Also werden die beiden Ermittler Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson an Bord geschickt, um herauszufinden, warum der berühmte Forscher ermordet wurde. Je länger die beiden auf dem Schiff sind, desto mehr Verdächtige gibt es, bis es in einer eiskalten Nacht vor der Küste Spitzbergens zu einem dramatischen Showdown kommt …

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Seitenzahl: 493

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Zum Buch

Lang und unerbittlich sind die schwedischen Winter. Dennis Wilhelmson und Sandra Haraldsson stehen vor einer neuen Herausforderung, als sie im Rahmen ihrer Ermittlungen mit einem Forschungsboot ins Nordmeer hinausfahren müssen: Welches Geheimnis die Wissenschaftler auch umtreibt, es hat bereits einen Menschen das Leben gekostet. Und je weiter sich die Expedition von der schwedischen Küste entfernt, desto klarer wird, dass der Mörder an Bord ist … und dass das Töten noch nicht zu Ende ist.

Zur Autorin

Anna Ihrén wurde in Stockholm geboren und hat sich bereits als Kind in Schwedens zerklüftete Westküste verliebt. Als sie mit ihren Eltern nach Göteborg umzog, war sie fasziniert von den Abenteuergeschichten der Seefahrer, und ihr Wunsch, selbst Geschichten zu schreiben, nahm Gestalt an. Zu Beginn ihrer Schriftstellerkarriere verkaufte sie ihre Bücher noch selbst bei Fischauktionen, am Kai von Smögen und überall dort, wo Menschen ihren Urlaub verbrachten. Mittlerweile ist sie Bestsellerautorin in Schweden, und ihre Serie um Dennis Wilhelmson erfreut sich großer Beliebtheit.

Lieferbare Titel

Anna Ihrén, Mord in den Schären

HarperCollins®

Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2016 by Anna Ihrén by Agreement with Enberg Agency Originaltitel: »Isfiskaren« Erschienen bei: MIMA, Stockholm

Covergestaltung: zero-media.net, München Coverabbildung: DEEPOL by plainpicture / Mikael Svensson Lektorat: Sibylle Klöcker E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959674393

www.harpercollins.de

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Widmung

Für Dan-Robert, Tim & Bella

Prolog

Unerbittliche Kälte. Draußen lag eine weiße Decke auf allem Lebenden und Toten. Zu Eis und Schneekristallen erstarrte Wassertropfen. Hier drinnen aber: ein schlagendes Herz. Wärme. Kein Schaukeln, keine plötzlichen Kursänderungen. Das gleichmäßige Tuckern des Dieselmotors. Er musste noch so vieles erledigen. Die Wahrheit war zum Greifen nahe. Aber alles existierte nur in seinem Kopf. Nur dort, nirgendwo sonst. Es gab keinerlei Aufzeichnungen, die Geheimnisse würden ihm in die Ewigkeit folgen. Der Gedanke schmerzte ihn. Tränen traten ihm in die Augen, liefen seine faltigen Wangen hinunter, während das Blut aus seinen Wunden floss. Er hatte nie über den Tod nachgedacht. Seine Zukunftsängste hatten sich um Demenz und andere Krankheiten gedreht, die seinen Verstand angriffen. Krankheiten, die seine Gehirnwindungen daran hinderten, Dinge auszuklügeln, die niemand außer ihm jemals ersinnen würde. Dieses Wissen hatte ihm stets Genugtuung bereitet. Das Wissen, den schärfsten Verstand von allen zu besitzen. Er war nie jemandem begegnet, der ihm ebenbürtig, geschweige denn überlegen gewesen wäre. Bis jetzt. Aber er hatte die Situation offenbar völlig falsch eingeschätzt. Und er würde nie erfahren, weshalb. Doch in seinem Inneren nagte etwas. Irgendetwas aus seiner Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Er versuchte zu schreien. Wollte so gerne etwas sagen. Er versuchte, den Mund zu öffnen, ein letztes Wort zu formen. Aber die Lebenskraft war aus ihm herausgesickert. Tropfen für Tropfen. Die Dunkelheit nahm ihn in sich auf, und im selben Moment endeten alle Schmerzen.

1

Der blaue Rumpf der Idun legte am verschneiten Kai an. Der Lotse hatte sie in der pechschwarzen Nacht mit perfekter Präzision durch die Schären und Inseln vor Sotenäs geleitet. Mit seiner Länge von gut einhunderteinunddreißig Fuß nahm das Forschungsschiff den Großteil des vorhandenen Liegeplatzes im Fischereihafen von Smögen ein. Doch bis auf die M/S Soten, die wie immer während der Wintermonate ein Stück näher am Pier festmachte, war der Hafen verwaist. Der Kapitän, die Matrosen und die Köchin der Idun waren schon auf den Beinen, die restlichen Passagiere schliefen noch. Einer der Matrosen sprang an Land. Ohne sich an den zahlreichen kleinen Eiszapfen zu stören, die in seinem frostweißen Oberlippenbart hingen, zündete er sich eine Zigarette an.

»Verdammt noch mal, Jan! Hier ist es ja so kalt, dass einem der Arsch abfriert!«, rief er, eine große Atemwolke vor dem Mund, einem anderen Matrosen auf Dänisch zu.

»Pack mit an!«, erwiderte sein ebenfalls dänischer Kollege, der auf dem Deck stand und den Festmacher um den Poller warf.

Als sie angelegt und sich beim Lotsen bedankt hatten, gingen sie zum Kapitän auf die Kommandobrücke. Die Schiffsuhr schlug sieben Glasen, halb vier. Vor dem Schichtwechsel gab es noch einiges zu tun, aber vorher wollten sie sich eine wohlverdiente Pause gönnen.

Kapitän Jakob Odinsson schob einige Unterlagen und Seekarten auf dem Navigationstisch beiseite. »Stell das Tablett hier ab«, sagte er zur Schiffsköchin Jimena Vega, die soeben mit einem Tablett erschienen war, auf dem eine Thermoskanne und eine Platte mit Smørrebrød standen. Der Kapitän musterte die Auswahl und nickte zufrieden.

»Die Verpflegung lässt jedenfalls nichts zu wünschen übrig«, bemerkte er, ohne Jimena anzusehen.

Zu Jans und Carstens großer Freude mochte der Kapitän weder Fisch noch Schalentiere. Da könne er genauso gut Skorpione essen, pflegte er immer zu sagen. Sogar die knusprig gebratenen Schollenfilets mit Remoulade, Zitrone und Dill verschmähte er. Jan und Carsten griffen hingegen ungeniert zu und ließen sich auch die üppig belegten Krabbenbrote schmecken. Carsten zwinkerte Jimena zu. Mit der Köchin an Bord auf gutem Fuß zu stehen lohnte sich. Das hatte er schon vor vielen Jahren auf der Jungfernfahrt der Idun gelernt. Dass Jimena überdies eine äußerst verführerische Meeresgöttin war, tat der Sache keinen Abbruch. Jan knuffte ihn in die Seite, und Carsten widmete sich wieder seinem Frühstück. Jimena verschwand genauso lautlos, wie sie gekommen war.

»Wie lange bleiben wir hier?«, fragte Jan.

»Nach der wissenschaftlichen Konferenz hier auf Smögen laufen wir wieder aus«, antwortete Kapitän Odinsson.

»Und wann wird das sein?«, hakte Carsten nach, bemüht, deutlich zu sprechen, damit Odinsson seine dänische Aussprache verstand.

»Vermutlich morgen Nachmittag.«

»Können wir heute Abend eine offene Bar an Bord veranstalten?«, fragte der Matrose. »Jan hatte am Samstag Geburtstag.« Der Kapitän schien guter Laune zu sein, und Carsten wollte die Gunst der Stunde nutzen.

»Ich bin mit den Wissenschaftlern heute Abend zum Bankett eingeladen. Wir werden im Hotel übernachten. Ihr habt das Schiff also für euch und könnt für die Besatzung einen Umtrunk organisieren, aber übertreibt es nicht wieder mit den weiblichen Gästen. Nicht so wie neulich in Kopenhagen.« Kapitän Odinsson wandte seine Aufmerksamkeit stirnrunzelnd von dem Leberpastetenbrot ab, von dem er gerade abgebissen hatte, und musterte Carsten streng, der zurückwich, Haltung annahm und gehorsam nickte.

In Kopenhagen hatten sie gefeiert wie schon seit Jahren nicht mehr, aber ein ähnlich rauschendes Gelage konnte er auf Smögen kaum erwarten. Die Eiseskälte schien sämtliche Lebewesen auf der Insel buchstäblich eingefroren zu haben. Wenn er ein paar Pflegedienstmitarbeiterinnen oder die eine oder andere Lehrerin von der hiesigen Schule auftreiben konnte (falls es hier überhaupt eine gab), konnte er froh sein. Aber vor allem hatte er vor, sich heute Abend mal wieder so richtig die Kante zu geben. Die Idun war fast einen Monat auf dem Polarmeer unterwegs gewesen, und während dieser Zeit hatte er so gut wie jeden Tag die Hundswache schieben müssen. Aber Asbjørn würde ihn in Kürze ablösen, und sobald dieser Siebenschläfer sich aus seiner Koje bequemte, würde er selbst in die Federn kriechen. Wenn er für die Party ein paar Vertreterinnen des schönen Geschlechts auftreiben wollte, brauchte er vorher eine ordentliche Mütze voll Schlaf.

Jimena Vega sah gähnend auf die Uhr. Die Arbeitszeiten einer Schiffsköchin waren unchristlich. Aber im nächsten Sommer, wenn sie ihren Abschluss an der Naturwissenschaftlichen Fakultät in Göteborg in der Tasche hätte, würde sie sich nach der Überholung des Schiffes für einen Forscherplatz auf der Idun bewerben. Solange sie in der Kombüse arbeitete, konnten Kapitän Odinsson und seine einfältige Besatzung sie behandeln, wie sie wollten, doch als Wissenschaftlerin würde sie diese Kerle keines Blickes mehr würdigen. Zugegeben, Carsten war ein attraktiver Typ, der ihr draußen zwischen den Eisbergen die schmale Koje gewärmt hatte, aber jetzt, wo sie im Hafen vor Anker lagen, begann das zivilisierte Leben. Und davon war Carsten kein Teil. Das wusste er, genauso wie sie wusste, dass er – elegant in seine Ausgehuniform gekleidet – bei der erstbesten Gelegenheit Smögens überwinternde Damenwelt an Bord schleppen würde. Wenn sie sich beeilte, konnte sie sich noch eine Stunde aufs Ohr legen, bevor sie für Mannschaft und Passagiere das Frühstück zubereiten musste. Carsten war von ihren belegten Broten regelrecht besessen, und statt wie die anderen Köche ein schwedisches Frühstück mit Müsli und Sauermilch zu servieren, hielt sie sich an die dänische Tradition und setzte Crew und Passagieren alle erdenklichen Smørrebrød-Variationen vor. Und die Männer dankten es ihr. Sie betonten immer wieder, dass bei diesen eisigen Temperaturen ein herzhafter Start in den Tag mit gebratenen Fleischklößchen und Kartoffelsalat genau das Richtige war. Bis auf den Norweger Asbjørn bestand die Besatzung der Idun ausschließlich aus Dänen. Kapitän Odinsson, der aus dem schwedischen Binnenland stammte, konnte mit Meeresfrüchten nichts anfangen, genauso wenig, wie er die ewige Diskussion um ein mögliches Fangverbot der rot gelisteten Garnelen verstand.

Abgesehen von einer Doktorandin, die Felicia hieß und aus Kungshamn kam, war sie die einzige Frau an Bord. Jimena fiel ein, dass sie Kaj Malmberg versprochen hatte, ihm eine Tasse heiße Schokolade in seine Kabine zu bringen. Malmberg war der leitende Forschungsdirektor der Idun. Er verabscheute die Kälte, und vor allem morgens brauchte er etwas Warmes, um in die Gänge zu kommen. Kaj Malmberg würde in Zukunft ihr Mentor sein, und sie hatte vor, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Sie hatte den Eindruck gewonnen, dass er sie mochte, und das wollte sie sich zunutze machen. Malmberg logierte in der Kapitänskajüte, die als einzige Kabine mit einer Doppelkoje ausgestattet war. Kapitän Odinsson musste während der von der Göteborger Universität gecharterten Forschungsfahrten mit der Steuermannkajüte auf der gegenüberliegenden Flurseite vorliebnehmen, was ihm ganz und gar nicht gefiel. Sie klopfte an Malmbergs Tür und wartete darauf, dass er sie hereinrief.

Peter Malmberg deckte den Tisch pedantisch ein. Natürlich hätte er das Hotelpersonal anweisen können, diese Arbeit zu erledigen, aber das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Ein schön gedeckter Tisch war für ihn das Gleiche wie ein Gemälde für einen Künstler. Ein Maler würde nie auf die Idee kommen, jemand anderen die Farbauswahl treffen zu lassen oder zu entscheiden, an welcher Stelle die Haare des Pinsels über die Leinwand strichen. Dasselbe galt in Peters Augen für Tischarrangements, und vielleicht war dies der Grund, weshalb er inzwischen als Arrangeur der glamourösesten Events herangezogen wurde. Er rückte die Platzteller zurecht, in exakt fünfundvierzig Zentimetern Abstand voneinander und vier Zentimetern von der Tischkante. Die Gläser mussten in schnurgerader Linie vier Zentimeter oberhalb des Tellerrands stehen. Obwohl er im Lauf der Zeit ein untrügliches Auge für Abstände und eine harmonische Gesamtkomposition entwickelt hatte, war der Zollstock sein wichtigstes Arbeitsutensil. Die weißen Leinentücher verunstaltete nicht die kleinste Falte. Er hatte die Wäscherei gebeten, die Tischdecken mehrmals zu überprüfen. Heute war ein besonderer Tag, und näher würde er einem Nobelpreisbankett vielleicht niemals kommen. Für das Menü zeichnete der beste Koch der schwedischen Westküste verantwortlich, und kein Außenstehender kannte bislang die Speisenfolge. Nur er, als Ausrichter des Events, wusste Bescheid. Blumen, Servietten, Porzellan, jedes kleinste Detail hatte er auf das Menü abgestimmt. Und alles wäre perfekt gewesen, wenn nicht der Ehrengast der Abendgesellschaft ausgerechnet sein Bruder gewesen wäre. Der Glückspilz Anders sollte einen Preis entgegennehmen und vor der Crème de la Crème der Wissenschaft eine Rede halten. Ihr Vater würde danebenstehen und vor Stolz platzen, weil er, Kaj Malmberg, einen der besten und vielversprechendsten Ozeanologen der Welt großgezogen hatte. Dass sein anderer Sohn Peter eine erfolgreiche Event-Agentur leitete und die kostspieligsten Feste und Galadinner in ganz Nordeuropa ausrichtete, fiel für ihn überhaupt nicht ins Gewicht. »Stehst du noch immer hinter der Bar?«, pflegte sein Vater zu fragen, wenn sie sich – was selten genug vorkam – im Haus seiner Eltern oder in ihrem Sommerhaus auf Smögen trafen.

Seine Mutter hatte ihn gebeten, heute bei ihnen zu übernachten, um Anders’ Erfolg gemeinsam mit ihnen zu feiern, aber er hatte sich unter einem Vorwand entschuldigt. Das exklusive Konferenzhotel Smögens Havsbad hatte ihm eine Suite zur Verfügung gestellt, in der auch sein geliebter kleiner Chihuahua-Pudelmischling willkommen war, der auf den Namen Puff hörte.

»Die Ratte kommt mir nicht ins Haus«, hatte sein Vater gesagt. Dass sein Vater sich in jeglicher Hinsicht wie ein Idiot verhielt, war nichts Neues für ihn. Aber wenn er Puff als Ratte bezeichnete, entfachte das eine unbändige Wut in Peter, die ihn selbst ängstigte. Er stellte sich häufig vor, sein Vater würde an einem Herzinfarkt oder an einer anderen stressbedingten Krankheit sterben, aber das war nur ein unterschwelliges Wunschdenken, an das er sich gewissermaßen gewöhnt hatte.

Er rückte die letzte, zu einem stattlichen schwarzen Schwan gefaltete Leinenserviette zurecht. Schwarze Servietten verwendete er eher selten, doch wenn der Raum ansonsten komplett in Weiß gehalten war, erzielte der Kontrast einen spektakulären Effekt. Und die Schwäne, die mit über den Platztellern ausgebreiteten Flügeln ihre langen Hälse demütig in Richtung ihrer Tischherren und Tischdamen neigten, sahen so beeindruckend aus, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief, als er einen abschließenden Blick über die neunundachtzig Gedecke schweifen ließ. Die Blumenlieferung würde gleich eintreffen, und er hoffte, dass die roten Rosen, die er wie Blutstropfen von der Decke hängen lassen wollte, genau die Dramaturgie im Saal erzeugten, die ihm vorschwebte. Sein Handy klingelte. Jimena Vega. Ausgezeichnet! Sie würde ihn über die Lage auf der Idun informieren und ihm die letzten Informationen geben, die er für seine Planung noch benötigte.

Nach einem flüchtigen Klopfen ging die Tür auf. Dennis zuckte zusammen und ließ den Gegenstand fallen, den er in der Hand hielt.

»Gutes Foto?«, fragte Sandra fröhlich, die wie üblich ins Zimmer platzte, ohne sein »Herein« abzuwarten.

»Gott, hast du mich erschreckt!« Dennis bückte sich, um seinen neuen Pass aufzuheben, aber Sandra kam ihm zuvor.

»Zeig her«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu, ehe sie den Ausweis aufschlug.

»Ich hab es selbst noch nicht gesehen«, protestierte Dennis.

»Natürlich hast du.« Sandra studierte die Seite mit Dennis’ Passbild und seinen Personalien. »Du blickst ziemlich griesgrämig drein, aber so muss man heutzutage auf Passfotos wohl gucken«, stellte sie fest.

»Ich brauchte zwei Anläufe, bis der Fotograf zufrieden war.«

Seit der Fischkutter Dolores, seine Smögener Sommer-Behausung, auf dem Meeresboden lag, wohnte Dennis in einem der Pensionszimmer über Göstas Tabakwarenladen.

Schon einen Tag, nachdem Sandra und er Anthony und Monica eng umschlungen am Fußballplatz Havsvallen gesehen hatten, war Anthony bei Monica eingezogen. Monica hatte keine Sekunde verschwendet. Endlich hatte sie einen Mann gefunden, den sie mit ihrer Liebe überschütten konnte und der ihre Gefühle erwiderte. Anthony hatte Dennis angeboten, sein Pensionszimmer zu übernehmen, und Gösta, der Vermieter, hatte keine Einwände gehabt. Dennis hatte Anthony geholfen, seine Unterlagen und Fotos zusammenzupacken, die er während seines umfangreichen Ahnenforschungsprojektes zusammengetragen hatte und für die Monica ihm ein Zimmer ihres Fischerhäuschens als Büro überließ.

Aber als Anthonys Sachen verschwunden gewesen waren, hatte Dennis festgestellt, dass er gar keine Möbel besaß, mit denen er den Raum wohnlicher gestalten konnte. In dem Zimmer standen lediglich ein schmales Bett, ein Sessel, ein alter Schreibtisch und ein kleiner Kühlschrank. Sandras Großmutter hatte einen Läufer für ihn gewebt, und Sandra hatte ihn mit zu einem Flohmarkt in Väjern geschleppt, wo sie einen altmodischen kleinen Esstisch mit Stühlen sowie eine Kochplatte erstanden hatten.

»Du packst schon?«, fragte Sandra. »Ich dachte, du fliegst erst am zweiten Weihnachtsfeiertag.«

»Ja. Victoria war so enttäuscht, als ich meinte, dass ich direkt jetzt nach dem Luciafest fahren will, dass ich den Flug umgebucht habe.«

»Victoria kann ja ziemlich gebieterisch sein, wenn sie will«, kommentierte Sandra, merkte jedoch sofort, dass ihr Chef es missbilligte, wenn sie sich ein Urteil über seine Schwester erlaubte.

Dennis’ Handy klingelte. Er meldete sich und hörte dem Anrufer konzentriert zu.

»Ach du Scheiße!«, fluchte er dann.

Sandra musterte ihn eindringlich.

»Ach du Scheiße!«, wiederholte Dennis. »Wir kommen sofort«, fügte er hinzu und legte auf.

»Was ist passiert?«, fragte Sandra stirnrunzelnd.

»Die Idun, das Forschungsschiff der Göteborger Universität, hat heute Nacht im Fischereihafen festgemacht. Kaj Malmberg sollte mit seinem Forscherteam an einer wissenschaftlichen Tagung auf Smögen teilnehmen. Aber er wurde gerade tot in seiner Kajüte gefunden.«

»Kaj Malmberg? Der sollte doch heute in diesem noblen Konferenzhotel einen Preis überreichen.«

»Genau, aber es sieht ganz danach aus, als müsste jemand anderes diesen Job übernehmen.« Dennis schlüpfte in seinen blauen Parka und hastete die Treppe hinunter.

Claes Jäger bat sie, an den Tischen Platz zu nehmen und sich Kaffee einzuschenken. Er sah, dass sie froren. Außer im Salon waren die Raumtemperaturen auf der Idun eine Zumutung. Das würde er ändern. Nachdem Jäger erfahren hatte, dass Kaj Malmberg brutal ermordet in seiner Kajüte aufgefunden worden war, hatte er die Wissenschaftler zu einer Krisenbesprechung in die Messe gebeten. Nur Felicia Berg und Anders Malmberg, Kajs Sohn, fehlten. Anders war sofort zu seiner Mutter geeilt. Felicia lag in ihrer Kajüte und wartete auf den Notarzt. Sie hatte Malmbergs Leiche gefunden und stand nach dem makabren Anblick, der sich ihr geboten hatte, unter Schock. Jimena Vega hatte sie gebeten, nach Malmberg zu sehen, nachdem er auf ihr wiederholtes Klopfen am frühen Morgen nicht reagiert hatte. In knappen Worten fasste Claes Jäger zusammen, was geschehen war.

»Und was ist jetzt mit der Konferenz und der Preisverleihung?«, erkundigte sich Cheng, ein ehrgeiziger chinesischer Wissenschaftler, der aus der Nähe von Hongkong stammte, von der Mündung des Perlflusses, und erforschte, ob Eisbären Verhaltensveränderungen aufwiesen, die auf den Klimawandel zurückgeführt werden konnten.

»Ich habe mit Regina Löfdahl, der Rektorin der Göteborger Universität, telefoniert. Sie ist bereits im Hotel und möchte, dass die Veranstaltung wie geplant stattfindet, allerdings mit einer Programmänderung. Wir beginnen mit einer Gedenkzeremonie für Kaj. Regina wird eine Rede halten.«

»Ist es in Anbetracht dessen, was passiert ist, nicht pietätlos, die Feier wie geplant stattfinden zu lassen?«, wandte George ein, der viele Jahren mit Kaj Malmberg zusammengearbeitet hatte.

»In gewisser Weise gebe ich dir recht«, erwiderte Claes. »Aber Regina meint, es sei eine schöne Geste, wenn wir zusammenkommen und seiner gemeinsam gedenken. Außerdem müssen wir an die praktischen Abläufe denken. Die Medien sitzen schon in den Startlöchern und werden sich wie die Geier auf uns stürzen, sobald wir an Land gehen. Aus diesem Grund hat die Polizei um elf eine Pressekonferenz im Hotel anberaumt, an der auch Kapitän Odinsson und ich teilnehmen werden.«

»Das Bankett beginnt erst um neunzehn Uhr. Was machen wir bis dahin?«, fragte Martin, der mit Felicia Berg zu den jüngsten Forschern an Bord gehörte.

»Die Polizei wird mit jedem von euch im Laufe des Tages sprechen. Ich habe eine Liste erstellt. Die Beamten werden versuchen, sich so gut es geht an die Reihenfolge zu halten.« Jäger legte ein Blatt Papier auf einen der Tische. »Ich schlage vor, dass ihr euch bis zur Befragung alleine oder gemeinsam ausruht. Die Polizei wird zwei Krankenschwestern herschicken. Wenn ihr also mit jemandem sprechen wollt, sind ausgebildete Fachkräfte an Bord.«

Nachdem Claes Jäger alle Fragen des Forscherteams beantwortet hatte, verließ er die Messe und ging auf die Brücke. Er musste sich mit dem Kapitän absprechen, bevor sie den Medien gegenübertraten. Auf der Idun hatte sich eine Katastrophe ereignet. Eine Katastrophe, die weltweit die Aufmerksamkeit wissenschaftlicher Kreise auf sie lenken würde, und nun galt es, diese Aufmerksamkeit richtig zu nutzen. Auf die Idun durfte nicht der kleinste Schatten fallen, zukünftigen Forschungsexpeditionen sollte nichts im Wege stehen. In dem Punkt war Regina Löfdahl sehr deutlich gewesen. Kaj Malmberg war aus dem Spiel und er, Claes Jäger, die ewige Nummer zwei, der ranghöchste Wissenschaftler, und das nicht nur auf der Idun, sondern innerhalb des gesamten Projekts. Von nun an war er Regina Löfdahls einziger Ansprechpartner, und er würde ihr beweisen, dass sie sich nicht die geringsten Sorgen machen musste.

Sandra schlug die Autotür zu und zog ihren Mantel fester um sich. Unten am Hafen bei der Fischauktionshalle wehte ein eisiger Wind. Schon Sekunden später war ihr Gesicht taub vor Kälte.

»Wieso muss es bloß so saukalt sein?«, beschwerte sie sich bei Dennis, dem der Polarwind nicht das Geringste auszumachen schien.

»Noch fünfzehn Tage«, antwortete der grinsend und breitete die Arme aus, um ein Flugzeug zu imitieren.

»Glaubst du wirklich, dass du jetzt noch wie geplant Urlaub nehmen kannst?« Sandra drehte sich mit zusammengekniffenen Augen zu ihm um.

»Ich habe nicht vor, jemanden danach zu fragen«, erwiderte Dennis. »Mein Urlaub ist bewilligt, und außerdem bist du inzwischen eine voll ausgebildete Polizistin mit viel Erfahrung und großem Mut.« Dennis lachte. Genau wie Sandra verabscheute er die Kälte, aber im Gegensatz zu ihr kleidete er sich der Witterung angemessen. Er trug einen warmen Parka, einen Fleecepullover und lange Unterwäsche und fror kein bisschen.

Sandra warf ihm einen Blick zu, der jeden anderen in Angst und Schrecken versetzt hätte, doch Dennis grinste weiter. In wenigen Tagen würde er diesem eiskalten Winterland den Rücken zukehren und nach Mexiko fliegen. Er sah die sich im Wind wiegenden Palmen schon vor sich, den weißen Karibiksandstrand, den er so sehr liebte, und das herrliche Essen. Er würde Ceviche und Pico de Gallo essen, bis es ihm aus den Ohren wieder rauskäme.

An der Gangway der Idun hießen zwei Matrosen sie willkommen. Der eine lehnte mit einer Zigarette im Mundwinkel lässig an der Reling, während sein Kollege Haltung annahm und salutierte, als wollte er das saloppe Herumgelungere seines Kameraden wettmachen.

»Gehen Sie bitte dort entlang«, sagte er und wies ihnen den Weg zur Kommandobrücke.

»Danke.« Sandra rümpfte die Nase über eine Qualmwolke, die ihr der Mann an der Reling absichtlich ins Gesicht zu blasen schien. Rasch kletterte sie die steile Leiter zur Brücke hinauf. Hinter der Glasscheibe bewegten sich Schatten. Vermutlich hatte der Kapitän seine nächsten Männer um sich versammelt und erwartete sie bereits.

»Du bewegst dich ja wie eine richtige Schiffskatze!«, bemerkte Dennis, der sie auf dem Oberdeck einholte.

»Und du entwickelst dich langsam zu einer echten Landplage«, konterte Sandra.

Dennis lachte laut. Nichts konnte seine Vorfreude auf die Reise trüben. Allerdings konnte er Sandra, die den ganzen Winter in diesem Eisloch verbringen musste, gut verstehen. Aber vier Wochen verflogen schnell. Bevor sie es merkte, würde er schon wieder zurück sein, und sie würden zu zweit im kalten Auto sitzen und einen heißen Latte macchiato schlürfen.

Sandra betrat die Kommandobrücke. Bevor er ihr folgte, ließ Dennis seinen Blick über das Deck schweifen. Was für ein riesiger Kahn!, dachte er. Die Idun maß bestimmt an die vierzig Meter.

»Sandra Haraldsson, Polizei Kungshamn. Von jetzt an haben Sie sich an Bord an unsere Anordnungen zu halten.«

Kapitän Jakob Odinsson schwieg. Der stellvertretende Forschungsdirektor Claes Jäger strich mit den Händen nervös über das Navigationspult, nickte Sandra aber zum Zeichen, dass er verstanden hatte, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen zu.

»Wir werden Passagiere und Besatzung im Laufe des Tages der Reihe nach befragen. Sobald wir uns auf der Idun umgesehen haben, fangen wir an. Die Spurensicherung wird in Kürze eintreffen, und wir erwarten weitere Beamte«, verkündete Sandra, wandte sich um und verließ die Kommandobrücke.

Hinter ihrem Rücken salutierte Dennis andeutungsweise vor dem Kapitän, lächelte ihm entschuldigend zu und beeilte sich, Sandra einzuholen.

Felicia Berg lag weinend und am ganzen Körper zitternd in ihrer Koje. Das Ereignis hatte sie offenbar stark mitgenommen. Sandra sprach beruhigend auf sie ein.

»Der Krankenwagen ist unterwegs, er wird gleich da sein. Ihre Mutter ist ebenfalls auf dem Weg hierher.«

Felicia schluchzte immer heftiger. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und wandte sich von Sandra ab, die ihr behutsam über den Rücken strich.

Dennis steckte den Kopf in die Kajüte.

»Kannst du bitte kurz kommen?«, fragte er.

Sandra blickte Jimena an, die sich mit einem Tablett und einem Becher Tee in der Hand an Dennis vorbeizwängte.

»Jimena bleibt bei Ihnen, bis ich wieder zurück bin. Es dauert nicht lange«, sagte sie und ging zu Dennis auf den Korridor hinaus.

Felicias Kajüte lag auf dem Passagierkorridor, Kaj Malmbergs auf dem Besatzungskorridor. Dennis betrat vor Sandra die Kapitänskajüte, die geräumiger als Felicias war und über ein angrenzendes Badezimmer verfügte. Kaj Malmberg lag unbekleidet und ohne Decke in der Doppelkoje. Bei seinem Anblick schlug Sandra die Hand vor den Mund. Malmbergs Leiche ähnelte buchstäblich einem Igel. Aus seinem Körper ragten vom Hals bis zum Bauch symmetrisch angeordnete Messerschäfte. An die zwei Dutzend, schätzte sie. Aus jeder Wunde waren große Mengen Blut auf Laken und Bettdecke geflossen. Abrupt drehte sie sich um und wollte aus der Kajüte stürzen, doch Dennis hielt sie am Ärmel fest.

»Sieh dir das an!«, sagte er und deutete auf Kaj Malmbergs Bauch.

Auf Höhe des Nabels lag ein Gegenstand, der aus goldfarbenem Metall gefertigt zu sein schien. Aber er war so voller Blut, dass sich nicht sagen ließ, um was es sich handelte.

Skagens Gren, 18. Dezember 1941

Gustaf blickte aufs Meer hinaus. Sein Ölzeug, die Fischermütze mit Ohrenklappen und seine Pfeife hielten ihn warm, doch er konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sie waren ein paar Seemeilen von der Untiefe Skagens Rev entfernt, und Schneeregen und Nebel hüllten Jütlands nördlichste Landspitze wie eine Decke ein.

»Gustaf, backbord auf halb zehn!«, kommandierte August. An Land war sein Smögen-Dialekt nahezu unverständlich, doch auf See wohnte ihm eine Kraft inne, die dafür sorgte, dass die wichtigsten Silben Wind und Wetter mühelos übertönten.

Gustaf ließ seinen Blick über das Wasser schweifen. Gerade zog ein großer Heringsschwarm an der Backbordseite an ihnen vorüber. Bisher war ihre Fangbilanz dürftig, und sie alle waren fest entschlossen, nicht mit leeren Händen nach Hause zu kommen. In wenigen Tagen war Weihnachten, und wenn sie mit vollen Netzen zurückkehrten, konnten sie vor den Feiertagen noch ordentlich Geld verdienen. Er hatte das Puppenhaus im Kaufmannsladen gesehen und wusste, dass beide Töchter es sich wünschten. Aber hundert Kronen schüttelte man nicht einfach aus dem Ärmel. Er warf das Schleppnetz mithilfe der Winde aus und sah dabei zu, wie es sich einen kurzen Moment auf die Wellenkämme legte, ehe es wie ein großer Fanghandschuh in der Tiefe verschwand. Vielleicht hatten sie diesmal Glück und konnten den Frachtraum mit Heringen füllen. In jeder Jahreszeit bot das Meer etwas anderes. Im Winter gab es Heringe, im Frühling Makrelen und im Herbst Krabben, Garnelen und Krebse. Dorsche konnte man das ganze Jahr über fischen, aber dafür musste man bis hinauf nach Norwegen in den Saltstraumen fahren, und der Weg dorthin war weit. Jetzt hielten sie nach Heringen Ausschau.

»Das wird ein hübscher Batzen«, kommentierte August, der sich neben Gustaf gestellt hatte und seine Pfeife schmauchte. August war ein erfahrener Fischer. Genau wie Gustaf hatte er seinen Vater schon als kleiner Junge zum Fischen aufs Meer hinausbegleitet. Zum Leidwesen seiner Mutter, die jedoch ebenso wie Gustafs Mutter ganz genau gewusst hatte, dass es eine unumgängliche Schule war, damit ihr Sohn eines Tages seine eigene Familie würde versorgen können. Im Unterschied zu August, der nie eine richtige Schule von innen gesehen hatte, war Gustaf einige Jahre in die Brebergsskola gegangen. Sein Vater hatte ihm, so gut er konnte, bei den Englischvokabeln geholfen. Der Gedanke an seinen Vater stimmte ihn traurig. Inzwischen war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hätte sich gewünscht, dass Greta ihren Schwiegervater in der Blüte seines Lebens kennengelernt hätte. Als er der stärkste und bestaussehende Fischer auf ganz Smögen gewesen war. Alle Inselbewohner hatten zu ihm aufgesehen und sein unerschöpfliches Wissen über das Meer und den Fischfang gerühmt. Doch diese Zeiten waren lange vergangen, und seine Ehefrau ärgerte sich meistens über ihren Schwiegervater, der nur noch in seinem Schaukelstuhl saß und keine Hilfe mehr war. Rheuma und Gicht hatten seinen Körper verkümmern lassen.

»Hol das Netz ein!«, rief August, der an der gespannten Leine sah, dass es prall gefüllt war.

Gustaf kurbelte mit aller Kraft an der Winde. Lill-Osborn kam ihm zu Hilfe, während Hanses Olle, der aufgrund seiner Erfahrung die Stellung eines Vormanns einnahm, sich damit begnügte, ihnen bei der Arbeit zuzusehen. Als das Schleppnetz zum Vorschein kam, zappelten darin Tausende silbrig glänzende Heringe. Der Anblick war Balsam für ihre Seelen. Dieser Fang allein würde ihren Frachtraum bis zur Hälfte füllen. Noch ein volles Netz, und sie hätten ihr Soll erfüllt. Und falls das Fischerglück sie nun verließe, würden sie zumindest nicht mit völlig leeren Händen nach Hause zurückkehren.

Sie hievten das schwere Netz an Bord, während der Nebel um sie herum immer undurchdringlicher wurde. Die Sicht reichte praktisch nur noch bis zur Reling. In dem Moment, als Gustaf das Netz über der Luke des Frachtraums ausleeren wollte, erklang am Rumpf auf der Steuerbordseite ein ohrenbetäubender Knall, die Henny schien zu explodieren.

»Was zum Teufel?!«, schrie August und stürzte zum Rettungsboot. Ihm war instinktiv klar, dass der Kutter sinken würde. Innerhalb weniger Minuten. Das Heringsnetz hing noch an der Winsch, Gustaf stand wie versteinert da und umklammerte die Winde. Er starrte August an, der trotz seiner kältestarren Finger routiniert die Tampen löste und begann, das Rettungsboot zu Wasser zu lassen. Als es am Rumpf der Henny hinunterrutschte, wies August sie an, den Kutter zu verlassen. Sie kletterten über die Reling und sprangen. Außer August, der die Geistesgegenwart besaß, die Strickleiter hinunterzuklettern, landeten alle im eisigen Wasser. Verzweifelt schwammen sie auf das Rettungsboot zu. Lill-Osborn erreichte es als Erster, bekam die Kante jedoch nicht zu fassen und wurde von einer Welle unter Wasser gedrückt. August packte ihn am Kragen und zerrte ihn ins Boot. Anschließend zogen sie Gustaf aus den Wellen. Nur mit vereinten Kräften gelang es den dreien, auch Hanses Olle an Bord zu hieven. Erschöpft sackten alle vier in ihrer nassen Kleidung in der Plicht zusammen. Gustaf spürte, wie sich die Kälte in seine Glieder fraß. Er wusste, dass er so nicht lange überleben würde.

2

Helene Berg hatte jeden einzelnen Ordner, jedes lose Blatt und alle anderen Gegenstände, die ihre Kollegen im Archivraum des Polizeireviers deponiert hatten, aus den Regalen genommen. Wie jedes Jahr, wenn sie die Weihnachtsdekoration hervorkramte, nutzte sie die Gelegenheit für ein Großreinemachen, und wie jedes Jahr herrschte das gleiche staubige Chaos wie im Vorjahr. Ordnung und Struktur waren unabdingbar, das hatten sie schon auf der Polizeihochschule gelernt. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Kollegen die Seminarräume überhaupt von innen gesehen hatten oder ob sie bei einigen Kursen durch Abwesenheit geglänzt hatten. Ordnung schien für sie jedenfalls ein Fremdwort zu sein. Und dann Dennis, der sich einfach für vier Wochen aus dem Staub machte. Welcher Polizeibeamte konnte sich so lange am Stück Urlaub nehmen? Im Sommer war das eventuell möglich, da halfen Bereitschaftskräfte aus. Aber jetzt, mitten im Winter, waren sie, Stig, Dennis und Sandra die einzigen Vollzeitkräfte. Allerdings würden die Kollegen aus Uddevalla sie sicherlich unterstützen, falls es nötig werden sollte. Der Herbst war ruhig gewesen. Während des spektakulären Falls im Sommer, als man Sebastian Svenssons Leiche aus dem Hafenbecken geborgen hatte und der Smögener Bauunternehmer Åke Strömberg spurlos verschwunden gewesen war, hatten ihnen die Medien förmlich die Tür eingerannt, doch seitdem waren keine ernsthafteren Delikte mehr vorgefallen. Ein paar gestohlene Fahrräder, der eine oder andere entwendete Bootsmotor, das Übliche. Kein Mord oder irgendein anderes Kapitalverbrechen.

Jetzt lag der ganze Krempel, der sich im vergangenen Jahr angesammelt hatte, auf dem Boden des Archivraums und im Flur, und sie musste sich beeilen, die Regale abzuwischen, damit sie alles wieder einräumen konnte, bevor ihre Kollegen eintrudelten. Als sie gerade einen Putzeimer mit Seifenlauge gefüllt hatte, klingelte ihr Handy. Helene meldete sich und blieb wie versteinert mit einer Hand im Wasser stehen.

Ihr Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen. »Ich komme sofort«, stieß sie hervor. »Nein, nein, ich komme sofort.« Sie griff nach Mantel und Schal und lief zum Auto.

»Inzwischen sind alle da«, sagte Dennis. »Die Spurensicherung ist noch mit Malmbergs Kajüte beschäftigt. Miriam wird die Obduktion durchführen. Sie hat versprochen, uns so schnell wie möglich einen ersten Befund zu geben.«

»Gut«, erwiderte Sandra. »Die Vernehmungsleiter sind auch eingetroffen. Ich hab sie gebeten, uns auf dem Laufenden zu halten und uns von jeder Aussage eine kurze Zusammenfassung zu schicken.«

»Wir sollten zu Kaj Malmbergs Frau Birgitta fahren«, beschloss Dennis. »Ihr Sohn Anders ist schon bei ihr, der ältere Sohn ist jetzt auch auf dem Weg zu seinem Elternhaus. Offenbar war er für das geplante Bankett heute Abend zuständig.«

»Ja«, pflichtete Sandra ihm bei. »Von dem Eventmanager Peter Malmberg wirst du doch schon mal gehört haben?«

»Nein, der Name ist mir noch nie untergekommen«, sagte Dennis.

»Er richtet alle Promihochzeiten und alle großen Kinopremieren in Schweden aus«, erläuterte Sandra. Ihr genervter Tonfall war nicht zu überhören. Wahrscheinlich war sie es leid, ein weiteres Mal bestätigt zu bekommen, dass Dennis offensichtlich hinter dem Mond lebte.

»Ich dachte, Micael Bindefeld sei the one and only, was solche Promi-Events betrifft«, verteidigte er sich.

»Ja, der ist fantastisch, aber Peter Malmberg ist inzwischen fast noch angesagter.«

Als sie die Idun über die Gangway verließen, würdigte Sandra den Matrosen, der ihr vorhin ungeniert ins Gesicht gepafft hatte, keines Blickes.

»Passen Sie auf, wer in den nächsten Stunden an Bord kommt oder vom Schiff an Land geht«, wies sie ihn an, wobei sie jedoch weiter stur geradeaus blickte.

»Zum Teufel«, fluchte Carsten auf Dänisch und warf seine Kippe ins Wasser.

Sandra ging schnurstracks an ihm vorbei. Dennis hingegen nickte dem Dänen amüsiert zu. Sich jetzt mit Sandra anzulegen, konnte nur nach hinten losgehen, so viel stand fest.

Dennis und Sandra wurden im Eingangsbereich von Anders Malmberg begrüßt und legten ihre Mäntel ab. Im Haus herrschte eine bleierne Stille. Birgitta Malmberg blickte auf, als sie das Wohnzimmer betraten. Sie saß in ein beigefarbenes Kostüm und eine eisblaue Bluse gekleidet in kerzengerader Haltung auf dem Sofa. Anders nahm seiner Mutter gegenüber in einem Sessel Platz, sein Bruder Peter war ebenfalls anwesend. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem roten Einstecktuch in der Brusttasche und hatte sein Haar akkurat zurückgegelt. Anders’ Haare hingegen standen wirr in alle Richtungen ab. Er trug einen blau-weißen Norwegerpullover und sah aus, als sei er monatelang durch die Welt vagabundiert, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an Kleidung oder Körperhygiene zu verschwenden.

Dennis trat auf Peter Malmberg zu, ergriff seine Hand und murmelte leise sein Beileid. Dann nahm er auf einem der weiß gepolsterten Stühle mit elegant geschnitzter Rückenlehne Platz. Sandra setzte sich auf einen ebensolchen Stuhl neben ihn.

»Wir möchten Ihnen unser Beileid aussprechen«, begann sie an Birgitta Malmberg gewandt, die ihren Blick erwiderte.

»Danke.« Kaj Malmbergs Frau nestelte ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Tränen ab. Offensichtlich war sie stark aufgewühlt.

»Leider müssen wir Ihnen schon jetzt einige Fragen stellen«, fuhr Sandra fort und sah Birgitta Malmberg unverwandt an.

»Ich bitte Sie, kann das nicht noch etwas warten?«, platzte Peter Malmberg aufgebracht heraus und lehnte sich ein Stück vor.

»Ich verstehe, dass Sie in Trauer sind«, erwiderte Sandra, »aber wir haben es mit einem Kapitalverbrechen zu tun und müssen sofort eine Mordermittlung einleiten.«

»Wir können nicht ausschließen, dass weitere Personen in Lebensgefahr schweben«, fügte Dennis hinzu. »Der Täter ist mit äußerster Brutalität vorgegangen. Wir müssen alles tun, um ihn zu stoppen.«

»Sind Sie sicher, dass es ein Mann war?«, fragte Birgitta Malmberg mit ausdrucksloser Miene.

»Nein«, erwiderte Sandra. »Wir ermitteln derzeit in alle Richtungen. Wir werden Sie, so gut es geht, auf dem Laufenden halten.« Sie zückte ihre Visitenkarte und legte sie auf das Beistelltischchen neben Birgitta Malmberg, die das Stück Pappe argwöhnisch beäugte, wie ein widerliches Insekt, das soeben in ihr Blickfeld geraten war.

»Wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?«, fragte Dennis an die beiden Brüder gewandt. Peter und Anders Malmberg sahen einander ähnlich, auch wenn ihr Erscheinungsbild grundverschieden war.

»Ich habe Kaj zuletzt an seinem Geburtstag im Sommer gesehen. Ich habe die Feier ausgerichtet«, antwortete Peter Malmberg und starrte auf seine manikürten Hände.

»Vater und ich haben gestern auf der Idun gemeinsam zu Abend gegessen«, ließ sich Anders Malmberg vernehmen und sah seine Mutter an. »Er wollte, dass wir den Ablauf der Preisverleihung heute Abend besprechen. Ich hatte eine Dankesrede vorbereitet, die ich ihm vorgetragen habe.«

»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Sandra.

Anders Malmberg schüttelte seufzend den Kopf, als versuche er, seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen.

»Ich glaube, wir sind gegen einundzwanzig Uhr auseinandergegangen«, sagte er schließlich. »Wir waren beide müde und wollten früh schlafen gehen.«

»Haben Sie Alkohol getrunken?«, erkundigte sich Sandra.

Dennis warf ihr einen Blick zu und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Verdächtigen Sie etwa meinen Bruder, unseren Vater ermordet zu haben?«, mischte Peter Malmberg sich ein.

»Nein, keinesfalls«, versicherte Dennis. »Wie gesagt, wir ermitteln in alle Richtungen.«

»Wir müssen wissen, wer Ihren Vater zuletzt lebend gesehen hat«, erläuterte Sandra. »Wir müssen uns ein Bild von seinen letzten vierundzwanzig Stunden machen. Das ist für unsere Ermittlungen ausschlaggebend. Beantworten Sie also bitte unsere Fragen, auch wenn sie Ihnen womöglich indiskret erscheinen.«

»Wir haben uns eine Flasche Rotwein bestellt«, sagte Anders Malmberg. »Ich habe aber nur ein Glas getrunken.«

»Wissen Sie, ob Ihr Vater Feinde hatte? Gab es jemanden, der ihm schaden wollte?«, fragte Dennis an Anders gewandt.

»Sie sollten lieber fragen, ob es jemanden gab, der ihm nicht schaden wollte!« Peter Malmberg schnaubte und sah seine Mutter an.

»Dein Vater war ein äußerst erfolgreicher und hoch angesehener Mann«, erwiderte Birgitta Malmberg.

»Du meinst wohl, ein Schwein!« Peter Malmberg sprang auf. Er ging zu einer eleganten Vitrine und goss sich ein Glas Whisky ein.

»Hör auf«, sagte Anders. »Sprich nicht so von ihm. Vater war ein Genie.« Anders Malmberg war bisher die Ruhe selbst gewesen, doch jetzt zeigten hektische rote Flecken an seinem Hals, dass ihn die Äußerung seines Bruders ärgerte.

»Dass du ihn verteidigst, war ja klar«, erwiderte Peter und leerte das Whiskyglas in einem Zug. »Papas kleiner Goldjunge. Du kannst kein schlechtes Wort über ihn verlieren, denn sonst könntest du ja nicht die ganzen Preise und Auszeichnungen entgegennehmen, bei denen er in der Jury gesessen hat.«

»Sei still«, sagte seine Mutter. »Den Toten muss man Respekt erweisen.«

»Zum Teufel«, fluchte Peter Malmberg und stürmte aus dem Zimmer.

Schweigen breitete sich aus. Einen Moment später klirrten die Fensterscheiben, als Peter Malmberg die Verandatür mit voller Wucht hinter sich zuschlug.

»Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen«, sagte Birgitta Malmberg. »Er steht unter Schock, was aber unter den gegebenen Umständen wohl kein Wunder ist.«

»Wir verstehen Ihre Lage«, erwiderte Dennis. »Wir können morgen wiederkommen. Wir haben gehört, dass die Universität heute Abend eine Gedenkzeremonie für Ihren Mann abhält.« Dennis erhob sich von seinem Stuhl.

»Ja, wir werden hingehen, jedenfalls für eine Weile«, sagte Birgitta Malmberg.

»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«, fragte Sandra, die keinerlei Anstalten machte aufzustehen.

»Wir haben gestern Abend gegen zehn Uhr miteinander telefoniert«, antwortete Birgitta Malmberg, »aber diese Forschungsfahrt dauert schon einen Monat. Gesehen habe ich ihn also seit Mitte November nicht mehr.« Sie blickte aus dem großen Panoramafenster des Wohnzimmers, vor dem sich das zugefrorene Meer erstreckte. »Das muss der kälteste Winter seit dem Eiswinter 1942 sein«, murmelte sie mit einem Mal abwesend, als sei sie in eine andere Welt abgedriftet.

»Vielen Dank«, sagte Dennis und zog Sandra am Arm mit sich. »Wir melden uns bei Ihnen!«

Anders Malmberg begleitete sie schweigend hinaus. Er wartete, bis sie ihre Mäntel angezogen hatten, und schloss die Tür hinter ihnen.

Victoria musterte ihr Spiegelbild. In Erwartung der bevorstehenden Hochzeit hatte sie sich den ganzen Herbst über strikt an die 5:2-Diät gehalten. Björn hatte sich ihr angeschlossen. Jeden Montag und Donnerstag gab es den gleichen Speiseplan: ein Ei mit einem kleinen Klecks Kaviar und eine Handvoll Lauchstreifen zum Frühstück, Quark mit einer Apfelsine und Nüssen zum Mittagessen und eine mit Sesamöl verfeinerte thailändische Suppe mit einer Einlage aus fein gehackten Chilischoten, Zitronen-Fleischbällchen, geraspelten Möhren und Edamamebohnen zum Abendessen. In den ersten zwei Monaten hatte sie vier, Björn fünf Kilo abgenommen, doch seitdem stand die Waage still.

»Kannst du mir bitte helfen?«, fragte Victoria, als Björn mit Anna auf dem Arm an ihr vorbeiging.

»Womit?« Björn setzte seine Tochter neben dem Wohnzimmertisch auf den Fußboden.

»Mit dem Reißverschluss im Rücken!«, fauchte Victoria. Darauf hätte ihr Göttergatte auch selbst kommen können.

Vorsichtig schob Björn den Reißverschluss Millimeter für Millimeter nach oben. Als er sich nicht mehr bewegen wollte, begann er zu zerren.

»Wusstest du, dass Anthony und Monica ein Baby bekommen?«, fragte er, während er weiter mit dem Reißverschluss kämpfte.

»Pass auf!«, blaffte Victoria. »Sonst geht er noch kaputt!«

»Vielleicht ist das Kleid zu klein«, wandte Björn vorsichtig ein.

»Du meinst, ich bin zu fett?«, brauste Victoria auf.

»Nein, aber vielleicht brauchst du das Kleid eine Nummer größer. Es steht dir jedenfalls fantastisch.« Björn nestelte weiter am Reißverschluss herum.

»Das Kleid gibt es nur bis Größe 46«, jammerte Victoria verzweifelt. »Ich kann es keine Nummer größer nehmen.«

»Warum ziehst du nicht das elegante schwarze Kleid an, das du während der Schwangerschaft getragen hast?«, schlug Björn vor, offensichtlich froh darüber, einen tollen Geistesblitz gehabt zu haben.

»Glaubst du, ich gehe in einem Umstandskleid auf eine Hochzeit?«, erwiderte Victoria.

»Vielleicht hat dein Bruder ja eine bessere Idee.« Björn dämmerte, dass seine Tipps bei Victoria nicht hoch im Kurs standen.

»Davon versteht Dennis nichts«, giftete Victoria.

»Nicht?«, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihnen. Dennis stand in der Wohnzimmertür und machte Klimmzüge am oberen Türrahmen.

»Ich bin fett«, jammerte Victoria, ließ sich auf eins der Sofas fallen und nahm Anna auf den Schoß, die aber sofort wieder runter wollte. Sie hatte gerade gelernt, sich an den Möbeln entlangzuhangeln, und entdeckt, dass sie fast alle von Mamas und Papas Sachen erreichte, wenn sie sich weit genug auf die Zehenspitzen stellte.

»Ich habe die schönste Schwester der Welt«, schmeichelte Dennis und setzte sich neben Victoria aufs Sofa. »Ist hier für mich vielleicht auch noch ein Millimeter Platz?«

Victoria kniff ihm so fest in den Arm, dass er aufschrie.

»Aua, Björn, hilf mir!«, rief er.

»Nein, sieh zu, wie du klarkommst«, erwiderte sein Schwager. »Ich hab genug damit zu tun, mir selbst zu helfen.«

»Ist meine Schwester so gemein zu dir?« Dennis sah Victoria mit gespielt strenger Miene an.

»Oje, ich bin eine Hexe.« Victoria schlug die Hände vors Gesicht.

»Nein, nein«, beschwichtigte Björn, »nur eine kleine Kratzbürste. Das ist schon in Ordnung.«

Dennis nahm seine Schwester in den Arm und lehnte seinen Kopf an ihren, was sie widerwillig geschehen ließ, während sie schluchzte: »Und Mama und du, ihr haut einfach ab«.

»Ja, aber ihr könntet doch was von Björns Erbe abzweigen und mitkommen«, schlug Dennis vor. »Ich kann Flug und Unterkunft gleich für euch buchen.« Dennis stand auf, um sein Tablet zu holen.

»Ich weiß nicht«, wandte Björn ein. »Wir müssen noch Holzplanken für die neue Terrasse hinter dem Haus kaufen, und für unser Haus in Sjövik brauchen wir einen neuen Luftentfeuchter.«

»Mein Gott, wie vernünftig du klingst«, erwiderte Dennis. »Hier, ich hab ein kinderfreundliches Hotel gefunden. Sieht das nicht toll aus?«

Victoria schaute sich die Fotos auf der Webseite an. Das neu errichtete Hotel war im Stil eines römischen Palazzos gehalten. In der Mitte gab es eine Poollandschaft, und die gesamte Anlage wurde von Palmen gesäumt.

»Oh, wie schön«, seufzte sie und deutete auf die Balkone, die zu jedem Hotelzimmer gehörten.

Theo ließ seine Spielzeugautos im Stich, um nachzusehen, was seine Mutter so verzückt betrachtete. Er studierte die Bilder gründlich und runzelte seine kleine Stirn.

»Baden«, sagte er dann, »baden.«

»Ein Baby, sagtest du!«, rief Victoria plötzlich und sah Björn an. »Monica ist schwanger?«

Anthony drehte sich zu Monica um, die mit ihrem Laptop auf dem Schoß im Bett saß. Ihre schwarzen Haare funkelten auf dem roten Satinkissen. Das Schlafzimmer war ganz in Schwarz, Rot und Weiß eingerichtet. Er wusste nicht recht, ob ihm die Farbkombination gefiel. Andererseits konnte er sich nicht einmal daran erinnern, welche Farbe sein Schlafzimmer in Greenwich gehabt hatte. Vermutlich Beigegrau, aber beschwören konnte er es nicht. Nachdem er seiner Schwester per Brief mitgeteilt hatte, dass er in Schweden bleiben würde, hatte er postwendend eine E-Mail von seiner Nichte Therese bekommen, die anfragte, ob sie in seinem New Yorker Apartement wohnen könnte. Sie wollte Musicalsängerin am Broadway werden, und um sich ihre Gesangsstunden zu finanzieren, hatte sie vor, im Red Rooster in Harlem als Kellnerin zu jobben. Daraufhin hatte er seine Schwester angerufen, und sie hatten sich auf eine Mietsumme geeinigt. Therese die Wohnung ganz umsonst zu überlassen, konnte er sich nicht leisten. Bisher hatte Monica zwar noch nicht verlangt, dass er finanziell etwas beisteuerte, aber momentan lebte er nur von seinen Ersparnissen.

Sein Boss hatte gelacht, als er um ein Sabbatjahr gebeten hatte. »Hast du ein schwedisches Mädchen getroffen?«, hatte er gefragt und sich wiehernd auf die Schenkel geklopft. Aber dann hatte Buck ihm viel Glück gewünscht, und zwei Wochen später hatte Fleurop einen Blumenstrauß mit roten und weißen Rosen an Monicas Haustür abgegeben. »So sweet!«, hatte sie gerufen und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie in naher Zukunft seinem New Yorker Bekanntenkreis vorstellen müsse. Seitdem war ein halbes Jahr vergangen, und er hatte immer noch keine zündende Idee entwickelt, wie es mit seiner beruflichen Laufbahn weitergehen sollte. Monica verdiente zwar nicht schlecht, aber er konnte nicht ewig auf ihre Kosten leben.

»Hier, schau mal«, sagte Monica jetzt. »Gott, wie süß. Einfach nur ent-zück-end!«

Anthony legte seinen Kopf auf ihren Arm.

»Was ist das?«, fragte er.

»Aber das siehst du doch«, erwiderte sie. »Das ist ein Pomeranian-Welpe.«

»Der ist schwarz«, wandte Anthony ein.

»Die Rasse gibt es in verschiedenen Farben, sie wird auch Zwergspitz genannt. Ist der Kleine nicht goldig? So einen will ich haben. Was sagst du?«

Monica sah ihn mit funkelnden Augen an.

»Von mir aus«, antwortete Anthony. »Aber wer soll auf den Hund aufpassen, wenn du bei der Arbeit bist?«

Sie blickte ihn mit schief gelegtem Kopf an und lachte.

»Du natürlich. Du bist doch den ganzen Tag zu Hause und kannst dich um unser kleines Baby kümmern, wenn ich weg bin. Und wenn ich zu Hause bin, wechseln wir uns ab.«

Vor seinem inneren Auge sah Anthony, wie der kleine Welpe seine Unterlagen und Fotos im Büro zerkaute. Sein Büro war sein Heiligtum, aber es hatte keine Tür, der Welpe könnte also einfach hineinlaufen und alles darin zerstören. Er hatte keine Erfahrung mit Hunden, doch eine seiner New Yorker Arbeitskolleginnen hatte eine Zeit lang ihren Welpen mit in die Firma genommen, weil ihr Hundesitter abgesprungen war. Der kleine Welpe war superdrollig gewesen, aber frech. An einem Tag hatte er sich in Bucks Büro geschlichen und die Seiten in seinen Kundenordnern nahezu pulverisiert. Buck hatte ausgesehen, als würde er jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden. Nach diesem Zwischenfall hatte er endlich zugestimmt, eine CRM-Software einzusetzen.

»Sollten wir nicht noch ein bisschen warten, bevor wir uns einen Welpen anschaffen?«, wandte er vorsichtig ein.

Monica blickte ihn traurig an.

»Ich möchte ein kleines Baby«, erwiderte sie und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Ich verstehe.« Anthony nahm sie in die Arme. Ihm war klar, dass er diese Diskussion unmöglich gewinnen würde, und er sah seine Morgenruhe in den kommenden zehn Jahren schwinden. Bis er siebzig wäre, würde er von nun an vermutlich jeden Tag um sechs Uhr morgens aus den Federn kriechen, um mit dem Hund Gassi zu gehen. Unter der Woche, wenn Monica arbeitete, konnte sie das unmöglich übernehmen, und an den Wochenenden würde sie diese Aufgabe mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ebenfalls an ihn delegieren. Schließlich wusste er mittlerweile, was für eine passionierte Langschläferin sie war.

»Du sagst also Ja?« Monica sah ihn weiter unverwandt an.

»Natürlich.« Anthony küsste sie auf den Kopf. Das Glück, das aus ihren Augen strahlte, war jede Mühe wert. Und schlafen konnte er im Grab noch genug. Das stand fest. Vielleicht würde der Hund ihm helfen, ein paar der lästigen Liebeskilos loszuwerden, die sich auf seine Hüften gelegt hatten.

Helene Berg stürzte wortlos an Carsten vorbei, der, wie Sandra es ihm aufgetragen hatte, die Gangway bewachte.

»He, Moment mal!«, rief er ihr mit einer Kippe im Mundwinkel nach.

»Ich muss zu meiner Tochter!«, schrie Helene und hielt im Laufen ihre Polizeimarke in die Höhe, die Carsten anscheinend als solche erkannte, denn er wandte sich schulterzuckend ab.

Helene kletterte die Leiter zum Achterdeck hinunter. Die meisten Kajütentüren waren geschlossen, aber aus einer Kabine drangen Stimmen, und die Tür stand offen. Sie hastete darauf zu und blieb bei dem Anblick, der sich ihr bot, wie angewurzelt im Türrahmen stehen.

»Hallo, Helene! Wie gut, dass du so schnell kommen konntest«, begrüßte Dennis sie.

»Wer ist das?«, keuchte Helene entsetzt und deutete auf den Mann, der in seiner Koje lag und aus dessen Bauch dutzende Messergriffe ragten.

Die Spurensicherung war damit beschäftigt, die Kajüte Millimeter für Millimeter nach Hinweisen zu durchkämmen.

Die Rechtsmedizinerin Miriam Morten unterbrach ihre Arbeit und drehte sich zu Helene und Dennis um. »Sein Name ist Kaj Malmberg«, antwortete sie. »Jemand hat insgesamt vierundzwanzig Mal auf ihn eingestochen. Zwei der Messerstiche waren tödlich. Angesichts der großen Menge Blut, die aus den Wunden ausgetreten ist, nehme ich an, dass die tödlichen Stichverletzungen zuletzt erfolgt sind. Nach der Obduktion kann ich Genaueres sagen. Gut möglich, dass der Täter über anatomisches Fachwissen verfügt. Er hat ziemlich genau gewusst, wo er zustechen musste.«

»Inwiefern?«, fragte Sandra, die, nachdem sie die Toilette aufgesucht hatte, wieder in die Kajüte zurückgekehrt war.

»Die Stiche wurden sehr präzise ausgeführt«, erläuterte Miriam.

Einer der Kriminaltechniker trat auf Dennis zu.

»Wir haben Proben von dem Igel hier genommen«, sagte er und hielt ihm den goldfarbenen Gegenstand hin. »Sobald ihr ihn euch angesehen habt, werde ich ihn noch gründlicher analysieren. Vielleicht können wir herausfinden, woher er stammt.«

»Ist er aus echtem Gold?«, fragte Dennis.

»Ja, die Augen sind vermutlich Rubine und die Schnauze ein schwarzer Diamant.«

»Der muss ziemlich wertvoll sein«, stellte Sandra fest.

»Ich schätze, dass sich allein der Goldwert auf fünftausend Kronen beläuft. Die Rubine und der Diamant noch nicht mitgerechnet.«

»Kaj Malmberg wurde also nicht aus einem finanziellen Motiv heraus getötet«, schlussfolgerte Dennis.

»Jedenfalls nicht wegen ein paar läppischer Öre«, fügte Sandra hinzu.

»Rache«, schaltete Helene sich ein. »Ich denke, dass der Täter aus purer Rache gehandelt hat.« Sie starrte auf die Leiche, und man sah ihr an, dass sie überlegte, was Kaj Malmberg getan haben mochte, um einen derart grausamen Tod zu verdienen.

»Oder aus Eifersucht«, spann Sandra den Faden weiter.

»Wo ist Felicia?«, fragte Helene.

»Komm, ich bring dich zu ihr.« Sandra nahm Helene am Arm.

Kapitän Jakob Odinsson verließ die Kommandobrücke und ging zur Gangway hinunter, an der Carsten mit seiner obligatorischen Zigarette im Mundwinkel nach wie vor frierend Wache hielt.

»Du kannst jetzt gehen«, wies der Kapitän ihn an.

»Wer löst mich ab?«, fragte Carsten.

»Ich kümmere mich darum«, erwiderte Odinsson. »Die Polizei hat die Mannschaftsunterkünfte abgesperrt, dort darf sich momentan niemand aufhalten. Aber ihr könnt heute Abend im Salon zusammenkommen und ein paar Gäste an Bord einladen. Achtet aber darauf, dass diesmal alles in gesitteten Bahnen verläuft.« Jakob Odinsson musterte Carsten mit einem Blick, der selbst den hartgesottenen Dänen bis unter die Haarspitzen erröten ließ.

»Vielen Dank, Kapitän!«, erwiderte Carsten aufrichtig.

Er war, wenn er ganz ehrlich in sich hineinhorchte, fertig mit der See, das hatte er im Verlauf dieser Forschungsfahrt immer deutlicher gespürt. Er war es leid, niemals an Land zu sein, niemals normale Menschen kennenzulernen und vielleicht eine ernsthafte Beziehung einzugehen. Aber wie sollte er an Land seinen Lebensunterhalt verdienen? Welcher Kopenhagener Personalmanager im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde einen alten Seebären wie ihn einstellen, der den Matrosenberuf an den Nagel hängen wollte?

»Wir verlassen das Schiff gegen fünfzehn Uhr und checken im Hotel ein. Es wäre gut, wenn du bis dahin zurück wärst. Die Nachtwache verläuft nach Dienstplan. Aber statt Sechs-Stunden-Schichten könnt ihr einander nach vier Stunden ablösen.«

Carsten hatte seine Wache mit Asbjørn getauscht, ihn betraf das nicht, trotzdem bedankte er sich beim Kapitän. Carstens letzte Schicht begann um sechzehn Uhr, von zwanzig Uhr abends bis acht Uhr morgen früh hatte er frei. Er würde schon dafür sorgen, dass er sich in der Zeit königlich amüsierte. Doch jetzt blieben ihm nur noch drei Stunden, um die Smögener Damenwelt auf die Idun einzuladen. Vertreter des männlichen Geschlechts gab es auf dem Schiff schon genug. Er holte die schönen Plakate hervor, mit denen er für seine Partys an Bord – Tropical Ice, wie er sie nannte – warb und die er extra hatte drucken lassen. Auf den Postern waren ein karibischer Sonnenuntergang und der schwarze Schattenriss eines Pärchens abgebildet, das unter einer Palme an einem Sandstrand saß. Carsten trug das heutige Datum und als Veranstaltungsbeginn zwanzig Uhr ein, steckte die Poster in eine Plastiktüte und machte sich auf den Weg.

Helene Berg griff nach der Hand ihrer Tochter. Auf der Idun hatte sie an ihrer Koje gesessen und sie nach dem Eintreffen des Krankenwagens nach Uddevalla in die Klinik begleitet. Jetzt saß sie an ihrem Bett und sah ihr beim Schlafen zu. Helene war ein wenig erstaunt, dass das Auffinden der Leiche ihres Mentors Felicia einen derartigen Schock versetzt hatte. Auf manche Dinge reagierte sie sehr sensibel, das stimmte, aber andererseits war sie zäher und nervenstärker als die meisten anderen. Nicht viele würden eine Polarexpedition in Eiseskälte und unter heftigen Stürmen mit solcher Bravour meistern wie Felicia. Helene jedenfalls nicht.

»Schätzchen! Wie geht es dir?«, fragte sie behutsam, als ihre Tochter die Augen aufschlug.

Felicia blickte ihre Mutter schweigend an und zog ihre Hand weg.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat Helene.

»Du würdest es doch nicht verstehen«, erwiderte Felicia und starrte aus dem Fenster.

Sandra saß an ihrem Schreibtisch im Polizeirevier, als Dennis den Kopf zur Tür hereinsteckte. Weder Sandra noch Dennis hatten das Stellenangebot, das Camilla Stålberg ihnen im Herbst unterbreitet hatte, ablehnen können. Dennis hatte um jeden Preis auf Smögen bleiben wollen, und obwohl Sandra fand, dass in Sotenäs zumindest in den Herbst- und Wintermonaten der Hund begraben lag, hatte auch sie das Angebot angenommen. Eine Festanstellung direkt nach der Ausbildung war schließlich nicht zu verachten.

»Kommst du mit nach Hunnebostrand?«, fragte Dennis.

»Warum?«, erwiderte Sandra.

»Ich möchte mit Kaj Malmbergs Schwester reden. Aus seiner Frau Birgitta scheinen wir gerade nicht besonders viel herauszubekommen, und die Söhne stehen ebenfalls noch unter Schock. Ich denke, es ist besser, wenn wir mit ihnen erst wieder nach der Gedenkstunde sprechen, die für heute Abend angesetzt ist.«

»Gehen wir vorher noch eine Scampi-Pizza essen, oder verträgt die sich nicht mit deiner Urlaubsdiät?«, zog Sandra ihn auf.

»Wir können uns eine Pizza teilen.« Dennis schlug mit der Hand gegen den Türrahmen, als wollte er sie zur Eile antreiben.

Sandra schlüpfte in ihren Mantel und folgte Dennis. Sie setzten sich in einen Streifenwagen und verließen Kungshamn.

»So viel Schnee ist in Bohuslän seit dem Eiswinter 1942 nicht mehr gefallen«, bemerkte Sandra.

»Diesen Eiswinter 1942 hat doch auch Birgitta Malmberg erwähnt. Was ist daran so Besonderes?«

»Hier an der Küste ist das jedem ein Begriff«, erklärte Sandra. »Ich habe gerade heute in der Bohusläns Tidning einen Artikel darüber gelesen. Damals war das Hafenbecken komplett zugefroren, und die Kinder sind zwischen Kleven und Smögen über Eisschollen gesprungen. Die Fischerboote ankerten in einer offenen Fahrrinne, und Pferde haben die Kisten mit dem Fang auf Schlitten übers Eis an Land gezogen. Die Männer haben Löcher ins Eis gehackt, um Fische für ihre Familien zu fangen.«

»Das klingt aber irgendwie auch entschleunigt«, erwiderte Dennis nachdenklich. »Ich hätte nichts gegen eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit, um zu sehen, wie die Leute damals gelebt haben.«

»Ja, aber nur, wenn man ruckzuck wieder in die Gegenwart zurückkehren kann«, sagte Sandra und googelte etwas auf ihrem Handy.

»Was siehst du nach?«

»Gegrilltes Dorschfilet mit Meeresfrüchteragout und Dillkartoffeln, das sollte man vielleicht bestellen«, erwiderte Sandra. »Aber die Scampi-Pizza schmeckt einfach göttlich.«

»Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen«, mahnte Dennis.

»Mir hängt der Magen bis in die Kniekehlen, und außerdem friere ich wie ein Schneider.« Sandra blickte aus dem Seitenfenster, während Dennis zum Hafen von Hunnebostrand abbog.

Zugegeben, auf Smögen war es lausig kalt, aber wenn Carsten an seine rot gefrorenen Wangen und die Eiszapfen dachte, die seinen Oberlippenbart im Polarmeer geziert hatten, kam es ihm in den schmalen Gassen zwischen den Häusern geradezu behaglich warm vor. Er hatte sich im Hotel Smögens Havsbad eine Wellnessbehandlung gegönnt. Das volle Programm. Eine Angestellte in einem Krankenschwesternoutfit mit üppiger Oberweite und kräftigen Armen hatte ihm den Rücken mit nach Orangenblüten und Zedernholz duftenden Ölen massiert. Anschließend hatte er seine durchgefrorenen Knochen in der Sauna aufgewärmt. Und zum Abschluss hatte er sich sein zugewuchertes Gesicht rasieren und nur den Oberlippenbart und einen kurzen Kinnbart stehen lassen. Danach hatte die Frau noch irgend so ein tiefenreinigendes Pflegeprodukt aufgetragen und mit den Fingerspitzen eine spezielle Creme für kältegeschädigte Haut in seine Wangen geklopft. Er hatte kurz überlegt, ob er sie heute Abend zur Party einladen sollte, aber obwohl sie fast alle Regionen seines Körpers berührt hatte, hatte er nicht die kleinste Erregung gespürt, was völlig untypisch für ihn war. Also hatte er beschlossen, einen Streifzug über die Insel zu unternehmen. Vielleicht liefen ihm dabei ja noch weitere Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts über den Weg. Aber bisher war jede Straße, jede Gasse und jeder Laden, an dem er vorbeigekommen war, menschenleer gewesen.

Seine Gedanken wanderten zu Kaj Malmberg, der wie ein erstochener Igel in seiner Koje gelegen hatte. Von einem derart brutalen Mord hatte er noch nie gehört. Was hatte Malmberg getan, das jemanden so in Rage versetzte? Und wer war zu einer solchen Tat fähig? Was, wenn es jemand vom Schiff gewesen ist?, schoss es ihm durch den Kopf. Jemand von der Crew oder einer der Wissenschaftler? Er ging die Gesichter der jungen Doktoranden durch. Doch da war niemand, dem er einen solchen Mord zutraute. Zwar hatten Jan und er öfter bemerkt, dass sie etwas anstrengend sein konnten, aber keiner von ihnen verhielt sich in irgendeiner Weise aggressiv. Im Gegenteil. Auf ihn wirkten sie eher wie Langweiler in Reinkultur, von Ehrgeiz besessen und verkopft. Jeden Winter lernte er mindestens zwei Forschergruppen kennen, einige Wissenschaftler blieben länger an Bord und absolvierten gleich mehrere Expeditionsfahrten, andere verbrachten nur ein paar Wochen auf der Idun. Cheng zum Beispiel war ein chinesischer Wissenschaftler, wie er im Buche stand. Er schlief vier Stunden, die restlichen zwanzig Stunden des Tages verbrachte er mit Experimenten, Probenahmen und Analysen. Durch seine dicken Brillengläser blickte er ins Mikroskop und hielt nach den kleinsten Bestandteilen des Meeres Ausschau. Cheng hatte Jimena überredet, sich an der asiatischen Küche zu versuchen, was folgendermaßen ablief: Wenn sich alle die Bäuche mit dänischen Smørrebrød und schwedischer Hausmannskost vollgeschlagen hatten, gab die Schiffsköchin die Reste in einen Wok und schmeckte sie mit Ingwer, Chili, Limette, Koriander und Sesamöl ab. Jimena zufolge war Cheng mit ihren Kreationen zufrieden.

Carsten kam an einer kleinen gelben Fischerkate vorbei. Am Holzzaun, der einen kleinen Vorgarten umgab, hing ein handbemalter Briefkasten, den jemand mit dem Seeblick auf die Klippen und den Leuchtturm von Hållö verschönert hatte. Darunter standen zwei Namen. Als er den unteren Namen las, blieb er wie angewurzelt stehen. War das wirklich möglich?

Carsten zögerte. Mit eiskalten Fingern zündete er sich eine Zigarette an. Seit der Spa-Behandlung im Hotel hatte er nicht mehr geraucht. Plötzlich merkte er, dass er wie fremdgesteuert an die kleine Fensterscheibe in der Verandatür klopfte. Er wartete einen Augenblick. Doch niemand öffnete. Carsten drehte sich um und blickte aufs Meer und die Schären hinaus. Von der obersten Treppenstufe konnte er bis zur Insel Hållö sehen. Verdammt schöne Lage, dachte er und ging die Treppe wieder hinunter.

»Herein!«, drang mit einem Mal eine Stimme aus dem Haus.

Obwohl sie dünner geworden war, erkannte er sie sofort. Es war ihre Stimme, kein Zweifel. Er warf die Kippe in den Schnee und ging zum Haus zurück.

Carsten steckte den Kopf durch die Verandatür und rief: »Hallo?«

»Mik?«, kam die Antwort von drinnen.

Er betrat das Haus und lief den Flur entlang. Sie saß am Wohnzimmerfenster.

»Carsten!« Sie starrte ihn überrascht an und schlug die Hand vor den Mund.

»Erkennen Sie mich noch?«, erwiderte er lachend.

»Natürlich tu ich das! Der kleine Carsten.«

Er ging zu ihr hin und gab ihr einen Kuss auf die Wange.