Tod eines Schweins - Egbert Osterwald - E-Book

Tod eines Schweins E-Book

Egbert Osterwald

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Die Gesamtschule Engerode bei Hannover scheint wie für eine Werbebroschüre gemacht: engagierte Lehrer, fleißige Schüler und ein herausragender Schulleiter. Doch die Idylle trügt, das stellt sich heraus, als ein Mord geschieht. Der allseits beliebte und geachtete Schulleiter wird mit einer Kugel in der Brust aufgefunden. Und rasch wird deutlich: Es ist alles nur Tünche. Hinter der Heilen-Welt-Fassade lauern Konkurrenz, Machtgier und gnadenloser Hass. Egbert Osterwald, selbst im Schuldienst tätig, zeichnet mit seinem Kultroman ein eindringliches und packendes Bild der Abgründe des heutigen Schullebens.

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Tod eines Schweins

Roman

 

von

Egbert Osterwald

 

 

 

Impressum

Cover: Karsten Sturm, Chichili Agency

EPUB ISBN 978-3-95865-374-0

MOBI ISBN 978-3-95865-375-7

© 110th / Chichili Agency 2014

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

KURZINHALT

Die Gesamtschule Engerode bei Hannover scheint wie für eine Werbebroschüre gemacht: engagierte Lehrer, fleißige Schüler und ein herausragender Schulleiter. Doch die Idylle trügt, das stellt sich heraus, als ein Mord geschieht. Der allseits beliebte und geachtete Schulleiter wird mit einer Kugel in der Brust aufgefunden. Und rasch wird deutlich:

Es ist alles nur Tünche.

Hinter der Heilen-Welt-Fassade lauern Konkurrenz, Machtgier und gnadenloser Hass.

Egbert Osterwald, selbst im Schuldienst tätig, zeichnet mit seinem Kultroman ein eindringliches und packendes Bild der Abgründe des heutigen Schullebens.

KURZVITA

Prolog

Die letzten Takte des Largos von Händel waren verklungen. Susanne Weichelt, die einzige Schülerin der Schule, die so gut Klavier spielen konnte, dass sie vorzeigbar war, saß in ihrem schwarzen Kleid am Flügel und blickte auf. Frau Nickel, die grauhaarige Musiklehrerin, setzte ihre Geige ab. Die weißen Lilien und Nelken verbreiteten einen durchdringenden Duft. Es war still. Frank Zeidler erhob sich und fühlte die Blicke aller auf sich gerichtet, als er mit langsamen Schritten durch den freien Raum ging und an das Rednerpult trat.

Er hatte sich sorgfältig gekleidet für diesen Augenblick: sein schwarzer Anzug, ein eleganter, etwas taillierter Einreiher, saß wie angegossen. Nach mehreren Versuchen heute Morgen hatte er auch die Krawatte genau auf die richtige Länge gebunden. Der schmale schwarze Steifen unterstrich seine sportliche Figur. Elegant, aber zu dieser Stunde auch würdevoll.

Als er das Pult erreichte, drehte er sich um. Vor ihm die lange Reihe von Ehrengästen und Trauernden, im Hintergrund ein paar Schulklassen. Die Aula der Gesamtschule Engerode war voll. Die an den Wänden hängenden bunten Fähnchen und die grellen Pop-Poster von der letzten Musikveranstaltung waren in letzter Minute von den Teilnehmern einiger Kunstkurse abgenommen worden und durch schwarze Stoffbahnen ersetzt worden. Ein gutes Bild. Er hatte auf die Dekoration Einfluss genommen, weil er es genauso haben wollte wie vor vier Jahren, als der damalige Stellvertretende Schulleiter Selbstmord begangen hatte.

Er entfaltete sein Manuskript und blickte auf. Nur ein kleines Husten hinten im Raum durchbrach die Stille. Vor ihm die tief getroffene Ehefrau, dazu Verwandte, Angehörige, das Kollegium, die Vertreter der Bezirksregierung.

»Sehr geehrte Frau Sattler, liebe Trauernde!«

Er hatte zusammen mit dem Fachbereichsleiter Ästhetik die komplizierte Aufnahmetechnik des Mikrophons so eingestellt, dass seine von Natur aus etwas helle Stimme einen dunkleren Klang und ein warmes, einfühlsames Timbre erhielt. Ein Sarg stand nicht da, obwohl er ihn gerne als Requisit benutzt hätte. So gab es neben einer Fülle von Blumen und Kränzen nur die großen, messingfarbenen Kandelaber mit ihren weißen Altarkerzen auf der Bühne. Wie ein Großteil der Blumen waren auch sie von einem Dekorationsgeschäft ausgeliehen worden.

»Noch immer stehen wir fassungslos und voller Entsetzen. Noch immer können wir es nicht fassen: Unser Schulleiter, Gregor Sattler, ist tot. Ein feiger Mord hat sein Leben beendet — ein feiger, hinterhältiger Mord. Die tödlichen Schüsse trafen ihn dort, wo wir ihn alle kannten: bei seiner Arbeit. Wir wissen nicht, wer der oder die Täter waren, aber sie trafen ihn dort, wo sein Herz schlug — in unserer Schule, für die er sich bis zur Selbstaufgabe einsetzte. Unermüdlich.«

Er hatte die Rede zu Hause memoriert, Franziska hatte sie quergelesen und etwas verbessert, sie war gut. Das Loblied auf einen unermüdlich arbeitenden, aufrechten, rechtschaffenen Mann.

Er spürte das Wohlwollen, mit dem ihn der Blick des zuständigen Dezernenten der Bezirksregierung streifte. Er sammelte Punkte. De mortuis nihil nisi bene — über die Toten nur Gutes, an diese römische Weisheit würde er sich halten.

Die elegante Frau hinten im dunklen Kostüm erkannte er. Sie war die Kriminalkommissarin, die den Fall untersuchte. Kein Wunder, dass sie da war. Auch in Kriminalfilmen verrieten sich die Mörder häufig am Grab.

Er zwang sich einen Augenblick zur Ruhe und entspannte seine Stimme. Dann würde sie tiefer und mitfühlender klingen.

»Nicht nur die Schule hat einen Verlust erlitten, sondern jeder von uns. Jeder einzelne kann sich letztlich nur selbst fragen, worin der Verlust für ihn persönlich besteht. Ich werde Gregor Sattler als einen fairen Vorgesetzten, ein berufliches und, ich möchte auch sagen, menschliches Vorbild vermissen, dem ich gerne vor seinem Tod noch so vieles gesagt hätte.«

Es gab keinen Beifall, als er langsamen Schrittes wieder zu seinem Platz ging, aber der fehlte bei solchen Reden immer. Doch die Sympathie der geladenen Gäste war ihm sicher, vielleicht würde sich nachher noch ein Gespräch mit dem Dezernenten ergeben.

Er setzte sich. Der Stuhl neben ihm blieb leer. Gregor Sattler würde dort nie wieder Platz nehmen...

1

Ich hasse ihn, dachte er, oh, wie ich diesen Kerl hasse.

Frank Zeidler lehnte sich zurück und fühlte die Wärme der Sonne auf seinem Rücken. Die Vorhänge waren zwar zugezogen worden, aber aus irgendeinem Grunde blieb immer ein Spalt frei, durch den ihn das Sonnenlicht traf. Er spürte ein wohliges Gefühl der Wärme, das sich von seinem Rücken über seine Schulter bis hin zu seinem Nacken und Kopf ausbreitete. Es machte ihn schläfrig. Jetzt einfach die Augen zumachen und ein kleines Mittagsschläfchen halten. Einfach wegdämmern. Oder draußen spazierengehen. Die frische, warme Luft atmen. Den Frühling genießen.

Trotz der weichen Unterlage spürte er zunehmend jede einzelne Strebe des Korbgeflechts. Er setzte sich gequält auf und blickte sich aufmerksam im Raum um.

Mit heimlicher Befriedigung bemerkte er, dass sein Nachbar zur Linken, Norbert Weinitz, der Leiter des Realschulzweiges, ebenfalls mit der Müdigkeit kämpfte. Seine Augen schlossen sich, sein Kopf sackte manchmal vornüber, um dann in einem Ruck nach oben zu fahren.

Ein Blick auf die Tagesordnung zeigte ihm, dass sie immer noch bei Tagesordnungspunkt 3, Berichte und Termine, verharrten und dass die Uhr auf halb drei zuging. Wieder einmal war die Zeit gnadenlos überzogen worden.

Endlos, dieser TOP 3, Berichte und Termine. Fußlappenthemen, jedesmal das gleiche, und nichts wurde fertig. Raucherhof auf dem Schulhof. Neben der Sporthalle, bei den Fahrradständern oder doch im kleinen Karree? Da allerdings einsehbar von den Nachbarn. Also wohin? Sollte das Formular zur Benachrichtigung der Eltern noch einmal geändert werden?

Und die wichtigen Themen waren noch nicht einmal behandelt worden. Auch sein Thema nicht, auf das er sich vorbereitet hatte. Wahrscheinlich würde man es wieder vertagen. Leistungsprobleme der Schulabgänger in der gymnasialen Oberstufe. Wen scherte es denn schon, dass die Leistungen ihrer Schüler im Abitur verglichen mit denen des Nachbargymnasiums immer schlechter wurden? Und wen kratzte es ernsthaft, dass es Jahr für Jahr immer weniger Eltern gab, die ihre Kinder auf dem Gymnasialzweig der Schule anmeldeten? Sie waren nun einmal eine Gesamtschule, die drei Schulzweige unter einem Dach hatte und die von den Eltern angewählt oder aber abgewählt werden konnte. Stattdessen wurde seit einer halben Stunde die bevorstehende Aufführung eines Musicals ›Rock-Night‹ in gut einer Woche besprochen. Wichtiges wurde hier seit langem nicht mehr behandelt.

Es ist meine Zeit, dachte er, es ist meine Lebenszeit, die hier verrinnt. Und auch das Bewusstsein, dass es den anderen vielleicht ebenso erging, beruhigte ihn nicht. Es war einfach langweilig, schlichtweg langweilig. Zum Kotzen. Furchtbar. So mussten sich Schüler in einem Unterricht fühlen, der sie überhaupt nicht interessierte. Gnadenlos genervt. Und die Zeit schleicht wie eine Schnecke.

Der Stuhl drückte, der aufkommende Ärger machte ihn endgültig wach, und mit einem Anflug von übergroßer Deutlichkeit nahm er den Raum wahr. Ein großer heller Sitzungstisch, acht Stühle, zwei davon waren heute leer, darum herum Aktenschränke, viele davon unaufgeräumt. Die Tür zum kleineren Nachbarzimmer stand offen, und man konnte ganz im Hintergrund des Zimmers eine skandinavische Sitzecke mit einem Sofa erkennen. An den Wänden Übersichtskarten, Zettel, ein paar Fotos. Das Bild einer Schülergruppe mit der Unterschrift Wir grüßen unsere Freunde in Deutschland. Das Überbleibsel eines Austauschversuches mit Polen. Auch wieder so ein Projekt, das als Investitionsruine herumstand und das seine Existenz nur der Durchsetzungsfähigkeit des Schulleiters verdankte. Einmal ein Besuch, ein Foto mit dem Minister für die Zeitung, dann schlief das Ganze ein. Und zurück blieb die Enttäuschung auf der anderen Seite.

Er musterte zum wiederholten Male die Reihe seiner Kollegen, die mit ihm jeden Montag ab zwölf Uhr diese quälende Prozedur über sich ergehen lassen mussten.

Norbert Weinitz hatte wohl gerade seine Müdigkeitsphase überwunden, denn er meldete sich auf einmal mit einem Engagement zu Worte, das er die letzte halbe Stunde hatte vermissen lassen. Wenn, dann sagte er nur etwas zu technischen Fragen. Beginn, Ende von Veranstaltungen, Busprobleme, mehr nicht. Wilhelm Brahms, der Leiter des Hauptschulzweiges. Er war der einzige, mit dem er etwas befreundet war, privat war er ganz lustig, ein Sportvereinstyp, Handballspieler, den man gerne um sich hatte, aber hier hielt er sich seit langem zurück. Daneben die dicke Uschi, die Leiterin der Orientierungsstufe. Sie war zwar am längsten hier, aber ihr Wort galt am wenigsten.

Schließlich noch Walter Meyer, der Stellvertreter, wie immer wie aus dem Ei gepellt, wenngleich diesmal die rote Krawatte nicht ganz zum Türkis des Anzugs passen wollte. Aber er trug ein neues Parfüm, das ihm gut stand. Auch er ohne eigene Meinung. Der Platz von Dr. Finkenburg, dem Didaktischen Leiter, war leer. Dr. Finkenburg war nach einem Herzinfarkt, den er nur mit Mühe überstanden hatte, noch immer krankgeschrieben. Wahrscheinlich würde er in den vorzeitigen Ruhestand treten und seinen Sessel räumen. Mit ihm hatte sich Frank Zeidler gut verstanden, Finkenburg hatte hin und wieder mal ein offenes Wort riskiert, man konnte sich auf ihn verlassen. Er hatte eine Lücke hinterlassen.

Auch so einer, den der Kerl geschafft hat, dachte er verbittert. Und dann sagte er sich ganz leise, aber eindringlich: In drei Monaten bin ich hier weg. In drei Monaten sehe ich von all diesen Menschen keinen einzigen mehr. Und vor allen Dingen ›ihn‹ nicht.

›Er‹ saß an der Stirnseite des Tisches. Da der Raum für die Menge der Möbel nicht sehr groß war, stieß er mit dem Rücken fast direkt an seinen chronisch unaufgeräumten Schreibtisch, der mit einem Berg von wichtigen oder vielleicht auch unwichtigen Papieren bedeckt war. dass man in diesem Durcheinander überhaupt noch etwas wiederfinden konnte! Auf dem Tisch und in unmittelbarer Umgebung drei Telefone. Drei! Mann, musste der Kerl wichtig sein! Drei Telefone für einen Schulleiter.

Getarnt von einem ewig freundlichen Lächeln blickte Frank Zeidler seinen Vorgesetzten an und musterte ihn. Rundes Gesicht, etwas fett, aber vermutlich noch ganz beweglich, untersetzt, knapp einsachtzig. Manchmal, wenn er schnell sprach, unterliefen ihm noch leichte grammatische Fehler, und sein Ruhrpottslang schlug durch.

Er isst zu viel, und jetzt trinkt er noch zu viel, dachte er, als er die rötliche Hals- und Gesichtsfärbung seines Chefs bemerkte. Und seine Herzprobleme, von denen er immer erzählt — vielleicht kriegt er ja mal einen Herzinfarkt, und den hoffentlich bald. Wenigstens muss er jetzt Betablocker schlucken. Da ist er bestimmt impotent. Und seine Frau ist hübsch. Bestimmt hat sie einen Liebhaber, einen Lover. Geschieht ihm recht.

Er fühlte es an der Zeit, sich wieder an der Diskussion zu beteiligen, um seine Aufmerksamkeit zu demonstrieren.

Er meldete sich nachlässig.

»Frank.« Gregor Sattler hatte ihn bemerkt und erteilte ihm das Wort.

»Ich finde, dass wir dem Problem der Fremdbesucher noch mehr Aufmerksamkeit widmen müssen«, begann er. (Ein gutes Thema, insgeheim lobte er sich.) »Zu jeder unserer Veranstaltungen kommen ja immer auswärtige Schiller und Jugendliche. Und gerade bei dieser wichtigen Veranstaltung, dem Höhepunkt des Schuljahres sozusagen (er trug doch wohl nicht zu dick auf?), müssen wir daran denken! Außerdem sollten wir noch das Problem des Alkohols in Betracht ziehen.«

Frank lehnte sich zurück. Eine schöne Rede, der Sache gerade angemessen. Gute Worte, alte Probleme, nichts gesagt. Als er merkte, wie Gregor Sattler ihn etwas verblüfft anstarrte, setzt er hinzu: »Dieses Musical, das immerhin von einer zehnten Hauptschulklasse selbständig entwickelt worden ist — ein hohes Lob noch einmal unseren Kollegen aus dem Hauptschulzweig —, ist doch der Höhepunkt unserer diesjährigen Veranstaltungsreihe. Und gerade wir sind doch auch aus Gründen der Außenwirkung gezwungen, dafür zu sorgen, dass nicht ein paar chaotische Störer den guten Eindruck zunichtemachen, an dem wir seit Jahren gearbeitet haben.« Das Wort ›Außenwirkung‹ war immer gut. Augenblicklich glätteten sich die Züge von Gregor Sattler.

»Was schlägst du vor?«

Frank erhob sich und trat an das Flipchart, auf dem ein Verlaufsplan der Veranstaltung eingetragen worden war. Das Ergebnis der Diskussion der letzten Stunde. Und dabei hatte doch Wolfgang Schwarzer, der Klassenlehrer, der mit seiner 10. Hauptschulklasse das Musical aufführen wollte, schon einen sehr guten Vorschlag vorgelegt, der einfach nur in die Tat hätte umgesetzt werden müssen. Vielleicht hätte man hier und dort noch einige Verbesserungen vornehmen können, doch war dies allenfalls die Arbeit für eine lockere Arbeitsgruppe. In der Schulleitungssitzung, wo sie alle doch recht gut bezahlt wurden, hatte ein solches Thema jedoch mit Sicherheit nichts zu suchen.

Frank stellte sich an das Flipchart und nahm einen blauen Stift. Er sah den resignierten Blick des Realschulzweigleiters, der jetzt eine Verlängerung der Debatte um mindestens eine Viertelstunde befürchtete. Zu Recht, dachte Frank hämisch. Zu Recht. Aber wenn euch die Themen so auf die Nerven gehen, warum sagt ihr Feiglinge denn nichts! Wenn man die Sitzung zur Farce machte, dann konnte man sie sogar genießen.

»Wenn die Besucher den Eingang passiert haben ...«, er machte ein dickes Kreuz bei dem Punkt Einlasskontrolle, »dann können sie sich im Schulgebäude fast ohne Kontrollen bewegen. Sogar der Verwaltungstrakt stünde ihnen dann offen. Wir müssen also ...«

Das Telefon schnarrte und unterbrach ihn. Es war das rote Telefon, eine gesonderte Leitung mit einer Nummer, die nur wenige kannten und die nicht an die normale Telefonanlage der Schule angeschlossen war.

Es schnarrte mehrfach, bis schließlich Gregor Sattler scheinbar genervt den Hörer abhob und dann ein zunehmend engagierter werdendes Gespräch begann. Es ging offensichtlich um dringende Probleme einer Fortbildung im nächsten Monat, die Sattler leiten würde.

Das Gespräch stockte. Frank stand ein wenig verloren neben dem Flipchart, legte schließlich den Stift beiseite und setzte sich.

Die Diskussion am Telefon beschränkte sich jetzt im Augenblick nur noch auf »hm, so ..., gut und doch«, wurde also zunehmend uninteressanter für die anderen. Norbert Weinitz, der Realschulzweigleiter, gähnte verstohlen und schaute demonstrativ auf seine Uhr. Walter Meyer nestelte an seiner Krawatte herum und dachte wohl an seinen Vertretungsplan, den er bis morgen noch erstellen musste.

Und keiner sagt etwas, dachte Frank. Jeder lässt es zu, dass ein beliebiges, im Grunde genommen unwichtiges Thema auf die Tagesordnung gesetzt werden kann, aus einer Laune, einem Augenblick heraus.

Die Haltung des Schulleiters hatte sich verändert. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, seine Ausführungen am Telefon wurden länger und zunehmend ausführlicher. Gelegentlich verzog er seine Miene, wie um anzudeuten, dass ihn das Telefonat grenzenlos langweile und störe.

Es ist alles meine Zeit, dachte Frank Zeidler. Ich habe einen Bericht über die nachlassenden Leistungen unserer Schüler im Vergleich zum Nachbargymnasium vorliegen. Ich habe daran noch gestern Nacht gearbeitet. Und jetzt wird wieder alles verschoben. Der Gesichtsausdruck seiner Kollegen wandelte sich von gelangweilt in genervt. Jetzt schaute auch Walter Meyer auf die Uhr. Sogar Uschi, die dicke Orientierungsstufenleiterin, kramte in ihrer Handtasche.

Gregor Sattler deckte das Mikrophon des Hörers ab. »Macht mal weiter«, sagte er, »das dauert hier noch etwas. Geht leider nicht anders.«

Aber keiner der anderen machte irgendwelche Anstalten.

Und das ist schon das dritte Telefonat, dachte Frank. Was haben wir nicht schon alles versucht, dies abzustellen. Er hält sich einfach nicht dran. Gott sei Dank, in drei Monaten bin ich hier weg.

In drei Monaten, dann würde er, wenn alles gutging, seine neue Stelle als Studiendirektor am Ernst-August-Gymnasium in Hannover antreten. Sein Amt als Leiter des Gymnasialzweiges dieser Schule würde er nur noch bis zum Ende des Schuljahres innehaben, und dann ...

Einfach weg.

Endlich war das Gespräch beendet, Sattler hatte aufgelegt. Mit sicherem Blick erfasste er die mangelnde Bereitschaft der anderen, noch einmal den Verlauf des Musicals durchzusprechen.

»Wollen wir so verfahren, wie es Wolfgang Schwarzer uns in seinem Infopapier vorgeschlagen hat?« fragte er kurz. Alle wollten es.

»Die weiteren Tagesordnungspunkte verschieben wir auf das nächstemal«, schlug er noch vor. »Wir sollten dann auch konzentrierter arbeiten.« Und nach einer Pause fügte er jungenhaft grinsend hinzu: »Dabei fass' ich mich zuallererst auch an meine Nase.«

Widerwillig musste sich Frank eingestehen, wie geschickt es Sattler verstand, den Unmut der anderen aufzufangen, freiwillig auf sich zu lenken und damit zu entkräften.

»Wir sollten unbedingt noch klären«, ließ sich Walter Meyer vernehmen, »welche Fächer wir ausschreiben lassen, damit wir unsere Unterrichtsversorgung für das nächste Schuljahr sichern. Die Anforderungen an die Schulaufsicht müssen diese Woche noch heraus.«

Sattler nickte nur kurz. »Ich habe das schon weitgehend mit der Bezirksregierung festgelegt. Die Kollegin Reichelt, die gerade in der letzten Woche ihre zweite Prüfung abgelegt hat, ist sehr kompetent und allseits beliebt. Und für ihre Fächer Biologie und Französisch besteht bei uns Bedarf. Also habe ich im Gespräch mit unserem Dezernenten Herrn Grohe Biologie und Französisch angefordert. Selbstverständlich habe ich mich auch darum bemüht, unseren Engpass in Chemie zu beseitigen. Ich hoffe natürlich, dass wir sowohl einen Chemiker als auch Frau Reichelt bekommen werden. Ich werde jedenfalls mein Möglichstes tun.«

Zwei Stellen kriegen wir nie, dachte Frank. Eine vielleicht.

Zwei nie. Andererseits, Reichelt war eine nette und obendrein junge Kollegin. Das zunehmend älter werdende Kollegium würde sie brauchen können. Außerdem war er der Klassenlehrer in der Klasse, in der sie ihr Examen abgelegt hatte, und hatte sie in der Zeit schätzen gelernt.

Norbert Weinitz hakte nach. Seine sonst etwas langweilig wirkende Stimme bekam einen schärferen Unterton. »Ich finde es nicht gut, Gregor, dass du über diese Personalfragen so allein entscheidest. Bisher haben wir dies immer noch im Team gemacht.«

Zum ersten Mal artikulierte sich Unmut auf dieser Sitzung.

»Und wir waren bisher davon ausgegangen, dass wir vorrangig unseren Engpass in Chemie beheben. Nichts gegen Gabi Reichelt, aber Chemie geht vor«, betonte auch Walter Meyer.

Gregor Sattler wiegelte ab. »Wir haben doch auch einen hohen Bedarf an Biologie. Und außerdem werden wir alle immer älter. Darüber klagen wir doch seit Jahren. Jetzt haben wir die Chance, eine junge Kollegin zu bekommen. Und jetzt fallt ihr mir in den Rücken. Das Interesse der Schule müssen wir langfristig im Auge behalten. Wir müssen auch über den heutigen Tag hinaus planen. Außerdem musste ich ganz kurzfristig entscheiden. Und die Möglichkeit, dass wir einen Chemiker bekommen, besteht immer noch.«

Das ist definitiv falsch, dachte Frank Zeidler, sagte aber nichts. Seitdem er mit Sattler vor einigen Monaten diesen faulen Kuhhandel abgeschlossen hatte, hielt er sich in solchen Situationen zurück. Zu deutlich stand ihm das Gespräch vom letzten November noch vor Augen.

Damals hatte er vor der Entscheidung gestanden, sich erneut um seinen Posten bewerben zu müssen. Wie alle Ämter an einer Gesamtschule war er nicht auf Lebenszeit verliehen, sondern nur auf einen begrenzten Zeitraum von neun Jahren. Seine Stelle war im Schulverwaltungsblatt öffentlich ausgeschrieben worden. Jeder konnte sich bewerben, natürlich auch er. Aber bei der Wiederbesetzung hatte der Schulleiter ein gewichtiges Wort mitzureden, und dies machte ihn, Frank Zeidler, abhängig und verwundbar. Und Sattler hatte ihm dies in aller Deutlichkeit vor Augen geführt.

»Wenn du dich hier nicht wieder bewirbst um dein Amt, wenn du auf dein Amt verzichtest, freiwillig«, hatte er ihm im November unumwunden erklärt, »dann bekommst du von mir eine Bombenbeurteilung. Und damit kannst du dich überall bewerben. Es ist zum Beispiel eine interessante Stelle in Hannover frei. Andernfalls ...«

Er hatte dieses Andernfalls nicht auszusprechen gebraucht. Frank Zeidler hatte verstanden. Andernfalls würde er gefeuert werden, Vorwände würden sich finden lassen. Sie ließen sich immer finden. Das war der Deal gewesen. Eine gute Beurteilung dafür, dass er sich nicht wieder um sein Amt bewarb. Wegloben, so nannte man das wohl.

Es war eine schamlose Erpressung, und obwohl Frank ein ungutes Gefühl hatte und heimlich mit den Zähnen knirschte, hatte er eingewilligt. Noch heute ekelte er sich vor seiner Feigheit. Vielleicht hätte er es auf einen Kampf ankommen lassen sollen, vielleicht Sattler noch einmal offen die Stirn bieten. Vielleicht ... Aber er hatte angenommen, und seit dieser Zeit hielt er den Mund.

Mein Gott, wie er den Kerl hasste!

Der Schulleiter hatte bei seinem letzten Beitrag die Stimme erhoben, nicht stark, aber gerade so, dass er die anderen zum Schweigen brachte. Dann schaute er auf die Uhr. »Schon wieder halb vier. Nächstes Mal müssen wir aber alle schneller arbeiten.« Dann stand er auf. »Machen wir Schluss für heute.«

Schluss, dachte Frank Zeidler und blies verärgert den Atem heftig durch die Nase. Er dachte an die Oberstufenklausur, die langsam Staub ansetzte. Das war sein Feierabend. Und auch Walter Meyer beneidete er nicht. Der hatte noch mindestens zwei Stunden an seinem Vertretungsplan zu tun. Aber der arbeitete auch immer so langsam.

Die Gruppe verließ tröpfelnd den Raum. Frank ging noch einmal, wie es seine Gewohnheit war, ins Sekretariat, schloss auf und sichtete die heute eingegangene, für ihn bestimmte Post. Sie war an diesem Tage spät gekommen, und wegen der Schulleitersitzung hatte er noch keine Zeit gehabt, sie anzuschauen.

Der Brief, der ihm sofort ins Auge fiel, trug keinen Absender, aber der graue Umschlag und die Art der Anschrift im Fensterfeld ließen keinen Zweifel daran, dass er von der Bezirksregierung kam. Er musste heute mit der Dienstpost gekommen sein. Sollte das die ersehnte Versetzung sein? Er griff mit dem Daumen unter den Falz des Umschlages und riss ihn auf.

Das Schreiben war wie erwartet von der Regierung, es war sehr kurz und enthielt nur drei Sätze.

Sehr geehrter Herr Zeidler, ich danke für Ihre Bewerbung für das Amt des Studiendirektors am Ernst-August-Gymnasium in Hannover. Leider kann ich Ihre Bewerbung nicht berücksichtigen. Ich beabsichtige, Herrn Dr. Wandelmann mit dem Amt zu beauftragen und den Beamten in Kürze zu befördern. Unterzeichnet, im Auftrage ...

Eine Weile fühlte Frank Zeidler gar nichts. Er fühlte keinen Schlag, kein Luftwegbleiben, keinen Krampf, all das, von dem er gedacht hätte, dass er es in solch einem Augenblick fühlen müsste. Er starrte ungläubig auf die Zeilen. Wir danken ... leider ... Dr. Wandelmann...

Er kannte Dr. Wandelmann nicht. Und er wusste nichts von ihm, nur dass er genauso gut beurteilt worden war, aber keinerlei Leitungserfahrung hatte. Nicht im Traum hatte er daran gedacht, hier abgelehnt zu werden. Bei seiner Erfahrung. Auch bei seinen unbestreitbaren Erfolgen. Nun gut, das Gutachten von Sattler hätte noch positiver ausfallen können, es war etwas nichtssagend gewesen. Aber warum diese Ablehnung?

Nur in Ansätzen kam ihm zu Bewusstsein, dass er mit fünfundvierzig Jahren wieder am Anfang seiner Laufbahn stand und erneut ganz von vorn anfangen musste. Undeutlich fühlte er, dass er einen Deal gemacht hatte, bei dem er hereingelegt worden war.

Die Tür ging auf, Sattler trat ins Sekretariat und sah, wie er den Brief rasch beiseite legte. Über sein Gesicht huschte der Anflug eines leisen, undefinierbaren Lächelns.

»Schönen Nachmittag noch, Frank«, sagte er.

In diesem Augenblick beschloss Frank Zeidler, dass Gregor Sattler, Schulleiter der Gesamtschule Engerode bei Hannover, sterben musste.

Zum wiederholten Male stapfte Cornelia Winckelmann in das Kinderzimmer.

»Verdammt noch mal, hört endlich auf, oder es setzt was!«, schrie sie. Wie die Kinder ihr heute auf den Nerv gingen! Ewig musste Melanie den Kleinen ärgern, der dann auch prompt anfing zu brüllen.

Für einen Moment war alles ruhig. Melanie schaute unschuldig auf, dann fühlte sich jedoch Thorsten mit seinen vier Jahren offenkundig im Recht, zeigte seine auseinander gebrochene Duplo-Garage und fing wieder an zu heulen.

»Ich habe überhaupt nichts gemacht!«, stellte Melanie empört fest. »Überhaupt nichts. Der heult einfach nur.«

»Stimmt gar nicht! Du hast mir die Garage kaputt gemacht«, brüllte Thorsten.

Es ist das reinste Chaos, dachte Cornelia Winckelmann. Das reinste Chaos. Und wer recht hat, kann ich sowieso nicht entscheiden. Und dabei muss ich nun meine Unterrichtsvorbereitungen machen. Und einkaufen muss ich auch noch. Zu dumm, dass heute die Kinderfrau abgesagt hatte, die Thorsten normalerweise auch Montagnachmittag nahm!

»Pass auf, Melanie«, meinte sie dann ruhig. »Du bist die Ältere und vernünftig ... Jetzt hör doch mal endlich auf zu heulen!«, fauchte sie Thorsten an, der seinem echten oder angeblichen Schmerz durch nach wie vor anhaltendes Gebrüll Ausdruck verlieh. Meist hörte er erst auf, wenn sie Melanie eine Ohrfeige gab. Und sie hatte schon längere Zeit den Verdacht, dass das genau seine Absicht war. Auf einen wütenden Blick hin beendete Thorsten jedoch sein Gebrüll und schluckte nur noch an ein paar Tränen.

»Melanie, ich habe noch etwas zu tun und muss nachher noch einkaufen«, sagte sie dann mit ruhiger Stimme. »Vertragt euch. Thorsten, auch du! Du brauchst auch nicht immer gleich zu heulen.«

Das würde vielleicht wieder für eine knappe halbe Stunde reichen. Sie kehrte zu ihren Unterrichtsvorbereitungen an den Schreibtisch zurück. Wie schafften andere das bloß? Und dabei hatte sie schon, wie die meisten Frauen in ihrem Alter, eine Teilzeitbeschäftigung. Sie gab nur noch die Hälfte der normalen Stundenzahl. Zu mehr hätte ihre Kraft wohl auch gar nicht gereicht.

Glücklicherweise hatte sie genügend Routine, die Stunden vorzubereiten. Die Rechtschreibübungen würden schnell gehen, den Aufsatz, den würde sie wahrscheinlich doch erst Sonntag korrigieren können. Dann war das Wochenende mal wieder gebongt.

Wider Erwarten blieben die Kinder länger als eine halbe Stunde ruhig, und so konnte sie konzentriert ihre Vorbereitungen erledigen. Nun noch das Jugendbuch in der 7. Klasse ... Sie freute sich richtig auf die Stunde. Sie würde gut laufen, das sah sie schon jetzt. Ohnehin, sie war gerne Lehrerin, und die meisten ihrer Schüler mochten sie. Nur manchmal wurde es halt ein bisschen viel. Die Planung der Geschichtsstunde in der 8 R3 schob sie allerdings bis zum Schluss vor sich her. Eine unangenehme Klasse. Sie ging nicht gerne hinein. Laut, wenig bereit, auch nur das Nötigste zu tun, und einige Schüler, die das Gymnasium nicht geschafft hatten, hier aber jetzt auf dem Realschulzweig zu den Besten zählten, versuchten nach Möglichkeit den Unterricht zu torpedieren. Ließen ihrer Frustration freien Lauf. Es war ein schwieriges Brot. Gott sei Dank nicht nur bei ihr. Und es erforderte eine gute Vorbereitung, sonst gingen sie nachher alle über Tisch und Bänke.

Sie schlug das Geschichtsbuch auf. Eroberung des Inka-Reiches. Ein interessantes Thema. Meist lief es ganz gut. Unschlüssig blätterte sie die entsprechenden Seiten des Buches um. Damit konnte sie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken. Gerade dieser Teil, sonst war das Buch ja gar nicht schlecht. Aber dieses Kapitel war dünn, wirklich dünn, abstrakt und obendrein langweilig.

Wenn ich ihnen das Buch vorlege, gehen die mir nach zehn Minuten an die Decke. Dann bin ich nur noch beschäftigt, Sören, Carsten und Petra zu ermahnen. Und den Unterricht kann ich abschreiben. Nein, sie brauchte etwas Besseres. Ihr geübter Blick wanderte das große Bücherregal nach oben und blieb an einer Quellensammlung haften. Interessante Augenzeugenberichte. Damit wurde Geschichte spannend. Ein paar Bilder fand sie auch noch, schließlich noch den Bericht eines Mönches über die Lebensweise der Inkas. Den konnten Carsten und Sören alleine durcharbeiten. Das würde sie fordern, und es würde ihnen wahrscheinlich auch Spaß machen.

Sie packte den kleinen Stapel von Büchern zusammen. Jetzt mussten die entsprechenden Seiten nur noch kurz kopiert werden. Sollte sie es morgen vor dem Unterricht machen? Der Kopierer im Druckraum war allerdings morgens immer von einer Reihe von Kollegen umlagert, da müsste sie schon sehr früh aufstehen, und jetzt war der Schulassistent bestimmt nicht mehr in der Schule.

Plötzlich fiel ihr der Kopierer im Verwaltungstrakt ein. Eigentlich war er nicht für die Kollegen vorgesehen, sondern nur für die Verwaltung, das Sekretariat, die Schulleitung. Andererseits war er offen zugänglich. Außerdem: Wer würde sie denn sehen? Und es war doch für den Unterricht. Natürlich war es eine Schweinerei, wie ihr Schulleiter kürzlich auf einer Dienstbesprechung festgestellt hatte, dass an einem Wochenende über tausendfünfhundert Privatkopien von Unbekannten gezogen worden waren. Aber bei ihr war das doch etwas anderes. Es war ja für den Unterricht. Und morgen würde es schwierig werden.

Sie sagte eben noch Melanie und Thorsten, die auf einmal einträchtig zusammen mit der Autorennbahn spielten, die sie Thorsten zu Weihnachten geschenkt hatten, kurz Bescheid, dann fuhr sie rasch zur Schule.

Richtig leer sah sie aus. Nachmittags wirkte sie immer ganz anders. Die Hausmeisterloge war nicht besetzt, und auch die Autos der Schulleitung standen nicht mehr auf dem Parkplatz. Keiner würde es merken, wenn sie den Kopierer benutzte.

Die Flurtür zum Verwaltungstrakt war verschlossen. Natürlich, sonst konnte ja jeder Hinz und Kunz hinein. Hastig zog sie ihren Schlüssel heraus und wollte aufschließen. Ohne Probleme glitt er ins Schloss, aber als sie mechanisch umschließen wollte, merkte sie, dass er sich nicht drehen ließ. Sie stutzte, zog den Schlüssel heraus und steckte ihn wieder hinein und versuchte ihn abermals zu drehen. Aber er hakte nicht nur, hatte sich nicht nur irgendwie verklemmt, sondern er bewegte sich keinen Millimeter. Erst nach einigen Augenblicken der Verblüffung fiel ihr auf, was es bedeutete: Ein anderes Schloss der Schließanlage der Schule war eingesetzt worden. Ihr normaler Schlüssel passte nicht mehr.

»So ein Mist«, fluchte sie leise. Am nächsten Morgen würde sie früh aufstehen müssen, sehr früh.

Wie bringe ich diesen Kerl um? dachte Frank, als er seinen Wagen aufschloss. Er dachte daran, als er den Schulparkplatz verließ und als er auf der Straße war. Wie bringe ich diesen Menschen um?

Seine ersten Phantasien konnten einem der vielen Videos entlehnt sein, die er auf Elternabenden immer wieder kritisierte und verurteilte, ohne je eines gesehen zu haben. Mit der Kreissäge? Zerlegen, zerfetzen? Oder einfach erschießen?

Undeutlich fühlte er, dass sein Hass pubertär wurde, sich auszuleben begann in wilden, blutrünstigen Phantasien, denen nichts weiteres folgen würde. Auch als Jugendlicher hatte er einmal töten wollen, hatte sich für seinen Sportlehrer eine möglichst peinvolle Todesart ausgedacht. Inspiriert von Karl May war er auf einen indianischen Marterpfahl gekommen. Messerwerfen. So lange, bis Herr Brinkmann vor Qualen aufschreien würde. Und dann hätte er ihn verächtlich freigelassen. Auch der Pastor, der ihn während der Konfirmandenstunde immer mit diesen schrecklichen Liedern gelangweilt hatte, war zwischenzeitlich ein heißer Anwärter auf diesen Platz gewesen.

Aber das alles lag nun schon eine Zeitlang zurück. Natürlich lebte sein Pastor noch, und wenn Frank gelegentlich bei seinen Eltern vorbeischaute, traf er ihn auch manchmal. Er war ein netter, älterer Herr, mit dem sich Frank ausgesprochen angeregt unterhielt. Ob er den Sportlehrer noch einmal grüßen würde, der ihn immer wieder den Felgaufschwung so lange hatte vorturnen lassen, dass auch der letzte in der Klasse bemerkte, dass Frank Zeidler im Turnen eine Niete war, nicht. Aber dass er ihn heute dafür nicht mehr umbringen würde, das wusste er genau. Und während er so fuhr und die Mechanik des Fahrens, das Einfädeln in den zunehmend dichter werdenden Verkehr, der nach Hannover floss, ihn automatisierte und damit ruhiger machte, wurde ihm instinktiv klar, dass er Sattler nicht in einem Gefühlsausbruch töten konnte. Mordgelüste — die lebte man nicht aus. Darüber schlafen, alles vergessen?

Mit einem Male stand wieder Sattlers Gesicht vor ihm, sein dünnes, leichtes Lächeln, sein betont freundliches ›Schönen Nachmittag noch, Frank‹, und erneut fühlte er jenen unbändigen Hass, den er vorhin erlebt hatte, der in ihm hochgekommen war wie eine Welle, dieses Gefühl, reingelegt worden zu sein. Für seine Feigheit, mit der er dem offenen Kampf ausgewichen war, auch noch bestraft worden zu sein. Sollte das erledigt sein, indem er einfach mit dem Fuß gegen den Schrank trat, ein Glas gegen die Wand warf, seine Frau schlug oder sich bloß betrank?