Tod in Andeer - Juon Rita - E-Book

Tod in Andeer E-Book

Rita Juon

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  • Herausgeber: Orte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Nach einem Unwetter wird im Hinterrhein bei Andeer eine Tote gefunden, die zwar keinen Ausweis, jedoch einen hohen Geldbetrag auf sich trägt. Wer ist die Frau, was hatte sie in Andeer zu suchen und was hat es mit dem vielen Geld auf sich? Briefträger Beni und seine Grossmutter Annetta kommen den Ereignissen auf die Spur, nicht aber ihren Hintergründen. Diese kennt nur die Dorfbewohnerin Marlene, doch sie zieht es vor, aus Andeer zu verschwinden – was sich als folgenschwerer Fehler erweist. Woher das Geld stammt, entdeckt schliesslich Lindiwe, die in Südafrika im Gästehaus der Toten arbeitet. Doch statt zur Aufklärung des Falls beizutragen, nutzt sie ihr Wissen auf unkonventionelle Weise.

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Seitenzahl: 344

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Rita Juon

Tod in Andeer

Kriminalroman

© 2021 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und

Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger,

elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck,

sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel

Umschlagbild: Carmen Wueest

Gesetzt in Times New Roman

Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn

ISBN: 978-3-85830-290-8

ISBN e-Book: 978-3-85830-294-6

www.orteverlag.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Fremdsprachige Ausdrücke

Dank

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Über den Autor

1

September 2019

Die beiden Buben schrien sich schon den ganzen Nachmittag an. Nicht etwa, weil sie im Streit lagen. Auch nicht, weil keiner dem anderen zuhören wollte. Erst recht nicht, weil ihre Ohren wieder einmal geputzt werden sollten. Sie mussten schreien, um das Rauschen des Hinterrheins zu übertönen.

«Wieder nichts», rief der eine. «Ob wir wohl überhaupt jemals Gold finden?»

«Das muss man üben!», brüllte der andere. «Parker Schnabel hatte auch nicht auf Anhieb Erfolg.»

«Wer?»

«Parker Schnabel! Der Goldsucher aus Alaska, der im Fernseher kommt. Papa und ich schauen uns die Sendung immer an.»

Ursin schaufelte erneut Sand und Kies aus dem Fluss in das Kunststoffbecken. «Ein richtiges Goldwaschbecken wäre zehnmal praktischer als diese Teigschüssel meiner Mutter», maulte er.

«In einem Monat habe ich Geburtstag, dann wünsche ich mir eines.» Frederik rüttelte an der selbst gebauten Goldwaschrinne, um sie besser zu platzieren. «Für eine richtige Goldwaschrinne wird es nicht reichen, aber diese hier ist gar nicht schlecht.»

«Und wenn es im Hinterrhein gar kein Gold gibt?», wandte Ursin ein.

«Gibt es!», beharrte sein Freund. «Ich habe es selbst gehört, als zwei Männer darüber redeten. Ich erzählte meinem Papa davon, und der hat im Internet nachgeschaut. Es gibt Gold im Hinterrhein.»

«Da!», brüllte Ursin aufgeregt, während er die Teigschüssel im Kreis drehte. «Schau hier, am Rand, das, was so glitzert!»

So schnell er mit den hohen Gummistiefeln konnte, eilte Frederik zu ihm. Andächtig betrachteten sie das winzige glitzernde Teilchen im Sand auf dem Boden der Schüssel. Fast gleichzeitig liessen sie ein enttäuschtes Brummen vernehmen.

«Glimmer», stellte Ursin fest. «Wieder nur Glimmer.»

Frederiks Gesicht hellte sich auf. «Aber wir werden immer besser», meinte er. «Letztes Mal haben wir überhaupt nichts gefunden und heute schon zum zweiten Mal Glimmer!»

Ursin leerte die Schüssel aus und klemmte sie sich zwischen die Knie, um sich die klammen Finger warm zu reiben. Als er den Reissverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hochzog, blieb sein Blick an einem dunklen Fleck flussaufwärts haften. «Schau, dort liegt etwas im Wasser», sagte er. «Was kann das sein?»

Trotz der unförmigen Stiefel bewegten sich die Buben gewandt über Kies und Steine am Ufer flussaufwärts.

«Ein Rucksack!», rief Ursin. «Hilf mir», wies er seinen Freund an und begann, Trittsteine zwischen dem Ufer und dem Fundstück ins Flussbett zu werfen. Frederik schleppte einen angeschwemmten Holzprügel heran, an dem sich Ursin festhalten konnte, als er sich zum Fundstück hinüberhangelte. Seine Jacke wurde nass bis zu den Ellbogen, als er die Hände ins eiskalte Wasser tauchen musste, um den Rucksack, der sich im Geschiebe verfangen hatte, zu lösen. Endlich erreichte er mit ein paar Sätzen das Ufer, wo er zitternd vor Kälte auf einen Stein sank.

Frederik nahm ihm die Beute aus der Hand. «Vielleicht ist ein Ausweis drin, dann können wir ihn zurückgeben.» Er schickte sich an, die Schnalle zu lösen. «Ein richtiger Rucksack ist das nicht, er sieht eher aus wie eine grosse Damenhandtasche.»

Tatsächlich enthielt der Beutel die üblichen Utensilien, die Damen nach den Kenntnissen der Buben mit sich führten: Taschentücher, ein Brillenetui, Kaugummi, Lippenstift, ein Röhrchen mit Kopfwehtabletten, die Reste einer Illustrierten, ein kleines Portemonnaie und einen durchnässten Briefumschlag aus Karton.

Frederik griff nach dem Portemonnaie. «Kein Ausweis», berichtete er, als er es untersucht hatte, «und auf dem Couvert steht keine Adresse.» Er drehte es in der Hand. «Es ist verschlossen. Der Inhalt wird wohl völlig aufgeweicht sein.»

«Wie finden wir denn heraus, wem der Rucksack gehört?», fragte Ursin.

Der Freund dachte nach. Erneut untersuchte er das Portemonnaie und entdeckte ein Notenfach mit Reissverschluss, den er jetzt öffnete. «Keine Adresse», stellte er fest, «aber hundertfünfzig Franken.»

Ursin blickte sehnsüchtig auf die Noten. «So viel wie eine Goldwaschrinne und eine Waschpfanne kosten.»

«Stimmt.» Frederik blickte ihn aufmerksam an. «Wir wissen nicht, wem der Rucksack gehört. Darum können wir ihn auch nicht zurückgeben. Also dürfen wir ihn behalten.»

«Bist du verrückt?», fragte Ursin entsetzt. «Er gehört uns doch nicht. Wir müssen ihn abgeben.»

«Wo denn?»

«Das weiss ich nicht. Vielleicht auf dem Fundbüro?»

«So etwas gibt es hier nicht», gab Frederik zurück.

«Dann müssen wir ihn auf der Gemeinde abgeben», sagte Ursin.

«Auf welcher denn?» Frederik wurde ungeduldig. «Andeer? Bestimmt nicht, wir haben ihn ja vor dem Dorf aus dem Rhein gefischt. Er muss von irgendwo oberhalb kommen. Aber wir können doch nicht bis nach Splügen gehen, nur um ihn dort abzugeben!»

Ursin schüttelte den Kopf. «Von dort kann er nicht kommen, er muss nah beim Dorf ins Wasser gefallen sein, unterhalb der Staumauer von Bärenburg.»

«Jetzt sei nicht so ein Besserwisser», raunzte Frederik. «Hat der Stausee etwa keinen Abfluss? Klar hat er! Also kann der Rucksack auch von weiter oben kommen.» Er runzelte die Stirn und überlegte. «Wenn er aber aus dem Rheinwald kommt und schon einen oder sogar zwei Staudämme hinter sich hat, ist er schon länger unterwegs. Dann hat es die Besitzerin längst aufgegeben, ihn zu suchen. Ausser diesen hundertfünfzig Franken ist ja auch nichts Besonderes drin.»

«Was meinst du damit?»

«Ich meine, dass niemand den Rucksack vermisst. Wir brauchen ihn nirgends abzugeben.»

Ursin war empört. «Aber das Geld!»

«So viel ist es nicht. Wenn Mama in Thusis einkaufen geht, braucht sie mehr als das.»

«Schon, ja, aber die Frau, der der Rucksack gehört, wollte doch etwas kaufen damit!»

«Dann hätte sie besser aufpassen müssen», sagte Frederik ungehalten. «Wahrscheinlich war es sowieso eine Touristin, somit ist sie unmöglich zu finden. Vermutlich ist sie längst wieder abgereist.»

«Möglich. Ich kenne jedenfalls niemanden im Dorf mit einem solchen Rucksack.» Ursin betrachtete das Gepäckstück nachdenklich.

«Du hast gesagt, es würde reichen für eine Goldwaschrinne und eine Waschpfanne.»

«Ja.» Abwesend liess Ursin den Blick zur Teigschüssel schweifen. «Es würde genau reichen …»

Eine Zeit lang hing jeder seinen Gedanken nach, die sich unweigerlich in die gleiche Richtung bewegten.

«Sind wir uns einig, dass wir die Besitzerin des Rucksacks niemals finden werden?», fragte Frederik schliesslich.

«Ja.»

«Wozu sollen wir ihn also irgendwo abgeben?»

«Weil …»

«Wenn er niemandem gehört, können wir ihn genauso gut behalten.»

«Aber …»

«Aber, aber, aber!» Frederik rang die Hände. «Mach nicht so ein Theater! Für die Besitzerin ist der Rucksack verloren. Wer soll ihn dann am ehesten bekommen? Die Gemeinde?» Er schüttelte den Kopf. «Sicher nicht! Die auf der Kanzlei wissen doch nichts damit anzufangen, und Geld hat die Gemeinde genug.»

«Schon, aber …»

«Aber wir können uns damit eine Goldwaschrinne und eine Waschpfanne kaufen!»

Nach einigen Minuten war Ursin endlich von der Idee überzeugt, das Fundstück zu behalten. Dass sowohl seine als auch Frederiks Eltern das anders sehen würden, war allerdings beiden klar. Deshalb durften sie nichts davon erfahren, was bedeutete, dass sie jemand anderen brauchten, der ihnen beim Einkauf im Internet half und das grosse Paket zu sich nach Hause liefern lassen konnte. Ein Mittelsmann musste her, oder in ihrem Fall ein Mittelsmädchen. Ein solches kannten sie nämlich im Dorf; es war einige Jahre älter und gewitzt genug, um ihr Vorhaben zu unterstützen.

Sie besiegelten ihren Plan mit einem feierlichen Schwur und machten sich auf den Weg nach Hause, wo sie den Rucksack auf einer Ablage unter dem Dach im Stall von Ursins Familie verstecken wollten.

Am folgenden Morgen drehte sich Massimiliano träge im Bett um. Das Tageslicht drang durch seine geschlossenen Lider. Er lauschte auf die Atemzüge seiner Partnerin, hörte aber nichts. Offenbar war Marlene bereits aufgestanden, um nach den Pferden zu sehen. Er streckte sich ausgiebig, bevor er endlich die Augen öffnete. Halb neun Uhr und kein Sonnenschein. Das waren zwei gute Gründe, an diesem Donnerstag noch eine Weile liegen zu bleiben. Er griff nach dem dicken Buch auf seinem Nachttisch und vertiefte sich in die Schilderung des ausschweifenden Lebenswandels von Amedeo Modigliani.

Eine Stunde später stieg er aus dem Bett und in eine ausgeleierte Trainingshose und einen dicken Pullover. Das stattliche Haus der Familie Rosales war zwar ein Schmuckstück und ein historisch faszinierendes Gebäude, aber die dicken Mauern und die Steinböden liessen sich kaum wärmen. Mochte die Kühle während ein paar Wochen im Sommer angenehm sein, sorgte sie während zehn Monaten im Jahr für permanentes Frösteln und immense Heizkostenrechnungen. Er zog dicke Socken über und machte sich auf den Weg ins Esszimmer.

Der Tisch war zum Frühstück gedeckt, beide Teller waren unberührt. Bevor er sich Gedanken über den Verbleib seiner Partnerin machen konnte, trat Blanka aus der Küche und begrüsste ihn wie üblich ohne den Anflug eines Lächelns.

«Wartest du auf deine Frau oder wünschst du zu essen?», fragte sie.

Massimiliano hatte es längst aufgegeben, ihr zu erklären, dass Marlene und er nicht verheiratet waren. Blanka nannte sie konsequent seine Frau, und eigentlich, hatte er irgendwann eingesehen, stimmte das abgesehen vom Zivilstand auch.

«Marlene ist längst aufgestanden», erklärte er. «Hat sie nichts gegessen?»

«Nein», antwortete Blanka, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen, dass die Frage nicht besonders gescheit war.

«Wo ist sie denn?», wollte Massimiliano wissen.

«Ich habe sie heute Morgen noch nicht gesehen», antwortete Blanka.

Er runzelte die Stirn und warf einen Blick aus dem Fenster. Es hatte zu nieseln begonnen. Keine zehn Pferde würden ihn bei diesem Wetter aus dem Haus bringen, aber Marlene scherte sich nicht darum. Für sie reichten zwei Pferde. Für ihre Haflinger würde sie barfuss durchs Feuer gehen, während die beiden für ihn bloss ein Pärchen hellbrauner Huftiere waren. Er seufzte und machte sich auf den Weg nach draussen, um Marlenes Frühstückswünsche zu erfragen.

Daraus wurde nichts. Vier Pferdeaugen beobachteten ihn sanftmütig, während er Stallungen und Weide erfolglos nach seiner Partnerin absuchte. Zurück im Haus schälte er sich aus der Regenjacke und kehrte in die Küche zurück, wo er sein Mobiltelefon einschaltete. Keine neuen Nachrichten. Er schickte Marlene einen Guten-Morgen-Gruss und setzte sich an den Tisch, wo Blanka sogleich mit einer dampfenden Tasse Kaffee aufwartete.

Bis er in aller Ruhe sein Frühstück fertig gegessen hatte, war keine Antwort eingetroffen. Er wählte Marlenes Nummer, doch ihr Smartphone war ausgeschaltet. Stirnrunzelnd hob er den Kopf. Sein Blick kreuzte sich mit Blankas; in ihren Augen las er dieselbe Besorgnis.

«Sie wird wohl joggen gegangen sein», versuchte er, sich und Blanka zu beruhigen.

«Ihre Joggingschuhe stehen beim Eingang», erwiderte Blanka.

«Vielleicht ist sie nach Thusis oder Chur gefahren.»

Blanka schüttelte den Kopf. «Beide Autos stehen in der Garage.»

Mit aller Kraft versuchte er, sich daran festzuhalten, dass alles in Ordnung war. Marlene war nur kurz weg. Jeden Moment würde sie über die Schwelle treten und ihn auslachen, weil er sich Sorgen gemacht hatte.

Als ein Klingelton den Eingang einer neuen Meldung anzeigte, griff er aufgeregt nach dem Gerät. «Die von Ihnen bestellten Werkzeuge sind eingetroffen und in unserem Geschäft zum Abholen bereit», las er. Die banale Mitteilung des Händlers liess die Schutzmauern einstürzen. «Mein Gott, Blanka, was ist passiert? Wo kann sie sein? Wir müssen sie suchen! Aber wo?» Er raufte sich die Haare.

«Wir könnten zuerst nachschauen, welche Jacke und welche Schuhe fehlen. Dann wissen wir vielleicht mehr», riet Blanka.

«Ja, ja, ja, mach das!»

Da er nicht untätig abwarten konnte, eilte Massimiliano selbst die Treppe hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. In Marlenes Ankleidezimmer sah er sich ratlos um. Wie sollte er wissen, was in der Unmenge von Kleidern, Foulards und Taschen fehlte? Er ging weiter zum angrenzenden Arbeitszimmer. Marlene hatte es fast nie benutzt, der imposante antike Schreibtisch war aufgeräumt wie immer.

Als er Blankas Schritte auf der Treppe hörte, trat er hinaus auf den Flur, aber die Haushälterin wich seinem Blick aus. Sie betrat Marlenes Ankleidezimmer und durchsuchte systematisch die Regale und Kleiderstangen. Als sie damit durch war, blieb sie reglos stehen. Endlich gab sie sich einen Ruck und wandte sich zu ihm um.

«Es fehlen ihre Bergschuhe und ihre leichten Freizeitschuhe. Die Regenjacke, eine Wolljacke und ein Blazer. Zwei Paar Jeans, eine schwarze Hose, eine Bluse, einige T-Shirts, drei Pullover.»

Massimiliano rannte an ihr vorbei die Treppe hinunter und stürzte hinaus ins Freie. «Marlene!», schrie er. «Marlene!» Wie von Sinnen lief er durch den weitläufigen Garten. «Marlene!» Verzweifelt rüttelte er am Gitter, das sein Anwesen vom Gelände trennte, wo der Andeerer Granit aus dem nahe gelegenen Steinbruch verarbeitet wurde. «Marlene!»

Kraftlos sank er am Zaun nieder. Wie ein zauberhaftes Wesen von einem anderen Stern war Marlene vor fünfzehn Jahren in sein Leben getreten. Überirdisch schön. Ein Engel, der seinem Leben Sinn gab. Sie hatte ihn bei der Hand genommen und aus dem Trübsinn hinausgeführt ans Licht. Sie hatte ihn ermutigt, sich dem Druck seiner Familie zu widersetzen und seinen eigenen Weg zu gehen. Seinem standesgemässen Leben den Rücken zu kehren und seine Träume zu verwirklichen. Sie hatte ihn dabei unterstützt, seine Skulpturen der Öffentlichkeit zu zeigen. Ihr verdankte er den Mut, unter sein bisheriges Leben einen Schlussstrich zu ziehen und sich fortan mit Leib und Seele der Kunst zu widmen. Zusammen hatten sie das Anwesen neben dem Steinbruch in Andeer entdeckt, als sie auf den Spuren des grünen Andeerer Granits, der eigentlich ein Gneis war, durch die Täler gereist waren. Gemeinsam hatten sie sich in das geschichtsträchtige Haus Rosales verliebt, das zur Tarnung als Wohnhaus rund um einen Blashochofen zur Eisengewinnung errichtet worden war. Es war ihre Insel geworden, ihr Paradies, die Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche. Zusammen mit ihrer Haushälterin, ihrem Stallknecht, Marlenes Pferden und Massimilianos Steinblöcken lebten sie in ihrer eigenen Welt ohne nennenswerten Kontakt zur Umgebung.

Fragen nach ihrer Herkunft liess Marlene nicht zu. Wie die Fee im Märchen hatte sie ihm gleich zu Beginn ihrer Beziehung die Spielregeln klargemacht: Keine Fragen zur Vergangenheit. «Vielleicht bin ich als Elfe aus einer Rose geschlüpft? Ich lebte dreihundert Jahre lang, bevor ich dich sah. Dann war ich verloren. Ich wurde ein Mensch, um dich lieben zu können.» Keine Fragen, woher ihr Vermögen stammte. «Vielleicht war ich Meerjungfrau im Pazifik? Ein reicher Mann verzweifelte, weil ich ihn nicht lieben konnte. Er stürzte sich mit seinem ganzen Vermögen ins Meer. Dadurch wurde der Fluch gebannt, ich wurde erlöst und stieg an Land. Ich erblickte dich und entdeckte den Sinn meines Lebens.» Keine Fragen zu ihrer Familie. «Vielleicht lebte ich auf der Strasse und verzauberte als junges Mädchen einen Prinzen aus Saudi-Arabien? Er nahm mich in seinen Harem auf und schmückte mich mit Gold und Edelsteinen. Als er alt war, schenkte er mir die Freiheit und gab mir die Aufgabe, den besten Mann, der neben ihm auf der Erde wandelt, glücklich zu machen. Das ist mir gelungen.»

Marlene war nicht von dieser Welt. Immer hatte er die leise Furcht verspürt, sie könnte so plötzlich verschwinden, wie sie vor fünfzehn Jahren aufgetaucht war. Er wurde überwältigt von der Angst, Marlene sei als zauberhafter Vogel weitergezogen in ein neues Dasein.

Erst als ihm Wasser aus den Haaren über die Stirn lief, bemerkte er, dass der Regen zugenommen hatte und er bis auf die Haut durchnässt am Boden sass. Mühselig rappelte er sich auf und schleppte sich ins Haus zurück. Blanka empfing ihn mit ernstem Blick. In der einen Hand hielt sie ein Frottiertuch für ihn bereit, in der anderen einen grossen lilafarbenen Umschlag. In Marlenes schwungvoller Handschrift stand sein Name darauf.

Im Frühling davor

Marlene übte sich in Gelassenheit. Nicht aufregen, nicht kontern, nicht die Beherrschung verlieren. Am besten wäre es, nicht zuzuhören, aber das war nicht so einfach. Von Zeit zu Zeit warf die andere eine Frage ein. Sollte sie darauf keine Antwort wissen, ging das Gejammer mit erhöhter Frequenz von vorne los.

«Du hast es gut», sagte Roos zum gefühlten hundertsten Mal. «Du hast ein tolles Haus, einen Mann, der dich anbetet, zwei schöne Pferde. Was möchtest du mehr?»

Zum Beispiel meine Ruhe, dachte Marlene. Dass du aus meinem Leben verschwindest. Nie wieder etwas von dir zu hören, das wünsche ich mir sehnlichst. Sie hatten einen Spaziergang gemacht und sassen nun auf einer Bank. Der Schnee hatte sich bis zu den Bergspitzen zurückgezogen, das Grün setzte sich auf den Wiesen allmählich durch, rundum wuchs und blühte alles. Sie hatte im Schams ihr Paradies gefunden, sie fühlte sich im von hohen Bergen umgebenen Talkessel geborgen wie ein kleiner Schwan unter dem Flügel seiner Mutter. Ihr Glück wäre vollkommen, dachte Marlene frustriert, wenn Roos von einem Traktor überfahren, in der Rofflaschlucht den Wasserfall hinunterstürzen, im nahen Steinbruch von einem Granitbrocken erschlagen, auf welche Art auch immer vom Teufel geholt würde. «Was ist mit …» Wie hiess er doch gleich?

«Alex?», kam ihr Roos zu Hilfe. «Alex hielt nicht, was er versprach. Ich habe alles für ihn getan. Alles. Er hat es nicht gewürdigt. Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, der nicht schätzt, was er an mir hat. Er …»

Marlene kannte die Fortsetzung, sie brauchte nicht weiter zuzuhören. Der Text war nach dem Abgang von Alex derselbe wie zuvor bei Hans, Gabriel, Mike und wie sie alle geheissen hatten. Ohnehin zweifelte sie daran, dass auch nur ein einziger von ihnen je existiert hatte.

«… über den Sommer wieder nach Kroatien …»

Marlene horchte auf.

«Das Klima tut mir gut. Natürlich wäre die Côte d’Azur die bessere Wahl, die Leute in Frankreich sind so nett, und die französische Küche bekommt mir besser. Aber Frankreich ist teuer. Bescheidenheit ist eine Tugend, sagt man. Ich werde häufig selbst kochen in Kroatien, ich kann es mir nicht leisten, immer auswärts zu essen.»

Vielleicht wird sie in Kroatien von einem Hai gefressen, dachte Marlene.

«Eigentlich kann ich mir den Aufenthalt in Kroatien trotzdem kaum leisten.»

Oder von einem Geldtransporter platt gedrückt.

«Das Leben ist so teuer geworden, ich komme kaum über die Runden.»

Oder von einer Fähre gerammt.

«Für das Billett nach Andeer habe ich das Geld nehmen müssen, das ich für Sandalen beiseitegelegt hatte.»

Oder von einem Tintenfisch in die Tiefe gezogen.

«Es fällt mir so unsagbar schwer, dich darum bitten zu müssen», seufzte Roos.

«Komm, gehen wir zurück.» Marlene erhob sich von der Bank. Keine Minute länger würde sie es aushalten, neben der anderen zu sitzen. Jetzt, da das Thema angeschnitten war, bestand die Hoffnung, dass sich der Besuch seinem Ende näherte.

«Bitte geh nicht so schnell!» Roos keuchte.

Marlene verlangsamte ihre Schritte. In spätestens zwei Stunden musste Roos das Postauto zum Tal hinausnehmen. Sie begann, die Minuten zu zählen.

2

September 2019

Ursin und Frederik gingen morgens bei leichtem Nieselregen, der rasch stärker wurde, zur Schule. Da die Tagundnachtgleiche nicht mehr weit war, brachte der Regen eine empfindliche Abkühlung mit sich. Das unfreundliche Wetter hielt sie davon ab, nach der Schule erneut nach Gold zu suchen. Es hinderte sie sogar daran, ans andere Ende des Dorfs zu laufen und dem Mittelsmädchen ihr Anliegen zu schildern. Sie schoben die Bestellung der Goldwaschrinne und der Waschpfanne auf und rührten den gefundenen Rucksack nicht an, der immer noch unter dem Dach im Stall lag.

Nicht nur die Buben zogen sich in die angenehme Wärme ihres Zuhauses zurück. Kaum jemand ging bei diesem Wetter freiwillig nach draussen. Auch die Hundehalterinnen und -halter verzichteten auf ausgedehnte Runden. Stattdessen zogen sie die Kapuzen tief in die Stirn, trieben ihre Vierbeiner zur Eile an und stemmten sich so kurz wie möglich gegen den Wind.

Ein einziger einsamer Fussgänger benutzte an diesem Donnerstag die schmucklose Hängebrücke, die einige hundert Meter vor dem südlichen Dorfeingang den Hinterrhein überquerte. Er war so beschäftigt mit der Frage, wie er seiner Frau erklären sollte, wo das Geld geblieben war, das sie für den Kauf neuer Vorhänge beiseitegelegt hatte, dass er weder nach rechts noch nach links schaute. Auch nicht hinunter ins Flussbett des Hinterrheins.

Massimiliano hatte den Brief im lila Umschlag zunächst nicht geöffnet. Er hatte sich auf das Sofa in der Eingangshalle sinken lassen und sich nicht wieder daraus erhoben. Blanka hatte ihm trockene Kleider und eine Suppe gebracht, die inzwischen erkaltet auf dem kleinen Tischchen neben der Armlehne stand. Er befand sich im freien Fall in die tiefste Schwärze, die er je empfunden hatte. Marlenes Worte im Brief bestätigten seine schlimmsten Ahnungen. «Mein Geliebter», stand da. Der Schmerz war durch seinen Körper gefahren, die Worte vor seinen Augen verschwommen. «Vielleicht bin ich eine verirrte Seele, für die der Zeitpunkt gekommen ist, weiterzugehen. Die an einen anderen Ort getrieben wird und in einer anderen Gestalt einen neuen Anfang machen muss.» Erst viel später hatte er die Kraft gefunden, den Brief zu Ende zu lesen. «Die Erde ist rund, damit alle Wege wieder zum Anfang führen», lautete der letzte Satz. Massimiliano verstand ihn so, dass sie ihn verliess, um zu ihren Wurzeln zurückzukehren. Ihm erschloss sich nicht, dass der rätselhafte Text genauso gut die Möglichkeit eines Wiedersehens andeuten könnte. Zu tief unten befand er sich bereits in seiner Verzweiflung.

Als es dunkel wurde, brachte ihm Blanka eine Tasse Tee und einige belegte Brote. Auch diese rührte er nicht an.

Im schwachen Licht einer kleinen Wandlampe verbrachte er die Nacht auf dem Sofa. Nur kurz döste er von Zeit zu Zeit, stundenlang hielt ihn der Schmerz über Marlenes Verlust wach. Er schaffte es nicht, in ihr gemeinsames Schlafzimmer hinaufzugehen, wo ihm Marlenes Kleider, ihr Duft, das Buch auf ihrem Nachttisch ihr Verschwinden ins Gesicht schreien würden. Zuerst wurde ihm klar, dass er die Kraft dazu für lange Zeit nicht aufbringen würde. Später beschloss er, sich dieser Herausforderung nicht zu stellen, weder jetzt noch irgendwann.

Sobald es am Freitagmorgen hell wurde, rief er seinen Treuhänder an, erreichte aber nur den Telefonbeantworter. Geistesabwesend wählte er immer und immer wieder die Nummer, bis der Mann endlich abnahm und versprach, sich sofort auf den Weg nach Andeer zu machen.

Blanka brachte ihm einen Kaffee, den er in einem Zug leerte. Sie erschrak bei seinem Anblick, Massimiliano war über Nacht um Jahre gealtert.

«Sie ist fort», sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Brief. «Für immer», fügte er stockend hinzu. Die Worte laut auszusprechen, zerstörten den letzten Funken Hoffnung, sie liessen den Verlust real werden. «Die Pferde», fügte er hinzu.

Blanka verstand. Sie machte sich auf den Weg zu den Haflingern, wo der Stallknecht bereits an der Arbeit war, und überbrachte ihm die traurige Nachricht. Auf dem Rückweg zum Haus stellte sie fest, dass der Treuhänder inzwischen eingetroffen war. Er hatte neben Massimiliano auf dem Sofa in der Eingangshalle Platz genommen, offenbar war dieser nach wie vor nicht in der Lage, sich in einen anderen Raum zu begeben.

Die Männer besprachen sich kurz miteinander, dann zog sich der Treuhänder ins Esszimmer zurück, wo er diverse Telefongespräche führte. Geraume Zeit später setzte er sich wieder zu Massimiliano und erklärte ihm, dass alles nach seinen Wünschen machbar sei.

Der Hausherr wies ihn an, Blanka und den Stallknecht zu holen. Blanka brachte zwei Stühle aus dem Esszimmer mit, die sie vor das Sofa stellte.

«Marlene ist fortgegangen», begann Massimiliano. «Ohne sie bleibe ich nicht hier.» Er warf dem Treuhänder einen auffordernden Blick zu.

«Herr Ferrero wird sofort nach Italien umziehen. Seine Familie besitzt ein Haus auf dem Land, ein ehemaliges Bauerngut in der Nähe von Assisi. Herr Ferrero wird sich vorläufig dort niederlassen. Unsere Firma hat den Auftrag erhalten, das Haus hier zu räumen und das gesamte Mobiliar zu veräussern. Der Mietvertrag mit der Familie Ordogno de Rosales wird aufgelöst. Sie kümmern sich vorderhand um die beiden Pferde», wandte er sich an den Stallknecht. «Wir werden den Züchter anweisen, einen neuen Platz für sie zu finden. Sie, Blanka, sind bitte hier, bis das Haus leer ist.»

Massimiliano hörte nicht mehr zu. Eine Stimme in seinem Kopf rief unaufhörlich: «Marlene ist weg, Marlene ist weg!» und übertönte damit alles, was um ihn herum gesagt wurde.

Das schlechte Wetter hielt sich auch am Samstag hartnäckig. Ursin und Frederik waren es leid, im Haus herumzusitzen. Die unangenehme Temperatur hielt sie zwar davon ab, die Goldsuche im Hinterrhein fortzusetzen, nicht aber davon, das Mittelsmädchen am anderen Ende des Dorfs aufzusuchen. Enttäuscht stellten sie fest, dass dort niemand zu Hause war. Eingehüllt in ihre Regenjacken schlenderten sie zurück. Sie hatten es nicht eilig, nach Hause zu gehen. Hier streichelten sie eine Katze, dort lauschten sie Gitarrenklängen, weiter vorne drückten sie die Nase an der Fensterfront des Mineralbads platt. Im Dorfladen deckten sie sich mit Süssigkeiten ein, die sie unter dem Vordach verzehrten. Irgendwann hatten sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die Zeit totzuschlagen. Sie trotteten wohl oder übel heimwärts.

Daria, das Mittelsmädchen, bekam von alldem nichts mit. Sie wäre glücklich gewesen, hätte sie den Buben bei der Durchführung ihres Vorhabens helfen können. Stattdessen war sie in Chur und langweilte sich zu Tode. Ihre Mutter hatte sie mitgeschleppt, um ihr Winterschuhe zu kaufen, was in zehn Minuten erledigt gewesen war. Aber seit über zwei Stunden zog die Mutter sie von einem Laden zum anderen hinter sich her, weil sie für sich noch dies und das brauchte.

Immerhin stand sie im Trockenen, während eine ihrer Freundinnen in Andeer schlotternd im Freien unterwegs war. Deren Mutter hatte es nicht mehr ausgehalten mit der Halbwüchsigen, die zu Hause herumlungerte. Sie hatte sie vor die Tür geschickt und ihr befohlen, mit dem Hund die grosse Runde zu drehen. Wenn sie weniger als eine Dreiviertelstunde draussen sei, werde sie ihr blaues Wunder erleben, hatte sie gedroht. Die Tochter war schimpfend aufgebrochen, aus Trotz ohne die biedere rote Windjacke. Das Smartphone hatte sie hingegen eingesteckt, und mit diesem erzählte sie einer anderen Freundin seit zehn Minuten, ihre Mutter sei ja so doof. Sie lamentierte immer aufgebrachter und war so vertieft in das Gespräch, dass sie weder nach links noch nach rechts schaute. Auch nicht von der Brücke, auf der sie vor dem Dorf den Rhein überquerte, hinunter ins Wasser.

Blanka gesellte sich zum Stallknecht, der in der Remise rauchte.

«Kommen heute schon die ersten Händler wegen der Möbel?», fragte er. Sie stammten zwar beide aus Osteuropa, aber aus verschiedenen Ländern, weshalb sie sich auf Deutsch unterhielten.

«Nein», antwortete Blanka. «Heute ist Samstag, die treffen frühestens am Montag ein.»

Er nickte und nahm einen tiefen Zug.

«Soweit ich weiss, hat der Treuhänder mehrere Firmen angefragt, italienische und schweizerische», fuhr sie fort. «Antikschreiner und Antiquitätenhändler.»

«Ich wüsste nichts anzufangen mit dem alten Zeug.»

«Du hättest für Jahre ausgesorgt, wenn du es verkaufen würdest. Manche der Möbelstücke sind Zehntausende wert.»

«Zehntausende?», fragte er ungläubig.

«Bestimmt. Ganz zu schweigen von den Bildern. Wegen diesen war heute Morgen bereits der Treuhänder mit einem Kunsthändler hier.»

Alarmiert schaute er sie an. «Der Chef wird doch nicht das Porträt seiner Frau verkaufen, das er gemalt hat?»

«Nein, nein», beruhigte ihn Blanka. «Der Händler hat zwei der abstrakten Bilder von einem berühmten Künstler mitgenommen.»

«Schade, dass die Pferde verkauft werden», seufzte er. «Sie haben es schön hier und fühlen sich wohl. Die Chefin hat sich jeden Tag stundenlang um sie gekümmert. Ich hoffe, sie kommen wieder an einen guten Platz.»

«Was wirst du machen?»

«Ich weiss es nicht. Lange werde ich nicht hier bleiben können ohne Arbeit, das Leben ist teuer in der Schweiz. Und du?» Er drückte seine Zigarette in einem eigens dafür aufgestellten Blumentopf aus. In der Erde steckte ein Stein, auf den Marlene das Gesicht eines Rauchers gemalt hatte.

«Ich weiss es auch nicht.» Blanka zuckte die Achseln. «Es wird eine Weile dauern, bis das Haus leer ist. So lange bleibe ich hier.»

Der Stallknecht beobachtete aus dem Augenwinkel, wie sich ihr Gesicht verschloss. Kämpfte sie mit den Tränen? Sie hatte nie etwas über ihre Vergangenheit verraten. Er wusste nur, dass sie die Chefin schon sehr lange kannte. Weit länger als deren Mann. Woher die beiden gekommen und wo sie zuvor gewesen waren, entzog sich seiner Kenntnis. «Ich begreife immer noch nicht, was eigentlich passiert ist», meinte er stirnrunzelnd. «Plötzlich war sie weg.»

«Sie wird ihre Gründe haben.»

«Ich glaube, der Chef weiss auch nicht, warum sie gegangen ist.»

«Wahrscheinlich nicht. Immerhin hat sie ihm einen Brief hinterlassen. So weiss er wenigstens, dass sie weggegangen und nicht verunglückt ist.»

«Ein Unglück ist es auch so», stellte er richtig. «Er war am Boden zerstört. Wahrscheinlich ist er es immer noch.»

«Ja, es geht ihm furchtbar schlecht. Jetzt ist er in dem grossen Haus in Italien. Weiss der Himmel, was er dort macht, allein.»

«Er wird arbeiten, denke ich», mutmasste der Knecht. «Steine behauen, bis er zusammenbricht.» Nachdenklich strich er sich übers Kinn. «Gehst du zu ihm, wenn das hier fertig ist?» Mit einer Handbewegung deutete er auf Haus und Hof.

«Er hat nicht nach mir verlangt.»

«So weit konnte er bestimmt nicht denken», meinte er ungeduldig. «Schreib ihm! Biete ihm deine Dienste an. Oder geh einfach zu ihm, bring ihm die letzten Sachen persönlich vorbei. Er wird dich nicht wegschicken.»

«Er gibt alles weg, das ihn an seine Frau erinnert. Er wird auch mich nicht mehr sehen wollen», gab Blanka traurig zu bedenken.

«Das soll er selbst entscheiden.» Er wandte sich Blanka zu und musterte sie eindringlich. «Aber um entscheiden zu können, muss er überhaupt erst darüber nachdenken. Fahr zu ihm, wenn du hier fertig bist, und frag ihn. Bis dann wird einige Zeit vergangen sein. Ich bin sicher, er wird froh sein, dich zu sehen. Er wird dankbar sein, dass du bei ihm bleiben willst.»

Sie betrachtete ihn zweifelnd.

«Gib nicht auf», sagte er nachdrücklich. «Kämpfe!»

Im Frühling davor

Massimiliano legte seiner Frau die schmutzige Hand auf die Hüfte. «Ist deine Freundin gegangen?», fragte er.

Sie wandte sich ihm lächelnd zu und fuhr mit der Hand durch seine Locken. Vom Steinstaub waren sie mehr grau als schwarz, er kam direkt aus der Werkstatt. «Ja, sie ist weg.»

«Hat sie wie immer einen Umweg gemacht zur Postautohaltestelle?»

«Ja, sicher», bestätigte Marlene. «Sie hat solche Angst vor Hunden! Ihre Begegnung mit dem Hund vom herrschaftlichen Gut bei der Holzbrücke wird sie wohl nie vergessen.»

«Kein Wunder, das ist wirklich ein unangenehmes Tier», meinte Massimiliano.

«Ich weiss, aber mehr als kläffen kann er eigentlich nicht. Ausser den Leuten einen zünftigen Schrecken einzujagen. Bei Roos hatte er ein leichtes Spiel, sie fürchtet sich vor allem, was vier Beine hat.» Sie zuckte die Achseln. «Jedenfalls meidet sie diesen Weg, als würde er direkt ins Verderben führen. Lieber geht sie über die südliche Hängebrücke und dann zurück ins Dorf, oder sie steigt in Bärenburg ins Postauto ein.»

«Ich begreife nicht, dass ihr Freundinnen seid. Sie ist so anders als du.»

«Klein, dick, hässlich?», fragte sie schalkhaft.

«Das nicht gerade. Weniger gross, weniger schlank, viel, viel weniger schön.» Er betrachtete sie nachdenklich. «Du bist Leben, Freude, Tatkraft. Sie ist nichts davon.»

«Stimmt», bestätigte sie leichthin. «Immerhin geht es ihr jeweils besser, wenn sie geht, als bei ihrer Ankunft. Und allzu oft kommt sie ja nicht.»

«Du hast ein grosses Herz.»

«Es gehört dir!» Sie legte seine Hand auf ihre Brust.

Er zog sie an sich. «Was hast du heute noch vor?»

«Rate mal.»

«Reiten?», fragte er lächelnd.

«Ja, reiten», bestätigte sie und löste sich aus seiner Umarmung. «Geh zurück in deine Werkstatt. Ich spüre, dass es dich in den Fingern juckt.»

«Das tut es wirklich», stimmte er zu. «Das Licht fällt gerade richtig, in einer Stunde steht die Sonne zu tief. Jetzt ist der Farbton warm, kraftvoll wie der Herbst. Der grüne Granit scheint zu schmelzen in den Strahlen. Er will, dass ich ihn bearbeite.»

«Geh schon», sagte sie lachend. «Folge den Wünschen deines Steins. Ich folge den Wünschen meiner Pferde.»

Sie sattelte das Kleinere der beiden und machte sich auf den Weg bergauf. Roos’ Besuch hatte sie stärker aufgewühlt, als sie sich anmerken liess. Marlene hatte es gründlich satt, ihr immer wieder finanziell unter die Arme zu greifen. Nicht, weil sie es sich nicht leisten könnte. Die Beträge waren nie so gross, dass es ihr wehtat, sie herzugeben. Roos war schlau genug, diese Grenze zu kennen. Sie vermied es, mit einer zu hohen Forderung einen Konflikt zu provozieren. Solange die Geldsumme kein ernsthaftes Problem für Marlene darstellte, würde sie bezahlen, das war Roos klar.

Ohne zu überlegen, war sie zur Burgruine Cagliatscha geritten, in deren Nähe Tom hauste. Der junge Mann lebte hier allein in einem ausgebauten Maiensäss. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Fahrer mit unregelmässigem Pensum bei einem Transportbetrieb im Tal, seine Leidenschaft gehörte seinen beiden Schäferhunden, mit denen er jeden Tag trainierte. Da seine Ansprüche bescheiden waren, fielen die Kosten für seinen Lebensunterhalt gering aus. Umso weniger Zeit er zum Arbeiten brauchte, umso mehr hatte er für seine Hunde. Und für seine wenigen Freunde, mit denen er ab und an durch die Lokale zog. Marlene kannte ihn, weil er an einer ihrer bevorzugten Reitrouten wohnte. Sie mochte ihn und seine Hunde, er mochte sie und ihre Pferde.

Tom lächelte sie an, als sie den Haflinger zum Stehen brachte. Allzu nah kam sie nicht, denn neben Tom stand einer seiner Hunde, aufmerksam und mit jeder Faser seines Körpers bereit, den nächsten Befehl auszuführen. Tom rief ihm die Anweisung zu. Der Hund rannte los und verschwand im Haus.

Marlene beobachtete das Geschehen neugierig. Sie wusste, dass Toms Tiere allerlei Tricks beherrschten. Überrascht lachte sie auf, als der Hund mit einem Paar Cervelats in der Schnauze aus der Tür schoss. Vor Tom blieb er stehen und hob den Kopf, sodass sich dieser kaum bücken musste. Er nahm die Beute in Empfang und prüfte, ob sie Bissspuren aufwies. Es gab keine, der Hund war behutsam genug vorgegangen. Tom lobte ihn und fischte eine Belohnung aus seiner Hosentasche.

«Ist das das neuste Kunststück?», fragte sie.

«Nein, das kennt er schon lange», antwortete er. «Wir müssen es immer wieder üben, damit er nicht verlernt, wie sanft er mit den Würsten umgehen muss. Schliesslich sind sie mein Abendessen, nicht seines.» Er schüttelte eine Zigarette aus dem zerknitterten Päckchen und fragte sie nach dem Befinden ihres Pferdes.

Die kurze Unterhaltung mit Tom liess ihren Ärger verrauchen. Als sie zurückritt, war Roos fast vergessen.

Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden, es wurde kühl. Massimiliano sass vor dem Haus auf der Bank und schien nicht zu bemerken, dass er fröstelte. Sie überliess das Pferd der Obhut des Stallknechts und stellte sich vor Massimiliano. «Ist die Skulptur vollendet?», fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. «Ohne Sonnenlicht ist der Stein nur noch Stein. Kühl und abweisend. Er will sich nicht auf mich einlassen. Ganz anders, als wenn er vom warmen Licht beschienen wird. Dann ist er bereit und willig. Aber die Sonne ging unter, ich musste aufhören.»

«Komm mit ins Haus», forderte sie ihn auf. «Hier holst du dir eine Erkältung.»

Verwundert stellte er fest, dass er erbärmlich fror, und erhob sich von der kalten Steinbank.

Marlene kannte die Anzeichen. In dieser Phase hörte die reale Welt für Massimiliano auf zu existieren. Seine Gedanken drehten sich unablässig um sein Schaffen, Entspannung gab es kaum. In ein paar Tagen würde sein Werk vollendet sein. Sofern es zu seiner Zufriedenheit gelang, würde er für kurze Zeit glückselig sein. Danach kam die Erschöpfung und mit ihr die grosse Leere. Er würde sie an seiner Seite brauchen, um nicht in die Dunkelheit abzustürzen. Sollte die Skulptur hingegen nicht befriedigend ausfallen, würden ihn zunächst Wut und Verzweiflung heimsuchen. Auch das nicht für lange, und auch in diesem Fall würde er sie nötig haben, um sich gegen die Dämonen zu wehren, die ihn in die Tiefe ziehen wollten.

3

September 2019

Am Sonntag kündigte sich endlich eine leichte Wetterbesserung an. Die Buben verabredeten sich direkt nach dem Frühstück. Zuerst wollten sie ihre geschäftlichen Angelegenheiten regeln und danach sofort zum Fluss. Zwar mit unzureichender Ausrüstung, aber voller Elan.

Daria, das Mittelsmädchen, nahm sich der Sache sofort an. Feierlich überreichten ihr die Buben ein paar inzwischen getrocknete Banknoten aus dem gefundenen Portemonnaie. Im Gegenzug bestellte sie die gewünschte Goldwaschausrüstung auf ihren Namen. Als Provision verlangte sie zehn Prozent des Warenwerts, was die Buben unerhört fanden. Nach zähen Verhandlungen einigten sie sich auf fünf Prozent und zwei Comics aus Frederiks Sammlung. Niemand von den sechs betroffenen Elternteilen und den insgesamt vier Geschwistern bekam etwas von dem Handel mit. Das Paket abzufangen, bevor ihre Eltern es zu Gesicht bekamen, würde für Daria ein Leichtes sein. Sie plante, am Tag des Liefertermins rasch in der Morgenpause nach Hause zu rennen, um es zu verstecken. Am Vormittag war niemand daheim, und der Briefträger stellte die Lieferungen normalerweise in den Hausgang.

Annetta Baselgia freute sich ebenfalls über die Erholung an der Wetterfront. Ihren täglichen Spaziergang hatte sie während der garstigen Verhältnisse auf ein Minimum beschränkt. Genau genommen konnte der kurze Weg von ihrem Haus im Andeerer Dorfkern zum Café oder zu einem der Restaurants selbst mit viel gutem Willen nicht als Spaziergang bezeichnet werden, und weiter als bis zu einem der Lokale war sie nicht gegangen. Dazu kam, dass sie körperlich fit war und es selbst kaum glauben konnte, ihren siebzigsten Geburtstag seit Kurzem hinter sich zu haben. Selbst wenn sie gemächlich unterwegs war, brauchte sie zu keiner der Gaststätten mehr als ein paar Minuten.

Ihr Haus zählte ein Vielfaches ihrer Lebensjahre. Es war ein stattliches Gebäude mit dicken sgraffitigeschmückten Mauern. Die Lage direkt an der Durchgangsstrasse erlaubte es seinen Besitzerinnen und Besitzern seit Jahrhunderten, genau Bescheid zu wissen, wer auf der Transitroute verkehrte. Seit dem Bau der Umfahrungsstrasse entzog sich der Einwohnerschaft im Dorfzentrum dieses Wissen, was aber den Blick aus dem Fenster keineswegs weniger attraktiv machte. Das Ziel der Beobachtungen waren jetzt Einheimische und Fremde, Schulkinder, Badegäste und Handwerksleute, die zu Fuss, auf dem Velo oder mit dem Auto unterwegs waren. Annetta war demzufolge bestens informiert über das Kommen und Gehen im Dorf. Was sie nicht selbst sah, erfuhr sie im Café, im Restaurant, beim Einkaufen oder beim Schwatz während eines Spaziergangs.

Sie streifte ihre Jacke über und trat vor die Haustür. Kein Mensch war unterwegs, vermutlich hatten manche die Wetterbesserung noch nicht einmal bemerkt. Sie entschied sich für die Brückenrunde, wie sie diesen Weg für sich nannte. Zuerst über die schöne gedeckte Holzbrücke am westlichen Dorfrand, dann gegen Süden, dort über die zweckmässige Hängebrücke zum Granitverarbeitungsbetrieb und dem Wasserlauf folgend zurück ins Dorf. Und dort in eines der Restaurants zum Kaffee.

Der Hinterrhein führte nach dem Unwetter viel Wasser. Beim Gang über die erste Brücke hörte sie ihn unter ihren Füssen toben. Auf der anderen Flussseite kam der Hund vom grossen Herrschaftshaus wie üblich in weiten Sätzen auf sie zu. Sie liess sich von seinem Bellen und Knurren nicht beirren. Sie wusste genau, dass er sie in Ruhe liess, solange sie auf dem Weg blieb. Allerdings wusste sie auch, dass sich manche Leute von dem Tier einschüchtern liessen und diesen Weg aus dem Dorf hinaus mieden. Wahrscheinlich hatten dessen Besitzer ihre Freude daran, die Passanten zu erschrecken.

Bald kam sie zum kleinen katholischen Friedhof, der sich etwas ausserhalb des traditionell protestantischen Dorfs befand. Wie erwartet war niemand zu sehen, für die Pflege der Blumen war es nach wie vor zu nass. Sie wusste, dass einige der Gräber fast täglich besucht wurden, aber offenbar zu späterer Stunde. Auch hier würde sie keinen Schwatz halten können.

Der Weg führte ein Stück durch die Wiesen, dann erreichte sie das Anwesen der Familie Rosales. Sie nannte es immer noch so, auch wenn zurzeit niemand der Familie dort wohnte. Das Haus mit dem eingebauten Hochofen war seit Jahren vermietet. Zu den Mietern hatte sie kaum Kontakt, niemand im Dorf schien sie näher zu kennen. Nicht einmal einkaufen gingen sie, das erledigte ihre Angestellte. Eine sehr reservierte Frau, die kaum grüsste, nie für einen Schwatz stehenblieb und allem Anschein nach nicht lächeln konnte. Auch beim Haus Rosales war niemand zu sehen. Nur die beiden Pferde waren schon auf der Wiese. Sie wusste, dass der Mann Künstler war und wie besessen Blöcke aus Andeerer Granit bearbeitete. Gesprochen hatte sie ihn nie, wahrscheinlich konnte er nicht einmal Deutsch. Dem Vernehmen nach stammte er aus einer reichen, eher schwerreichen Familie aus Italien. Vielleicht Gucci oder Versace. Agnelli oder Lancia. Cardinale oder Celentano. Die Gattin war öfter zu sehen, allerdings meistens auf dem Rücken eines Pferdes, was ein Gespräch unmöglich machte. Manchmal hatten sie Besuch, wahrscheinlich andere reiche Leute aus dem Ausland. Manchmal verreisten sie für ein paar Tage oder Wochen, wahrscheinlich dorthin, wo andere reiche Leute aus dem Ausland ihre Zeit verbrachten.

Am Steinbruch vorbei gelangte sie südlich des Dorfes wieder zum Rhein. Sie blieb mitten auf der zweckmässigen Hängebrücke stehen und schaute flussaufwärts, wie das braune Wasser auf sie zukam. Es würde ein paar Tage dauern, bis der Hinterrhein wieder klar und leise dahinplätscherte. Sie wandte sich um und schaute in die andere Richtung. Die Wolken hingen tief, es wurde trotz der leichten Wetterbesserung nur dann richtig hell, wenn unvermittelt ein Sonnenstrahl hervorbrach. Dann leuchtete die Welt für einen Augenblick, aber die meiste Zeit schien sie in gedämpften Tönen gemalt worden zu sein.