Tod in La Rochelle - Jean-Claude Vinet - E-Book
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Tod in La Rochelle E-Book

Jean-Claude Vinet

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Beschreibung

Mörderisch gute Frankreich-Spannung

Nach La Rochelle zieht es jedes Jahr unzählige Touristen, die in der malerischen Altstadt flanieren, frische Austern schlürfen und an den hellen Sandstränden des Atlantiks die Seele baumeln lassen. Für einen solchen Müßiggang hat Clément Chevalier jedoch keine Zeit. Der Commissaire hat sich aus der Großstadt Lyon hierher in die beschauliche Provinz versetzen lassen und wird gleich an seinem ersten Arbeitstag zu einem Tatort gerufen: Auf der Île de Ré wird die Leiche eines prominenten Winzers gefunden, offensichtlich ermordet. Der Täter scheint schnell gefunden zu sein. Doch als am Tour de la Lanterne ein weiterer Toter auftaucht, ahnt Chevalier, dass der Fall noch lange nicht gelöst ist ...

Zwei rätselhafte Morde an der französischen Atlantikküste - Commissaire Chevalier ermittelt in seinem ersten Fall

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Seitenzahl: 474

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Montag, 14. Juni

Dienstag, 15. Juni

Mittwoch, 16. Juni

Donnerstag, 17. Juni

Freitag, 18. Juni

Samstag, 19. Juni

Sonntag, 20. Juni

Montag, 21. Juni

Dienstag, 22. Juni

Mittwoch, 23. Juni

Donnerstag, 24. Juni

Samstag, 26. Juni

Epilog

Über das Buch

Nach La Rochelle zieht es jedes Jahr unzählige Touristen, die in der malerischen Altstadt flanieren, frische Austern schlürfen und an den hellen Sandstränden des Atlantiks die Seele baumeln lassen. Für einen solchen Müßiggang hat Clément Chevalier jedoch keine Zeit. Der Commissaire hat sich aus Lyon hierher in die Provinz versetzen lassen, doch sein erster Arbeitstag hat es sogleich in sich: Auf der Île de Ré wird die Leiche eines prominenten Winzers gefunden, offensichtlich ermordet. Der Täter scheint schnell gefunden zu sein. Doch als am Tour de la Lanterne ein weiterer Toter auftaucht, der in Verbindung zum ersten Opfer steht, ahnt Chevalier, dass der Fall noch lange nicht gelöst ist.

Über den Autor

Jean-Claude Vinet ist das Pseudonym eines deutschen Autors von Kriminalromanen, den seine Liebe zu der wundervollen Region um La Rochelle am Atlantik dazu inspiriert hat, diese zum Schauplatz seiner neue Krimi-Reihe zu machen. Der Autor, der von sich behauptet, kein Land besser zu kennen als Frankreich, lebt mit seiner Familie in Trier.

COMMISSAIRE CHEVALIERERMITTELT AN DER ATLANTIKKÜSTE

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dorothee Cabras, GrevenbroichUmschlaggestaltung: www.buerosued.de unter der Verwendung von Illustrationen von © www.buerosued.deeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2858-4

luebbe.delesejury.de

Für Gabi

Songez que les fanatiques sont plus dangereux que les fripons. On ne peut jamais faire entendre raison à un énergumène; les fripons l’entendent.

VOLTAIRE

(Bedenkt, dass Fanatiker gefährlicher sind als Schurken. Einen Besessenen kann man niemals zur Vernunft bringen, einen Schurken wohl.)

MONTAG, 14. JUNI

»Sie sind heute aber früh dran, Monsieur.«

Madame Le Calvez lächelte breit, und Clément Chevalier wusste, dass er in La Rochelle angekommen war. Es war das erste Mal in all den Wochen, dass die Besitzerin der Boulangerie das Wort an ihn richtete.

»Mein erster Arbeitstag, da möchte man nicht zu spät kommen.«

»In La Rochelle fangen wir nicht so früh an, und schon gar nicht an einem Montag, es sei denn, man ist Bäcker.« Sie lachte meckernd. »Wo werden Sie arbeiten?«

»Bei der Police National.«

Sie machte große Augen und steckte zwei Croissants in eine Tüte, auf der sich sogleich feine dunkle Flecken von der Butter zeigten. Chevalier hatte nie bessere Croissants als diese gegessen. »Police National? Zeigen Sie uns künftig an, wenn wir zu früh öffnen?«

Chevalier schnalzte mit der Zunge. »Aber nein, Madame. Das würde ich nie wagen. Was würde ich denn ohne Ihr Brot und die göttlichen Croissants machen, oder glauben Sie, ich sollte mir eines dieser seelenlosen Industriebaguettes aus dem Backautomaten holen?«

»Gott bewahre, nein.« Sie sah entsetzt auf ihre liebevoll arrangierte Auslage mit Pain au Chocolat, Petits Fours und Éclairs, die sie, stets elegant gekleidet und geschminkt, mit einer Andacht in kleine Kartons verpackte, als wären es Juwelen.

Chevalier griff nach der Tüte und nahm ein Baguette entgegen, um das sie ein hauchdünnes Papier gewickelt hatte. Er zahlte mit Karte.

»Was machen Sie denn bei der Polizei?«

Er sah auf und blickte ihr in die braunen Augen. »Mordkommission.«

Sie schwieg verblüfft, während er grüßend die Bäckerei verließ.

Draußen stieg er auf sein altes Peugeot-Rad, mit dem er bereits in Metz als Jugendlicher zur Schule gefahren war. Gemächlich rollte er zum Quai Duperré am alten Hafen. Um diese Uhrzeit lagen die Straßen noch verlassen da, und er genoss die Ruhe nach einer kurzen Nacht. Lediglich die Möwen drehten schreiend ihre Kreise dicht über den Dächern. Die Sonne schien wie bereits die gesamte Woche zuvor von einem blauen Junihimmel und versprach einen weiteren wundervollen Frühsommertag.

Claude hatte geöffnet, und wie an fast jedem Morgen seit ihrem Umzug nach La Rochelle nahm Chevalier an einem der runden Tische Platz, die auf dem breiten Bürgersteig vor dem Café standen. Es brauchte nur einen Wink, woraufhin sich Claude an der Kaffeemaschine zu schaffen machte.

Der Postbote stoppte sein gelbes Rad vor der Bar und trug Zeitschriften und Briefe hinein. Er plauderte kurz mit dem Wirt über das Wetter und über Politik, wobei er einen Kaffee trank, dann radelte er weiter.

Es herrschte Flut. Eine Segeljacht glitt lautlos aus dem Hafen. Sie passierte die Hafendurchfahrt zwischen der Tour de la Lanterne und der Tour Saint-Nicolas, die wie Wachen an der Einfahrt thronten, und nahm Kurs auf die offene See, während Möwen schreiend um ihre Masten kreisten.

»Früh auf den Beinen, Monsieur le Commissaire. Geht es heute los?« Claude stellte eine winzige Tasse mit rabenschwarzem Kaffee auf die verwitterte Tischplatte.

»Ja, um acht Uhr.«

»Dann bonne chance.« Viel Glück.

Claudes Café war nicht gestylt wie die Bars und Restaurants seiner Nachbarn, doch das schien dem Umsatz keinen Abbruch zu tun. Mehrere Gäste taten es Chevalier gleich und tranken eine bol de café und aßen dazu ein Croissant.

Chevalier riss ein Tütchen Zucker auf und rührte ihn in den Kaffee, während er der Jacht nachsah. Sie hatte den weitläufigen Sportboothafen von Les Minimes passiert. Gerade als er hinsah, kamen die Segel unter Wind, und der Rumpf neigte sich zur Seite, während das Schiff Fahrt aufnahm.

Zu gerne wäre er mit ihnen hinausgesegelt. Vielleicht zur Île d’Oléron oder noch weiter nach Süden, vorbei an der Côte Sauvage mit ihrer tosenden Brandung bis hin zum Phare de Cordouan, dem berühmten Leuchtturm vor der Mündung der Gironde.

Chevalier trank den Kaffee in einem Zug und genoss den bitteren Geschmack. Er sah auf die Uhr. Es wurde Zeit. Nachdenklich stand er auf und legte eine Münze auf den Tisch. Claude winkte, als er davonfuhr.

Eigentlich freute Chevalier sich darauf, nach der langen Pause wieder zu arbeiten. In den vergangenen sechs Wochen hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Er war Vater geworden, und sie waren von Lyon hierher in eine neue Stadt gezogen, die er trotz vielerlei Bedenken zu mögen begann. Der Start heute im Hôtel de Police würde das letzte Puzzleteilchen sein, um den Neubeginn zu komplettieren.

Doch wie hieß es so schön? Aller Anfang ist schwer.

Er ließ den Hafen hinter sich und radelte über die Allée du Mail in Richtung ihres neuen Zuhauses, als sein Smartphone klingelte. Überrascht brachte er das Rad mit quietschenden Bremsen zum Stehen und sah auf das Display, ohne die Nummer wiederzuerkennen. »Qui?«

»Spreche ich mit Commissaire Chevalier?« Die Stimme klang zurückhaltend.

»Äh, ja, hier Clément Chevalier. Und mit wem spreche ich bitte?«

»Mein Name ist Sirac Essaid, ich bin Lieutenant bei der Mordkommission. Entschuldigen Sie den frühen Anruf.«

Chevalier hatte den Namen auf der Liste der Kollegen gelesen. »Ich bin schon länger auf. Warum rufen Sie an?«

»Wir haben einen Toten. Ein Mann wurde in La Couarde-sur-Mer getötet, das ist auf der Île de Ré. Commandant Simon meinte, ich solle Sie anrufen.«

Chevalier lachte verblüfft auf. »Der Chef ist lustig, ich habe noch nicht einmal eine Marke.«

Essaid schwieg.

»Aber er hat recht, dafür bin ich ab heute zuständig. Kommen Sie mich in zwanzig Minuten abholen. 11 Rue Louis Blanc. Informieren können Sie mich dann unterwegs.« Er sah immer noch verblüfft auf das dunkle Display. »So schnell hätte es nun auch nicht gehen müssen«, murmelte er. Chevalier sprang auf das Rad und fuhr die wenigen Meter nach Hause, wo er die Cafetiere füllte.

Das Haus war in den Sechzigerjahren gebaut worden. Ihm hatte es auf Anhieb gefallen. Eine Mauer umgab das Grundstück, auf dem Bäume und Büsche im Sommer Schatten spendeten. Kies lag in der kurzen Einfahrt. Der Bau selbst war schlicht. Im Erdgeschoss befand sich neben dem Eingang eine Garage mit grünem Holztor und zwei Fenstern, rund wie Bullaugen. Ihr Renault Kangoo würde es nie dort hineinschaffen, denn schon jetzt war sie voll mit Chevaliers geliebtem Motorrad, den Fahrrädern, Gartenmöbeln und allem anderen, was in einem Haus ohne Keller verstaut werden musste.

Schlaf- und Kinderzimmer waren in der ersten Etage.

Er lief nach oben und betrat vorsichtig den abgedunkelten Raum. Zuerst schaute er in die Wiege. Manon lag auf der Seite und atmete ruhig im Schlaf, die Hände zu winzigen Fäusten geballt. Zärtlichkeit wallte in ihm auf. Liebend gern hätte er ihr über den Kopf gestreichelt, auf dem ein paar rote Härchen zu sehen waren, doch er ließ es. Sie hatte in der letzten Nacht viel geweint und sie auf Trab gehalten. Jetzt wollte er sie auf keinen Fall wecken.

Sandrine hatte die Decke weggestrampelt und schlief tief und fest. Sicher war sie erschöpft.

Chevalier küsste seine Frau sanft und strich über ihr rotes Haar, von dem sie behauptete, es stamme von den bretonischen Vorfahren ihrer Familie.

Sie öffnete verschlafen die Augen. »Musst du schon los?«

»Ein Toter wurde gefunden. Ich werde gleich abgeholt.«

Sandrine richtete sich auf und rieb sich verschlafen die Augen. »Du bist doch noch gar nicht deinen Kollegen vorgestellt worden.« Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht und runzelte die Stirn.

Chevalier hob die Schultern und grinste schief. »Das hat der Mörder nicht gewusst, und ich bin nun mal ab heute zuständig.«

»Hast du ein bisschen Angst?« Ihre blassgrünen Augen blitzten.

Chevalier nickte. »So zu beginnen ist nicht gerade leicht.«

»Komm.« Sie legte die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange. »Du bist der Chef, Clément. Vergiss das nicht. Du schaffst das, vertrau mir.«

»Danke.«

Sandrine sank zurück und schloss die Augen. Chevalier sah einen Moment auf die zierliche Gestalt seiner Frau und spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Wie glücklich er war, sie zu haben!

Als er wieder nach unten kam, blubberte das letzte Wasser in die Cafetiere.

Chevalier hatte seinen Café Crème getrunken und im Stehen ein Croissant gegessen, als ein dunkelblauer Renault Talisman vor dem Tor hielt. Chevalier zögerte und atmete tief ein. »Auf in den Kampf.« Er lief zu dem wartenden Wagen und öffnete den Schlag.

Der Lieutenant sah neugierig auf, als er einstieg.

»Clément Chevalier. Sehr erfreut.« Chevalier reichte ihm die Hand.

»Ganz meinerseits. Ich bin Sirac Essaid, aber nennen Sie mich Sirac. Das sagen hier ohnehin alle.« Sein Händedruck war fest. Er lächelte. »Unter solchen Umständen habe ich bisher noch keinen Chef kennengelernt.«

Chevalier erwiderte das Lächeln und spürte, wie seine Anspannung etwas nachließ. »Ich bin auch eher davon ausgegangen, dass Commandant Simon mit mir von Büro zu Büro geht und mich vorstellt, dass jemand mir eine Marke gibt und ich mich dann in Ruhe an meinem Schreibtisch einrichten kann. Das hat den Mörder leider nicht interessiert.«

Sie musterten einander. Essaid war relativ klein gewachsen, doch die austrainierten Muskeln unter dem Poloshirt zeigten, dass das ohne Belang war.

»Wollen Sie zuerst ins Kommissariat?«

»Nein. Fahren wir zum Fundort der Leiche.« Chevalier schnallte sich an, und Essaid startete den Motor.

Kurz darauf erreichten sie die Gare de Péage vor der Brückenrampe. Sie passierten die Mautstation und fuhren die geschwungene Brücke hinauf.

Die Sonne hatte sich mittlerweile hoch erhoben. Ihnen gegenüber lag die Île de Ré in der Morgensonne, umgeben vom tiefblauen Atlantik. Chevalier öffnete das Fenster ein wenig, um etwas von der würzigen Seeluft hereinzulassen, und sah hinunter aufs Wasser. Der moderate Wind bildete winzige schaumige Wellen, auf denen Boote ihre Runden drehten. Bisher war die Saison nicht in vollem Gange, doch man spürte schon die Zunahme des Verkehrs.

Sie erreichten den Scheitelpunkt der Brücke, und das Land kam wieder näher, während Chevalier über die See blickte und sich weiter entspannte. Er seufzte. »Ein Tag, der viel zu schön ist, um zu sterben.«

Möwen schossen unter der Brücke hindurch.

»Wie bitte?« Sirac drehte den Kopf. Er hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, die ebenso dunkel war wie sein Haar.

Chevalier winkte ab. »Ach, nichts. Was wissen wir bisher?«

»Der Tote ist Luc Moyon.«

»Sie sagen das so, als müsste ich ihn kennen.«

Essaid blickte wieder zu ihm herüber und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid. Er ist in der Gegend den meisten Menschen bekannt. Besitzt ein großes Weingut auf der Insel. Moyon war lange Bürgermeister seiner Heimatgemeinde und später Mitglied im Conseil Général des Départements.«

»Im Département-Rat? Da werden Presse und Politik schnell auf den Mord aufmerksam werden.« Chevalier kannte solche Fälle und wusste um den Druck, der unweigerlich damit einherging.

»Man sah ihn früher häufiger in unserer Zeitung, der Sud Ouest.«

»Früher?«

»Seit einigen Jahren ist er von der Bildfläche verschwunden.«

»Was wissen wir außerdem?«

Sirac linste während des Fahrens auf einen Notizzettel. »Gefunden hat ihn am frühen Morgen ein Mann namens Jérôme Batz.«

»Wer ist das?«

»Ein Nachbar.«

»Wo wurde er gefunden?«

»An einer Saline, nicht weit vom Weingut entfernt.«

»Ich dachte, er wäre Winzer?«

Sirac hob die Schultern. »Verstehe ich auch nicht.«

»Was hat er so früh dort gemacht?«

»Wissen wir nicht.«

Sie erreichten Rivedoux-Plage mit seinen langen Stränden und passierten den Ort.

Chevalier betrachtete den Klatschmohn, der auf der Insel eines Kreisverkehrs wuchs. »Zum Glück sind noch nicht so viele Touristen unterwegs, sonst würden wir ewig brauchen.«

»Sie kennen die Insel?«

»Wir waren schon oft hier. Mein Schwiegervater hat eine Austernzucht in Les Portes-en-Ré. Ihm gehören einige Bänke.«

»Einer der großen Produzenten?«

»Gilles Tonnay. Sie fahren die Austern mit den Kühl-Lkws bis nach Paris, Brüssel oder Luxemburg.«

Wenig später erreichten sie Sainte-Marie-de-Ré. Chevalier liebte den Strand hier, denn man konnte von ihm aus Sonnenuntergängen zusehen, die wirkten, als wäre man in den Tropen. Er musste sich daran erinnern, nicht in Urlaub zu sein. »Zurück zu Luc Moyon. Was sollte ich noch wissen?«

»Jérôme Batz hat noch von der Saline aus die Polizei angerufen. Er wartet dort. Ich habe die Kriminaltechnik und die Gerichtsmedizinerin informiert. Sie sollten bereits vor Ort sein.«

»Wer von den Kollegen ist da?«

»Sophie, also Sophie Lambert.«

»Und der andere Kollege? Adrien …« Chevalier hatte den Nachnamen vergessen.

»Moreau.« Essaid sah ihn wieder von der Seite an. »Ihn konnte ich nicht erreichen.«

»Hatte er Dienst?«

»Nein.« Sirac stieg mit aller Gewalt auf die Bremse, als kurz vor ihnen ein Wohnmobil aus einer Seitenstraße kam und, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Straße fuhr. Nun zockelte es schaukelnd vor ihnen dahin.

Essaid fluchte in einer fremden Sprache und überholte das Gefährt bei nächster Gelegenheit.

»Stammen Sie aus Algerien?«

»Sie sprechen Arabisch?«

Chevalier nickte. »Ein paar Brocken waren in Lyon nützlich.«

»Von der Großstadt nach La Rochelle?«

»Meine Frau hat das hier nach sieben Jahren in Lyon vermisst.« Er zeigte auf das Meer, das zwischen den Bäumen blau glitzerte. »Wir haben seit vier Wochen eine Tochter und wollten sie hier aufwachsen sehen.«

»Gratuliere.«

»Danke.« Chevalier hing seinen Gedanken nach. Wenn Manon nur der einzige Grund wäre …

»Wie war das in der Großstadt?«, wollte Sirac Essaid wissen.

»Immer hat es irgendwo gebrannt. In den Brennpunkten der Banlieues wie Vaulx-en-Velin gibt es laufend was zu tun. Aber hier geht es ja auch schon gut los.«

»Der erste Tote seit mehr als einem Jahr.«

»Da fange ich ja am richtigen Tag an.«

Kurz darauf erreichten sie den schmalsten Punkt der Insel. Zu ihrer Rechten erstreckten sich die Salzgärten. Eine faszinierende Welt aus Wasser und Land, über der sich der blaue Himmel wie ein Dom wölbte.

Sirac Essaid bog bei La Couarde-sur-Mer von der Hauptstraße auf die Route de Goisil ab, die sie tiefer in die Salzgärten führte. Sie passierten einen Campingplatz und zwei Kurven weiter einen Weiler mit den typischen Häusern der Insel. Weiß gestrichen, maßen sie nur eine Etage und waren allesamt mit roten Dachpfannen gedeckt. Die Häuser standen in Nutzgärten zwischen Stockrosen, und man hätte sie kaum voneinander zu unterscheiden gewusst, wären da nicht die Fensterläden gewesen, die in den unterschiedlichsten Farben lackiert waren.

»Was ist das denn?«

Essaid nahm unvermittelt den Fuß vom Gas. Ein wuchtiger Bungalow thronte auf einem eigens aufgeschütteten Hügel. Die Wände waren aus Sichtbeton gefertigt.

Chevalier kniff die Augen zusammen, denn die Sonne brach sich in einer Glasfläche, die sich über die gesamte Breitseite des Hauses erstreckte. Fraglos schön anzusehen, doch hier erschien ihm der Bau seltsam fehl am Platz. »Nicht schlecht. Aber in dieser Ecke?«

Auf einem Pool trieb einsam ein Schwimmring im auffrischenden Wind von einer auf die andere Seite, als sie im Schritttempo eine niedrige Hecke passierten, die das Grundstück einfasste.

Sirac Essaid schüttelte den Kopf. »Jedem das Seine. Wir sind gleich da.«

Sie fuhren auf einen sandigen Feldweg und sahen nach ein paar Metern den Renault-Transporter der Bereitschaftspolizei. Gleich daneben stand ein alter, verbeulter Citroën Berlingo, der an einigen Stellen zu rosten begann und über und über mit Staub bedeckt war.

»Dr. Roussel ist da.«

Ein uniformierter Polizist trat hinter dem Transporter hervor und winkte sie neben den Citroën, als er Wagen und Fahrer erkannte.

»Sie werden sie mögen«, sagte Sirac Essaid.

»Wen?«

»Die Gerichtsmedizinerin. Anaïs Roussel.«

Chevalier sah Essaid fragend an.

Der grinste. »Sie hat ihre Eigenarten.«

»Haben wir Schutzkleidung?«

»Sophie hat welche dabei.«

Sie erreichten die mit Strandhafer bewachsene Böschung der Saline, von der aus sie einen guten Überblick über die Anlage hatten, da der eigentliche Salzgarten tiefer lag. Die Saline bestand auf der einen Seite aus mehreren lang gezogenen Bassins, denen gegenüber in zwei Reihen zwanzig flache Becken lagen. Berge von Salz türmten sich daneben.

Es war warm geworden, doch Wind wehte sanft vom Atlantik herüber und kühlte.

Chevalier zog die Sonnenbrille auf. »Verstehen Sie etwas von dem, was die Sauniers machen?« Er selbst wusste nicht viel über die Arbeit der Salzarbeiter.

»Nicht die Bohne.« Sirac grinste.

Sie gingen einen ausgefahrenen Weg hinab zu den Salinenbecken. Der Tote schien sich am gegenüberliegenden Ende der Anlage zu befinden, denn mehrere Personen in Schutzanzügen standen zusammen vor einer lang gezogenen Hütte, neben der ein verschmutzter Peugeot Partner abgestellt war. Andere luden Ausrüstung aus einem Transporter und trugen sie zum Eingang.

Chevalier bemerkte zwei weitere Gestalten, die sich ein wenig abseits miteinander unterhielten.

Als er neben Sirac die Reihe der Becken entlanglief, fühlte Chevalier sich für einen kurzen Augenblick wie in einem Film mit ihm als grotesker Fehlbesetzung und wäre am liebsten davongelaufen.

Die Luft roch intensiv nach Meerwasser. Die Sonne warf ein Licht, das er bislang nur hier am Atlantik erlebt hatte, und wärmte ihm den Rücken. Möwen segelten durch die Luft und schrien schrill. Alles fühlte sich für ihn, den Binnenländer, nach Urlaub an, doch nur ein paar Schritte weiter und er würde einen Toten begutachten und die Leitung der Mordkommission übernehmen.

Plötzlich stieg eine überwältigende Angst in ihm auf. War es vernünftig gewesen, hierherzuziehen, wo viele Sandrines Familie kannten, wo er fremd war und fürchten musste, dass ihm sein Bruder selbst diesen Zufluchtsort vergällen könnte? Kurz empfand er alle Entscheidungen, die ihn hierhergeführt hatten, als falsch. Dann beruhigte er sich und streifte die irrationalen Ängste ab. Hier war nun sein Platz, und er würde ihn ausfüllen. Chevalier konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag.

Neben dem vorletzten Becken ragte ein Stiel aus dem Wasser, an dessen Ende ein rechteckiges flaches Sieb befestigt war, das auf den Boden gesunken war. Ein Flatterband sperrte in weitem Bogen die Stelle ab. Er sah zwei Flipflops, die wie zufällig verstreut danebenlagen.

Sie traten zu der Gruppe, und alle Blicke richteten sich auf ihn, den Neuen.

Chevalier begann zu schwitzen. Er drückte die Schultern durch und trat zu den Kollegen. »Guten Morgen, mein Name ist Clément Chevalier, wie Sie sicherlich wissen.« Er lächelte in die Runde. »Sie können sich vorstellen, dass es für mich nicht ganz einfach ist, gleich am ersten Tag einen solchen Fall zu übernehmen. Ich habe nicht einmal eine Marke. Die liegt beim Commandant.« Sie grinsten einander an. »Ich werde auf Ihre Hilfe angewiesen sein.«

Eine der beiden Frauen trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Sophie Lambert. Das kriegen wir hin.« Die junge Kollegin streifte die Kapuze des Overalls zurück. Mittellange braune Haare kamen darunter zum Vorschein. Sie lächelte.

Die andere Frau hatte kurzes lockiges Haar und strahlend blaue Augen in einem braun gebrannten Gesicht. »Anaïs Roussel, ich bin die Gerichtsmedizinerin. Sehr erfreut.«

»Auf Ihrem Berlingo sind Halterungen für Surfbretter?«

Sie lächelte. »Windsurfing war mal mein Hobby. Heute bevorzuge ich das Kite-Surfen, wenn ich nicht gerade Leichen zerfleddere, DNA-Analysen durchführe oder besoffene Autofahrer anzapfe. Kiten Sie?«

Chevalier musste grinsen. »Um Gottes willen, nein. Ich bin in Metz groß geworden. Die größten Wellen hatte dort die Mosel, wenn ein Frachter kam.« Er sah in die Runde. »Ich würde mich freuen, Sie bei Gelegenheit auch privat näher kennenzulernen, doch im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun. Sirac hat mich kurz informiert. Was gibt es hier?«

Er hatte den richtigen Ton angeschlagen, und alle tauchten in die einstudierten Routinen ein, die jeder Kriminalbeamte in Frankreich beherrschte. Chevalier atmete auf.

Sophie Lambert fasste unaufgeregt zusammen, und Chevalier bemerkte, dass ihre Stimme einen angenehmen Ton hatte. »Der Tote liegt hinter der rechten Tür der Cabane des Sauniers. In dem Teil der Hütte ist eine Art Aufenthaltsraum oder Küche. Ich denke, die Salzbauern kochen hier ihr Essen oder stellen sich unter, wenn es regnet. Im Präsidium würde man von einem ›Sozialraum‹ sprechen.« Sie grinste. »Der Tatortfotograf ist bei der Arbeit, danach geht die Technik rein. Laut Aussagen des Sohnes des Toten – er heißt Jean Moyon – kam der Anruf von Jérôme Batz um kurz nach sechs. Jean Moyon sagt aus, das Opfer sei gestern am späten Nachmittag hergekommen, um das Fleur de Sel abzuschöpfen. Das ist das Salz, das an heißen Tagen an der Oberfläche schwimmt. Es ist besonders wertvoll.«

Chevalier nickte. »Ich habe dort hinten einen Stab mit Sieb in einem der Becken gesehen.«

»Das ist eine Lousse. Mit ihr wird das Fleur de Sel abgefischt«, warf Anaïs Roussel ein.

»Was treibt ein Winzer in einer Saline?«

»Das haben wir uns auch gefragt.« Sophie Lambert deutete auf einen der abseitsstehenden Männer, die zu ihnen herübersahen. »Der Sohn sagt, sein Vater sei vor einiger Zeit aus dem Weingut ausgestiegen und habe sich anschließend der seit Langem aufgegebenen familieneigenen Saline gewidmet.« Sie sah zu den Salzhaufen. »Das ist die Salzernte, die sie gestern herausgeholt haben.«

»Wer ist ›sie‹?«

»Das Opfer und ein Helfer namens Duchamps. Er lebt und arbeitet eigentlich auf dem Château Roux, das ist das Weingut der Moyons. Während des Sommers hilft er hier aus. Wir können ihn später dort befragen. Da das Wetter in den vergangenen Tagen für die Salzbildung optimal war, hat Luc Moyon hier viel Zeit verbracht.«

»Wir sprechen gleich mit den Männern. Ich möchte aber zuerst den Toten sehen, bevor man ihn entkleidet.«

Chevalier ging mit Sirac und Sophie Lambert zum Eingang des aus rissigem Holz zusammengezimmerten Gebäudes und streifte einen Schutzanzug über. Das Urlaubsgefühl verschwand auf der Stelle, und Chevalier begann, noch stärker zu schwitzen.

Die Hütte war alt und wirkte windschief, doch neue Pappe auf dem Dach und gestrichene Fenster zeigten, dass alte Schäden ausgebessert worden waren. Es gab zwei Türen. Hinter der linken sah Chevalier ein gut gefülltes Lager mit abgepacktem Salz. Ein kleiner Berg schneeweißen Salzes lag offen auf einer Plane gleich neben der Tür.

Der Teil, den sie betraten, bestand aus einem Raum mit einem Boden aus rohen Bohlen. Zur Rechten befand sich ein Gasherd neben einem alten Küchenschrank, davor ein langer Tisch mit Stühlen, von denen keiner zu einem der anderen passte. Ein verbeultes Metallsieb stand einsam auf der Tischplatte.

Zwischen diesen und allerlei weiteren Gerätschaften, die an der linken Wand aufgereiht waren, lag Luc Moyon.

Der Tote war ein großgewachsener Mann. Chevalier schätzte ihn auf annähernd einen Meter neunzig.

Gestorben war er auf der rechten Seite liegend, die Wange auf dem Boden. Seine Füße waren nackt, deren Haut rissig und abgeschürft. Die kurze Hose war ein wenig heruntergerutscht und ließ einen Blick auf den Bund einer Unterhose zu. Füße und Hände waren zusammengebunden.

Das weiße T-Shirt war übersät mit dunklen Spritzern.

Chevalier deutete darauf. »Blut. Es muss von der Kopfwunde stammen.«

Auch der schmale graue Haarkranz um die Glatze war verklebt. Das im Tod entspannte Gesicht war voller roter Flecken und beginnender Beulen, die Chevalier zeigten, dass der Mann vor seinem Tod misshandelt worden war. Der Mund war mit einem Klebeband verschlossen. Über die Todesursache bestand wenig Zweifel. Eine Drahtschlinge war tief in die Haut unterhalb des Halses eingedrungen. Nur die Enden mit zwei eingeflochtenen Holzgriffen waren noch zu sehen. Chevalier zog sein Smartphone aus der Jeans und fotografierte. Er fühlte, wie die Routine ihm Sicherheit gab und seine Nervosität verflog.

»Sie sind der Neue?«

Er wandte sich um. Ein rundlicher Mann mit metallgefasster Brille sah ihn fragend an.

»Seit einer Stunde.«

»Michel Douanier. Ich leite die Kriminaltechnik.« Sie gaben einander die Hand. »‚Blitzstart’ würde ich das nennen.«

»Ich weiß nicht einmal, wo mein Schreibtisch steht. Wie sieht es aus?«

»Das Opfer wurde neben den Becken in der Aire saunante niedergeschlagen. Das ist der Bereich mit den flachen Becken, wo das Salz aus dem Wasser geholt wird.«

»Dort, wo wir die Lousse gesehen haben?«

Douanier nickte.

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragte Chevalier weiter.

»Der Schlag hat ihn auf dem Schädel rechts oberhalb der Stirn getroffen. Ich vermute, der Angriff kam von der Seite.«

»Gab es einen Kampf?«

»Der Spurenlage nach, nein. Es sieht so aus, als wäre Moyon dabei gewesen, das Salz einzusammeln.«

»Er hat dem Angreifer demnach vertraut. Anschleichen ist dort kaum möglich.«

Douanier hob die Schultern. »Das ist Ihr Part.«

»Wurde er hierher gezogen oder getragen?« Sophie Lambert beugte sich vor.

»Geschleppt. Die Füße sind dabei in Mitleidenschaft gezogen worden.«

Chevalier schoss weitere Fotos. »Konnten Sie, abgesehen von der Schlinge, einen Gegenstand finden, der klar dem Mörder zuzuordnen ist?«

»Nein, und das wird in dieser Umgebung nicht einfach sein. Hier hat in den vergangenen Jahren niemand ordentlich sauber gemacht. Überall Staub vermischt mit Sand und Haaren. Erhoffen Sie sich nicht allzu viel.«

»Was ist mit dem Peugeot da draußen?«

»Gehört dem Opfer. Wir lassen ihn abschleppen und nehmen ihn uns in unserer Garage vor.«

»Was ist das?« Chevalier deutete auf einen Blutfleck, der durch das T-Shirt des Toten gedrungen war.

Douanier nahm einen Bleistift und hob den unteren Saum an. Darunter wurden blutige Striemen sichtbar. »Verletzungen.« Er wandte sich um und deutete auf den Boden. »Einen Lichtblick gibt es. Der Täter ist in die Blutlache getreten. Wir nehmen einen Abdruck.«

Chevalier nickte, und sie verließen die Hütte, um sich sofort aus den Anzügen zu schälen.

»Was denken Sie?« Sophie Lambert knüllte ihren zusammen und sah über die Becken. Ein Säbelschnäbler stakste durch das flache Wasser. »Raubmord scheidet aus. Hier gibt es nichts zu holen.«

»Es sei denn, das Opfer hatte etwas mitgebracht, das der Täter unbedingt haben wollte.«

Sophie nickte. »Er wurde misshandelt. Ich gehe daher am ehesten von einer Beziehungstat aus.«

Chevalier wandte sich um. »Sirac, wir müssen mehr über die Familie in Erfahrung bringen. Wer gehört dazu, was tut jeder Einzelne, wo waren die Angehörigen am vergangenen Abend sowie in der Nacht, und so weiter. Wenn der Kollege Moreau im Büro ist, soll er sich bitte sofort darum kümmern. Sobald wir hier fertig sind, fahren wir zum Weingut. Da wären die Informationen wichtig. Fordern Sie Streifenbeamte an, die alle Anwohner befragen, die an Zugangsstraßen zur Saline wohnen. Madame Lambert …«

»Sophie. Wir sprechen uns mit dem Vornamen an, Monsieur le Commissaire.« Sie lächelte, und er sah Sommersprossen auf ihrer Nase tanzen.

Chevalier grinste. »Nennen Sie mich Clément. Ich möchte zuerst mit dem Mann sprechen, der den Toten gefunden hat.«

Chevalier schätzte Jérôme Batz auf etwa fünfzig Jahre. Der mittelgroße, breit gebaute Mann hielt einen kleinen Mischlingshund an der Leine, der daran zerrte und keuchend atmete.

Auf Batz’ Kopf thronte ein Strohhut, der ihn wohl gegen die Sonne schützen sollte. Augenscheinlich entspannt lehnte er an dem hinteren Rad eines rostigen Traktors und blies den Rauch seiner Zigarette in die Luft.

Chevalier reichte ihm die Hand und stellte sich und die Kollegen vor. »Wieso waren Sie so früh an der Saline?«

»Ich wohne in einem der Häuser, an denen Sie vorbeigekommen sein müssen.«

»Dort, wo der neue Bungalow steht?«

Batz verzog ein wenig den Mund. »Gleich daneben.«

»Wieso grinsen Sie?«

»Nichts weiter. Ich stehe immer früh auf und drehe eine kleine Runde mit Napoleon.« Er wies auf den Hund. »Die Tür stand auf, da habe ich mich gewundert und bin nachschauen gegangen. Manchmal brechen die Leute ein, um das Salz zu stehlen oder in der Hütte zu übernachten. Drinnen fand ich dann Luc …« Er schluckte. »Das ganze Blut.« Er schauderte. »Ich habe dann sofort die Polizei und Jean gerufen. Er ist mein Nachbar.«

»Im Bungalow?«

Jérôme Batz nickte.

»Wie hat er reagiert?«

»Er war geschockt, wie ich auch. Jean kam und stand dann vor der Leiche und stammelte unzusammenhängend vor sich hin.«

»Was hat er gesagt?«

Batz zuckte die breiten Schultern. »Dass es nicht sein kann, wer denn so etwas macht und so weiter.«

»Waren Sie öfters an der Saline?«

Batz blies wieder Rauch in die klare Luft. »Ja. Moyon hat anfangs alleine an den Becken und Kanälen gewerkelt. Das war eine Menge Arbeit. Ich bin seit fünf Jahren in Rente, war früher bei der SCNF in der IT. Ich hatte Zeit und habe ihm manchmal geholfen, war ja gleich um die Ecke. Mein Vater war Saunier, daher kenne ich mich aus.«

»Wie war zuletzt Luc Moyons Stimmung? War er verändert, oder hat er von Problemen erzählt?«

Jérôme Batz hob eine Schulter. Seine Miene verhärtete sich. »Meine Frau hat Krebs. Ich war in diesem Jahr kaum hier. Luc hat das akzeptiert und einen Helfer vom Weingut mitgebracht. Das war auch gut so, denn in letzter Zeit ging es ihm nicht gut.«

»Inwiefern?«

»Hat abgenommen und immer geschnauft. Etwas mit der Lunge, denke ich.«

»War der Mann gestern auch hier?« Sophie Lambert machte sich mit einem Pen auf ihrem Tablet Notizen.

»Philippe? Ich denke schon. In der Saison gibt es keinen Sonntag. Das Salz muss raus, und die Becken sind neu zu füllen. Philippe Duchamps trinkt manchmal ein Glas mit mir. Er ist seit Jahren bei den Moyons. Seine Frau Lenka hilft da im Haushalt. Die beiden wohnen auf dem Château.«

»Kommen wir zurück zum Leichenfund«, sagte Chevalier. »Was war heute anders als sonst?«

»Die Lousse lag im Becken. Das war ungewöhnlich. Luc hat immer penibel Ordnung gehalten.« Batz schien einen Moment nachzudenken. »Die offen stehende Tür. Das Sieb mit den Meeresbohnen auf dem Tisch …«

»Was ist das?«

Jérôme Batz sah Chevalier an. »Sie kommen nicht von hier, was? Die wilden Bohnen findet man hier überall. Sie brauchen das Salz, um wachsen zu können. Man kann die Pflanzen kochen oder als Salat essen. Luc liebte ihren Geschmack.«

»Hat etwas gefehlt?«

Batz schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Fragen Sie Philippe.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss jetzt zu meiner Frau. Übrigens, Sie sollten wissen, dass Luc Moyon eine Freundin hatte. Sie hat ein Café in Les Portes-en-Ré.«

Chevalier war verwundert. »Warum erzählen Sie uns das?«

»Ich dachte, es könnte wichtig sein.«

»Wissen Sie den Namen?«

»Nein, ist aber leicht zu finden. Es liegt mitten im Ort in der Rue Jules David, dort, wo die Rue Jean Monnet einmündet. Sie können es nicht verfehlen.«

Chevalier gab Batz seine private Handy-Nummer, da er bisher über keinen Dienstapparat verfügte, und bat den Mann, sich zu melden, falls ihm noch etwas einfalle. Sie verabschiedeten sich und gingen zu Jean Moyon, der zwischenzeitlich auf einem klapprigen Gartenstuhl Platz genommen hatte und in das rosa schimmernde Wasser eines der Becken stierte, wobei er nervös mit dem Fuß wippte. Als er sie kommen hörte, sprang er auf. Seine Augen waren trocken. Er wirkte genervt.

»Warum halten Sie mich hier fest? Wieso geben Sie mir nicht einmal die Zeit, meine Geschwister anzurufen?« Jean Moyon hatte die wuchtige Gestalt und das schwere Kinn seines Vaters geerbt, auch die Tränensäcke erinnerten Chevalier an den Toten. Die braunen Haare allerdings waren dicht und wehten in der leichten Brise, die aufgekommen war. Er war schätzungsweise Mitte, Ende dreißig.

Chevalier machte Jean Moyons Verhalten misstrauisch. Eben noch unter Schock und nun dieser Auftritt? Was mochte der Grund dafür sein, seine Trauer beiseitezuschieben und von hier verschwinden zu wollen? Er würde dem Mann genau auf die Finger schauen.

Chevalier wechselte einen Blick mit Sophie Lambert, die unmerklich die Brauen hob. »Was mit Ihrem Vater geschehen ist, tut mir leid, und ich verstehe Ihren Wunsch, die Familie zu informieren, aber es ist unumgänglich, dass wir Sie befragen. Das duldet keinen Aufschub.« Er sah Jean Moyon auffordernd an.

Der hob unwillig die Hände.

»Wann haben Sie Ihren Vater zuletzt gesehen?«

Moyon wiegte den Kopf. »Gestern Nachmittag, so gegen halb fünf.« Er seufzte. »Wir hatten Streit. Das sage ich Ihnen gleich, denn die Mitarbeiter standen herum und bekamen das Ganze mit. Sie werden ohnehin tratschen.«

»Worum ging es bei diesem Streit?«

»Da müsste ich weit ausholen, damit Sie den Kern des Problems verstehen.«

»Versuchen Sie’s bitte.« Chevalier sah zu Sirac und Sophie Lambert, die seiner Befragung aufmerksam folgten. Ein erster Test.

»Ach, im Prinzip immer das alte Lied.« Moyon machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir produzieren seit vielen Jahren ausschließlich Biowein und Pineau.« Er bemerkte Chevaliers fragenden Blick. »Pineau ist ein Mischgetränk aus Traubenmost und Eau de vie. Der Alte hat das so bestimmt. Ich bin mittlerweile dagegen. Das übt sich negativ auf die Wirtschaftlichkeit aus, da wir geringere Erträge haben als konventionelle Winzer. Im vorletzten Jahr hatten wir einen Pilzbefall und enorme Ausfälle. Das kommt hier oft vor, weil vom Meer viel Feuchtigkeit aufsteigt. Ich wollte einen Teil der Rebflächen auf integrierten Weinbau umstellen. Das ist auch nachhaltig, gibt mir aber mehr Freiheiten. Doch Vater hat sich quergestellt.«

»Worum genau ging es bei dem Streit von gestern?«

Moyon rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Er zeterte einmal mehr herum: Wir sollten aufpassen, dass wir die Auflagen nicht verletzen.«

»Inwiefern?«

»Das ist nicht von Belang.«

Die ausweichende Art von Moyon fiel Chevalier allmählich auf die Nerven. »Ich kann auch die Mitarbeiter fragen.«

Der Winzer verdrehte die Augen und wurde laut. »Was hat das mit dem Mord an meinem Vater zu tun? Sie wühlen an der falschen Stelle, Monsieur le Commissaire. Glauben Sie etwa, ich bringe meinen Vater wegen eines lausigen Streits um?«

Zutrauen würde ich es dir. Chevalier zog eine Augenbraue in die Höhe. »Vielleicht war es ja der eine Streit zu viel. Hören Sie: Wir sind Außenstehende und versuchen, uns Stück für Stück ein Bild von der Situation zu machen, ohne das wir den Täter nicht fassen können. Im Moment ist für uns daher alles relevant.«

Jean Moyon seufzte. »Er hatte festgestellt, dass zu viel Dünger ausgebracht worden war, wenige Hundert Kilo. Das war keine Absicht. Aber bei den Böden muss man dicht am Wind segeln, um einen zufriedenstellenden Ertrag zu haben. Der Mitarbeiter hat sich verzählt und einen Sack mehr in den Düngewagen geworfen. Vater musste natürlich gleich durch die Decke gehen. Schreit mich vor den Leuten an, als wäre ich sein Angestellter.«

»Wo waren Sie gestern nach dem Streit?«

»Soll das ein Witz sein?« Moyon starrte die Polizisten ungläubig an.

Chevalier schüttelte den Kopf. »Ich frage das jeden, der mit dem Toten zu tun hatte. Wo waren Sie gestern Abend?«

»Zu Hause bei meiner Frau und den Kindern«, schnauzte Moyon. »Die können Sie befragen, wenn es Ihnen dann besser geht. Wir wohnen in dem Neubau am Rand der kleinen Siedlung dort drüben.«

Chevalier nickte und schaute abwartend zu Sophie Lambert, ob sie weitere Fragen hatte. Jean Moyon aber sprach unaufgefordert weiter.

»Ich hatte meine Differenzen mit Vater, denn er war kein einfacher Mensch. Hat sich oft aufgespielt wie ein Großgrundbesitzer, und ich musste die Arbeit machen. Doch ich habe ihn mein ganzes Leben lang bewundert. Während des Studiums hat er gegen den Staat protestiert, und später ist er auf den Hof der Familie zurückgekehrt und hat den Namen Moyon groß gemacht. Er war einer der Ersten, die Bioweine gekeltert haben.« Moyon schluckte hörbar. »Verstehen Sie? Niemals hätte ich dem Alten etwas angetan. Niemals. Unser Problem war einzig und alleine, dass wir über den Weg in die Zukunft uneins waren.«

Chevalier beschloss, ihn ein wenig zu provozieren. »Er war Ihnen also im Weg.«

Jean Moyon richtete sich auf und strich sich mit einer brüsken Bewegung die Haare aus der Stirn. »Sie kapieren offenbar nichts. Vater war krank. Lungenemphysem oder so. Der Streit ist nur eskaliert, weil ich sonst den Mund halte, um ihn nicht zu belasten. Ich habe durch seinen Tod nichts gewonnen; er hatte nicht mehr lange zu leben.« Er drehte sich um und wollte davongehen, doch Chevalier hielt ihn ruhig, aber entschieden zurück.

»Ich bin noch nicht fertig, Monsieur Moyon. Wer könnte Ihren Vater so hassen, dass er ihn umbringt?«

Moyon schnaubte. »Mamas Liebling vielleicht. Mein Bruder Alexandre. Der Alte hat ihn vor Jahren rausgeworfen.« Wut blitzte in seinen Augen auf.

»Warum?«

»Fragen Sie ihn.«

»Ich frage aber Sie«, erwiderte Chevalier betont gelassen. Er musste sich zusammenreißen, Moyon nicht härter anzufassen.

»Alexandre hat Vater gehasst wie die Pest.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Moyon warf den Kopf zurück und blickte über die Becken. »Er gibt Vater die Schuld an allem. Unsere Mutter ist Alkoholikerin; sie trinkt seit Jahren. Jeder weiß es und ignoriert die Schnapsdrossel, so gut es geht. Sie hat Vater vorgeworfen, er habe ihr Leben zerstört. Er habe sie überredet, mit den Kindern aus der Stadt fort- und hierhinzuziehen. Er betrüge sie, kommt dann zu guter Letzt, bevor sie ins Delirium fällt. Dummes Geschwätz, wenn Sie mich fragen. Alles Behauptungen zum Selbstschutz, damit sie sich nicht eingestehen muss, dass sie es ist, die die Flasche aufschraubt. Alexandre hat zu ihr gehalten und sich mit Vater angelegt. Eines Abends haben sich die beiden geprügelt, woraufhin er meinen Bruder aus dem Haus geworfen hat.«

Chevalier musste sich ein Grinsen verkneifen. Eben noch hatte Jean Moyon angeblich weggewollt, um die Familie zu informieren, und nun zeigte er ihnen auf, dass dort eigentlich niemand war, den er erreichen konnte. Etwas stimmte nicht mit Moyon.

»Wo ist er jetzt?« Da Chevalier schwieg, setzte Sophie Lambert mit einem unsicheren Seitenblick auf ihn die Befragung fort.

»Lebt in Niort mit seiner Frau und einem Kind. Ich habe den Kontakt zu ihm verloren. Er telefoniert oft mit Mutter. Fragen Sie bei ihr nach, wenn es möglich ist.«

»Woher wissen Sie dann darüber Bescheid?«

»Mutter hat es mir erzählt.« Er wich Sophie Lamberts Blick aus.

Er lügt schon wieder, dachte Chevalier, überließ aber Sophie das Feld.

»Ihre Mutter, wann können wir sie …«

Moyon schnitt ihr das Wort ab. »Erwarten Sie nicht zu viel. Sie ist meistens nicht ansprechbar. Dieses Wrack hat mit der Mutter, die ich von früher in Erinnerung habe, nichts mehr zu tun. So gegen Mittag wird sie wohl wieder ein bisschen klar denken können. Versuchen Sie es dann.« Er wollte sich abwenden, doch Chevalier hielt ihn ein weiteres Mal auf.

»Noch einmal die Frage: Wer könnte Ihrer Meinung nach ansonsten Ihren Vater so gehasst haben, dass er ihn getötet hat?«

»Das herauszufinden ist Aufgabe der Polizei. Ich habe andere Probleme. Kommende Woche wird das Weingut eine Auszeichnung erhalten. Von unseren politischen Freunden arrangiert.« Jean Moyon machte eine Pause, um die Warnung dahinter deutlicher werden zu lassen, die an Chevalier jedoch abperlte.

»Wo ist das Problem?«, gab er gespielt ahnungslos zurück.

»Der Landwirtschaftsminister aus Paris hat sich angesagt. Ich muss dringend mit dem Präsidenten des Département-Rats und einem Sekretär des Ministers telefonieren. Wir müssen wissen, wie es weitergeht.«

»Wann soll der Besuch stattfinden?«

»Freitag.«

»Ich …«

»Später.« Moyon ging davon.

Sophie warf Chevalier einen ungläubigen Blick zu. »Soll ich ihn zurückholen?«

Er sah Sirac an und verneinte. »Für heute ist es genug. Aber nur für heute.«

Anaïs Roussel verließ die Hütte und streifte den Schutzanzug ab. Sie schüttelte die kurzen Haare auf.

»Na, die ganze Bande kennengelernt?«

Chevalier trat zu ihr. »Ein paar fehlen noch.«

Sie lächelte kryptisch. »Ich könnte an Ihrer Stelle auf den Rest verzichten.«

»Wie muss ich das verstehen?«

»Finden Sie es raus. Sie sind doch die Oberschnüffelnase hier, oder?«

Chevalier verstand allmählich, was Sirac gemeint hatte. »Was können Sie zu diesem frühen Zeitpunkt schon sagen?«

Die Gerichtsmedizinerin entzündete eine Zigarette und inhalierte tief. Sie wurde ernst. »Da war jemand ganz schön böse auf unseren Toten, Monsieur le Commissaire. Zuerst wurde er niedergeschlagen, dann da reingezogen und mit Kabelbindern gefesselt. Wie Sie gesehen haben, befinden sich unter der Kleidung weitere Verletzungen. Luc Moyon wurde mit einem harten Gegenstand geprügelt. Es könnte ein Schlagstock oder ein Ochsenziemer gewesen sein. Sehr schmerzhaft jedenfalls, das Ganze. Die Strangulation mit der Schlinge führte zum Tod. Sieht aus wie so ein Werkzeug, das Töpfer zum Schneiden des Tons verwenden.«

Chevalier nickte. Oder wie eine Garotte, das Mordwerkzeug der Mafia, dachte er. »Wie lange hat der Mörder sich Zeit gelassen?«, wollte er wissen. »Lässt sich das in etwa eingrenzen?«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Den Blutergüssen nach, mehrere Minuten. Warum?«

Chevalier wiegte den Kopf. »Weil es riskant war, so lange hier zu sein und den Mann zu quälen. Es sei denn, er oder sie wusste, dass niemand kommen würde.«

»Ich schätze, es war ein Mann. Eine körperlich austrainierte Frau käme auch infrage. Ich glaube aber nicht, dass beispielsweise Sophie oder ich dazu in der Lage gewesen wären, den schweren Körper in die Hütte zu bringen.«

Chevalier betrachtete ihren drahtigen Körper und hatte Zweifel an diesem Teil der Aussage. Doch er enthielt sich eines Kommentars. »Was können Sie zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Der Körpertemperatur nach zu urteilen, gestern zwischen neunzehn und einundzwanzig Uhr – vorsichtig geschätzt. Genaueres erfahren Sie nach der Obduktion.«

»Laut seinem Sohn hatte er etwas mit der Lunge. Seine Lebenserwartung soll eingeschränkt gewesen sein.«

»Schau ich mir an. Noch Fragen?« Chevalier schüttelte den Kopf.

Ihr Grinsen kehrte zurück. »Dann will ich mal zurück und die Messer wetzen, bevor ihr mir den Mann zum Zerlegen bringt.«

Als die Ärztin davongegangen war, sah Chevalier gemeinsam mit den Kollegen zu, wie der Leichnam abtransportiert wurde und die Spurensicherung abzog, dann begutachteten sie noch einmal den Schuppen. Es war heiß. Staub wirbelte durch die Luft. Sophie Lambert nieste mehrmals, und auch in Chevaliers Nase wurde das Kribbeln stärker.

»Was für ein Saustall.« Er sah sich um. Jetzt, da der Tote und die Kollegen von der Technik weg waren, wirkte der Raum deutlich größer. Er blickte zum Fenster, vor dem die Staubkörner in der Sonne tanzten. Jenseits der Becken sah er die Scheiben der Autos in der Sonne blitzen. »Der Täter kannte sich hier aus.«

»Wieso?« Sirac sah ihn fragend an.

Chevalier deutete hinaus. »Zur Saline kommen alle auf dem gleichen Weg, den auch wir genommen haben. Der Täter konnte demnach jeden sehen, der kam, und dann«, Chevalier deutete auf eine schmale Tür an der Rückwand des Gebäudes, »in aller Ruhe verschwinden.«

Die Kollegen schienen in Gedanken seine Schlussfolgerungen durchzugehen und nickten. Chevalier sah befriedigt, dass er sie überzeugt hatte. Am Abend würde er viel zu erzählen haben.

»Das passt zu unserer Mutmaßung, dass nur jemand, der Luc Moyon gut kannte, so nahe an ihn herankommen konnte, um ihn niederzuschlagen.«

Sirac murmelte eine Zustimmung, als Sophie zu husten begann.

Sie machten, dass sie aus der aufgeheizten Hütte herauskamen. Sirac lief zum Wagen, um mit einer Flasche Wasser und Bechern zurückzukommen. »Ich habe gerade mit dem Kollegen Moreau telefoniert«, begann er und schlug einen Notizblock auf. »Adrien hat ein paar Fakten zusammengetragen. Luc Moyon wurde am vierzehnten Juli 1958 geboren. Hatte also immer frei an seinem Geburtstag.« Er grinste in die Runde. »Aber Scherz beiseite. Absolvierte sein Bac am Lycée Jean Dautet in La Rochelle und begann 1975 ein Studium der Agrarwissenschaften in Paris. Engagement in der frühen Umweltbewegung. War an Protesten beteiligt. Mitglied bei Amis de la Terre. Arbeitete kurz für die Partei Les Verts. Luc Moyon muss sich mit den Leuten dort überworfen haben, jedenfalls wechselte er an die Uni, wo er als Dozent beschäftigt war.«

Sirac blätterte umständlich um und fuhr dann fort: »Dort lernte er seine Frau kennen. Magali Pozzera. Sie ist zwei Jahre jünger als ihr Mann und stammt aus einer wohlhabenden Familie in Paris. Moyons Vater starb 1986 bei einem Unfall im Weinberg. Er selbst kehrte erst 1990 auf die Île de Ré zurück und übernahm das Weingut. Er hat drei Kinder. Jean kam 1991 zur Welt, Anne 1993 und Alexandre 1994. Luc Moyon wurde regionalpolitisch aktiv und 1999 zum Bürgermeister von La Couarde-sur-Mer gewählt. 2008 zog er für den Kanton Ars-en-Ré in den Conseil Général des Départements ein und gab dafür sein Bürgermeisteramt ab. 2015, noch vor der Neuordnung der Kantone, schied er aus, aus welchem Grund, ist nicht bekannt. Seitdem bekleidete er kein politisches Amt mehr, war aber weiterhin hervorragend vernetzt. Insbesondere der Président du Département gilt als ein enger Freund Moyons.«

Chevalier nickte dankend. »Gute Arbeit des Kollegen. Folgende Vorgehensweise: Wir fahren zum Weingut. Sirac und Moreau organisieren eine Befragung der Nachbarn. Wenn nötig, fordern wir Unterstützung an.«

Das Château Roux lag dem Navigationssystem zufolge keine fünf Minuten entfernt. Sie nahmen den Renault Talisman. Sophie Lambert fuhr.

Chevalier sah hinaus in die weiten Weinfelder. Die geraden Reihen der Reben standen in vollem Grün in der Sonne. Die Blüte war vorbei, und wenn er sich nicht täuschte, konnte er schon die kleinen Beeren erkennen, aus denen sich die Trauben entwickeln würden. Die Weinfelder wirkten sehr gepflegt, obwohl der Boden zwischen den Weinstöcken von allerlei Kräutern überwuchert war.

»Bioweinbau«, kommentierte Sophie. »Sie lassen das Grün wachsen.«

Ab und an erblickte Chevalier Arbeiter, die zwischen den Reihen der Reben hindurchliefen. Was sie genau dort taten, konnte er nicht sagen. »Wie ist die Stimmung bei der Mordkommission?«

Sophie sah ob der unvermittelten Frage überrascht zu Chevalier herüber. »Inwiefern?«

»Der Commandant hat im Vorfeld angedeutet, es würde nicht ganz einfach werden. Gibt es Spannungen?«

Er sah, wie sie sich versteifte. »Wieso fragen Sie das gerade mich?«

»Irgendwo muss ich ja anfangen.«

Sophie bog in eine schmale Straße ein, die von hohen Bäumen gesäumt wurde. »Es gibt keine Spannungen. Beziehungsweise gab es sie nicht. Adrien Moreau wollte Ihren Posten, bekam ihn aber nicht. Er war angefressen deswegen. Im letzten Jahr hat Ihr Vorgänger, Pierre Boucher, ihm mehr oder weniger die Leitung überlassen, und für Moreau war klar, dass er zum Zug kommen würde.«

»Woran hat es gelegen, dass man ihn übergangen hat?« Sein Magen zog sich unangenehm zusammen. Es lagen sinnlose Auseinandersetzungen in der Luft, die sie im Augenblick nicht gebrauchen konnten. Er sah sie an.

Die Frage war Sophie sichtlich unangenehm. »Besprechen Sie das bitte mit ihm selbst.«

Chevalier sah wieder aus dem Fenster und nickte. »In Ordnung.«

Sie passierten ein Werbeschild des Châteaus und bogen auf einen geteerten Weg ab, der einen Weinberg teilte. Gepflegte Bäume säumten die Zufahrt bis zu einer hohen Mauer, hinter der vom Westwind gebeugte Zedern Schatten spendeten. Dahinter erstreckten sich die Gebäude.

Sie fuhren durch das offen stehende Tor. Ein kiesbestreuter Weg führte zwischen akkurat gestutzten Rasenflächen hindurch bis vor ein altes zweistöckiges Haus, dem etwas Aristokratisches anhaftete. Zum Teil weinbewachsen, schmückte am rechten Ende des Gebäudes ein runder Turm mit Spitze und Fenstergewänden aus Sandstein die grau verputzte Fassade. Das schön gedeckte Walmdach wurde von Gauben durchbrochen, die ebenso verziert waren.

»Nicht schlecht.« Chevalier sah zu Sophie, die nickte. »Ich wusste gar nicht, dass es hier so etwas gibt. Hätte das eher in Richtung Cognac vermutet.«

Hinter dem Haupthaus konnte man Wirtschaftsgebäude ausmachen. Im Erdgeschoss des Haupthauses befand sich der Verkaufsladen des Gutes, vor dem Bänke zum Verweilen einluden. Eine Gruppe offensichtlich deutscher Radfahrer verließ in diesem Augenblick die Geschäftsräume und begann, Weinflaschen und Pakete mit Fleur de Sel in die Satteltaschen der E-Bikes zu packen. Sie redeten durcheinander, und an den geröteten Wangen war zu sehen, dass sie trotz der frühen Stunde bereits ausgiebig verkostet hatten.

Eine Frau in blauer Schürze, vermutlich die Verkäuferin, kam durch die Tür und ging eilig zum Hof zwischen den Gebäuden. Dort stand eine Gruppe von Männern in Arbeitskleidung zusammen, die mit ernsten Mienen aufeinander einredeten. Die Nachricht von Luc Moyons Tod war offenbar bereits angekommen. Chevalier und Sophie Lambert folgten der Frau.

Hinter dem Haupthaus verlor das Anwesen seinen malerischen Charme und machte einer professionellen Aura Platz. Durch ein Tor sahen sie große Holzfässer, die aufgestapelt dort gelagert wurden. Riesige grüne Kunststoffbottiche standen unter einer Überdachung und bildeten hohe Türme. Sie warteten wohl auf die kommende Lese.

Chevalier wandte sich an Sophie Lambert. »Wir fragen zuerst nach Philippe Duchamps. Ich möchte wissen, wann er zuletzt an der Saline war und ob ihm etwas aufgefallen ist.«

Eine Stimme wurde laut, und alle wandten sich um. Jean Moyon war aus einer Tür des Haupthauses getreten und fuhr die Mitarbeiter ungehalten an, sie sollten wieder an die Arbeit gehen. Als er die Polizisten bemerkte, senkte er die Stimme und verschwand wenig später in einer weiter hinten liegenden flachen Halle. Durch das offenstehende Schiebetor konnte Chevalier Stahlbehälter ausmachen.

Als Moyon sich wegdrehte, machte einer der Männer eine unmissverständliche Geste und schnippte dem Davongehenden die Kippe hinterher.

»Gute Stimmung«, konstatierte Chevalier.

Sophie grinste und hielt die Verkäuferin auf, die an ihnen vorbei zurück in den Laden eilen wollte.

Die Frau sah ängstlich auf den Polizeiausweis und wies ihnen den Weg. »Philippe ist der Mann dort drüben«, erklärte sie auf Sophies Frage hin. Sie deutete auf den Mann, der Jean Moyons Auftritt gestenreich kommentiert hatte. Er stieg gerade in einen Pick-up und brauste mit drei weiteren Arbeitern vom Hof.

Sophie verdrehte die Augen, doch Chevalier winkte gelassen ab. »Nicht schlimm. Wir laden ihn vor.«

Luc und Magali Moyon hatten sich auf einem Grundstück außerhalb der alten Mauern gleich neben dem Weingut ein Haus gebaut, das, ganz im Stil der Achtzigerjahre, weder modern noch klassisch war. Chevalier schmunzelte. Sandrine hätte über den beigen Putz, der ganzen Neubausiedlungen aus dieser Zeit zu eigen war, abfällig die Nase gerümpft.

Eine mittelalte, stämmige Frau mit blondiertem Haar öffnete vorsichtig die Tür. Die Frau war in Jeans und ein weißes T-Shirt gekleidet; als einziges Schmuckstück trug sie eine Bernsteinkette um den Hals, die lang über ihre stattliche Brust floss, um dann in der Luft zu baumeln.

Sie stellten sich vor. »Und wer sind Sie?«

»Mein Name ist Lenka Duchamps. Frau Moyon ist krank. Ich putze, koche und mache die Wäsche hier. Madame ist nicht zu sprechen.« Sie sprach mit einem harten, osteuropäisch klingenden Akzent.

Sophies Stimme wurde streng. »Wir müssen sie befragen.«

Noch bevor Lenka Duchamps etwas sagen konnte, drang aus dem Obergeschoss des Wohnhauses klagendes Geschrei die Treppe herunter. Worte waren nicht zu verstehen. Chevalier war nicht einmal in der Lage zu erkennen, ob Trauer oder Alkohol den Ausbruch ausgelöst hatten. Eine unangenehme Situation. Sein Blick begegnete dem der Frau, der ihn anflehte zu gehen.

Die Schreie erstarben und gingen in ein Schluchzen über, das leiser wurde und schließlich verstummte.

Sophie wechselte das Thema. »Sie wohnen mit Ihrem Mann Philippe hier auf dem Hof, wie man uns gesagt hat?«

Lenka Duchamps nickte. »Über dem Laden ist ein Appartement …«

»Haben Sie sich gestern am frühen Abend auch dort aufgehalten?«

Lenka Duchamps schaute ängstlich von einem zum anderen. Ihr Akzent wurde stärker. »Ja. Ich bin wie immer bis acht Uhr bei Madame geblieben. Dann bin ich nach Hause und habe das Abendessen vorbereitet.«

»War Ihr Mann da schon anwesend?«

Ihr Blick wanderte zu Chevalier. »Ja. Wir haben uns später eine Show im Fernsehen angesehen.«

»Wie Sie wohl wissen, ist Luc Moyon gestern auf der Saline zu Tode gekommen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? War gestern etwas anders als sonst?«

Sie blinzelte und setzte eine bedauernde Miene auf. »Niestety nie. Entschuldigung, ich spreche Polnisch. Nein.«

Eine Lüge – Chevalier sah es ihr an. »Sie wissen, dass Sie die Wahrheit sagen müssen?«

Leichte Röte überzog das angespannte Gesicht. »Natürlich. Aber ich habe nichts gesehen.«

»Und Ihr Mann? War er gestern auf der Saline? Eventuell hat er etwas mitbekommen.«

»Da müssen Sie ihn fragen. Mir hat er nichts erzählt.« Sie wich wieder aus.

»Wieso hat niemand das Fehlen des Hausherrn bemerkt?«

»Ich …«

Magali Moyons keifende Stimme ertönte: »Lenka!«

Lenka Duchamps brach ab und zuckte mit den Schultern. »Ich muss nach oben.«

»Lenka!«

Die Polin tat Chevalier leid. Hier zu arbeiten, musste ein Grauen sein. »Gehen Sie nur. Sie und Ihr Mann müssen sich morgen bei uns im Präsidium melden. Das ist eine offizielle Vorladung. Wenn Sie nicht kommen, schicken wir eine Streife raus, um Sie zu holen.«

Gegen Mittag fuhren sie zum Präsidium. Sie hatten die Mitarbeiter befragt, sofern sie nicht in den Weinfeldern arbeiteten, doch nichts Neues erfahren. Luc Moyon war offensichtlich von den Angestellten unbemerkt in seinem Peugeot zur Saline gefahren, nachdem er mit Jean in Streit geraten war. An diesen Vorfall erinnerten sich alle. Ansonsten schien der Tag auf dem Château normal verlaufen zu sein.

Das Hôtel de Police von La Rochelle war erst vor wenigen Jahren bezogen worden. Ein Neubau, der laut der Architekten den Fortbestand der republikanischen Idee in einem starken Gebäude darstellte. Chevalier sah das nicht so pathetisch. Das Ende des Bauses ragte auf Stelzen wie ein Schiffsrumpf strahlend weiß in den leeren Raum, während ein rostfarbener Flügel quer dazu verlief. Sehr modern und vor allem sehr neu, was eine gute technische Ausstattung und Klimatisierung sowie eine optimale Raumaufteilung versprach.

Er fuhr mit Sophie Lambert im Aufzug in die zweite Etage. Sie betraten einen hellen Gang mit grauem Boden, von dem hölzerne Türen abgingen.

»Ihr Büro ist die letzte Tür, davor sitzt Marie Szenec, die Sekretärin der Kommission. Wir anderen haben ein Gemeinschaftsbüro daneben.«

Chevalier ging vor und klopfte an den Rahmen der offenstehenden Tür. »Bonjour. Darf ich mich vorstellen? Clément Chevalier.«

»Monsieur le Commissaire!« Marie Szenec sprang hinter ihrem Schreibtisch auf. Sie ergriff seine Hand und schüttelte diese ausgiebig. »Willkommen. Der Commandant hat bereits nach Ihnen gefragt.« Sie war zierlich wie eine Fünfzehnjährige, sprühte aber vor Energie. »Ich habe ihn um Geduld gebeten, immerhin haben Sie ja gleich einen Mord zu klären. Ich sagte ihm, Sie würden anrufen.«

Marie Szenec zog einen Schrank auf. »Hier sind Ihr Dienstausweis und das Diensthandy, die Dienstwaffe erhalten Sie unten in der Waffenkammer. Die finden Sie im Gang neben der Tiefgarage.« Sie nahm die rot umrandete Brille ab und steckte sie sich ins Haar. »Ihr Büro ist gleich nebenan. Die Schlüssel liegen auf dem Tisch.« Sie öffnete lächelnd eine Zwischentür.

Chevalier ging in ein Büro, das funktional und anonym zugleich eingerichtet war. Eine Wand bestand aus Schränken. Gegenüber gab eine Glasfront mit weißem Sonnenschutz einen weiten Blick auf den Parkplatz und die dahinterliegenden Häuser frei. Zwischen Wand und Fenster standen ein Schreibtisch mit dem unvermeidlichen Bildschirm sowie ein kleiner runder Tisch mit zwei Stühlen. Er würde ein Bild von Sandrine mitnehmen, um eine persönliche Note hier hereinzubringen.

Chevalier setzte sich auf den Stuhl und sah, dass Marie Szenec ihm eine Tasse mit der Aufschrift Chef hingestellt hatte. Er lächelte. »Haben Sie vielen Dank.«

Sie strahlte. »Kaffee gibt es bei mir.« Marie wies ihn kurz in das Polizeisystem ein und gab ihm einen Umschlag, in dem er die Passwörter fand. »Adrien ist mit Sirac drüben.«

Er verstand den Wink. »Ich werde gleich rübergehen. Fragen Sie bitte bei der Kriminaltechnik nach, wann der Bericht fertig ist.«

Sie nickte und verschwand.

Chevalier drehte seinen Polizeiausweis in der Hand, eine Plastikkarte von der Größe einer Kreditkarte. Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und beruhigte die hetzenden Gedanken. Was für ein Morgen! Schließlich kramte er in den Schubladen und fand Papier und einen Stift, mit deren Hilfe er eine Skizze anfertigte, die ihm helfen sollte, den Fall zu strukturieren.

Luc Moyons Name kam in die Mitte. Darunter notierte er drei Punkte. Konflikte in Familie, politische Ämter und ein Fragezeichen. Es lag nahe, den Täter mit individuellem Handeln oder Entscheidungen des Toten in Verbindung zu bringen, denn der brutale Mord ließ auf aufgestaute Wut oder gar Hass schließen. Die Möglichkeit eines Raubmords konnten sie eigentlich vernachlässigen. Im Umfeld der Saline gab es nichts zu holen, außer Luc Moyon hätte Wertgegenstände oder Bargeld mit sich geführt. Sie mussten das prüfen, doch Chevalier glaubte nicht daran. So, wie der Mord ausgeführt wurde, ging es nicht um einfachen Raub.

Die Familie steckte voller Konflikte. Der Alkoholismus von Magali Moyon, das Zerwürfnis zwischen dem Opfer und seinem Sohn Alexandre und der Streit mit Jean, dem älteren Sohn, bezüglich der Zukunft des Châteaus. Chevalier schrieb die Namen unter den Begriff »Familie«. Darüber hinaus waren die Rollen der Tochter Anne und der noch namenlosen Freundin aus Les Portes-en-Ré zu klären.

Ein Motiv konnte ebenso aus der politischen Tätigkeit Luc Moyons resultieren. Als Mitglied des Conseil Général oder in der Funktion als Bürgermeister wurden Entscheidungen getroffen, die nicht allen zupasskamen. Beides lag lange zurück, doch das musste nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben.