Todesflut - Katharina Peters - E-Book

Todesflut E-Book

Katharina Peters

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Beschreibung

Rasante Jagd in Wismar: ein Cold Case und eine Verdächtige auf der Flucht.

Eine mutmaßliche Mörderin bricht aus der Strafvollzugsanstalt Lübeck aus: Karina Pohl soll ohne erkennbares Motiv ihren Ex-Freund umgebracht haben und nun bei Wismar untergetaucht sein. Privatdetektivin Emma Klar hilft bei der Suche nach der Flüchtigen. Dabei findet sie Hinweise auf einen anderen Fall: Vor Jahren wurde eine Freundin von Karina Pohl in einem Wald bei Wismar ermordet aufgefunden. Die Tat wurde nie aufgeklärt. Hängen beide Fälle zusammen? 

Verbrechen im Gestern und Heute: der zehnte Fall für Ermittlerin Emma Klar.


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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Als die wegen Mordes verurteilte Karina Pohl aus dem Gefängnis in Lübeck flieht, wendet sich die zuständige Staatsanwältin an Privatdetektivin Emma Klar. Die Flüchtige stammt ursprünglich aus Wismar, wo Emma sich als verdeckte Ermittlerin umsieht. Schon Monate zuvor sorgte der Fall Karina Pohl für Aufregung: Die junge Frau soll ihren Ex-Freund Stefan Mahler gestalkt und dann erstochen haben.

Emma ist überzeugt, dass Pohl bei ihrer Flucht Unterstützung hatte. Dann führt eine Spur nach Berlin, wo Pohl früher lebte. Ihre Studienkollegin Elly wurde damals erst als vermisst gemeldet und dann vor zwei Jahren in Wismar ermordet aufgefunden. Haben Karinas Tat und der Mord an Elly miteinander zu tun? 

Über Katharina Peters

Katharina Peters hat ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte abgeschlossen Sie begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt mit ihren Hunden in Schleswig-Holstein. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.

Alle lieferbaren Titel der Autorin finden Sie unter aufbau-verlage.de und mehr zur Autorin unter katharinapeters.com.

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Katharina Peters

Todesflut

Ein Ostsee-Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Impressum

Prolog

Es war klar, worauf es hinauslaufen würde. Eine Gruppe Männer, die offensichtlich etwas zu feiern hatte – einen Junggesellenabschied, einen runden Geburtstag oder einen tollen neuen Job, eine Prämie, eine gewonnene Wette, egal. Sie wollten offensichtlich zu später Stunde noch einmal so richtig nachlegen. Cedric beobachtete aus halb geöffneten Augen, wie die Typen näher kamen. Laut lachend, mit gelockerten Krawatten und roten Wangen ließen sie eine Flasche kreisen, während sie sich ausschütteten, worüber auch immer. Zwei von ihnen waren eher jung, der Dritte schien älter, soweit Cedric es einzuschätzen vermochte. Er war hundemüde, doch er wusste, dass es besser war, sofort und unauffällig das Weite suchen. Drei angetrunkene Männer, die unternehmungslustig die Nacht durchstreiften und in Kürze auf das abgelegene Lager von Wohnungslosen stoßen würden – entweder zufällig oder geplant –, hatten sicherlich weder warme Worte noch ein paar Geldstücke übrig. Wenn man Glück hatte, blieb es bei verächtlichen Blicken oder dummen Sprüchen.

Solange Cedric auf der Straße lebte, war er bislang selten positiv überrascht worden – eine ältere Frau hatte ihm vor einiger Zeit bei ihrem abendlichen Spaziergang nach kurzem Blickwechsel einmal einen Schein zugesteckt. Einfach so oder weil es sie beschämt hatte, wie er leben musste. Oder weil es ihr gutging und sie in diesem Moment ein Herz für ihn hatte. Und dann war sie weitergelaufen. Häufig verliefen unvermutete Begegnungen zu später Stunde jedoch unerfreulich, insbesondere wenn mehrere Männer daran beteiligt waren und es sich um junge Leute handelte, mitunter Teenager, die sich und anderen etwas beweisen wollten – rüde Beschimpfungen waren dann an der Tagesordnung und eher harmlos. Nicht selten kam es zu gewalttätigen Angriffen; das bisschen Hab und Gut, das Cedric mit sich herumschleppte – Schlafsack, ein paar Klamotten, etwas Kleingeld, einige Vorräte und zwei zerlesene Taschenbücher –, war bereits mehrfach zerstört worden. Beim letzten Mal vor knapp drei Monaten hatten ihn zwei Jugendliche genüsslich zusammengeschlagen und seinen Kram anschließend verbrannt – angetrieben von plötzlich hell loderndem Hass und einer beinahe hysterischen Wut, die sich alles herausnahm, die alles durfte. Ein Wohnungsloser war ähnlich rechtlos wie ein Syrer oder ein Schwarzer, ein Schwuler oder auch eine Frau, die allein unterwegs war und auf Menschen traf, die etwas zu beweisen hatten und nicht davon ausgingen, dass sie Konsequenzen zu befürchten hatten.

»Die Polizei wird dir nicht helfen«, hatte ihm einmal der alte Knut erklärt, der seit vierzig Jahren auf der Straße lebte. »Sie kommt zu spät oder hält dein Problem für selbstverschuldet. Dann leb halt anders und provoziere niemanden mit deinem Anblick. Wenn du Glück hast, lassen die Angreifer rechtzeitig von dir ab. Es ist immer noch einfacher, wieder mit sich selbst ins Reine zu kommen, wenn du einen dreckigen Obdachlosen nur zusammengeschlagen hast, als wenn du spüren musst, dass du ihm das Leben genommen hast. In dem Augenblick bist du nämlich einfach nur ein Mensch, der einen anderen Menschen, einen Sterbenden ertragen muss.«

Cedric kannte natürlich die Storys von angezündeten Obdachlosen, die gar keine Storys waren, sondern die bittere Wahrheit von Gewalt gegen Schwache, doch er hatte gar nicht so genau wissen wollen, wie Knut zu dieser Einsicht gelangt war. Ein paar Wochen später war der Alte gestorben – er hatte morgens tot in seinem Schlafsack gelegen. Tot gesoffen, so hieß es, und dieser letzte Weg passte zu ihm, so hieß es weiter. Der alte Säufer – Cedric hatte ihn allerdings selten betrunken erlebt. Vielleicht hatte der Alkohol gar nicht mehr bei ihm gewirkt. So war es bei seiner Mutter gewesen. Sie hatte zwei Flaschen Schnaps am Tag in sich hineingeschüttet, und ihr Blick war klar wie ein Bergsee gewesen. Nur ihre Stimme hatte sich verändert. Rau, dunkel, trunken.

Cedric schob die Gedanken beiseite, während er aus dem Schlafsack kroch, hastig sein Zeug zusammenpackte und die beiden anderen mit leisen Worten warnte. »Besser zu verschwinden«, flüsterte er. »Da kommen ein paar Typen, die noch einiges vorhaben heute Nacht. Beeilt euch!«

Doch es kam keine Antwort. Der Schlafsack von Bodo drei Meter weiter war nicht besetzt, wie so oft in letzter Zeit. Vielleicht hatte er etwas anderes gefunden; und im Gebüsch nebenan rührte sich auch nichts. Viv war wohl noch unterwegs. Vielleicht war sie auf dem kleinen Kiezfest, um zu betteln, obwohl Cedric sie gewarnt hatte. »Du wirst da ganz schnell vertrieben, und wenn du Pech hast, tauchen die Bullen auf.«

Aber Viv hatte nur abgewinkt. Sie ließ sich nicht so schnell von einem Vorhaben abbringen. Man sah ihr die Wohnungslose auch noch nicht auf den ersten Blick an. Dafür lebte sie noch nicht lange genug auf der Straße. Die Zeit ohne eigenen Ort begann sich erst nach Monaten ins Gesicht zu graben, dann aber besetzte sie jede Linie, jeden Winkel und übernahm still und grau die Herrschaft. Viv war ohnehin ein bisschen anders. Noch von Stolz und Sicherheit getragen, davon überzeugt, lediglich eine vorübergehende Dürrephase, eine finanzielle Flaute oder einen privaten Konflikt überstehen zu müssen. Es war selten vorübergehend.

Der nächste Winter würde alles verändern, dachte Cedric, während die Stimmen der Männer lauter wurden und er leise durch das dichte Gebüsch kroch, seine Utensilien mit leisem Schnaufen hinter sich herzog. Der Winter veränderte alles. Solange es warm und trocken blieb, kamen die meisten einigermaßen klar damit, im Freien zu übernachten. Es fühlte sich ja manchmal ein bisschen wie Campen an. Meistens schien die Sonne, und selbst in Schlechtwetterphasen fand sich immer ein gutes Plätzchen, um trocken zu bleiben – halb verfallene Bootshäuser, die niemanden mehr interessierten, Bahnhofsplätze an stillgelegten Trassen oder ein Schrottplatz am Kanal, in dem ein paar abgewrackte Transporter rumlagen, in denen man Unterschupf fand. Doch Eis und scharfer Wind, der Sturz der Temperaturen und die Herrschaft der Dunkelheit begruben jeden Hoffnungsschimmer unter einer Kälteschicht. Als hätte die Leichtigkeit nie existiert. Cedric lebte seit drei Jahren auf der Straße, er wusste, wovon er sprach. Mit dem ersten Raureif begann die Zeitumstellung. Wer dann keinen zuverlässigen Ort fand, der hatte verloren.

Cedric streunte zwei Stunden durch die Gegend, bevor er zurückkehrte. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Vielleicht hatte er überreagiert. Doch lieber zweimal unnötigerweise die Biege machen und schnell abtauchen, als einmal übermütig das Risiko vernachlässigen. Er schlüpfte wieder in das dichte Gebüsch und breitete seinen Schlafsack aus. Nebenan rührte sich immer noch nichts. Bodo war noch unterwegs. Cedric schärfte den Blick und hielt nach Vivs Sachen Ausschau, doch die waren verschwunden. Er zögerte einen Moment, dann kroch er langsam näher. Der Boden war noch eingedrückt, dort, wo ihr Schlafsack gelegen hatte. Im Gebüsch entdeckte er die kleine verbeulte Metalldose, in der sie immer ihre Kippen ausdrückte, wenn es in der Nähe keinen Mülleimer gab. Viv war in mancher Hinsicht ein Vorbild, erst recht in diesen Kreisen. Sie ließ keinen Müll herumliegen, und sie pinkelte nicht in Hauseingänge. Sehr wahrscheinlich würde sie bald auch diese Verhaltensweisen ablegen. Wer kein Zuhause mehr hatte und ständig vertrieben wurde, dem konnte es doch scheißegal sein, wo leere Verpackungen landeten, Zigarettenstummel vor sich hin gammelten oder welcher Hausbesitzer die Nase wegen des üblen Geruchs rümpfte, während sein Hund auf die Straße kackte.

Cedric blieb einen Moment sitzen und sah sich um. Warum hatte Viv die Dose nicht mitgenommen? Ganz einfach – vergessen. Oder sie war heruntergefallen, als sie ihr Zeug zusammengeräumt hatte. Cedric nahm sie an sich und ging zu seinem Platz. Vielleicht traf man sich ja mal zufällig, dann könnte er ihr die Dose wiedergeben. Sie sah irgendwie hübsch aus – verbeult, zerkratzt, verblichen, und doch hatte sie ihren Platz bei Viv gehabt. Er sah sie plötzlich vor sich, wie die junge Frau den letzten Zug machte, die Dose aufklappte und den Zigarettenstummel ausdrückte, um dann den Deckel zuschnappen zu lassen. Der Rauch strömte ihr aus Mund und Nase, und ein freundliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. Ein Gesicht, in dem sich noch kein Winter auf der Straße eingegraben hatte.

Er sah sie nicht wieder, dafür traf er einige Tage später Bodo. Sie standen hin und wieder gemeinsam an einer Dönerbude an, in der der Besitzer oftmals spät in der Nacht die letzten Fleisch- und Brotreste an Nachtschwärmer verschenkte – und an jeden, der sich anstellte. Bodo hatte sich mit seinem Imbiss ein paar Meter hinter der Bude zurückgezogen, Cedric setzte sich Minuten später zu ihm. Eine Weile kauten sie schweigend, dann blickte Cedric ihn von der Seite an. Bodo war kein gesprächiger Typ, aber in dieser Nacht wirkte er komplett abwesend, wie betäubt. »Hast du was genommen?«, fragte Cedric, als Bodo seinen Blick kaum erwiderte.

Bodo kaute weiter und schüttelte schließlich den Kopf. »Ich nehme schon lange nichts mehr. Ansonsten: Geht dich nichts an.«

Cedric nickte. Es war nicht seine Sache, wenn Bodo Pillen einwarf oder Schnaps in sich hineinschüttete oder sich etwas vormachte, was sein weiteres Leben betraf. Er suchte nur nach einer Erklärung für Bodos Verfassung. »Sonst alles klar bei dir?«

Bodo hörte auf zu kauen und wandte Cedric das Gesicht zu. »Das ist eine selten dämliche Frage. Seit wann ist denn bei Leuten wie uns alles klar?«

Cedric blinzelte verdutzt. So aggressiv war Bodo selten drauf. »He, schon gut, ich wollte …«

»Lass mich in Ruhe!« Bodo stand auf. Er ging zwei Schritte, dann blieb er abrupt stehen und drehte sich wieder um. »Wo warst du eigentlich in dieser Nacht?«

»In welcher Nacht?«

Bodo starrte ihn an.

»In welcher Nacht?«, wiederholte Cedric, und plötzlich beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Als wäre die Kälte des Winters zwei Monate zu früh eingezogen. »Ist etwas mit Viv?«

»Dann weißt du also doch davon?«

»Wovon?«

Bodo kam wieder näher und musterte Cedrics Gesicht. »Wo warst du, als sie sich die Kleine holten?«

»Ich …« Cedric schüttelte den Kopf. »Ich wollte mich gerade hinlegen und habe euch gewarnt, als ich mitbekam, dass sich da drei besoffene Typen näherten. Aber es hat sich nichts gerührt in euren Schlafsäcken. Ich dachte, ihr seid noch unterwegs oder … Ich habe mich für ein paar Stunden verzogen, wie üblich.« Cedric schluckte. »Was ist passiert?«

Bodo sah ihn einen Moment scharf an, dann setzte er sich wieder. »Sie haben sie mitgenommen«, flüsterte er. »Ich kam zu spät. Ich habe nur noch ein paar Satzfetzen gehört.« Bodo starrte auf seine Füße.

»Was genau?«

»Keine Ahnung. Ein paar Sprüche. Und dann waren sie auch schon weg, Viv in ihrer Mitte. Sie war wohl nicht ganz nüchtern. Es ging alles ziemlich schnell.«

Cedric schluckte. Er hatte die Situation vielleicht nur um wenige Augenblicke, allenfalls Minuten verpasst, weil er in der entgegengesetzten Richtung verschwunden war, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte sich beeilt. Und Bodo war auf dem Rückweg gewesen, hatte Angst gehabt und sich versteckt. Das war durchaus denkbar – und ebenso feige wie nachvollziehbar. Und nun war es ihm unangenehm, und er befürchtete, dass Cedric ihn beobachtet hatte. Das könnte seine unwirsche Reaktion auf die Fragen erklären. »Vielleicht ist ja gar nichts Schlimmes passiert«, meinte Cedric und hörte selbst, wie falsch dieser Satz klang. »Sie hat ihre Sachen geholt und …«

Bodo winkte ab und sah einen Moment in die Ferne. »Die beiden hatten ihr Auto in der Nähe geparkt«, meinte er.

»Die beiden? Zwei Typen? Nicht drei?«

»Kann auch sein. So genau habe ich das nicht gesehen. Einer sagte, dass Frauen wie sie nichts wert seien. Niemand würde sich Gedanken machen, wenn sie von heute auf morgen verschwunden sind – so hat er es ausgedrückt.« Bodo drehte Cedric wieder das Gesicht zu, es war grau verschattet. »Alles gar kein Problem. Abschaum. Dann hat er gelacht. Wie sie halt so reden – diese Typen.« Bodos Brustkorb hob sich, als er tief einatmete. »Und das klingt nicht, als wäre nichts Schlimmes passiert, oder?«

Nein, das klang völlig anders. Und Bodo war ganz in der Nähe gewesen, sonst hätte er diese Äußerung kaum so genau mitbekommen.

»Ich habe sogar die Bullen gerufen.«

»Und?«

»Sie haben mir nicht geglaubt. Ich würde rumspinnen oder hätte zu viel getankt. Das Übliche. Einer hat aber zumindest was aufgeschrieben. Der andere meinte, dass das Mädchen sich wahrscheinlich ein paar Gläser spendieren lassen würde.«

»Aber ihre Sachen sind verschwunden.«

»Vielleicht hat sie den Kram gerade geholt, weil sie woanders hinwollte, und die Typen haben sie dabei abgefangen. Sie hatte mal erwähnt, dass sie näher an irgendein Wasser wollte, solange es noch so sommerlich ist. Viv hatte irgendwie eine romantische Ader.«

Cedric nickte. Die wäre ihr im nächsten Winter eingefroren, dachte er.

»Denkst du, dass sie tot ist, dass die Typen …?«

Cedric zögerte. Oder an einem schlimmen Ort, und Bodo hatte längst den gleichen Gedanken.

»Einer wirkte völlig klar«, meinte Bodo plötzlich. »Der wusste genau, was er wollte. Verstehst du, was ich meine?«

Nur allzu gut. Cedric stand plötzlich auf, betrachtete Bodo einen Moment mit abwesendem Blick, dann hob er kurz eine Hand zum Abschied und machte sich auf den Weg. Cedric räumte noch in derselben Nacht seinen Schlafplatz. Er lief den Kanal entlang und schlief in einem abgewrackten Hausboot – es war voller Mäuse und ihren großen Geschwistern, die mit flinken Füßen über die Bohlen huschten, aber das war kein Problem. Er träumte von seiner Mutter und ihrem klaren Blick.

1

Emma hatte den privaten Auftrag angenommen, weil er keine besondere Herausforderung und leicht verdientes Geld bedeutete – in Zeiten, in denen die Auftragslage insgesamt über Monate schwierig gewesen war, freute sie sich über den Job, auch wenn diese Art der Schnüffelei sich keineswegs gut anfühlte. Ein Ehemann misstraute seiner Ehefrau und ihren häufigen Dienstreisen, die ihm gerade in den ersten Monaten nach Beginn der Corona-Pandemie seltsam vorgekommen waren. Mit Recht, wie sich inzwischen herausgestellt hatte.

Emma seufzte, während sie ihren Abschlussbericht samt Fotomaterial abschickte. Die Ehefrau hatte sich vergnügt – mit einer Kollegin –, und das dürfte wohl das Aus dieser Ehe bedeuten und ein fettes Honorar für Emma. Unter anderen Umständen hätte sie wahrscheinlich abgelehnt, doch der letzte Auftrag des BKA – Unterstützung bei Ermittlungen gegen einen Menschenhändlerring – lag auch schon eine Weile zurück. Glücklicherweise konnte sich die Sicherheitsfirma ihres Partners Christoph Klausen über genügend Stammkunden und eine insgesamt krisensichere Auftragslage freuen, sodass die Einbußen verkraftbar waren.

Nun herrschte rundherum Sommerfeeling – und die Gewissheit, dass das Gröbste überstanden war. Der Alltag schien wieder eingekehrt und beflügelte viele. Emma blieb skeptisch, und zwar weniger, weil sie eine erneut schwierige Infektionslage fürchtete. Der Unmut der Leute machte ihr Sorgen. Kürzlich hatte sie einen alten Kollegen aus Dresdener Zeiten getroffen, der seinen Urlaub in Wismar verbrachte und sehr nachdenklich gewirkt hatte. »In jeder Familie gibt es ein, vielleicht zwei schwarze Schafe, Eigenbrötler oder Querschläger – das ist zu verkraften, oder?«

Ich bin das schwarze Schaf in meiner kleinen Familie, hatte Emma sofort gedacht und zugestimmt.

»Es gibt mal Ärger bei Familienfeiern, oder man zerreißt sich das Maul über Onkel Gustav oder Tante Margot, wenn sie nicht da sind. Aber insgesamt läuft das Modell Familie ganz gut weiter – Weihnachten und Geburtstage werden gefeiert, und zur Taufe kommen auch wieder alle zusammen und ziehen zumindest für ein paar Stunden an einem Strang. Wenn man aber mal hochrechnet, wie viele schwarze oder graue Schafe in einer Straße oder Stadt durch die Gegend laufen, in der zweitausend Menschen leben oder zwanzigtausend oder sogar zweihunderttausend, die sich bei besonderen Herausforderungen querstellen und anfangen, ihr eigenes Süppchen zu kochen, wird es schon schwieriger, oder?«

Emma sah den Kollegen vor sich – er war schon immer ein nachdenklicher Mensch gewesen und bezweifelte grundsätzlich, dass das Gros der Gesellschaft lernfähig war.

»Und wir dürfen das dann ausbügeln«, hatte er noch hinzugefügt und rasch eine Hand gehoben, bevor Emma etwas sagen konnte. »Ich weiß, schwarze Schafe sind häufig gar nicht das Problem. Aber ich denke, du ahnst, was ich meine, oder?«

Ja, doch, das war ihr klar gewesen. Selten bekam man alle unter einen Hut, doch die grundsätzliche Frage lautete, wie man damit umging. Der Kollege hatte schließlich frische Getränke bestellt und das Thema gewechselt.

Emma fuhr den PC herunter und schnappte sich ihren Rucksack. Sie lief durch Wismars Altstadt; kleine Gruppen von Touristen waren unterwegs, die Sonne schien, ein perfekter Sommertag. Sie stattete dem alten Holzhafen einen Besuch ab, erledigte ihren Einkauf und machte sich auf den Rückweg. Ihr Handy klingelte, als sie gerade die Wohnungstür hinter sich schloss. Auf dem Display erkannte sie eine Lübecker Vorwahl – ein neuer Auftrag oder … »Ulrike Steiner«, meldete sich die ehemalige Rostocker Staatsanwältin, die inzwischen in Lübeck lebte und arbeitete. Mehr als zwei Jahre waren seit den letzten Fällen und den Tatermittlungen zum Mord an dem Callboy Rico vergangen. Ein Fall, der Ulrike Steiner den Job gekostet hatte, weil es dem Täter gelungen war, sie auf perfide Weise in das Geschehen zu verstricken. Sie hatte Rico seit Jahren gekannt, genauer gesagt seine Dienste in Anspruch genommen und damit eine willkommene Angriffsfläche für die Inszenierung des Täters geboten. Inzwischen hatte Steiner offenbar in der Lübecker Staatsanwaltschaft Fuß gefasst, während ihr ehemaliger Rostocker Stellvertreter und Nachfolger Tim Kramer trotz intensiver Nachforschungen verschwunden geblieben war.

»Ich hoffe, du bist gesund und lässt dich nicht unterkriegen«, fuhr Steiner fort. »Weder von dem fiesen Virus noch von unruhigen Zeiten oder seltsamen Aufträgen.«

Emma hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie inzwischen per Du waren. »Ich habe gerade einen privaten Fall abgeschlossen und bin nicht sicher, ob ich derlei Nachforschungen … Ach, lassen wir das.«

»Das bedeutet demnach, dass du Zeit hättest?«

»Durchaus. Die Auftragslage ist insgesamt nicht ganz so lebhaft, dass ich von einem Job zum nächsten springe. Aber ich will mich natürlich keineswegs beklagen.«

»Das trifft sich gut, ich bin nämlich nicht besonders gut im Trösten, und Empathie hatte ich an der Uni nicht mal im Nebenfach.«

Emma lächelte. Ulrike war offenbar ganz in ihrem Element. Gewohnt harsch und doch auf ihre Art gut gelaunt. Der Wechsel nach Lübeck – so dramatisch die Umstände seinerzeit auch gewesen waren – hatte ihr offenbar gutgetan.

»Ich habe einen Auftrag zu vergeben. Ich nehme an, dass dir der Name Karina Pohl etwas sagt.«

Emma überlegte nur kurz. »Ist das die Frau, die kürzlich aus der Lübecker Justizvollzugsanstalt ausgebrochen ist?«

»Genau die. Sie ist untergetaucht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich bin wirklich verblüfft und beunruhigt. Die Insassin ist sechsundzwanzig Jahre alt und Anfang des Jahres wegen Mordes an ihrem ehemaligen Lebensgefährten verurteilt worden – eine äußerst brutale Tat: Sie hat ihn niedergestochen. Zuvor ist sie nie strafrechtlich aufgefallen. Da sie etliche Jahre in Wismar und Umgebung zu Hause war, kann ich mir gut vorstellen, dass sie sich dort versteckt hält. Und bevor du nachfragst: Die Zielfahnder haben keinen einzigen Hinweis entdeckt, und ich bin es leid, noch länger auf ein Ergebnis zu warten, auch wenn wir in besonderen Zeiten leben und manche Abläufe ins Wanken geraten sind. Das ist allerdings noch lange kein Grund, gar nicht mehr aus den Hufen zu kommen. Das habe ich den Beamten übrigens genauso gesagt.«

Emma konnte die Staatsanwältin förmlich vor sich sehen, wie sie den Beamten schmallippig und scharfzüngig die Leviten las. »Das klingt, als hättest du die Kollegen längst ihrer Aufgabe entbunden und eine externe Maßnahme durchgesetzt.«

»Korrekt. Ich stelle fest, dass du mich inzwischen ganz gut kennst.«

»Nun …«

»Wie dem auch sei«, unterbrach Ulrike Steiner. »Die Geschichte lässt mir keine Ruhe. Falls du dich damit befassen möchtest, kontaktiere ich umgehend deine BKA-Chefin in Berlin, und wir sehen uns morgen früh in meinem Lübecker Büro, um die Details zu besprechen.«

»So machen wir es.«

Der Fall hatte wenige Monate zuvor Aufsehen erregt – die junge Frau war schuldig gesprochen worden, ihren Expartner Stefan Mahler, Anfang dreißig, nach der Trennung gestalkt und schließlich getötet zu haben. Der Mann war auf der Straße verblutet. Weder bei der Polizei noch vor Gericht hatte Pohl sich geäußert – auch ihrem Pflichtverteidiger gegenüber hatte sie, so weit bekannt, kein Wort verloren. Es fanden sich keinerlei Hinweise auf einen anderen Zusammenhang, die Ermittlungen wurden schnell eingestellt, auch wenn das Geschehen rätselhaft blieb, und schließlich war Pohl zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden. Sie hatte das Urteil unkommentiert zur Kenntnis genommen.

»Das war schon seltsam. Doch ich war gezwungen, den Fall vor Gericht zu bringen«, erläuterte Ulrike Steiner am nächsten Morgen in ihrem Büro. »Und der Richter hatte keine andere Wahl, als die Frau zu verurteilen.«

Emma erinnerte sich an die Berichterstattung in den Medien, die zunächst in üblicher Manier einen blutigen Fall in schrillen Farben präsentiert hatten. Doch zum Hintergrundgeschehen hatte niemand etwas herausgefunden, und als wenig später die Pandemie das Land zu überrollen begann, war das Interesse wieder abgeklungen. Die Kontaktbeschränkungen hatten das Ermittlungsgeschehen zusätzlich gehemmt.

»Sie hat sich tatsächlich in keiner Weise geäußert?«, fragte Emma noch einmal nach. »Auch nicht in der Haftanstalt?«

Ulrike Steiner hob kurz beide Hände. »Das ist der Wissensstand. Wir gingen von einem Beziehungsdrama aus – das zumindest ließen die Nachforschungen im persönlichen Umfeld vermuten. Er hat sich getrennt, sie kam damit nicht zurecht und …«

»Sticht ihn eine Weile später auf dem Weg zu seinem Wagen nieder, um sich kurz darauf verhaften zu lassen, ohne ein einziges Wort der Erklärung abzugeben?« Emma schüttelte den Kopf.

»Ich weiß, wie das klingt. Und nein, sie stand nicht unter Drogen«, betonte Steiner. »Was sollten wir machen? Am Tatgeschehen bestand nicht der geringste Zweifel. Eine Beschuldigte, die sich in keiner Weise äußert, ist wenig hilfreich bei der Suche nach einem erweiterten Zusammenhang oder Hinweisen, die ein völlig anderes Motiv aufdecken könnten. Die Ermittlungen im unmittelbaren Umfeld haben dann auch nichts zutage gefördert – allgemeines Entsetzen und Fassungslosigkeit über die Tat, darüber hinaus stand fest, dass er sich von ihr getrennt und sie die Entscheidung nicht gut verkraftet hatte. Da passte es also wieder – das Motiv.«

Emma senkte den Blick erneut in die Akte, die Steiner ihr als digitale Kopie zur Verfügung gestellt hatte. Karina Pohl war noch am selben Tag verhaftet worden. Die Spurenlage war eindeutig gewesen – DNA und Blut von Pohl waren an ihrer Kleidung nachweisbar, ihr Bewegungsprofil ließ keinen anderen Schluss zu, auch wenn es keine Zeugen gab. Die Tat war außerdem mit großer Vehemenz ausgeführt worden. Das sprach für angestaute Wut und Hass und bestätigte das Motiv.

Emma blickte wieder hoch. Steiner zuckte mit den Achseln, bevor sie eine Frage stellen konnte. »Ich weiß, das ist alles ein bisschen dünn. Ich schlage vor, du fängst einfach noch einmal von vorne an – die Kontaktdaten der bislang Befragten und alles Weitere zum Ermittlungsverlauf findest du in der Akte. Wenn du noch Fragen hast, melde dich. Wir müssen die Frau finden …«

»Und falls eine andere Geschichte dahintersteckt?«

»Wird es Zeit, dass wir sie aufdecken – und die Frau fassen.«

»Ich agiere wie üblich?«

Steiner runzelte die Brauen.

»Ich spreche dich lediglich auf Jörg Padorn an«, versicherte Emma eilig. Dass die Staatsanwältin ihre oftmals eigenmächtige Vorgehensweise auch als Juristin in der Lübecker Behörde hinterfragen musste, verstand sich von selbst. »Ohne ihn komme ich nur halb so weit und benötige dafür doppelt so viel Zeit.«

»Nicht gerade eine gute Quote, wenn ich ehrlich sein soll«, murmelte Steiner und hob eine Braue. »Aber zugegeben, der Mann hat sich bewährt, und ich darf mich wohl glücklich schätzen, dass du vorher fragst.« Das Telefon klingelte, und sie streckte die Hand aus. »Ansonsten …«

»Ich weiß – ich sollte es nicht übertreiben.«

»Das in etwa wollte ich zum Ausdruck bringen. Mir gefällt der neue Job, und ich habe mich inzwischen bestens eingelebt in Lübeck. Störfeuer jeglicher Art sollten überschaubar bleiben.«

»Natürlich.« Emma stand auf und verabschiedete sich, während die Staatsanwältin bereits mit einem Kollegen sprach und nur kurz die Hand hob. Emma verließ das Gebäude über einen Nebenausgang. Sie lief die Travemünder Allee ein Stück Richtung Burgtorfriedhof hinunter, besorgte sich einen Kaffee und betrat schließlich spontan das Friedhofsgelände. Wenn sie mit ihren Erinnerungen an einen Schulausflug richtig lag, der gut und gerne zwanzig Jahre zurückliegen dürfte, hatte hier jede Menge Prominenz aus Kultur, Wirtschaft und Politik die letzte Ruhestätte gefunden, unter anderem viele Mitglieder der Familie von Thomas Mann.

Emma suchte sich einen schattigen Platz neben einer Kapelle und ging die Zeugen- und Vernehmungsliste durch. Die Protokolle aus dem Umfeld des Paares klangen durchweg genauso gleichförmig, wie Ulrike Steiner bereits erwähnt hatte. Die Tat war schwer vorstellbar, das war der häufigste Satz. Ich könnte mir eine mittelgroße Yacht leisten, wenn ich als Ermittlerin jedes Mal einen Euro für diese Beschreibung bekommen hätte, überlegte Emma.

Schließlich schickte sie Padorn die Akte und bat ihn um eine erste Recherche. Emma hatte nicht übertrieben: Ohne die Unterstützung von Christophs bestem Freund und Mitarbeiter – ein ehemaliger freier Journalist, der über weitreichende Kenntnisse in der IT‑Technik und Datenverarbeitung verfügte – wäre so manche Ermittlung im Sande verlaufen oder hätte sich zumindest deutlich länger hingezogen. Er war hochkreativ, verfügte über Kontakte und Verbindungen sowohl quer durchs Netz als auch analog und konnte sich bei Bedarf durchaus in einen Account hacken. Das allerdings sollte Ulrike Steiner gegenüber unerwähnt bleiben, selbst wenn ihr natürlich klar war, dass Emma und Padorn immer wieder die Grenzen der Legalität überschritten und dass selbst Christoph Klausen sich ein ums andere Mal in gewagte Aktionen einbinden ließ, um seine Partnerin zu unterstützen.

Schließlich suchte Emma die Nummer der zuständigen Hauptkommissarin Dagmar Möller heraus, die seinerzeit leitend ermittelt hatte – zu ihrem Team gehörten auch die Kollegen von der Zielfahndung. Sie dürfte kaum begeistert reagieren, schätzte Emma. Die Staatsanwältin setzte ihren Leuten eine Externe vor die Nase, die noch dazu mit einem BKA-Ausweis herumwedeln konnte und sich Sonderrechte herausnahm, während sie die Routine im stinknormalen Polizeialltag gerne außen vorließ – das gefiel keiner verantwortlichen Beamtin. Emma seufzte. Das Rufzeichen verhallte viermal in der Leitung, dann wurde der Anruf weitergeleitet und verstummte schließlich. Beim zweiten Versuch einige Minuten später hatte Emma mehr Glück. Die Kommissarin meldete sich sofort, und sie reagierte deutlich kooperativer, als Emma erwartet hatte.

»Kein Ding, Kollegin«, unterbrach sie Emmas behutsame Umschreibungen sofort. »Ich sitze nicht auf meinen Akten, sondern sehe das ganz pragmatisch – Sie nehmen uns Arbeit ab. Das begrüße ich, seit ich die sechzig erreicht habe, ganz besonders. Außerdem sind Sie die Spezialistin für Wismar und Umgebung, wenn ich das richtig verstanden habe. Ich brauche meine Leute hier und bin dankbar, dass ich niemanden für die weitere Suche abstellen muss. Falls Sie noch Fragen haben oder an irgendeiner Stelle Unterstützung benötigen, lassen Sie es mich wissen.«

Emma lächelte. »Ich würde mich gerne im persönlichen Umfeld ein wenig umschauen, um mehr zur Beziehung des Paares zu erfahren.«

»Was versprechen Sie sich davon, Kollegin?«

»Eindeutige Hinweise auf den Tathintergrund und natürlich die Flucht.«

»Dazu haben wir nichts Neues entdeckt, auch nicht im direkten Anschluss an die Flucht«, erklärte Dagmar Möller. »Karina Pohl hat das Beziehungsaus nicht wahrhaben wollen. Sie hat ihren Ex gestalkt und niedergestochen. Ende des Tathintergrunds. Dazu hat sie selbst kein einziges Wort der Erklärung abgegeben. Und Hilfe bei der Flucht kam ganz sicher aus einer völlig anderen Ecke.«

Emma schlug ein Bein über das andere und sah kurz hoch, als eine Gruppe Trauergäste vorbeiging.

»Sie hat die Tat nie geleugnet und keine Ausflüchte gesucht …«

»Sehr ungewöhnlich, oder?«

»Richtig. Aber es hat uns die Arbeit erleichtert.«

»Das könnte man durchaus so stehen lassen, wenn die Flucht nicht wäre«, wandte Emma in leisem Ton ein.

»Die Frau ist ziemlich schlau – das ist meine Einschätzung«, entgegnete die Lübecker Kommissarin nach kurzer Pause. »Sie hat sich nicht in die Karten gucken lassen …«

»Niemand kann ohne Vorbereitung mal eben spurlos aus der JVA ausbrechen und sich dann auch noch so gut verstecken, dass erfahrene Zielfahnder keinen einzigen Hinweis entdecken«, wandte Emma ein. »Die besonderen Umstände mitten in der Pandemie mögen ihre Flucht erleichtert haben, dennoch …«

»Ich sagte doch – sie ist schlau.«

»Warum hat sie die Tat nicht von vornherein besser geplant, wenn sie doch so schlau ist? Sie greift ihn auf offener Straße an, lässt sich kurz darauf verhaften, geht ins Gefängnis und …«

»Haut wenig später ab. Tja, wer weiß? An der Stelle, das muss ich zugeben, ist meine Theorie etwas dünn, und die Zielfahnder haben auch nichts entdeckt, wie Sie der Akte entnehmen können. Fest steht lediglich, dass Karina Pohl zuletzt auf der Krankenstation gesehen wurde und womöglich im Anschluss daran spurlos verschwand. Haben Sie dazu bereits einen Ansatz oder eine Idee?«

»Keineswegs. Ich bin gerade erst dabei, mich in die Einzelheiten einzulesen, und stelle im Moment nur fest, dass das alles ein bisschen vage klingt.«

»Zugegeben, doch was heißt das schon? Noch dazu in diesen Zeiten … Wie auch immer, rollen Sie die Ermittlungen ruhig noch mal auf, und falls es Ihnen gelingt, mehr zu ihrer Flucht zu erfahren und die Frau zu schnappen, spendiere ich einen Drink. Oder auch zwei.«

»Klingt vielversprechend«, meinte Emma halbherzig.

»Sie werden es nicht bereuen. Ich kenne hier eine Kneipe, in der es hervorragenden Mango-Schnaps gibt. Liegt ein paar Jahre zurück, da habe ich dort schon mal mit einer BKA-Kommissarin angestoßen. Wir sind bis heute befreundet, aber das nur so am Rande.«

Emma verabschiedete sich einen Moment später und ließ das Handy sinken. Familie, Freunde, Arbeitsumfeld, dachte sie. Irgendjemand wird mehr wissen. Ein solcher Mord hatte immer eine Vorgeschichte, die sich herausschälen würde, sobald die erste Bestürzung abgeklungen war. Eine Tat im Affekt war selbstverständlich nicht von vornherein auszuschließen, doch das beharrliche Schweigen und ein nahezu professionelles Fluchtgeschehen standen im Widerspruch dazu, und die mitgeführte Tatwaffe vermittelte auch ein anderes Bild. Eine Flucht, bei der eine Krankenstation eine Rolle spielte, könnte allerdings als erster Ansatz weiterhelfen.

Als Padorn sich meldete, war Emma gerade auf dem Weg in die Innenstadt.

»Was genau meinst du mit einer ersten Recherche?«, fragte er in unschuldigem Ton.

»Na ja – vielleicht springt dir ein Name ins Auge, oder du hast sofort eine Idee, wo wir ansetzen könnten. Irgendwo muss Karina Pohl ja untergetaucht sein, und natürlich wird sie Hinweise hinterlassen haben, die bei der Ermittlung untergegangen sind.«

Padorn lachte. »Du traust mir ja einiges zu.«

»Unbedingt. Und damit stehe ich nicht allein. Hast du schon etwas zu Mahler und Pohl recherchiert? In der Akte steht nicht gerade berauschend viel – er war zuletzt in einer Lübecker Stiftung tätig, und die Vernehmungsliste der Lübecker Kollegen ist eher knackig kurz, die Aussagen ähneln sich.«

»Umso schneller arbeiten wir uns ein. Stefan Mahler war studierter Kulturwissenschaftler und bereits während der Unizeit und nach seinem Abschluss im Marketingbereich aktiv, bevor er den Posten in der Stiftung übernahm. Kein schlechter Start für einen Mann mit Anfang dreißig, oder?«, erklärte Padorn in munterem Tonfall.

Natürlich hatte er längst Einzelheiten parat, dachte Emma.

»Ein Typ mit großen Karriereplänen, denke ich«, fuhr Padorn fort. »Er verfügte über gute Kontakte und Fürsprecher in der Region – auch für politische Ämter nicht nur im Kulturbereich schien er geeignet. Was man so über ihn liest, klingt vielversprechend. Ich gebe das mal zusammenfassend wieder: Er wurde als umsichtig und zielstrebig beschrieben, außerdem empathisch, ideenreich und begeisterungsfähig und war äußerst findig, zum Beispiel Spenden für Restaurierungen oder neue und ungewöhnliche Bildungsprojekte lockerzumachen, auch wenn dieser Bereich in Pandemiezeiten gerade auf Eis liegt. Außerdem schien er keine Gegner oder gar Feinde zu haben, vielleicht den einen oder anderen Konkurrenten, den er dann in der Regel schnell auf seine Seite zu ziehen verstand und so zu einem Verbündeten in einer gemeinsamen Sache machte …«

»Sag mal, wie hast du das so schnell zusammengetragen?«, fiel Emma Padorn verblüfft ins Wort. »Mal abgesehen davon, dass dein Vortrag irritierenderweise so klingt, als würdest du seine Biographie vorbereiten.«

»Ich war mal Journalist, wenn du dich erinnerst. Zwei, drei Telefonate mit Ex-Kollegen, die an derart erfolgreichen und aufstrebenden Menschen dran sind, die im öffentlichen Interesse stehen, dazu etliche Artikel sowie ein quergelesener Schnelldurchlauf in den sozialen Medien reichen für ein paar Schlagworte und den ersten Eindruck. Der Typ war angesagt und hatte noch einiges vor, könnte man stark verkürzt feststellen, wobei das Bild von ihm an vielen Stellen unscharf und übertrieben oder auch schlicht unstimmig klingen dürfte, aber als Einstieg wird es dir erst einmal weiterhelfen.«

»Auf jeden Fall«, stimmte Emma zu.

»Die Stichpunkte schicke ich dir gleich noch.«

»Und das Paar …«

»Hat sich vor ein paar Jahren an der Uni kennengelernt – dazu gibt es natürlich auch die entsprechenden Fotos auf Facebook und Insta. Karina Pohl hat Webdesign studiert und in einem Softwareunternehmen gearbeitet. Finanzielle Probleme hatten die beiden nicht, aber dazu könnte ich noch mal etwas in die Tiefe gehen, falls das nötig sein sollte.«

Ein Freund von Mahler hatte ausgesagt, dass die beiden nach einem guten halben Jahr Beziehung zusammengezogen waren, erinnerte sich Emma an einen Vermerk in der Akte – von größeren Konflikten oder Streit wusste niemand etwas zu berichten. »Familie?«, fragte sie weiter.

»Mahlers Eltern leben in München, er hat keine Geschwister. Die flüchtige Pohl ist bei einer Tante in Wismar aufgewachsen, nachdem ihre Eltern bei einem Busunglück ums Leben gekommen waren. Dass Steiner von einem Fluchtweg Richtung Osten ausgeht, ist nachvollziehbar. Da bleibe ich natürlich dran. Und die Stichpunkte dazu kriegst du natürlich auch.«

»Danke, Padorn.«

»Wie immer gerne. Und was hast du jetzt vor?«

»Ich fahre jetzt erst einmal direkt in das Büro der Stiftung. Wir sehen uns später in Gadebusch.«

»Gut. Bis dann.«

»Ach, warte«, warf Emma ein, bevor Padorn die Verbindung kappte. »Es war von Stalking die Rede. Wie sehen die Beweise der Ermittler dazu aus?«

»Überzeugend, würde ich sagen«, erklärte Padorn. »Bei der Überprüfung der Bewegungsprofile hat sich gezeigt, dass sie nach der Trennung mehrfach in seiner Nähe auftauchte. Das war schon auffällig. Er hat das Stalking allerdings nie angezeigt – es hat sich vielmehr erst bei den Ermittlungen herausgestellt, dass sie ihn beobachtete. Vielleicht hat er die Gefahr unterschätzt.«

»Okay, das schaue ich mir selbst dann noch mal genauer an. Bis später.«

Emma steckte das Handy ein und betrat das Bürogebäude. Die Räume der Stiftung befanden sich im obersten Stock und waren verschlossen – Mittagspause, wie ein Türschild verkündete. Unter der angegebenen Telefonnummer meldete sich nur der Anrufbeantworter. Emma bat um Rückruf und lief die Treppe hinunter. Am Ausgang kam ihr ein Mann in mittleren Jahren entgegen – Anzug, geschäftiges Auftreten, das Eau de Toilette war eine Spur zu üppig aufgetragen.

Er nickte ihr zu, und Emma entschloss sich spontan, ihn anzusprechen. »Entschuldigen Sie, arbeiten Sie zufälligerweise im Büro der Stiftung?«

»Ich hoffe, dass mich mehr als ein Zufall für den Job qualifiziert«, erwiderte er mit freundlichem Lächeln. »Kann ich helfen?«

Emma erwiderte das Lächeln und zückte ihren Ausweis. »Ich würde mich freuen, wenn Sie ein paar Minuten Zeit erübrigen könnten, Herr …«

»Brunner, Martin Brunner. Ich leite die Verwaltung der Stiftung.« Er musterte den Ausweis nur kurz und sah sie wieder an.

»Ich unterstütze als externe Ermittlerin die Suche nach der flüchtigen Karina Pohl, Herr Brunner, und ich würde Ihnen zu dem Fall gerne einige Fragen stellen.«

Er deutete ein zögerndes Nicken an und trat zwei Schritte beiseite. »Sie haben tatsächlich immer noch keine Spur von ihr?«, fragte Brunner schließlich. »Wie ist das möglich?« Er blickte auf seine Uhr und schüttelte den Kopf. »Ich muss die Frage zurückziehen. Ich bin in Kürze zu einem wichtigen Telefonat verabredet und …«

»Ich werde Sie nicht lange aufhalten«, warf Emma rasch ein. »Nur zwei, drei Fragen gleich hier, bevor Sie Ihre Pause beenden.«

Brunner nickte. »Das lässt sich machen.«

»Haben Sie Stefan Mahler näher gekannt?«

»Zumindest in beruflicher Hinsicht habe ich ihn kennenlernen dürfen. Er war … ja, knapp drei Jahre in der Stiftung beschäftigt und hat einen tollen Job gemacht. Mit ihm wehte ein frischer Wind, über den wir uns sehr gefreut haben. Er war ein engagierter junger Mann, der es sicherlich weit gebracht hätte. Das habe ich bereits zu Protokoll gegeben, und viel mehr kann ich im Grunde nicht dazu sagen.«

»Haben Sie Karina Pohl kennengelernt?«

Brunner schüttelte den Kopf. »Ich kannte sie lediglich von einigen offiziellen Anlässen. Ernsthafte Konflikte waren für mich nicht ersichtlich – also, da war nichts, was mir als Außenstehendem auffiel. Ich glaube, die beiden planten sogar einen Hauskauf. Sie war wohl ein bisschen eifersüchtig …«

»Woraus haben Sie das geschlossen?«

»Stefan war beliebt, gut aussehend, erfolgreich und viel unterwegs. Und er hat auch ganz gerne mal geflirtet. Ich schätze, das hat ihr nicht gefallen. So etwas hat er mal angedeutet, ohne dass ich dem eine tiefere Bedeutung beigemessen hätte … Das klang banal und beiläufig, aber wie es aussieht, ist das ja viel weiter gegangen.« Brunner überlegte einen Moment. »Ich selbst habe nie eine Eifersuchtsszene oder dergleichen erlebt, falls Sie darauf hinauswollen. Wir haben kaum Privates ausgetauscht. Stefan hat direkt nach der Trennung ein paar Tage in meinem Gästezimmer gewohnt und erwähnte so etwas in einem Nebensatz. Auf mich wirkte es, als hätte es einfach nicht mehr gepasst mit den beiden, und sie ist nicht damit klargekommen. Doch eine solche Tat … Das war nun wirklich nicht absehbar.«

Emma blickte ihn abwartend an. Brunner sah erneut auf die Uhr und wandte sich Richtung Tür. »Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wirklich an meinen Schreibtisch zurück. Viel mehr kann ich Ihnen ohnehin nicht sagen, Kommissarin Klar. Ich hoffe, dass Sie die Flüchtige schnell finden.«

»Vielen Dank, Herr Brunner.« Emma sah dem Mann einen Moment nach, bevor sie zu ihrem Wagen ging.

Den Nachmittag verbrachte sie in Gadebusch – Padorn recherchierte zu Namen und Daten aus der Akte und dem erweiterten Umfeld des Paares, während er sich gleichzeitig bemühte, Christophs Firmenaufgaben im Blick zu behalten. Emma saß zwei Meter nebenan in einem kleinen Büro, das Christoph in den stillen Monaten der Pandemie eigens für sie ausgebaut hatte. Eine schmale Schiebetür führte unmittelbar zu Padorns Heiligtum. Sie telefonierte und vereinbarte Gesprächstermine, unter anderem mit einer Kollegin aus der Softwarefirma, in der Karina gearbeitet hatte. Ein neuer Ansatz war nach den ersten Stunden nicht in Sicht, was keineswegs überraschte. Was allerdings verwunderte, brachte Padorn schließlich auf den Punkt. »Die beiden waren beruflich aktiv und insbesondere durch Stefan Mahlers Engagement viel unterwegs – Partys hier, Ausstellungseröffnung dort, Besichtigungstermine, Städtetrips, Bekanntschaften, Kollegen, Mitstreiter –, aber so richtig dicke Freundschaften haben die beiden nicht gepflegt, soweit ich das bislang erkennen kann.«

»Oder wir haben sie noch nicht entdeckt«, erwiderte Emma nachdenklich. »Weil die beiden das Private tatsächlich außen vor gelassen haben. Oder ihr Alltag war insgesamt vielleicht zu turbulent für die ganz dicken Freundschaften.« Sie war gespannt, ob das Treffen mit Karinas Tante, das sie für den nächsten Tag vereinbart hatte, neue Aspekte zutage fördern würde.

Emma machte sich am Abend wieder auf den Weg nach Wismar. Christoph hatte ohnehin noch eine Videokonferenz auf seiner To‑do-Liste, und so sparte sie sich die Anfahrt am nächsten Morgen in dichtem Berufsverkehr.

Die Hansestadt breitete sich in zauberhaftem Abendlicht vor ihr aus, als sie in die Innenstadt fuhr. Später saß sie auf dem Balkon und lauschte dem Klang der Abendglocken der nahen Nikolaikirche. Als Christoph anrief, war sie gerade auf dem Weg ins Bett. Seine Stimme klang müde. »Diese Videocalls machen mich fertig. Ich hoffe sehr, dass diese Zeiten bald wieder vorbei sind. Jeder glotzt auf seinen Bildschirm, und man kann noch nicht mal in Ruhe in der Nase bohren …«

Emma lachte. »Geh schlafen, ich bin auch geschafft. Wir reden morgen weiter – entweder von Angesicht zu Angesicht oder ganz klassisch am Telefon, dann kannst du bohren, wo immer du willst.«

»Ich nehme dich beim Wort.«

2

Anna Cromberg lebte allein, sie betrieb einen Kräutergarten, dessen Erzeugnisse sie regional verkaufte, und bot Seminare zu allem an, was im Wald und auf den Wiesen wuchs, essbar war oder zu Heilsalbe, Tee oder Ähnlichem verarbeitet werden konnte. In diesem Sommer fanden die Kurse ausschließlich im Freien statt, und die Zahl der Teilnehmenden war begrenzt. Der kleine Hof, zu dem eine Gärtnerei, allerlei Kleinvieh und ein paar Schafe gehörten, die von zwei Hütehunden bewacht wurden, lag ein paar Kilometer westlich von Wismar, am Rand von Zierow. Kein schlechter Ort, um sich zu verstecken, dachte Emma sofort, als sie am nächsten Morgen eintraf.

Anna Cromberg war eine winzige Frau, knapp über ein Meter fünfzig, schätzte Emma, und zierlich wie ein Mädchen. Sie trug ein langes buntes Leinenkleid und Sandalen, das sanft gelockte Haar fiel ihr über die Schultern, und in dem braun gebrannten Gesicht strahlte ein hellblaues Augenpaar. Sie begrüßte Emma mit festem Händedruck und führte sie über den kopfsteingepflasterten Innenhof zu einer sonnengeschützten Terrasse. Auf dem Tisch standen Tee und Gebäck bereit, es duftete nach Vanille, und einen Augenblick lang wünschte Emma sich, einfach abschalten und die Ruhe genießen zu können und keinen Fall besprechen zu müssen.

Karinas Tante lächelte, als hätte Emma den Gedanken laut ausgesprochen. »Das ist ein friedlicher Ort, nicht wahr?« Die dunkle kraftvolle Stimme bot einen seltsamen Widerspruch zu der schmalen Frau. »Setzen Sie sich bitte. Tee?«

»Sehr gerne.« Emma nickte und nahm in einem breiten Korbstuhl Platz. »Ja, es tut mir leid, dass mich die Arbeit herführt.« Sie warf einen Blick über den Hof und entdeckte in einem breiten Pflanzkübel eine zusammengerollte schwarzrote Katze, die ihr aus einem grünen Auge einen nachdenklichen Blick zuwarf.

»Vielleicht besuchen Sie mich mal, wenn Ihre Arbeit erledigt ist«, schlug Anna Cromberg vor.

»Das ist eine schöne Idee. Sie leben alleine hier?« Emma trank einen Schluck. Der Tee schmeckte nach Beeren und Minze.

»Seit ungefähr einem Jahr – mein Lebensgefährte ist plötzlich verstorben, und nun stemme ich das hier weitestgehend alleine, aber hin und wieder hilft jemand aus dem Dorf bei größeren Arbeiten.« Sie lächelte plötzlich. »Und bevor Sie fragen – meine Nichte gehört nicht dazu. Ich habe sie das letzte Mal zu Weihnachten gesehen – danach hatte ich keine Gelegenheit mehr, wie ich nicht erläutern muss.«

»Ihre Nichte hat viele Jahre hier bei Ihnen gelebt«, fuhr Emma fort. »Wie war Ihr Verhältnis?«

»Sehr gut.« Anna Cromberg lächelte erneut. »Sie kam mit zehn Jahren zu mir. Wir waren ein gutes Team, obwohl meine Schwester und ich uns nie sonderlich gut verstanden haben. Familie ist oft ein schwieriges Thema.«

Davon kann ich ein Lied singen, dachte Emma.

»Aber Karina und ich haben zueinander gefunden, auch wenn es eine Weile gedauert hat. Sie hat getrauert und war starr vor Kummer. Es braucht Zeit, den Verlust der Eltern zu verarbeiten, noch dazu als Kind. Doch schließlich haben wir unseren Weg gefunden, und sie hat sich wunderbar entwickelt.«

»Wie würden Sie Ihre Nichte beschreiben?«

»Intelligent, lebenslustig und kreativ, liebenswert, willensstark und nachdenklich.«

Emma hob das Kinn. »Können Sie sich die Tat erklären?«

»Nein. Wie ich es schon bei der Polizei angegeben habe – ich verstehe nicht, was passiert ist. Karina und Stefan waren glücklich, so dachte ich. Zumindest waren sie glücklich genug, eine gemeinsame Zukunft zu planen – so klang es für mich. Und dann hat es sich Stefan anders überlegt. So etwas passiert. Er war Anfang dreißig – ich schätze, er hat kalte Füße bekommen, oder es gab eine andere Frau.«

Dazu hatten sich bei den Ermittlungen in Lübeck keinerlei Hinweise gefunden, dachte Emma. »Bis hierhin klingt das alles noch nach einer ganz gewöhnlichen Beziehungsgeschichte und deren Ende. Ein Paar trennt sich, obwohl sich nach außen hin keine offensichtlichen ernsten Konflikte bemerkbar gemacht hatten. Karina schien etwas eifersüchtig, wie ich erfahren habe. Doch nichts davon passt zu den nachfolgenden Geschehnissen und der Tat.«

»Da stimme ich Ihnen zu.« Cromberg nickte.

»Sie wirken bemerkenswert ausgeglichen.«

»So bin ich meistens. Ich habe es mir abgewöhnt, über die Fallstricke im Leben zu hadern oder mich mit Geschehnissen zu beschweren, die ich nicht mehr ändern kann. Das Leben ist ein Lehrmeister, ein bitterer, manchmal grausamer und zynischer, aber immer machtvoll. Den kann man nicht abschütteln. Man muss ihn akzeptieren, und je eher man das begreift, desto besser.«

»Das klingt sehr weise.«

»Ich arbeite seit Jahrzehnten an dieser Haltung. Sie wird einem nicht in den Schoß gelegt, das dürfen Sie mir glauben.«

Das nehme ich dir sofort ab, dachte Emma. Und ich bin davon überzeugt, dass du viel mehr weißt und deine Nichte schützt, fuhr es ihr weiter durch den Kopf. Anna Cromberg hielt ihrem Blick mühelos stand. Emma beugte sich vor, und der Korbstuhl knarzte leise. »Die Staatsanwältin hat mich mit der Suche nach Karina beauftragt, nachdem die Zielfahnder erfolglos geblieben waren. Sie hält mich für die Richtige, da ich nicht nur als externe Ermittlerin für verschiedene Dienststellen hier oben an der Küste tätig bin, sondern darüber hinaus seit einigen Jahren auch als Privatdetektivin in Wismar arbeite und mich ganz gut in der Gegend auskenne«, erklärte Emma. »Die Staatsanwältin kann sich vorstellen, dass Karina hier untergetaucht ist, und ich finde den Gedanken nachvollziehbar.«

»Hier?«

»Hier oder im Umkreis könnte sie ein Versteck gefunden haben.«

»Mit meiner Hilfe – wollen Sie darauf hinaus?«, entgegnete Cromberg unverblümt in nach wie vor ruhigem Ton und ohne eine Miene zu verziehen.

»Ehrlich gesagt – ja. Und es dürfte Ihnen bewusst sein, dass Sie sich damit strafbar machen.« Emma wartete einen Moment, doch Anna Cromberg schwieg. »Sie und Karina waren ein gutes Team, wie Sie es selbst sehr anschaulich beschreiben. Sie haben Ihrer Nichte in der bis dahin größten Krise ihres Lebens Halt, Geborgenheit, ein neues Zuhause gegeben. Sie sind die Erste, an die sie denkt, wenn sie Hilfe braucht. Andere enge Freundschaften haben wir bislang nicht ausfindig gemacht. Also, was liegt näher, als sich auf Sie zu verlassen?«

»Ein logischer Ansatz, doch da der Gedanke so naheliegend ist, wird sie ihn wahrscheinlich verworfen haben«, entgegnete Anna Cromberg schließlich und goss Tee nach. »Weil Ermittlerinnen wie Sie natürlich diesem Verdacht nachgehen.«

»Ihre Nichte wird dafür gesorgt haben, dass ihre Spur nicht nachweisbar ist. Ihre Flucht war bereits ein kleines Kunststück. Ich denke, dass sie darüber hinaus ihre Kenntnisse im digitalen Bereich genutzt hat und auf Unterstützung bauen durfte.«

Karinas Tante deutete ein Achselzucken an. »Ich verstehe Ihre Schlussfolgerungen, aber Sie liegen falsch – Karina ist nicht hier, und ich hatte keinerlei Kontakt zu ihr. Dass Sie meine Aussage misstrauen, kann ich wohl nicht ändern.«

Emma trank ihren Tee aus und blickte hinüber zum Pflanzkübel. Die Katze sah sie immer noch aus einem Auge an – diesmal aus dem anderen. »Warum hat Ihre Nichte das getan?«, fragte sie schließlich leise. »Wenn sie ein schwerwiegendes Motiv hatte, warum nutzte sie nicht ihre Cleverness für eine durchdachte Tat, die man ihr nicht nachweisen konnte?«

»Sie stellen sehr viele Fragen«, meinte Cromberg. »Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Karina ist clever, ja – das heißt aber nicht, dass sie jede spontane Reaktion verhindern kann. Wer weiß, was zwischen den beiden vorgefallen ist. Ich habe jedenfalls keine Vermutung – auch wenn Sie mir nicht glauben.«

Stimmt, dachte Emma. Ich glaube dir nicht. Sie stand auf. »Danke für den Tee, Frau Cromberg. Und falls Sie doch noch eine Idee haben …«

»Dann rufe ich Sie an, natürlich.«

Emma überlegte kurz. »Eine Frage würde ich Ihnen gerne noch stellen. Hatte Karina eine enge, eine womöglich beste Freundin oder gab es intensivere Freundschaften über den Job und offizielle Anlässe hinaus?«

»Dazu kann ich nicht viel sagen.«

»Ein Hinweis würde mir reichen.«

»Sie ist nie an einem großen Freundeskreis und dauerndem Austausch interessiert gewesen. Karina braucht nicht die ständige Nähe zu anderen Menschen, um bei sich zu sein. Die Beziehung, ein interessanter Job, gute Gespräche hier und da. Sie konnte schon als Kind gut allein sein, verstehen Sie?«

»Und dann wirft sie das Ende der Beziehung derart aus der Bahn?«

Anna Cromberg sah einen Moment ins Leere. »Er war wohl ihre große Liebe. Ich denke, dass sie völlig abgestürzt ist.«

Emma ließ die Worte nachklingen. Die Erklärung passte an einzelnen Stellen durchaus und war bezogen auf die Tat doch ein völliger Widerspruch. Eine in sich ruhende Persönlichkeit verhielt sich anders – Verzweiflung: ja; die hartnäckige Weigerung, ein unerwartetes und schmerzvolles Beziehungsaus zu akzeptieren: möglich; Stalking und eine Tat im Affekt: schwer zu begreifen; ein geplanter Mord: kaum nachvollziehbar. Und doch war man vor Gericht zu diesem Schluss gekommen: Karina hatte ihrem Exfreund mit dem Messer aufgelauert und ihn niedergestochen.

Emma grüßte zum Abschied, dann wandte sie sich um und schlenderte über den sonnenbeschienenen Hofplatz, verfolgt von einem grünen Katzenauge und dem gelassenen Blick einer Tante, die viel mehr wusste, dessen war sie noch sicherer als zu Beginn des Gesprächs. Eine zarte Kräuterfrau, die das Leben Gleichmut gelehrt hatte und die ihre Nichte, für die sie seit vielen Jahren Elternersatz gewesen war, niemals im Stich lassen würde, egal, was vorgefallen war und aus welchem Motiv heraus die Tat geschehen war – eine Kurzschlusshandlung oder ein Mord, hinter dem sich ein tiefer Abgrund verbarg, den kein Außenstehender auch nur erahnte.

Emmas Verdacht allein reichte nicht für weitergehende Ermittlungen oder gar einen Durchsuchungsbeschluss aus, das war ihr natürlich bewusst. Klar war aber auch, dass Ulrike Steiner etwas mehr von ihr erwartete als eine Aneinanderreihung von schlichten Erkenntnissen, die im Polizeialltag bereits so oder so ähnlich ermittelt worden waren und denen das Gericht gefolgt war. Dazu hätte sie keinen Auftrag vergeben, sondern lediglich ein neues Team von Zielfahndern beauftragen müssen.

Emma setzte sich hinters Steuer und wählte Steiners Nummer. Die Staatsanwältin stellte die Verbindung nach zweimaligem Klingeln her.

»Nichts Neues bislang«, erklärte Emma nach kurzer Begrüßung. »Ich schicke dir später noch ein ausführliches Update. Dann kannst du …«

»Wenn nichts Neues drinsteht, können wir uns beide die Mühe sparen«, fiel Steiner ihr ins Wort.

»Wie du meinst. Ich bin gerade in Wismar und habe mit der Tante gesprochen«, fuhr Emma fort und fasste das Gespräch in wenigen Sätzen zusammen. »Und ich bin davon überzeugt, dass sie mir etwas vorspielt«, beendete sie ihren Kurzbericht. »Aber ich schätze, dafür allein gibt es keinen Beschluss.«

»Damit liegst du richtig. Kein einziges Indiz berechtigt uns zu weiteren Maßnahmen. Die Zielfahnder haben keine Hinweise auf einen Aufenthalt in Wismar und Umgebung finden könnten. Und das Gespräch mit der Tante lief ja ganz ähnlich, wobei die beiden Beamten, soweit ich weiß, keinen Tee serviert bekommen haben.«

»Dann schlage ich vor, dass Padorn weiterstöbert, auf seine Weise. Und ich könnte mich ein bisschen auf die Lauer legen, sobald sich das Ganze verdichtet, oder? Schließlich suchen wir eine flüchtige Mörderin.«

»Das ist Fakt. Aber wende keine Tricks an, die nach hinten losgehen«, warnte Steiner.

»Ich verstehe, worauf du hinauswillst.« Ich soll mich nicht erwischen lassen, dachte Emma.

»Sehr gut, dann …«

»Was ist eigentlich mit den im Rahmen des Mordprozesses sichergestellten Beweismitteln?«, warf Emma ein, bevor Steiner das Gespräch beenden konnte. »Sind die bereits zurückgegeben worden, und wenn ja – an wen? Ich denke da zum Beispiel auch an Laptop, Handy und so weiter.«

Kurzes Schweigen. »Dazu mache ich mich zeitnah schlau. Du hörst von mir oder dem Kommissariat.«

»Danke.«

Emma legte das Smartphone beiseite und startete den Motor. Kurzentschlossen fuhr sie einen Umweg und stattete der Seebrücke am Wendorfer Strand einen Besuch ab. Der unverstellte Blick in die grünblaue Weite. Für Momente glätteten sich die Wogen in ihr. Warum gelang es Anna Cromberg, derart gelassen zu bleiben? Ließ es sie bei aller Lebenserfahrung und innerem Gleichmut tatsächlich völlig kalt, dass ihre Nichte einen Mord begangen hatte? Oder hatte sie ihre Haltung lediglich überzeugend gespielt, um keinen Anhaltspunkt zu bieten? Emma zweifelte keinen Moment daran, dass jeder Mensch in der Lage war zu töten – in einer Notwehrsituation oder in einer höchst bedrohlichen Lage, die in eine körperliche Auseinandersetzung mündete. Entscheidend war nur eins: die individuelle rote Linie, die niemand überschreiten durfte. Doch wo genau sie sich befand oder verbarg, war nicht einfach oder gar allgemeingültig zu definieren. Für den einen reichte ein frontaler körperlicher Angriff, um sich sofort mit allen – auch tödlichen – Mitteln zur Wehr zu setzen, ein anderer reagierte, sobald Gefahr für die eigenen Kinder oder Schutzbefohlene drohte. Eine dritte Person verlor jegliche Selbstbeherrschung, sobald sie in die Enge getrieben wurde.

Jeder hat seine eigenen Triggerpunkte, dachte Emma. Bei mir muss ein Kerl nur versuchen, mich im Schwitzkasten festzuhalten, und ich würde rot sehen und alles benutzen, was mir als Waffe dienen könnte.

Der Zusammenhang mit ihrer Entführung, die vor vielen Jahren passiert war, lag auf der Hand. Sie würde die Bilder und Ängste niemals vollständig tilgen können, selbst wenn hundert Jahre ins Land gingen.

Karina Pohl hatte nach Stefans Auszug nur noch kurze Zeit in der gemeinsamen Wohnung gelebt, bevor sie zur Mörderin geworden war. Nach ihrer Verurteilung war ihr Mobiliar eingelagert worden. Digitale Geräte und andere persönliche Gegenstände, die bei den Ermittlungen eine Rolle gespielt hatten, waren nach Fallabschluss ihrer Tante ausgehändigt worden. Dass Anna Cromberg sie nicht darauf hingewiesen hatte, verwunderte Emma nicht. Sie war kaum in der Detektei in der Wismarer Altstadt angekommen, als die Lübecker Hauptkommissarin Dagmar Möller sie höchstpersönlich anrief und zu den Einzelheiten in Kenntnis setzte. »Wir haben natürlich Kopien der Festplatten. Wollen Sie sich das tatsächlich alles im Detail ansehen? Die Akte allein reicht Ihnen nicht?«

»Es muss jemanden geben, der sie bei der Flucht unterstützt hat. Und ich hoffe, wir entdecken einen Hinweis.«

»Warum bitten Sie nicht die Tante, Ihnen die Geräte zur Verfügung zu stellen?«

»Ich bin ganz sicher, dass Anna Cromberg mir nicht helfen wird«, entgegnete Emma und schilderte kurz den Besuch auf dem Hof der Kräuterfrau.

»Ach … Ja, verstehe. Na schön, kommen Sie vorbei, wenn Sie in der Nähe sind. Ich sorge dafür, dass Sie sich Kopien mitnehmen können«, erklärte Möller.

»Das klingt gut. Danke. Ich mache mich gleich auf den Weg.«

Emma brach wenig später zunächst Richtung Lübeck auf und fuhr im Anschluss gleich weiter nach Gadebusch. Sie nutzte die lange Fahrt, um über die weitere Vorgehensweise nachzudenken – ohne auch nur den Hauch einer schlüssigen Idee entwickeln zu können. Ein klarer Fall ohne lose Enden bot wenig Ansatzpunkte, noch dazu angesichts eines kargen Umfeldes, das bei den Anfangsrecherchen bislang kaum persönliche Kontakte hervorgebracht hatte. Die Suche nach einer Flüchtigen, die längst das Land verlassen haben könnte, auf welchem Weg auch immer.