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Kira ist tot. Unwiderruflich. Doch Ezekiel will ihr helfen, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Dafür muss Kira jedoch das Unvorstellbare tun: töten. Wenn sie sich weigert, wird Ezekiel sie bestrafen. Eine klare Entscheidung – bis sie Aron, ihr vorgesehenes Opfer, kennenlernt. Plötzlich ist alles komplizierter, und Zweifel nagen an ihr. Während Ezekiel den Druck erhöht, ringt Kira mit sich. Doch während Kira um ihre Entscheidung kämpft, braut sich im Jenseits etwas Dunkles zusammen. Auf der Suche nach Verbündeten entdecken Kira und Aron eine Verschwörung, die das Jenseits an sich reißen will. Ein Krieg droht, und die beiden brauchen jede Hilfe. Schon bald steht mehr auf dem Spiel, als sie dachten – denn wem können sie noch vertrauen?
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Content Warnung
Character death, Suizid (mentioned), sexuelle Belästigung (mentioned)
Foto © Fotostudio Kissel
Über die Autorin
Holly C. Anderson träumt sich in Fantasywelten, seit sie denken kann. Wenn sie nicht gerade schreibt, liest sie oder verbringt Zeit mit ihren beiden Katzen. Am liebsten schlendert sie durch die Natur und erdenkt sich neue Abenteuer.
WREADERS E-BOOK
Band 269
Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen
Vollständige E-Book-Ausgabe
Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg
Verlagsleitung: Lena Weinert
Druck: Custom Printing
Bestellung und Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
Umschlaggestaltung: Leyla Grayer
Zierdenillustration: Elci J. Sagittarius / elmooarts
Lektorat: Linda Brix, Sina Kleber
Satz: Riva Ellis
www.wreaders.de
Teil 1
Kapitel 1
Ein leichter Luftzug wehte Kira ins Gesicht, spielte mit ihrem Haar und trug sie aus der Dunkelheit. Kira schlug die Augen auf und sah sich um. In ihrem Kopf wummerte ein schwacher, dumpfer Schmerz. Ihr Atem erzeugte kleine Wölkchen, die Temperatur ließ die Härchen an den Armen sich aufstellen. Dennoch fror sie nicht. Sie spürte die Kälte nicht, sah nur, wie ihr Körper darauf reagierte. Aus der Ferne drang ein Geräusch zu ihr, die sie an den Ruf eines Greifvogels erinnerten. Vorsichtig bewegte sie ihre Arme und Beine, aber nichts tat weh. Langsam richtete sie sich auf und betrachtete ihre Umgebung. Alles war in schummriges Licht gehüllt, sodass sie das Ende des Raumes, falls sie denn in einem war, nicht mit bloßem Auge erkennen konnte. Vor Kira erhob sich ein hohes Pult, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, sonst gab es nichts um sie herum. Neugierig stand Kira auf, trat näher und untersuchte das Pult. Es wirkte wie ein gewöhnliches Rednerpult, nur ohne Lautsprecher, und war aus dunklem Holz. Sie umrundete das Pult ein Mal, dann ein weiteres Mal, konnte auch dann nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Schrift in dem Buch konnte sie nicht lesen, sie erinnerte sie aber entfernt an ägyptische Zeichen.
Kira versank in die Betrachtung des Pultes. Sie zeichnete mit dem Finger die Maserungen nach, roch den Duft frisch lackierten Holzes. Eine Stimme, laut und rau, ließ sie zusammenfahren. Sie klammerte sich an das Pult und wandte sich langsam der Quelle der Stimme zu. Ein hochgewachsener Mann stand einige Meter von ihr entfernt.
»Kira, endlich bist du wach. Hab keine Angst, ich werde dir nichts tun.«
Der Fremde trat ein paar Schritte auf sie zu und umrundete das Pult, bis er ihr direkt in die Augen sehen konnte. Ein Schaudern lief Kiras Rücken hinab. Er schien direkt in ihr Innerstes zu blicken; beinahe enttäuscht zu sein. Aber warum?
»Ich freue mich, dass ich dich kennen lernen kann.« Seine Stimme war leise, aber klar und jedes Wort deutlich zu verstehen.
Endlich löste sich Kira aus ihrer Starre und machte einen Schritt zurück. Ihr erster Reflex war, zu flüchten. In seinem dunklen Anzug und mit dem intensiven Blick seiner braunen Augen sah ihr Gegenüber einschüchternd aus. Er wirkte nicht, als wolle er ihr etwas antun, dennoch sträubte sich alles in ihr, länger mit ihm in einem Raum zu bleiben. Ihr Blick huschte zur Seite, aber sie konnte keine Tür entdecken, und sich auffällig umdrehen wollte sie nicht. Wie kam sie hier raus? Um Zeit zum Nachdenken zu haben, entschloss sie sich, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln.
»Wer bist du?«, stammelte sie leise.
»Mein Name ist Ezekiel, ich bin ein Engel Gottes«, stellte er sich vor und breitete in einer einladenden Geste die Arme aus. »Und du, Kira, du gehörst jetzt zu uns.« Kira runzelte die Stirn und trat noch einen Schritt zurück. Was faselte der Typ da? Engel Gottes? Welche Drogen hatten ihm die Sicht vernebelt?
»Und das soll ich dir glauben?«, fragte sie skeptisch.
Ezekiel hob die Schultern. »Was soll ich dazu sagen? Natürlich sollst du mir das glauben, sonst würde ich dir das nicht so freimütig erzählen. Meine Liebe, sag mir, kannst du dich an irgendetwas erinnern, was geschehen ist, bevor du aufgewacht bist?«
Kira holte Luft, um etwas zu erwidern, blieb aber stumm. Sie kniff die Augen zusammen, legte den Kopf schief. Je angestrengter sie sich zu erinnern versuchte, desto mehr schienen ihr die Erinnerungen zu entgleiten. Kein Name fiel ihr ein, kein Gesicht, kein Ort. Was machte sie aus?
Ezekiel grinste selbstzufrieden und verschränkte die Arme. »Na?«
Schließlich schüttelte Kira frustriert den Kopf. »Nein, ich kann mich an nichts erinnern«, gab sie widerwillig zu und Ezekiels Grinsen wurde noch breiter.
»Ich kann dir verraten, woran das liegt. Aber vielleicht solltest du dich dafür setzen.«
Demonstrativ blickte sich Kira im Raum um. »Auf das Pult?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Ezekiel schnippte ein Mal kurz, dann erschien neben Kira ein Holzstuhl.
»Nein, hierauf. Dummerchen.«
Kira betastete den Stuhl skeptisch, und obwohl er aus dem Nichts gekommen war, wirkte er massiv.
»Du kannst dich ruhig drauf setzen, das ist ein ganz normaler Stuhl.« Ezekiel grinste süffisant. »Dann können wir auch endlich weitermachen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, weißt du?«
Vorsichtig setzte sich Kira, aber der Stuhl hielt stand und sie entspannte sich ein wenig.
»Na endlich«, Ezekiel seufzte, dann räusperte er sich bedeutungsschwer, »meine Liebe, ich muss dir leider sagen, dass du gestorben bist.«
Kira klappte der Mund auf. Nicht, dass der Name Ezekiel nicht schon ungewöhnlich genug gewesen wäre, vielleicht kam der sogar in der Bibel vor. Aber sich den Scherz noch zu erlauben? Damit hatte er den Bogen überspannt. Betont langsam erhob sich vom Stuhl, tastete ihren Rücken ab, aber sie spürte nichts. Wie hätte es auch sonst anders sein sollen?
»Was suchst du auf deinem Rücken?«, fragte Ezekiel mit einem amüsierten Glucksen.
»Flügel, angeblich bin ich doch ein Engel, hast du gesagt«, gab Kira schlicht zur Antwort, was Ezekiel zum Lachen brachte.
»Du glaubst das alles sehr bereitwillig«, stellte er fest und legte den Kopf schief. Ezekiel betrachtete Kira, als wäre sie eine neue Attraktion in einem Zirkus.
Kira zuckte mit den Schultern. »Nein, eigentlich nicht. Ich dachte immer, wenn man tot ist, wird man ein Engel. Und Engel haben Flügel. Wo sind denn deine Flügel überhaupt?«.
Ezekiel seufzte. »Du liest zu viele Bücher. Wir können auch ohne Flügel fliegen, weißt du? Am besten zeige ich es dir gleich, du fragst mich ohnehin.«
Vor Kiras Augen schwebte Ezekiel langsam nach oben und verharrte einen Meter über dem Boden, bevor er ebenso langsam wieder nach unten schwebte. Angestrengt suchte Kira irgendwelche Seile oder Fäden, die Ezekiel in die Luft heben könnten. Irgendetwas anderes, dass Ezekiels Show als Lüge entlarvte, aber sie fand nichts. War das ein Traum? Sie rieb sich die Augen und blinzelte ein paar Mal, Ezekiel war immer noch da.
»Das ist unglaublich«, murmelte sie.
»Vielleicht. Lässt du mich dir jetzt erzählen, wer du bist?«
Kira hob wieder die Schultern. »Ich vermute mal, dass ich keine andere Wahl habe. Habe ich recht?«
Ezekiel nickte zufrieden. »Und wie recht du hast, meine Liebe. Also gut. Ich werde dir jetzt erzählen, warum du hier bist und was ich damit zu tun habe. Also spitz die Ohren und höre gut zu. Wie ich schon erwähnt habe, bist du hier, weil du auf der Erde gestorben bist.«
»Also bin ich auch ein Engel«, unterbrach Kira ihn, aber Ezekiel räusperte sich vernehmlich.
»Unterbrich mich nicht. Und nein, du bist kein Engel. Noch nicht, jedenfalls.« Ezekiel faltete die Hände und lächelte. Kira schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Zu hören, dass sie tot sein sollte, versetzte ihr auch jetzt noch einen heftigen Stich ins Herz. Und wenn sie kein Engel war, was war sie dann? So viele Fragen schwirrten in ihrem Kopf umher, und gleichzeitig fand sie nicht die Stimme, auch nur eine davon laut auszusprechen. Es war, als wären ihre Stimmbänder verknotet. Ihr Mund war trocken, dafür ihre Hände schwitzig. Sollte das nicht eigentlich andersherum sein? Kira versuchte, mit gleichmäßigem Atmen ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bringen. In Panik zu verfallen, würde ihr nicht helfen. Sie musste einen klaren Kopf behalten und so viele Informationen sammeln wie möglich.
Nachdem sie ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet hatte, war sie wieder einigermaßen ruhig. Schnell stellte sie eine Frage, bevor die Panik wieder Oberhand gewinnen konnte: »Ist es wirklich wahr? Wie bin ich gestorben?«
»Das weiß ich nicht, das müsste ich nachschauen; was mich dazu bringt, dir zu erklären, wer ich bin. Meinen Namen kennst du schon, ich heiße Ezekiel. Ich verwalte die toten Seelen und bin deshalb auch für dich verantwortlich.«
Kira dachte über Ezekiels Worte nach. Sie war immer noch skeptisch, denn nur, weil Ezekiel ihr gezeigt hatte, dass er ohne Flügel fliegen konnte, hieß es für Kira nicht, dass seine ganze Geschichte wahr war. Falls er sie nicht ohnehin mit einem Trick reingelegt hatte, den sie nur noch nicht durchschaut hatte. Dass sie tot sein sollte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen. Wieso konnte sie dann das alles hier sehen und erleben? Nach dem Tod kam doch nichts mehr, oder?
Bisher hatte sie sich noch nie Gedanken über den Tod gemacht, aber warum hätte sie das auch tun sollen? Sie war gerade mal 19 Jahre alt, da dachte man noch nicht über den Tod nach. Und schon gar nicht, wenn man nicht einmal bemerkte, dass man vermeintlich gestorben war. Kira konnte den Gedanken, tot zu sein, nicht annehmen. Was hatte sie mal gelesen, man sollte sich Dinge genau anschauen, wenn man feststellen wollte, ob man träumt. Falls sich die Objekte immer wieder veränderten, träumte man. Da das einzige Objekt in diesem Raum das Rednerpult war, betrachtete Kira es mit zusammengekniffenen Augen. Allerdings veränderte sich nichts daran. Es wies noch immer dieselbe Farbe auf und hatte, zumindest oberflächlich geschätzt, noch immer dieselbe Höhe und Form. Träumte sie also doch nicht? Aber das war verrückt!
Ezekiel schnippte mit den Fingern, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, und unterbrach sie in ihren Gedanken. »Hör mir jetzt bitte gut zu, Kira. Du bist noch kein Engel, aber du möchtest doch sicher einer werden, oder?«
»Klar«, antwortete Kira aus dem Bauch heraus, bereute die schnelle Antwort aber sofort, denn Ezekiel lächelte und gab ihr damit ein ungutes Gefühl, das flau in ihrem Magen lag. Sie biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. So lächelten fiese Verkäufer, wenn sie den Kunden über den Tisch gezogen hatten. War das Ganze doch eine Falle und sie hatte es nicht bemerkt?
»Das ist sehr gut, denn zufällig kann ich dir dabei helfen, ein Engel zu werden.« »Wirklich?«, hakte Kira skeptisch nach. »Wieso ausgerechnet du? Nur, weil du für mich verantwortlich sein sollst?«
Ezekiel schnaubte. Scheinbar war er es nicht gewohnt, dass jemand so hartnäckig Fragen stellte. Er sah sie an, als würde er sie liebend gern mit einem Fingerschnippen in Flammen aufgehen lassen.
»Weil ich mit meinem Buch darüber bestimme, wo die toten Seelen hinwandern – Himmel oder Hölle. Engel oder Verdammnis. Falls du in den Himmel möchtest, wäre es gut für dich, wenn du mit mir zusammenarbeiten würdest«, knurrte er bedrohlich leise.
Für einen Moment konnte Kira die Hitze auf ihrer Haut spüren, die Ezekiel ausstrahlte und sie meinte sogar, Feuer in seinen Augen lodern zu sehen. Oder hatte sie sich das nur eingebildet, weil ihre Angst vor diesem Typen so schnell gewachsen war, dass ihr Herz einen Marathon veranstaltete? Ezekiel zornig zu erleben verpasste Kira eine Gänsehaut, die sie schaudern und in sich zusammenschrumpfen ließ. Ezekiel wirkte auf diese Weise noch viel größer und bedrohlicher als zuvor. Sie nickte kurz und senkte den Blick.
Zufrieden nickte Ezekiel, erschuf mit einem Wink einen zweiten Stuhl und setzte sich. Lässig schlug er die Beine übereinander und faltete die Hände.
»Sehr gut. Also, ein Engel zu werden ist nicht allzu schwer. Ich brauche nur bei einer winzigen Kleinigkeit deine Hilfe, und sobald du das erledigt hast, kann ich dich sofort zu einem machen. Das wirst du im Nu erledigt haben.«
Wieder beschlich Kira ein ungutes Gefühl, ihr Magen zog sich zusammen und in ihrem Nacken stellten sich die feinen Härchen auf. Die Art, wie Ezekiel diese winzige Kleinigkeit beiläufig erwähnte, machte sie misstrauisch.
»Und was wäre das für eine winzige Kleinigkeit?« Sie betonte die Worte absichtlich übertrieben, genauso, wie er es getan hatte.
Ezekiel schnippte ein weiteres Mal und zwischen ihnen materialisierte sich eine Glaskugel. In dieser waberte eine milchige Masse, die allmählich erst nur einen Umriss, dann immer klarer die Silhouette eines Menschen ergab. In der Kugel erschien ein junger Mann, Kira schätzte ihn ähnlich alt wie sie selbst, um die 20 Jahre, der sie mit seinen braunen Haaren, den Sommersprossen und meerblauen Augen in seinen Bann zog. Das Bild in der Glaskugel schien ein Porträtfoto zu sein, der Junge bewegte sich nicht, er blinzelte nicht einmal.
»Wer ist das?«, fragte Kira stirnrunzelnd.
»Dieser junge Mann heißt Aron«, antwortete Ezekiel und räusperte sich. »Und er hat mit der Kleinigkeit zu tun, die du für mich erledigen musst.«
Kira schaute von der Kugel auf zu Ezekiel und sah, dass er verschlagen grinste. Das schlechte Gefühl von vorhin kribbelte bei seinem Grinsen sofort wieder in ihrem Nacken. »Was genau hat Aron mit der Kleinigkeit zu tun?«
»Ich denke, ich muss zur Erklärung ein wenig ausholen, denn du musst wissen, was genau du gerade bist, um das zu verstehen.« Ezekiel stand auf und ging vor Kira auf und ab.
Kira blickte ihn verständnislos an. »Was ich gerade bin? Du hast mir gesagt, ich bin gerade tot?!«
»Ja, bist du auch.« Ezekiel seufzte und stemmte die Hände in die Hüften. »Lass mich einfach ausreden und unterbrich mich nicht ständig, das spart uns beiden eine Menge Zeit.«
Kira presste die Lippen aufeinander und verschränkte ihre Arme. Wenn er das wollte, konnte er das haben. Hauptsache, sie kam schnell hier weg.
Ezekiel nickte zufrieden. »Gut, also, pass auf. Um das zusammenzufassen, was ich dir schon gesagt habe: Du bist tot, aber ein Engel bist du nicht. Das liegt daran, dass ich entscheide, was mit den toten Menschen passiert – ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Das habe ich dir auch schon erklärt. Diese Zwischenwesen nennen wir hier Arae. In diesem Zustand musst du aber nicht für immer bleiben, es gibt Wege, ein richtiger Engel zu werden und in den Himmel zu kommen. Und da kommt nun wieder Aron ins Spiel.« Ezekiel wies auf die Kugel, die immer noch Arons Porträt zeigte. »Hast du soweit verstanden?«
Kira nickte. »Und was hat Aron damit zu tun, dass ich ein Engel werde?«
Ezekiel machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er antwortete. »Das ist ganz einfach. Du musst Aron töten, dann werde ich sofort dafür sorgen, dass du ein Engel wirst.«
Kira öffnete den Mund, ihre Augen weiteten sich. »Niemals«, stieß sie reflexartig aus. Nie im Leben würde sie einen Menschen töten, für nichts auf der Welt. Dazu war sie niemals in der Lage. Außerdem traute sie Ezekiel immer noch nicht. Für seine Behauptungen hatte sie noch keinen Beweis und sicher würde sie nicht auf Geheiß eines völlig Fremden einfach einen anderen Menschen umbringen. Nicht mal, weil sie dafür ins Gefängnis käme, nein. Kira war die friedfertigste Person auf der Welt! Niemals könnte sie irgendjemandem Leid zufügen, und schon gar nicht jemanden umbringen.
»Ganz sicher töte ich nicht irgendeinen Menschen, Ich bin nicht sonderlich gut darin, Menschen zu ermorden und ich habe auch definitiv keine Lust dazu, darin besser zu werden. Da musst du dir wohl jemand anderen suchen, der das für dich macht.«
»Du musst auch nicht talentiert darin sein, meine Liebe, das erledigen deine Kräfte für dich«, sagte Ezekiel lässig und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Kräfte?«, echote Kira stirnrunzelnd.
»Genau, deine Kräfte. Als Arae hast du Fähigkeiten, die es dir leichter machen, deine Mission zu erfüllen, dafür habe ich gesorgt. Je länger du dich in der Gesellschaft deiner Zielperson aufhältst, desto schlimmer werden die Unfälle sein, die ihm passieren, bis …«
»Bis er stirbt?«, beendete Kira den Satz und Ezekiel nickte.
»Exakt. Dann hast du deinen Auftrag erfüllt, kommst zu mir, ich überprüfe das und du bist ein Engel.«
»Das klingt alles viel zu einfach.«
Ezekiel lachte herzhaft. Es klang wie das Schaben über Reibeisen und Kira schauderte.
»Das ist es auch, du musst dir keine Sorgen machen.«
Kira war nicht überzeugt von dem, was Ezekiel ihr offenbarte. Noch immer verspürte sie nicht den Funken einer Lust, jemandem das Leben zu nehmen, und trotzdem, irgendetwas in ihr kitzelte die Neugier. Nicht, weil sie diesem Aron aus der Glaskugel wirklich schaden wollte. Aber je mehr Ezekiel erzählte, desto wahrscheinlicher war es, dass sie ihn als Lügner entlarven konnte, oder? Deshalb entschied sie sich, noch weiter zu bohren. »Selbst wenn ich das machen wollen würde, die Leute würden mich doch in seiner Nähe bemerken. Auch wenn das ein Unfall war. Auf Überwachungskameras sieht man mich dann ständig bei ihm und schon bin ich im Visier der Behörden. Darauf kann ich verzichten, danke.«
»Nein, das würden sie nicht. Weil sie dich nicht sehen können, nur Aron kann dich wahrnehmen. Das ist bei allen Arae so.«
Skeptisch geworden verschränkte die Arme. »Das musst du mir erst mal beweisen. Nicht, dass ich dann Aron töten wollen würde, nur, dass wir uns da gleich verstehen, aber dass mich sonst niemand mehr wahrnimmt, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das Ganze klingt wie ein abgefahrener Film.«
Ezekiel seufzte genervt auf. »Ja, das höre ich öfter, als du dir vorstellen kannst. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich kann dich per Fingerschnipp fünf Minuten auf die Welt beamen, egal wo. Du versuchst, Menschen auf dich aufmerksam zu machen und du wirst sehen, dass das nicht funktioniert. Glaubst du mir dann?« Kira schluckte. Ezekiel redete von übernatürlichen Dingen wie Beamen mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ihre Skepsis ins Wanken geriet.
»Vielleicht, das weiß ich noch nicht. Vielleicht träume ich auch einfach nur abgefahren und wache dann demnächst auf …«
»Wie du meinst.« Ezekiel grinste, dann schnippte er.
Im nächsten Moment fühlte sich Kira, als würde ihr Körper durch eine extrem enge Gummiröhre gezogen. Alles vor ihren Augen verschwamm und drückte unangenehm auf ihren Magen. Sie presste ihre Arme eng an den Körper, um nicht mehr so viel Raum einzunehmen, und trotzdem blieb das Gefühl der Enge bestehen. Auf jeden Zentimeter ihres Körpers wirkte ein unangenehmer Druck, der auf der Haut prickelte und pikste. Gerade als der Druck so schlimm wurde, dass Kira befürchtete, sie müsse sich übergeben, ließ er nach und auch ihre Umgebung nahm langsam wieder scharfe Konturen an.
Sie schien sich auf einem Marktplatz zu befinden, der voll von Menschen war. Viele trugen teils gefüllte Weidenkörbe mit sich herum und Kira konnte, nachdem sie sich an den Anblick gewöhnt hatte, auch Verkaufsstände im Getümmel erkennen. Sie erinnerte sich an Ezekiels Worte und ging auf die erstbeste Person zu: Eine Frau mittleren Alters, die Haare unter einem Tuch versteckt und einen prall gefüllten Korb in der Armbeuge.
Kira holte Luft, um etwas zu sagen, aber die Frau war schon an ihr vorbeigegangen, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Als wäre Kira gar nicht vorhanden. Verunsichert nahm Kira die nächste Person ins Visier. Ein kleines Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen, gerade im Grundschulalter, hüpfte zwischen den Erwachsenen umher.
Kira ging auf sie zu und tippte dem Mädchen auf die Schulter, traf aber mit den Fingern nicht auf ihren Körper, sondern glitt einfach durch sie hindurch. Stirnrunzelnd fasste sie nach dem Mädchen, aber auch ihre ganze Hand griff durch den Körper des Mädchens, als wäre entweder sie oder Kira nicht real.
»Hey, Kleine, kannst du mich hören?«
Das Mädchen reagierte nicht, wandte sich von ihr ab und hüpfte davon. Frustriert verschränkte Kira die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn. Konnte das Zufall sein? Oder hatte Ezekiel am Ende vielleicht doch recht mit allem? Vielleicht hatte er sie auch nur hierin nicht angelogen, wer wusste das schon. Ezekiel traute sie kein Stück, er war viel zu undurchsichtig. Und trotzdem. Diese ganze Situation war viel zu real. Das konnte doch niemand faken, oder? Entschlossen, Ezekiels Behauptungen Lügen zu strafen, nahm Kira sich die nächste Person vor. Direkt neben ihr machte ein junger Mann Halt.
»Hey, hallo«, versuchte sie, auf sich aufmerksam zu machen. Sie winkte wild vor ihm herum, hüpfte auf und ab, doch der Kerl nahm keine Notiz von Kira. Um einer Frau auszuweichen, schob er sich so nah an ihr vorbei, dass er Kira hätte anrempeln müssen, aber er glitt durch ihre Seite hindurch, ohne etwas zu bemerken. Auf den Aufprall gefasst hielt Kira die Luft an und kniff die Augen zusammen, aber sie spürte nichts. Sie öffnete die Augen und sah dem jungen Mann hinterher. War er ihr im letzten Moment ausgewichen?
Das hielt Kira aber für unwahrscheinlich. Er war ihr so nahe gewesen und hatte sie gar nicht wahrgenommen, als er der Dame ausgewichen war. Kira war sich sicher, er hätte in sie reinlaufen müssen. Das konnte alles nicht wahr sein, oder doch? Wie hatte sie auf Geheiß Ezekiels überhaupt hierherkommen können? War das ganze Übernatürliche realer, als sie bisher angenommen hatte? Eine andere Erklärung hatte Kira für all das nicht.
Die Erkenntnis, dass Ezekiel eventuell die Wahrheit sagte, ließ sie frösteln. Langsam hielt sie das nicht mehr für einen Traum. Alles wirkte so lebensecht und sie hatte nicht das Gefühl, irgendwann aufzuwachen. Gerade als sie noch darüber nachdachte, ob sie träumte, verschwamm die Umgebung vor ihr. Dann wurde sie wieder durch eine enge Röhre gepresst. Als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich nicht mehr auf dem Marktplatz.
Vor ihr stand Ezekiel, die Arme lässig verschränkt und grinste sie an. »Na, das waren spannende fünf Minuten für dich, was?«
Kira kaute auf ihrer Lippe herum und wich seinem Blick aus. Immer noch konnte sie nicht glauben, dass das alles wahr sein sollte, aber ihr fielen langsam keine Argumente mehr dagegen ein. Ezekiel kam auf sie zu und fasste sie an der Schulter.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass das alles nicht so einfach zu begreifen ist. Du bist nicht die Erste, die große Zweifel an meiner Geschichte hegt.«
Kira horchte auf. »Nicht die Erste, das heißt, es gibt gerade noch mehr wie mich?« Ezekiel lachte. »Natürlich! Es gibt eine Menge Arae, ständig sterben Menschen. Bei Gelegenheit wirst du sie kennen lernen.«
»Und alle müssen einen Menschen umbringen? Oder hast du dir das nur für mich ausgedacht?«
Ezekiel seufzte schwermütig und richtete seinen Blick in die Ferne. »Ja, das müssen alle. Du wirst dich auch nicht davor drücken können, denn sonst …« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause und hob die Schultern.
»Was ist sonst?«, fragte Kira ungeduldig.
Seine Art brachte sie allmählich zur Weißglut. Dass er sich jedes Detail aus der Nase ziehen ließ und so tat, als würde ihn das ebenso beschäftigen wie sie. Das glaubte sie ihm nicht für eine Sekunde.
»Na ja, sonst wirst du nicht nur ewig dein Leben als Arae hier fristen statt im Himmel, sondern irgendwann wirst du auch ausgelöscht werden. Dann ist gar nichts mehr von dir übrig. Kannst du dir vorstellen, gar nicht mehr zu existieren?«
Kira hielt für einen Moment die Luft an und schauderte. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie es war, nicht mehr zu sein. Nein, das war zu viel. Sie schüttelte den Kopf, um die negativen Gedanken zu vertreiben. Nach der Erfahrung auf dem Marktplatz war sie sich jedoch sicher, dass in Ezekiels Behauptungen zumindest ein Funken Wahrheit steckte. Was davon genau wahr war, das wollte sie lieber nicht näher erkunden, zumindest nicht in diesem Fall.
»Wann werde ich ausgelöscht?«
»Nicht heute, nicht morgen. Das kommt schleichend. Ich würde es an deiner Stelle aber nicht darauf ankommen lassen, wenn du meinen Rat dazu hören möchtest.«
Kira biss sich auf die Lippe, warf einen Blick in die Glaskugel und betrachtete Arons Porträt. Er war so jung, wenn überhaupt nicht älter als sie. Wieso sollte es ausgerechnet so ein junger Mensch sein? Er hatte sein ganzes Leben vor sich. Kira fragte sich, was seine Pläne waren. Arbeitete er schon? Oder studierte er? Was waren seine Hobbys? War er nett? Er wirkte unschuldig, nicht wie ein Draufgänger. Spontan sympathisch.
Schließlich seufzte sie und wandte sich von Aron ab. »Muss es denn unbedingt Aron sein? Ich meine, kann ich nicht einfach irgendjemanden töten, der sowieso bald stirbt, jemand Altes?«
Ezekiel lachte kurz auf. »Aber, aber Kira. Das würde den Sinn der Sache doch nicht erfüllen. Nein, du kannst dir die Person, die du töten musst, nicht aussuchen. Es muss Aron sein, niemand sonst.«
Kira schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an und warf einen kurzen Blick zurück auf Aron. Es widerstrebte ihr mit jeder Faser, einen jungen Menschen zu töten, oder besser, überhaupt ein Leben auszulöschen. Trotzdem. Was, wenn Ezekiel die Wahrheit sagte? Es war nicht das Himmelreich, das sie lockte, sondern die Angst davor, ausgelöscht zu werden. Zwar konnte sie sich bisher an nichts erinnern, aber sie war noch da. Nicht mehr da zu sein, das konnte und wollte sie sich nicht vorstellen.
Ezekiel hob in einer abwehrenden Geste die Hände und wandte sich von Kira ab. »Du musst dich nicht heute entscheiden. Das Schicksal zu akzeptieren kann manchmal ein paar Tage dauern, das kann ich verstehen.«
»Und was mache ich so lange? Ich meine, ich muss essen und schlafen und …«
»Nein, nicht mehr«, sagte Ezekiel, »aber du kannst gerne mit mir kommen. Ich zeige dir dein Zimmer.«
Kira überlegte kurz, dann folgte sie ihm. Eine bessere Option sah sie gerade nicht. Vor ihnen tat sich eine Tür auf, die Ezekiel, von einem lauten Knarzen begleitet, öffnete. Also waren sie die ganze Zeit in einem Raum gewesen, schlussfolgerte Kira im Stillen.
Da sie sich heute noch nicht entscheiden musste, konnte sie es erst damit versuchen, aufzuwachen. Ihr ursprünglicher Plan.
Kapitel 2
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge sah Aron seinen drei Wochen Urlaub entgegen. Natürlich freute er sich auf die Erholung, aber der Beginn des Sommerurlaubs war für ihn immer mit vielen Abschieden verbunden. Die Schulkinder verließen die Kita und jeder Jahrgang ließ ihn mit ein wenig Wehmut auf das vergangene Jahr zurückblicken. Er schüttelte den Gedanken an die Kinder ab und fokussierte sich auf seine Pläne für den Urlaub.
Es war ihm über die Jahre zur Gewohnheit geworden, sich für den Sommerurlaub ein Ziel zu setzen; letztes Jahr hatte er sich ein Hochbeet gebaut, in diesem Jahr wollte er noch eines bauen. Eigentlich hatte er noch viel mehr vor, er hätte gern nach einem Grundstück gesucht, um seinem Traum einer eigenen Obstwiese ein Stück näher zu kommen, aber bisher hatte er noch keine Zeit gefunden, sich darum zu kümmern. Und jetzt, wie sollte er beide Projekte unter einen Hut bekommen? Wenn er ein Grundstück fand, wollte er es unbedingt diesen Sommer noch bearbeiten – und dann noch das Hochbeet? Während er den Weg zu seiner Wohnung einschlug, dachte er darüber nach, wieso er sich dieses Jahr so viel vorgenommen hatte. War es der Stress auf der Arbeit? Wollte er dem entfliehen? Nein. Davon hatte er nicht mehr als sonst. Privat gab es auch keine Gründe, sein Privatleben war überschaubar. Er lebte allein und hatte außerhalb der Arbeit kaum Freunde. Er war gerne allein. Auf sich selbst konnte er sich verlassen, auf andere nicht, das hatte er bereits früh gelernt. Kontakt zu seinen Eltern brauchte er nicht – jedenfalls nicht mehr als nötig. Ein Anstandsbesuch im Monat war genug.
Aron war tief in Gedanken versunken, seine Füße gingen den Weg nach Hause von allein. Er schreckte erst auf, als er mit jemandem zusammenstieß. Eine zierliche junge Frau mit roten Haaren saß vor ihm auf dem Boden. Sofort beeilte er sich, ihr aufzuhelfen, und reichte ihr eine Hand. »O Gott, das tut mir echt leid. Ich war so mit Nachdenken beschäftigt, ich habe dich überhaupt nicht gesehen«, entschuldigte er sich.
»Kein Problem«, nuschelte das Mädchen, ergriff seine Hand und ließ sich aufhelfen.
Er glaubte, in ihrem Gesichtsausdruck Verwirrung lesen zu können, doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, waren ihre Züge geglättet. Auf den zweiten Blick fiel ihm auf, wie hübsch sie war. Sie schien kein Make-up zu tragen, aber ihre Augen strahlten und die Sommersprossen über der Nase ließen sie niedlich wirken. Aron schluckte und schob die oberflächlichen Gedanken beiseite.
»Hast du dir weh getan?«, erkundigte er sich besorgt.
»Nein, es ist alles heil geblieben, aber danke, dass du fragst.« Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie dann.
»Aron – und du?«
»Mein Name ist Kira.«
Kira klopfte sich den Staub von den Kleidern und lächelte Aron schüchtern zu. Aron erwiderte das Lächeln automatisch, aber das war auch das Einzige, was ihm einfiel. Bisher hatte er mit dem anderen Geschlecht nicht viel Erfahrung sammeln können, zumindest nicht dann, wenn er Interesse an dem Mädchen gehabt hatte. Er wusste deshalb nicht recht, was er tun sollte. Eigentlich wollte er nach Hause, aber er fand es unhöflich, Kira stehen zu lassen, nachdem er sie umgerannt hatte. Abgesehen davon, begannen so nicht Liebesfilme? Man rannte jemanden um, den man hübsch fand, und dann entspann sich die Romanze? Aron schüttelte leicht den Kopf. Diese Tagträumereien schob er besser schnell zur Seite. Ein neutrales Gesprächsthema fiel ihm aber auch nicht ein. Sich mit Mädchen zu unterhalten war ihm noch nie leichtgefallen. Vor allem, wenn er sie auf Anhieb süß fand. Da blieb er lieber stumm, denn nichts machen bedeutete auch, nichts falsch zu machen. Schließlich war es Kira, die fragte: »Wohnst du hier? Ich bin gerade erst hierher gezogen. Kannst du mir sagen, was man hier erleben kann? Ein schönes Café vielleicht? Kann man hier spazieren gehen?«
Aron nickte und lächelte gequält. »Ja, ich wohne hier. Wenn du möchtest, kann ich dir ein bisschen die Gegend zeigen, nur Anschluss wirst du mit mir nicht finden.«
Kira runzelte die Stirn. »Wieso nicht?«
»Ich habe nicht so viele Kontakte in meiner Freizeit. Ehrlich gesagt eher gar keine …«, Aron merkte selbst, wie einsam das klang, »aber das soll nicht heißen, dass ich dich jetzt hängen lasse. Wenn du möchtest, gehen wir ein Stück.«
Kira nickte und schloss sich Aron an, der kehrtgemacht hatte und in die andere Richtung lief. Statt zu sich nach Hause zu gehen, wollte er Kira die Natur zeigen. Er liebte die Natur und das war sein erster Impuls gewesen. Kira hatte ja gefragt, ob man hier spazieren gehen konnte, dann war das doch eine gute Idee von ihm, oder nicht? Aron klopfte sich innerlich dafür auf die Schulter.
Sie waren ein paar Meter gelaufen, als ihm doch ein Gesprächsbeginn einfiel. »Was führt dich hier her? Also, ich meine, ich kenne dich nicht von früher und wir scheinen ja ungefähr gleich alt zu sein, oder? Du bist hergezogen, hast du gesagt.«
»Ja, du hast recht, ich habe hier Arbeit gefunden«, bestätigte Kira. »Also eigentlich arbeite ich selbständig und habe hier eine Wohnung gefunden«, schob sie schnell hinterher.
Aron runzelte die Stirn. Warum reagierte sie so gehetzt auf eine, zumindest in seinen Augen, einfache Frage? Oder bildete er sich ihre Nervosität vielleicht nur ein? Egal, er wollte den ersten netten Kontakt mit einem netten Mädchen nicht gleich wieder torpedieren und entschied sich deshalb, nicht weiter nachzufragen.
»Und was arbeitest du?«, fragte Kira neugierig.
»Ich bin Erzieher in einem Kindergarten«, antwortete Aron.
»Das ist … süß.«
Aron hob die Augenbrauen und starrte Kira an. Er hatte schon viele Zuschreibungen zu seinem Beruf gehört, viele Vorurteile erleben müssen, aber dass es jemand süß fand, war ihm noch nicht passiert. Seine Wangen wurden angenehm warm und kribbelten. »Echt, findest du?«
Kira nickte. »Ja klar, ich meine, Kinder sind immer süß. Und das klingt irgendwie spannender als arbeiten bei der Bank oder so. Und Jungs, die was für Kinder übrig haben, sind doch irgendwie immer … äh … nett?« Auch auf ihren Wangen erschien ein leichter Rotschimmer und Kira sah zu Boden.
Aron zuckte mit den Schultern. »Ja, da hast du vielleicht recht … Bank wäre nichts für mich gewesen. Und mit was hast du dich selbständig gemacht?«
Kira holte Luft und stockte dann. »Ähm … ich fahre Taxi. Ja, genau.«
Sie hatte einen Moment zu lange gezögert, als dass Aron dabei nicht misstrauisch wurde. Vielleicht würde er irgendwann dahinterkommen. Aber es machte ihn auch neugierig. Machte sie etwas Illegales? Oder arbeitete sie etwas anderes, für das sie sich schämte?
»Das klingt jetzt aber auch nicht gerade langweilig«, sagte er diplomatisch.
»Ja, es ist spannend«, stimmte Kira zu. Für Arons Geschmack ein bisschen zu schnell und enthusiastisch. Andererseits kannte er sie nicht, vielleicht war sie einfach so. Aron beschloss, nicht mehr länger nach dem Beruf zu fragen, da er das Gefühl hatte, dass es Kira unangenehm war.
»Was machst du denn gerne in deiner Freizeit? Ich nehme an, dass du die Vereine hier noch nicht kennst«, wechselte er das Thema.
»Um ehrlich zu sein bin ich nicht so der Typ für Vereine«, gestand Kira und lächelte beschämt. »Ich mache lieber Sachen allein. Ist nicht so gut, um Anschluss zu finden, ich weiß. Da sind wir uns wohl gar nicht so unähnlich.«
»Ich kann dich verstehen, stimmt«, winkte Aron ab. »Ich bin auch nicht der Typ für einen großen Freundeskreis und Vereine. Ich bin auch in keinem hier. Lieber verbringe ich meine Freizeit in der Natur oder sonst irgendwie allein.«
Kira grinste. »Das ist sympathisch.«
Aron schaute verlegen zur Seite. »Echt, findest du? Du bist die Erste, die das sympathisch findet.«
»Das kann ich mir vorstellen. Für andere klingt das vielleicht nicht gerade toll, wenn man keine Menschenmengen mag. Aber bei mir bist du da richtig. Hab‘ ich dir doch schon gesagt, hast du das schon wieder vergessen?«
Aron bekam schwitzige Hände und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, natürlich nicht! Das beruhigt mich ein bisschen. Aber was machst du dann gerne in deiner Freizeit?«
Kira zögerte einen Augenblick und biss sich auf die Unterlippe. »Oh, na ja, also ich bin eigentlich ganz gerne draußen in der Natur etwas abseits. So wie jetzt gerade. Hier ist es echt schön.«
Sie deutete auf die Wiesen, die in voller Blüte standen und rechts und links den Weg säumten, den sie entlanggingen.
Aron seufzte erleichtert auf. »Na, dann ist meine Idee genau die richtige. Ich wollte dir gerne unsere Natur zeigen.«
Kira blieb stehen und runzelte die Stirn. »Meinst du mit Natur Wald oder Feld?«
Aron blieb ebenfalls stehen und wandte sich Kira zu. »Ähm, eigentlich Wald. Wieso, magst du nur eins von beiden?«
Kira zögerte und starrte auf ihre Füße. »Wenn du mich so fragst, wie wäre es mit Feld? Ich meine, im Wald können ziemlich viele Dinge auf einen drauf fallen, oder meinst du nicht? Und gibt es hier nicht auch Wildschweine? Wölfe?«
Aron legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen. »Na ja, darüber lässt sich sicher streiten. Aber wenn du meinst, dass dir das zu gefährlich ist, dann gehen wir eben nicht in den Wald.«
Aron machte kehrt.
»Sag mal … die Frage ist vielleicht komisch aus dem Nichts, aber hast du eigentlich Träume in deinem Leben? Ziele, auf die du hinarbeitest? Ich finde, wenn man das weiß, lernt man den Menschen immer ganz gut kennen.«
Kira schluckte schwer. Er hatte ja keine Ahnung, was er mit dieser Frage in ihr auslöste. Die Wahrheit konnte sie ihm schlecht sagen, dass es ihr größter Traum war, zu überleben. An etwas anderes konnte sie kaum denken. »Ich würde sehr gern viel reisen, wenn ich genug Geld habe.«
Arons Miene hellte sich auf. »Echt? Das ist ja cool! Ich würde irgendwann gern eine Weltreise machen. Ich liebe es, neue Länder zu erkunden.« Seine Euphorie steckte Kira an und sie lächelte. Im nächsten Augenblick verflog die gute Laune in ihr. Sie fragte sich schon seit der Ankunft auf der Erde, wie viel Zeit sie mit Aron würde verbringen müssen, bis er starb. Wie viel sie erfinden und lügen müsste, um nicht aufzufallen – keine Ahnung, was dann passieren würde. Wenn Aron irgendwas davon aufdecken würde, bevor er starb, was sollte sie dann machen? Ihm sich aufzwingen? Sie war im Lügen nicht sonderlich gut und jetzt gerade schon froh, dass es einigermaßen klappte. Am schlimmsten wog jedoch die Angst, irgendwann vor anderen Menschen aufzufliegen. Aron bemerkte sicher, wenn nur er sie sehen konnte. Eine Ausrede dafür musste sie sich sicherheitshalber schleunigst zurechtlegen. Erleben wollte sie das nicht.
Aron steckte die Hände in die Hosentaschen. »Wie kommt man denn eigentlich darauf, Taxi zu fahren? Ich könnte mir tausend andere Dinge vorstellen, die ich gerne arbeiten würde …«
»Ach, weißt du …«, antwortete Kira langgezogen und dachte noch über eine sinnvolle Antwort nach, da stolperte Aron über einen großen Stein und fing sich im letzten Moment ab, um nicht auf dem Boden zu landen. Kira schlug die Hände vor den Mund und blieb stehen.
»Oh je, ist dir was passiert?«, fragte sie und ihr Herz hämmerte gegen die Brust.
Aron zupfte sich sein Shirt gerade und atmete tief durch. »Nein, mir ist nichts passiert, alles okay. Aber ich frage mich, wo der Stein herkam. Ich meine, der war so groß, ich hätte ihn doch gesehen. Das ist seltsam.«
Er beäugte den faustgroßen Stein mit einem kritischen Blick und kickte ihn dann zur Seite.
»Ja, das ist wirklich seltsam …«
Kira versuchte, ihrer Stimme einen möglichst normalen Tonfall zu geben, aber in ihrem Kopf rasten die Gedanken. War das eine Auswirkung ihrer Anwesenheit? Sie war gerade mal ein paar Minuten mit Aron zusammen und schon stolperte er über große Steine. Wie lange würde es dann dauern, bis sie ihren Auftrag erledigt hatte? Wenn es in diesem Tempo weitergehen würde, wäre sie vielleicht schon heute Abend ein Engel, überlegte sie. Oder wurde sie paranoid?
»Du wirkst so abwesend«, unterbrach Aron ihre Gedanken und Kira zuckte zusammen.
»Äh, ja, entschuldige bitte. Ich habe gerade noch über den Stein nachgedacht«, stotterte sie.
Aron winkte ab. »Ist doch nichts passiert. Wahrscheinlich haben wir ihn einfach übersehen, während wir gesprochen haben.«
»Mmmh«, brummte Kira und biss sich auf die Unterlippe. Sie folgte Aron, der den Stein buchstäblich hinter sich gelassen hatte und weiterlief.
Aron drehte sich zu Kira um. »Warum bist du denn so langsam? Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Kira hob den Blick, um Aron in die Augen zu sehen. Sie wollte ihn nicht töten, nein, sie konnte ihn nicht töten. Es musste eine andere Lösung geben, sie musste mit Ezekiel sprechen. Sie ergriff den Strohhalm, den er ihr gerade bot.
»Ich glaube, mir geht es irgendwie nicht gut. Mein Magen fühlt sich ganz komisch an. Vielleicht sollten wir unseren Spaziergang an einem anderen Tag machen.«
Vielsagend legte sie die Hände auf ihren Bauch und stöhnte leise.
Aron gab seine entspannte Körperhaltung auf und kam auf Kira zu.
»Oh, hast du das schon die ganze Zeit? Wieso hast du nichts gesagt? Natürlich können wir das verschieben, wenn es dir nicht gut geht. Tut mir leid, dass ich das nicht bemerkt habe.«
Kira lächelte. »»Alles gut, danke. Ich muss mich nur etwas ausruhen, dann geht es mir wieder besser. Ich melde mich bei dir, versprochen.«
Sie beeilte sich, Abstand zwischen sich und Aron zu bringen. Er wollte ihr noch hinterherrufen, aber Kira bog um eine Häuserecke und als Aron sich dort umschaute, war sie verschwunden. »Aber … du weißt doch gar nicht, wie du mich erreichen kannst?«, murmelte er leise und runzelte die Stirn. Diese Begegnung war mehr als seltsam gewesen und doch hinterließ sie bei Aron ein leichtes, warmes Gefühl in der Magengegend.
Kapitel 3
Ihr Herz klopfte noch immer wild, als Kira sich wieder in dem Raum befand, in dem sie tags zuvor aufgewacht war. Nicht schlafen zu können hatte ihre Gedanken mehr befeuert, als sie es von ihrem sterblichen Leben gewohnt gewesen war. Nichtsdestotrotz fühlte sie sich weder ausgelaugt noch hungrig, was sie in der Annahme bestärkte, dass Ezekiel vielleicht doch die Wahrheit gesagt hatte. Zumindest in den Punkten, die sie bisher hatte am eigenen Leib erfahren dürfen. Was für sie unweigerlich hieß, dass sie besser den Rest glaubte, auch wenn ihr die Dinge noch widerstrebten. Wie in aller Welt sollte sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren, Aron zu töten? Er war so nett zu ihr gewesen! Wie er sich sogar entschuldigt hatte, dass er nicht bemerkt hatte, dass es ihr nicht gutging … Aron war viel zu nett für diese Welt. Und doch blieb ihr keine andere Wahl, wenn sie selbst leben wollte.
Ezekiel saß am Pult und war in das Buch vertieft, das beim letzten Mal schon dort gelegen hatte. Er schaute auf und schenkte Kira ein schmales Lächeln.
»Kira! Schön, dass du wieder bei uns bist. Hat die Reise geklappt? Wie war deine erste Nacht?«
Er stand auf, ging auf Kira und schlang einen Arm um ihre Schultern, um sie vertrauensvoll an sich zu drücken. »Erzähl mir von deiner Reise.«
Kira berührte die Kette mit dem silberfarbenen, kleinen Engelsflügel um ihren Hals. »Ja, ich musste die Kette nur berühren, und sie hat mich zu Aron und wieder hier her gebracht. Wie du gesagt hast.«
Ezekiel schnalzte mit der Zunge und zog Kira mit sich, dann verließ er mit ihr im Schlepptau den Raum. »Meine liebe Kira, hast du wirklich daran gezweifelt? Sei ehrlich. Ich würde dir niemals eine Lüge auftischen.«
Der Ton in seiner Stimme ließ sie schaudern, aber Kira würde es nicht wagen, ihm zu widersprechen. Ezekiel hatte eine einschüchternde Präsenz, die sich bei ihr voll und ganz eingebrannt hatte. Er schob sie durch die Flügeltür und sie trat auf einen hohen, schmalen Gang hinaus, der komplett holzgetäfelt und mit rotem Samtteppich ausgekleidet war.
»Wow, wo bin ich hier? Eine riesige Villa?«, fragte sie halblaut.
»So ähnlich. Hier wohnt ihr, solange ihr noch keine Engel seid. Und ich natürlich. Nun husch, meine Liebe«, antwortete Ezekiel glucksend und schob sie weiter. Er scheuchte sie den langen Gang hinab, von dem rechts und links immer mehr Türen abgingen. Kira fragte sich, was hinter diesen auf sie wartete, traute sich aber nicht, die Frage laut zu stellen.
»Nun, du hast mir noch gar nichts davon erzählt, wie es auf der Erde war. Erzähl doch ein bisschen«, forderte Ezekiel im Plauderton.
Kira schaute verlegen zu Boden. Jetzt konnte sie nicht mehr ausweichen. Sie musste mit ihm sprechen. Ob Ezekiel sauer sein würde? Was würde er dann mit ihr machen? Sie in Feuer aufgehen lassen? Kira wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken. »Ach, na ja, also … wegen Aron …«
Ezekiel winkte lässig ab. »Er ist nicht tot, das weiß ich, meine Liebe. Aber das ist nicht so schlimm. Du hast noch etwas Zeit dafür. Und du hast auch bemerkt, wie schnell es geht, wenn du bei ihm bist, nicht wahr?«
Kira hielt für einen Moment die Luft an und hob erstaunt die Augenbrauen. Jetzt war sie sich sicher, dass sie nicht paranoid gewesen war. »Der Stein?«
Ezekiel nickte. »Genau der. Deine Kräfte entwickeln sich außergewöhnlich schnell, aber das ist ja gut für uns beide. Mach dir deshalb also keine Sorgen, wenn Aron nicht schon jetzt stirbt – oder beim nächsten Treffen. Ich bin sehr begeistert von deinen Fähigkeiten. Der Rest wird sich finden.«
Kira schauderte, weil sie recht behalten hatte. Und weil Ezekiel offenbar zufrieden mit ihr zu sein schien. Sie war sich unschlüssig, ob sie Ezekiel vertrauen sollte. Rebellieren wollte sie auf gar keinen Fall, Ezekiel war ihr zu gruselig, deshalb schwieg sie lieber. Er führte sie noch immer einen endlosen Gang entlang, von dem Türen abgingen. Wie lange waren sie schon gelaufen?
»Meine liebe Kira«, sagte Ezekiel und legte wieder einen Arm um sie, »ich möchte, dass du die anderen Arae kennenlernst. Du wirst verstehen, dass ich mich nicht immer um dich kümmern kann. Am besten ist, du machst dir selbst ein Bild, Liebes.«
Ezekiel schob sie durch eine Tür, die sich zu einem großen Raum öffnete. Kira deutete es mit seinem langen Tisch und den vielen Stühlen am ehesten als Esszimmer, auch wenn vermutlich niemand mehr hier Nahrung zu sich nehmen musste.
An dem Tisch saßen drei Menschen, die alle ungefähr in Kiras Alter sein mussten. Einer von ihnen, ein junger Mann, stand auf, kam zu ihr und reichte ihr die Hand. Er war deutlich größer als Kira und breiter, aber nicht dick. Das kleine Wohlstandsbäuchlein passte zu seinem freundlichen Gesicht mit den blauen Augen. Er war Kira auf Anhieb sympathisch.
»Hallo, mein Name ist Linus. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Ezekiel hat gestern schon erzählt, dass wieder jemand zu uns gekommen ist.«
Kira ergriff seine Hand. Linus hatte einen festen Händedruck. Er hatte, im Gegensatz zu Aron, glatte Haare. Das war ihr erster Gedanke und Kira runzelte die Stirn. Wieso kam ihr ausgerechnet jetzt Aron in den Sinn?
»Ähm, ja, also ich bin Kira«, stammelte sie und ließ Linus‘ Hand sofort wieder los. Neben ihn trat eine junge, schwarze Frau und umarmte Kira.
»Hey, ich bin Akua. Schön, dass du da bist. Endlich bekommen wir mal wieder Frauenpower.«
Sofort versteifte sich Kira. Die Nähe war ihr unangenehm. Aber warum? Es war wie ein Reflex, der sie vor Berührungen schützen wollte, dem sie sich nicht mit bewussten Entscheidungen hingab. Sie versuchte, die Gedanken abzuschütteln und war froh, als Akua sie wieder losließ. Am Tisch entdeckte sie eine weitere junge Frau. Sie schien sich demonstrativ von Kira abzuwenden und drehte ihr den schlanken Rücken zu. Akua deutete ihren Blick richtig.
»Das ist Nora. Sie ist am Anfang immer ein bisschen zurückhaltend, mach dir nichts draus. Das war bei uns nicht anders. Sie wird schon irgendwann auftauen.«
Ezekiel ging aus dem Raum und schloss die Tür so weit hinter sich, sodass er nur noch seinen Kopf durch den Spalt stecken konnte. »Ladies und natürlich Gentleman, ich lasse euch allein, wenn es recht ist. Ich habe viel zu tun, das wisst ihr, und Kira ist bei euch in den besten Händen, das weiß ich.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss er die Tür und Kira hörte ihn den Gang hinunterlaufen, seine Schuhe klackerten noch lange über den Marmorboden.
Akua, Kira und Linus sahen noch einen Moment zur Tür und jeder hing seinen Gedanken nach. Dann deutete Linus auf die Stühle.
»Komm, setz dich. So schnell sehen wir Ezekiel nicht wieder. Ich vermute mal, dir schwirrt der Kopf?«
Kira nickte und ließ sich auf einen der Stühle sinken, Linus und Akua nahmen neben ihr Platz. Noch immer hatte sich Nora von ihnen abgewendet, aber ein Ohr zeigte in ihre Richtung, als würde sie sich doch interessieren, was die Neue zu erzählen hatte.
»Ezekiel hat gesagt, du bist erst seit gestern dabei. Stimmt das?«, fragte Akua und beugte sich vor.
Wieder nickte Kira und krampfte die Hände in ihrem Schoß. »Wie lange seid ihr denn schon, na ja, Engel? Oder was sind wir eigentlich? Arae? Was ist das?«
Linus lachte. »Hat Ezekiel dir denn gar nichts erzählt?«
»Doch«, sagte Kira, »aber irgendwie ist das alles viel zu verrückt, als dass ich irgendwas davon glauben würde.«
Akua tätschelte Kira die Hand und diese zog sie sofort weg. »Das gibt sich mit der Zeit, glaub mir. Wir sind alle schon etwas länger dabei und bisher hat sich nichts davon, was Ezekiel uns erzählt, als Lüge herausgestellt. Leider, oder zum Glück, wie man es nimmt. Jedenfalls sind wir überzeugt davon, Arae zu sein.«
Kira schluckte schwer. »Das heißt, ihr habt euren Menschen schon fast umgebracht?« Ihr lief ein Schauder über den Rücken, erst recht, als Linus schief grinste.
»Ich weiß nicht, wie es bei Nora ist, aber ich habe schon mehr als einen Menschen zum Selbstmord getrieben. Ganz so, wie Ezekiel es sich vorstellt. Das klingt jetzt total makaber und tut mir auch leid, aber mir geht es wie dir vermutlich auch. Ich würde gerne in den Himmel kommen und nicht verschwinden.«
»Bei mir läuft es noch«, fügte Akua an, »seit ich weiß, dass Linus und Maja immer noch da sind und schon einige Leute auf dem Gewissen haben, mache ich mir da nicht mehr so einen Druck. Ich mag die Leute hier, ich will gar nicht weg. Und Ezekiels Drohung, dass er uns verschwinden lässt … nun, solange wir Seelen bringen, tut er das nicht. Wir sind jedenfalls alle noch da.«
Kira hob die Augenbrauen und setzte zu einer weiteren Frage an, aber Linus kam ihr zuvor.
»Maja lernst du sicher auch noch kennen, keine Sorge.«
Das war eigentlich nicht ihre Frage gewesen. »Okay, aber was heißt das, du hast schon mehrere auf dem Gewissen? Ezekiel sagte mir, ich muss Aron in den Suizid treiben, dann komme ich in den Himmel.«
Linus hob die Schultern und blickte sie entschuldigend an. »Prinzipiell hat Ezekiel damit recht, aber er erzählt gerne nur die halbe Wahrheit. Er entscheidet, wann du genug Leute umgebracht hast. Niemand sonst. Er kann dich theoretisch bis in alle Zeiten behalten und dich dazu nötigen, weiterzumachen. So macht er das mit allen von uns hier. Ab und zu geht tatsächlich mal jemand, den wir nie wiedersehen. Eigentlich können wir nicht wissen, ob sie wirklich zu Engeln werden, aber da ist diese kleine Hoffnung, dass dieser ganze Mist uns nicht umsonst belastet, verstehst du?«
Kira sprang von ihrem Stuhl auf. Das Blut rauschte in ihren Ohren, so laut, dass sie kein anderes Geräusch mehr wahrnahm. Mit eng zusammengekniffen Augen taxierte sie die Runde. »Wieso sollte ich für diesen Schmierlappen dann irgendetwas tun?! Wenn es nicht stimmt, was er mir verspricht, wieso sollte ich ihm einen Gefallen tun?«
»Beruhige dich, Kira.« Akua zog sie sanft auf ihren Stuhl zurück. Kira ließ es einfach geschehen, sie war viel zu aufgebracht, um sich an der Berührung zu stören. »Das Problem an der Sache ist, dass Ezekiel dich genauso schnell vernichten kann, wie er dich freigeben kann. Hast du dieses Buch gesehen in dem Raum, wo er dich empfangen hat?«
Kira nickte und atmete tief durch. Sie hatte also doch recht gehabt, an Ezekiel und seinen Worten zu zweifeln! Das Schlimme war aber: Er hatte sie in der Hand.
»In diesem Buch muss er deinen Namen nur streichen, dann bist du nicht mehr. Kein Himmel für dich, keine Zwischenwelt, nichts. Wir haben es einmal erlebt, den Schreien nach muss es verdammt weh getan haben.«
»Das heißt, wir sind Ezekiel ausgeliefert und zwar so lange, bis er aus einer guten Laune heraus beschließt, dass wir genug für ihn getan haben?«, fasste Kira die neuen Informationen zusammen.
»Exakt erfasst«, sagte Linus und grinste wieder. »Wir hängen da genauso drin wie du.«
Kira schnaubte. »Und wieso hat noch keiner versucht, dagegen zu rebellieren? Nur wegen diesem Buch, in das er reinschreiben kann? Was ist, wenn man ihm das Buch wegenehmen würde? Es klauen, wenn er schläft?«
Ein lauter Knall ertönte. Alle Anwesenden zuckten zusammen und Kira fuhr herum.
Direkt hinter ihr erschien Ezekiel, der die Arme verschränkt hatte und sie abschätzig musterte.
»Kiraschätzchen, ich weiß deine Neugier zu schätzen, wirklich. Aber sich mit mir anzulegen, ist eine ganz furchtbar schlechte Idee. Ich würde es dir wirklich nicht empfehlen.«
Kira schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Ihr Herz schlug schneller. »Ezekiel, wie …?«
»Wie ich dich hören kann? Sagen wir einfach, ich habe als himmlisches Wesen eine Menge drauf. Merke dir eins, Kira. Leg dich niemals mit mir an, du wirst den Kürzeren ziehen.«
Ezekiels Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen und Kira konnte nicht anders, als stumm zu nicken. Ihr Herz raste wie wild und ihr Atem ging flach. War das jetzt schon ihr Ende? Würde Ezekiel sie bestrafen, so wie es Linus und Akua beschrieben hatten? Ihre Hände waren feucht und ihre Knie zitterten. Sie kniff die Augen zusammen, damit das Letzte, was sie sah, nicht Ezekiels Gesicht war.
»Für heute lass ich es dir noch einmal durchgehen. Du bist erst den zweiten Tag hier«, sagte Ezekiel gönnerhaft, dann flüsterte er nah an ihrem Ohr: »Aber wenn du es noch einmal wagst, solche Gedanken laut zu äußern oder dich gegen mich zu stellen, kann ich dir nichts mehr versprechen. Ist das bei dir angekommen?«
Wieder nickte Kira und hielt krampfhaft ihren Atem unter Kontrolle. Alle Härchen hatten sich bei ihr aufgestellt und ihr Unterbewusstsein brannte darauf, sehr schnell viel Abstand zwischen sich und Ezekiel zu bringen. Vorsichtig öffnete sie die Augen einen Spalt und empfand Erleichterung, nicht direkt in Ezekiels Gesicht zu sehen.
Mit einem leisen Rauschen verschwand dieser so plötzlich, wie er aufgetaucht war und Kira entspannte sich ein wenig.
Akua trat zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ist alles okay bei dir?«
Kira nickte und atmete einmal tief durch. Sie zitterte noch immer.
»Kannst du jetzt ein bisschen verstehen, warum niemand sich so richtig traut?«, fragte Linus und verschränkte die Arme vor der Brust. »Fast jeder von uns hatte schon mal so eine Begegnung mit Ezekiel. Das ist gruselig, das hast du eben selbst gemerkt, und deshalb wagt es auch niemand, sich gegen ihn zu stellen.«
»Verstehe ich«, würgte Kira hervor. Ihr lief es immer noch kalt den Rücken hinunter, wenn sie an Ezekiels Stimme dicht an ihrem Ohr dachte. Sie schüttelte Akuas Hand ab und ging ein paar Schritte. »Dann muss ich wohl, mir bleibt keine andere Wahl.« Sie seufzte und blickte in die Ferne.
Kira bemerkte nicht, wie Linus und Akua erst einen Blick tauschten und dann Kira mitleidig ansahen. »Wer weiß«, murmelte Linus und hoffte, dass Ezekiel nicht schon wieder auftauchen und ihn strafen würde.