Todesküste - Katharina Peters - E-Book
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Todesküste E-Book

Katharina Peters

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Beschreibung

Ein geheimes Netzwerk an der Ostsee.

Emma Klar, verdeckte Ermittlerin in Wismar, hat sich länger mit einem geheimen Netzwerk beschäftigt, zu dem auch Paul Reiter gehört. Als dessen Leiche in einem Waldstück gefunden wird, glaubt Emma, einen neuen Ansatzpunkt zu haben. Die Todesursache ist allerdings nicht eindeutig – Reiter könnte auch Suizid begangen haben. Bald wird jedoch eine zweite Leiche gefunden. Am Strand von Graal-Müritz ist ein Mann offenbar erfroren. Auch dieser Tote ist der Polizei nicht unbekannt, sondern stand im Verdacht, ein junges Mädchen erst missbraucht, dann ermordet zu haben ...

Emma Klar und zwei rätselhafte Morde. Von der Autorin der Bestseller »Inselmord« und »Todesbrandung«.

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Seitenzahl: 459

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Über das Buch

Emma Klar, verdeckte Ermittlerin in Wismar, hat sich länger mit einem geheimen Netzwerk beschäftigt, zu dem auch Paul Reiter gehörte, dem man jedoch keine Morde nachweisen konnte. Doch plötzlich steht Michaela Reiter, die Ehefrau, vor der Tür: Ihr Mann ist verschwunden – und Emma soll ihn suchen. Angeblich hat sich Reiter am Vorabend spontan auf den Weg zu einem Freund gemacht. Schon am nächsten Tag wird seine Leiche in seinem Wagen hinter Rövershagen zufällig in einem Waldstück entdeckt. Wie es aussieht, hat er sich erschossen. Doch Emma ist davon überzeugt, dass Reiter in eine Falle gelockt wurde. Die Indizien sind aber zu schwach, um eine Mordermittlung aufrechtzuerhalten. Bis eine weitere Leiche gefunden wird. Am Strand von Graal-Müritz ist ein Mann erfroren, der Spuren von Folterungen aufweist. Auch er hatte mit Reiters Netzwerk zu tun.

Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt in Schleswig-Holstein – wenn sie sich nicht gerade zu Recherchearbeiten an der Ostsee und auf Rügen aufhält.

Zuletzt erschienen von ihr in der Serie um Emma Klar: »Todeswall«, »Todeswelle« und »Todesbrandung«.

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Katharina Peters

Todesküste

Ein Ostsee-Krimi

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Marvin hatte seine Polizeilaufbahn im Dezernat für Betrug und Geldwäsche begonnen, später war er in die Abteilung Gewaltkriminalität und Zielfahndung des LKA Schwerin gewechselt. Nach einer schweren Schulterverletzung hatte er sich in die interne Recherche und Vernehmung versetzen lassen. Er galt als engagierter und umsichtiger Kollege – ein Kriminalbeamter, der davon überzeugt war, einen wichtigen Job zu erledigen und auf der richtigen Seite zu stehen. Er zweifelte nicht an der klaren Trennlinie zwischen Gut und Böse, zarte Grautöne inklusive – nun, anfangs zumindest. Allerdings war er schon als Anfänger der Meinung, dass jemand, der irgendwann einmal im Leben falsch abgebogen und aufgrund widriger Umstände zum Straftäter geworden war, anders einzuschätzen war als zum Beispiel ein Crackdealer, der sein Zeug an Schulen vertickte und junge Menschen in die Sucht trieb. Diese Typen waren in Marvins Augen nicht das Papier wert, mit dem ihre Akte gefüllt wurde. Das Gleiche galt für Straftäter, die Frauen und Kinder verprügelten, sowie für Vergewaltiger und Schläger aus sämtlichen Milieus. Dass sie womöglich ebenfalls irgendwann einmal aus gewichtigen Gründen falsch abgebogen und auf die schiefe Bahn geraten sein könnten, wog in diesen Fällen weniger schwer – zumindest nach Marvins Ansicht. Die Fürsorgepflicht des Staates sollte sich gefälligst auf die Opfer konzentrieren – und das waren die, die sich nicht hatten wehren können.

Marvin stand nicht allein mit dieser Meinung – es herrschte eine stillschweigende Übereinkunft mit einigen ähnlich denkenden Kollegen. Und natürlich war ihm klar, dass ihn seine eigene Familiengeschichte zu einem gebrannten Kind gemacht hatte – was im Übrigen kaum jemand wusste. Marvin war zwölf Jahre alt gewesen, als seine fünfzehnjährige Schwester an den Folgen einer brutalen Vergewaltigung gestorben war. Das Drama hatte seine Familie zerstört. Es gab ein Vorher und das nicht enden wollende Nachher mit all seinen tiefdunklen Facetten. Der Täter war nicht gefasst worden, und die Schatten der Vergangenheit hatten sich zu keinem Zeitpunkt aufgelöst. Einige Jahre später hatte Marvin beschlossen, Polizist zu werden, und anfänglich hatte er der romantischen Vorstellung nachgehangen, den Täter von damals beim Recherchieren in alten Akten ausfindig machen und für späte Gerechtigkeit sorgen zu können – wie in einem dieser Cold-Case-Filme, die die erfolgreiche Spürarbeit eines unbeirrbaren und phantasievollen Ermittlers zeigten, der sich von keinem Rückschlag aus der Bahn werfen ließ. Er hatte sich vorgestellt, wie seine Eltern reagieren würden, wenn der Täter festgenommen wurde und sich vor Gericht verantworten musste. Sie könnten endlich einen Schlussstrich unter altes Leid ziehen, grausame Erinnerungen würden anfangen, zu verblassen, und die Restfamilie wieder zusammenfinden – weil der Täter seine gerechte Strafe bekam. Im schnöden Polizeialltag wurde Marvin allerdings zunehmend bewusster, dass ein gefasster und verurteilter Krimineller nicht automatisch die Qualen von Opfern und Hinterbliebenen milderte. Hinzu kam, dass manche Täter selbst bei offensichtlichster Schuld nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten – weil beispielsweise die Beweislage nicht ausreichte, weil Fristen abgelaufen waren oder Anwälte erfolgreich alle Register gezogen hatten.

Der Kummer, den seine Eltern durchlitten, war nicht heilbar. Auch das hatte er eines Tages begriffen. Er schmerzte anders als der Kummer, den Marvin aushalten musste. Seine Eltern hatten auf schreckliche Weise ein Kind verloren. Es gab kaum Schlimmeres – oder vielleicht doch: Es war qualvoll, mitansehen zu müssen, wie ein Beschuldigter trotz erdrückender Beweise das Gericht als freier Mann verließ, obwohl niemand an seiner Täterschaft zweifelte, auch nicht das Gericht. Marvin hatte als Polizist etliche solcher Fälle erlebt. Sie nährten zunehmend stärker den Verdacht in ihm, dass die Rechtsprechung allein keineswegs durchgängig das geeignete Instrument darstellte, um Recht zu sprechen und Schuld auszugleichen. »Vor Gericht bekommt man kein Recht, sondern ein Urteil.« So lautete ein gern zitierter Spruch eines Staatsanwaltes. Zugleich registrierte er, wie die Umrisse von Gut und Böse unschärfer wurden und in der juristischen Auseinandersetzung im Abwägen und Kungeln um Paragraphen und Zuständigkeiten, Vorteilsnahmen, Fristauslegungen und Karriereplänen von Behördenleitern verschwammen. Wer schlauer war, die richtigen Kontakte pflegte, sich nicht scheute, Ellenbogen sowie finanzielle Mittel einzusetzen und Vorteile schnell zu nutzen, ohne sich um Gewissensfragen zu scheren, hatte die Nase vorn – unabhängig davon, auf welcher Seite er sich befand: Kläger oder Beklagter. Und wer von all dem nichts verstand, sondern sich vertrauensselig darauf verließ, dass die Rechtsprechung die richtige – gerechte – Entscheidung treffen würde, hatte womöglich verloren, bevor ein Verfahren eröffnet wurde. Das klang bitter, vielleicht resignativ, vielleicht zynisch und einseitig – oder auch einfach nur pragmatisch. Aus dem jungen Polizisten Marvin, der viele Jahre zuvor davon geträumt hatte, den Entführer, Vergewaltiger und Mörder seiner Schwester zu fassen und hinter Gitter zu bringen, um seinen Eltern ein Stück Erleichterung zu ermöglichen, war ein Beamter geworden, der sich den Anforderungen seines Berufes mit realistisch geprägtem Augenmaß stellte und zugleich seine ganz eigenen Vorstellungen und Einsichten hegte. Er hatte seinen ursprünglich eingeschlagenen Weg klammheimlich verlassen – ohne etwas zu bereuen. Vielleicht war es auch ganz einfach: Gut und Böse war eine fein austarierte Waagschale, die man von verschiedenen Seiten betrachten konnte.

Der Typ, den ein LKA-Team nach wochenlanger Fahndung in einer diesig kalten Nacht festsetzen konnte, hieß Klaus Griehm und war Anfang vierzig. Griehm galt als brutaler Schläger und Vergewaltiger, der für mehrere Bordell- und Clubbesitzer im Rotlichtmilieu tätig war und dennoch selten länger als ein paar Wochen in Haft gesessen hatte. Er stand unter dem dringenden Tatverdacht, zwei junge Mädchen entführt zu haben, und die Beamten hofften, ihn diesmal länger hinter Gitter bringen zu können.

Marvin studierte die Akte am nächsten Morgen, ließ sich von einem Kollegen die Umstände der Festnahme schildern und ging schließlich mit seinem Kaffeebecher in den Vernehmungsraum. Klaus Griehm war ein mittelgroßer bulliger Typ mit überraschend sanften Augen und sympathischen Gesichtszügen. Er sah ihm neugierig entgegen und nickte in Richtung des Kaffeebechers. »Ist für mich auch einer drin? Ich bin schon eine Weile hier und könnte ihn gut vertragen.«

»Das lässt sich machen«, erwiderte Marvin und bestellte einen Kaffee. »Ich bin übrigens Hauptkommissar Marvin Hartner und …«

Griehm winkte lässig ab. »Spielt keine Rolle. Mein Anwalt kommt gleich. Der soll sich Ihren Namen merken – falls nötig.«

Marvin nickte. »Wie Sie meinen.« Es war noch sehr früh am Morgen, und es würde eine Weile dauern, bis es soweit war, dachte er. Aber das wusste Griehm selbst.

»Und reden werde ich vorher auch nicht mit Ihnen.« Griehm lächelte dezent entschuldigend.

»Das müssen Sie natürlich nicht. Aber es geht nachher alles sehr viel schneller, wenn wir jetzt schon mal ein paar Daten und allgemeine Informationen austauschen«, meinte Marvin beiläufig. »Das verpflichtet Sie zu nichts.«

»Okay.« Griehm nickte höflich.

»Meine Kollegen haben Sie heute Nacht am Hafen vorläufig festgenommen …«

»Ja, das habe ich mitbekommen. Vorläufig klingt gut.« Griehm grinste und hob beide Hände. »Was habe ich mit diesen beiden Schlampen zu tun, die …«

Marvin senkte den Blick in die Akte. »Die beiden jungen Mädchen, um die es hier geht, heißen Michelle Beuth und Karoline Scheller«, erläuterte er in ruhigem Ton. »Sie sind fünfzehn Jahre alt und werden seit gut einer Woche vermisst.«

»Und?«

Marvin zeigte ihm Fotos der Mädchen.

»Noch nie gesehen und …«

»Sie sind von einer Überwachungskamera erfasst worden«, warf Marvin ein und zog ein weiteres Foto aus der Akte. Es zeigte Griehm an einer Tankstelle. Im Fahrzeug waren zwei Gesichter zu erkennen. »Das war vor wenigen Tagen. Seitdem suchen wir sie.«

Griehm zuckte mit den Achseln. »Da Sie offenbar denken, ich hätte irgendeinen Mist gebaut, warte ich auf meinen Anwalt.«

»Verstehe.«

Der Kaffee wurde gebracht. Griehm trank einen Schluck und blickte wieder auf. »Die sehen doch heutzutage alle gleich aus«, ergriff er plötzlich wieder das Wort.

»Sie meinen: fünfzehnjährige Mädchen?«

»Genau.« Griehm wies in Richtung der Fotos. »Die beiden da – das sollen die vermissten Schülerinnen sein?«

Marvin nickte. »Können Sie uns vielleicht doch etwas zu ihnen sagen?«

Griehm zögerte. »Na ja – jetzt erinnere ich mich wieder: Ich habe die beiden ein Stück mitgenommen«, meinte er schließlich. »Die wollten in die Stadt – shoppen. Das jedenfalls konnte ich dem Geplapper entnehmen.«

»Ach? Können Sie das zeitlich eingrenzen?« Marvin setzte eine interessierte Miene auf.

»Klar. Die beiden saßen höchstens zehn Minuten in meinem Wagen und waren bester Dinge.« Griehm hatte offensichtlich keine Lust mehr, auf das Eintreffen seines Anwalts zu warten – oder das unschuldige Getue gehörte zu seiner Masche. Er beschrieb, wo und wann er die beiden aufgegabelt und wieder abgesetzt hatte, und seine Schilderungen klangen realistisch. Und im Nachhinein erwies sich seine Aussage als überaus kluger Schachzug, denn als die beiden Mädchen Tage später in einem Waldstück gefunden wurden – brutal vergewaltigt und erdrosselt –, ließen sich DNA-Spuren von Klaus Griehm nachweisen und somit gut erklären. Er blieb bei seiner Behauptung, die Mädchen lediglich ein Stück mitgenommen zu haben. Da die Spurenlage hinsichtlich der Gewalttaten nicht eindeutig genug waren, um Griehm als Täter oder Mittäter identifizieren zu können, und sein Anwalt zwei Zeugen präsentierte, die beschworen, mit dem Beschuldigten zum ungefähren Todeszeitpunkt der Opfer beim Kaffee zusammengesessen zu haben, reichten die Verdachtsmomente nicht aus. Sosehr das Ermittlerteam sich bemüht hatte, ihm zumindest eine Tatbeteiligung nachzuweisen – Griehm war wieder einmal davongekommen, und die Leute, die er deckte, waren es auch. Zwei junge Mädchen hatten sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten und mit dem Leben bezahlt. Und die letzten Stunden vor ihrem Tod waren grausam gewesen.

Warum Marvin ausgerechnet dieser Fall nicht zur Ruhe kommen ließ und einen Wendepunkt in seinem Leben einläutete, lag auf der Hand. Zwei Wochen nach dem Freispruch suchte er zum ersten Mal Griehms Stammkneipe auf, eine Bar in Rostock, trank einen Wodka und ging nach ungefähr zwanzig Minuten wieder. Er war sicher, dass Griehm ihn erkannt hatte, doch er gesellte sich erst nach dem vierten oder fünften Besuch zu ihm an die Theke – an einem Samstagabend zu später Stunde.

»Was macht ein Kommissar in dieser Gegend?«, sprach er ihn leise von der Seite an. »Sind Sie sauer, weil Sie mir nichts anhaben konnten?«

Marvin drehte das Glas in seinen Händen, überlegte einen Moment und hob schließlich den Blick. »Haben Sie es getan?«

Griehm stutzte nur kurz, dann lachte er aus vollem Hals und verstummte abrupt wieder. »Ist das eine neue Masche?«

Marvin schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Ich bin nicht im Dienst, und alles, was nicht im Protokoll steht, ist juristisch ohnehin nicht von Belang. Sie können mir hier sonst was auftischen, was für sich betrachtet belastend wäre – es würde sich als heiße Luft erweisen, wenn ich versuchen würde, damit zu punkten.«

Griehm nickte bedächtig und musterte ihn neugierig. »Ich weiß. Und warum sind Sie hier?«

»Es interessiert mich wirklich, ob Sie was damit zu tun haben.«

»Einfach so?« Griehm schüttelte den Kopf. »Das nehme ich Ihnen nicht ab. Das Ganze geht Ihnen nahe, oder Sie verfolgen ein eigenes Interesse.« Er blickte einen Moment in die Ferne, dann fixierte er Marvin wieder und lächelte plötzlich. »Oder sind Sie vielleicht selbst interessiert?«, schob er leise flüsternd und in rauem Ton nach. »An den ganz jungen Dingern?«

Ein eisiges Zittern durchfuhr Marvin.

»Und den vielen Möglichkeiten, alles mit den kleinen Mädchen tun zu können, wovon Sie schon immer geträumt haben. Und sie dann zu bestrafen. So, dass sie es nie vergessen werden – wenn sie überhaupt noch in der Lage sind, sich zu erinnern. Ist es das?«

Jedes Wort brannte sich tief in ihm ein, und Marvin war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, Griehms Blick, sein heiseres Flüstern, den Klang seiner vibrierenden Stimme und die Bilderflut, die durch seinen Kopf rauschte, bis an sein Lebensende nicht vergessen zu können. Das änderte alles. Marvin atmete tief durch, leerte sein Glas und verließ Augenblicke später die Bar.

Drei Wochen später lauerte er Griehm in den frühen Morgenstunden an einem verlassenen Parkplatz an einer Landstraße auf. Marvin beobachtete, wie Griehm nach dem Pinkeln den Reißverschluss hochzog und zu seinem Wagen zurückging. Er sah kurz hoch und schien einen Moment in die Richtung zu starren, in der Marvins Wagen in der Dunkelheit direkt hinter der Einfahrt stand, dann nestelte er nach seinem Schlüssel. Den brauchst du nicht mehr, dachte Marvin, und es war fast lächerlich einfach: Er startete den Motor und gab Gas. Bevor Griehm reagieren und zur Seite springen konnte, erfasste sein Kühler ihn nahezu frontal und mit satter Wucht, doch der Aufprall klang weniger spektakulär, als Marvin angenommen hatte.

Marvin stoppte und lauschte in die Stille, wartete auf das eisige Entsetzen, den Schock, der sich mit der Erkenntnis einstellte, dass es kein Zurück mehr gab und er nun unwiderruflich zu den Leuten gehörte, die er in seiner Eigenschaft als Polizist aufspüren musste. Doch nichts davon passierte. Es blieb ruhig und friedlich in ihm. Kein Aufruhr, keine Angst, kein plötzlicher Gefühlsausbruch. Er stieg aus. Einen Moment dachte er darüber nach, was er tun würde, wenn plötzlich ein anderer Wagen auftauchte, dann schob er den Gedanken beiseite. Die Nacht war still und kalt. Wer jetzt noch unterwegs war, hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und niemand würde im Vorbeifahren den Parkplatz beachten.

Griehm lebte noch, als er sich über ihn beugte, seine Hände zuckten, und in seine Augen trat Verwunderung, als Marvin sich neben ihn hockte. »Du hast mich unterschätzt«, sagte er leise. »Ich habe mich selbst unterschätzt. Aber das spielt jetzt alles keine Rolle mehr. Ich werde dir beim Sterben zusehen. So bist du wenigstens nicht allein, und ich denke in jeder Sekunde an meine Schwester und all die anderen Mädchen, die besser dran sind, wenn du tot bist.«

Zwanzig Sekunden später hörte Griehm auf, zu atmen. Marvin wartete noch einen Moment angestrengt lauschend. Dann erhob er sich, warf einen letzten Blick in die Runde und machte sich nach kurzer Inspektion seines Wagens auf den Heimweg. Das Auto hatte kaum etwas abbekommen. Dass er am Tatort DNA-Spuren hinterlassen hatte, wurde ihm erst Tage später klar, als die Rostocker Rechtsmedizin und Kriminaltechniker sich mit dem Fall befassten.

1

Es ist nicht vorbei, dachte Emma zum wiederholten Mal. Die Ruhe war trügerisch gewesen. Der Tod von Oliver Kosner hatte nur vorübergehend die Illusion genährt, dass damit sein bizarres Treiben endete, selbst wenn es womöglich niemals lückenlos aufgeklärt werden konnte.

Vor Monaten hatte Emma sich auf den Weg gemacht, um nach der vermissten Journalistin Jana Kühn zu suchen und schließlich ihren als Suizid getarnten Mord aufzuklären. Der Hintergrund des Geschehens hatte sich als ebenso verstörendes wie verwirrendes Puzzle entpuppt, bei dem die Recherchearbeit der Journalistin ebenso eine Rolle spielte wie ein mehrere Jahre zurückliegender Überfall auf sie. Erst als Karen Perlmann, eine Ärztin der Rechtsmedizin in der Rostocker Uniklinik, die für Emma und Kollege Moritz Tambach, den Ermittlungsleiter der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion, tätig geworden und wenig später spurlos verschwunden war, rückte Oliver Kosner, Assistent und Kollege der jungen Medizinerin, in den Fokus. Wie sich herauskristallisierte, hatte Kosner über Jahre hinweg immer wieder Befunde auf raffinierte Weise manipuliert und damit Ermittlungsergebnisse in Kriminalfällen gefälscht. Verdächtige waren damit einer Anklage oder Verurteilung entgangen, dafür waren sie jedoch in Kosners Abhängigkeit geraten. Wer und wie viele genau betroffen waren und was Kosner konkret im Einzelfall von ihnen gefordert hatte, in welche Aktivitäten und Straftaten sie verstrickt worden waren, ließ sich bislang nur in den Fällen abschätzen, die in Emmas letzten Ermittlungen im Fokus gestanden hatten – und selbst bei ihnen war keine lückenlose Aufklärung möglich gewesen.

Die Vermutung, dass Oliver Kosner vor ungefähr zehn Jahren begonnen hatte, ein kriminelles Netzwerk zu gründen, von dem bislang lediglich die Spitze des Eisberges entdeckt worden war, beunruhigte nicht nur Emma. Ob die kürzlich eingesetzte Sonderkommission, für die sich Staatsanwältin Ulrike Steiner stark gemacht hatte, tatsächlich in der Lage sein würde, eine umfassende und lückenlose Aufklärung der Hintergründe zu ermöglichen, durfte jedoch bezweifelt werden. Fest stand bislang, dass Oliver Kosner seine Fäden gesponnen hatte und in diesem Umfeld Menschen unter Druck gesetzt, eingeschüchtert und getötet worden waren. Dabei war er ebenso intelligent wie verschlagen, gewissenlos wie grausam vorgegangen, und seine Handlungsweise wäre kaum entdeckt worden, wenn Emma der Fall Jana Kühn nicht nachhaltig aufgewühlt hätte. Kosners tiefer liegendes auslösendes Motiv – ein krankhafter Kontroll- und Machtzwang – hatte sich zunehmend als der eines wahngetriebenen Psychopathen entpuppt, der Menschen um sich scharte, die aufgrund seiner Manipulationen in seiner Schuld standen und in der Folge von seinem Willen abhängig waren.

So wie Paul Reiter, der zwar einer Mordanklage entgangen war, dafür jedoch zu Kosners erster Marionette wurde. Reiter sah nach gut zehn Jahren keine andere Möglichkeit, sich aus diesen Fängen zu lösen, als die Fäden selbst in die Hand zu nehmen und einen Doppelmord zu begehen, bei dem er Kosner und einen weiteren Komplizen erschoss, den Krankenpfleger Torsten Gorner.

Emma dachte nicht ohne Groll daran zurück, denn es war Paul Reiter mit einem ausgeklügelten Plan gelungen, nicht nur ihr Vertrauen zu gewinnen, sondern sie selbst als Täterin zumindest anfänglich in den Mittelpunkt zu rücken. Die Verdachtsmomente konnten in der Folge zwar entkräftet werden, doch als es vorbei war, hatte das Gericht Paul Reiter freisprechen müssen. Die Beweise für den Doppelmord waren nicht überzeugend gewesen. Emma hatte ihm seine Finte schließlich weitestgehend verziehen, als er ihr zu verstehen gab, dass er persönlich geholfen hatte, Karen Perlmann vor Kosner zu verstecken und ihre Flucht zu ermöglichen. In einer kurzen Videobotschaft hatte die Ärztin bestätigt, dass es ihr gutging, und niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Und so sollte es auch bleiben.

Doch nun war die Situation erneut höchst bedrohlich: Paul Reiter war spurlos verschwunden. Die Befürchtung seiner Frau Michaela, Kosners Leute könnten auch nach seinem Tod weiterhin aktiv und ihr Mann Opfer einer Vergeltungsmaßnahme geworden sein, entsprach einer ebenso erschreckenden wie realistischen Einschätzung. Und das bedeutete weiterhin, dass Karen Perlmann und Emma selbst ebenfalls in Gefahr waren.

Emma hatte das Gespräch mit Michaela Reiter und die aufwühlenden sowie zutiefst erschöpfenden Ereignisse der letzten Wochen während eines langen Rundgangs am Hafen nachklingen lassen und bereits zweimal zum Telefon gegriffen. Dann hatte sie jedoch keine Verbindung hergestellt. Keine Alleingänge mehr – so lautete die Abmachung mit der Rostocker Dienststelle und nicht nur mit ihr. Nicht zum ersten Mal in Emmas Laufbahn als Ermittlerin hatte sie versprechen müssen, sich zunächst mit dem Team auszutauschen – wenigstens mit Tambach und/oder Padorn und ihrem Partner Christoph –, statt vorzupreschen und sich dabei allein auf ihre Intuition zu verlassen.

Doch die Situation war prekär. In der Behörde durfte niemand wissen, was sie als Nächstes vorhatte und wer über einzelne Schritte und Maßnahmen Bescheid wissen könnte, denn noch war völlig unklar, wer mit Oliver Kosner zusammengearbeitet hatte und von welcher Seite möglicherweise Gefahr drohte, weil Informationen durchsickerten. Die Experten, die sich detailliert mit Kosners Arbeit im Labor beschäftigten und im Abgleich mit Namen und Daten nach Ungereimtheiten und Parallelen zu Straffällen suchten sowie seinen Lebenslauf akribisch unter die Lupe nahmen, hatten noch nicht allzu viel entdeckt – oder sie behielten ihre Erkenntnisse für sich. Und auch dafür konnte es viele Gründe geben.

Emma war kaum wieder zu Hause eingetroffen, als sie in ihr Büro ging, zum dritten Mal nach ihrem Handy griff und schließlich die Nummer von Hauptkommissar Moritz Tambach wählte. »Frohes neues Jahr«, meldete er sich nach dem zweiten Klingeln.

Emma runzelte die Stirn. »Haben wir uns nach den Feiertagen tatsächlich noch nicht gesprochen?«

»Nö.«

»Ach so – na dann. Ich wünsche dir natürlich auch …«

Tambach lachte. »Schon gut. So war das nicht gemeint. Ich bin kaum der Typ, der ohne Neujahrsgrüße nicht ins neue Jahr starten kann, und ein paar Tage sind ja inzwischen auch schon wieder ins Land gegangen.«

»Da bin ich ja beruhigt. Hast du ein paar Minuten Zeit?«

»Klar. Worum geht es?«

»Ich habe einen neuen Auftrag.«

»Gratuliere. Und ich schätze, du brauchst meine Hilfe.«

Emma blickte kurz in die Ferne.

»Emma?«

»Die Auftraggeberin ist keine Unbekannte – es handelt sich um Michaela Reiter. Sie stand heute früh vor der Tür.«

Emma hörte, dass Tambach laut ausatmete. »Ihr Mann ist spurlos verschwunden. Sie will, dass ich nach ihm suche – und dabei völlig unter dem Radar bleibe.«

Tambach stöhnte leise. »Was heißt verschwunden?«

»Er ist gestern Abend noch einmal aufgebrochen, um einen Freund zu treffen – und seitdem nicht mehr erreichbar. Michaela Reiter ist davon überzeugt, dass ihm etwas zugestoßen ist. Weitere Informationen liegen bislang nicht vor.«

»Lass mich raten – du gehst davon aus, dass jemand Kosners Platz eingenommen hat und Reiter nun büßen muss?«

»Das klingt nicht abwegig, oder?«

»Durchaus nicht, nur … Na ja, ich schätze mal, dass die Suche nach ihm wenig bringen wird.«

»Das allein ist aber kein hinreichendes Argument«, wandte Emma sofort ein.

»Wie konnte ich vergessen, dass dich ein aussichtsloses Unterfangen erst so richtig anspornt«, murmelte Tambach.

»Wir können zudem nicht ausschließen, dass auch Perlmann in Gefahr ist, ohne dass sie einen blassen Schimmer davon hat.«

Tambach atmete laut aus. »Das stimmt. Und etwas Ähnliches gilt für dich auch«, fügte er leise hinzu.

»Ja, womöglich auch das.«

Einen Moment herrschte Schweigen. »Und wenn es ganz anders ist?«, wandte Tambach nach kurzem Nachdenken ein. »Reiter könnte untergetaucht sein, um Spuren zu verwischen. Das wäre nicht seine erste Finte.«

»Und lässt seine Frau im Ungewissen?«

»Vielleicht tut sie nur so – um den Schein zu wahren. Die beiden haben sich schon einmal als hervorragend eingespieltes Team erwiesen und sich nicht gescheut, ein Szenario zu entwickeln, indem du als Doppelmörderin präsentiert wurdest. Schon vergessen?«

Emma hob eine Braue. »Ganz und gar nicht. Aber wozu soll das Ganze gut sein?«

»Reiter hat viel mehr Dreck am Stecken, als wir alle vermuten«, meinte Tambach. Für einen Moment knisterte es in der Leitung.

»Und inszeniert sein eigenes Verschwinden – einschließlich eines Suchauftrags für mich?«

»Ehrlich gesagt – ich traue dem einiges zu.«

Emma ließ sich in die Lehne ihres Schreibtischstuhls sinken und runzelte die Stirn.

»Bislang weiß niemand so genau, was in diesem Netzwerk eigentlich vor sich ging und immer noch vor sich geht und wer warum dazugehört – sieht man einmal von den Fällen ab, die sich durch unsere gemeinsamen Recherchen herauskristallisiert haben«, fuhr Tambach fort. »Das stellen wir zum wiederholten Male fest. Genau genommen handelt es sich dabei vornehmlich um Reiter und diesen Krankenpfleger, dem Kosner nach mehreren Missbrauchsfällen den Rücken freigehalten hat und der dafür einiges als Gegenleistung erbringen musste …«

»Torsten Gorner. Ein echter Prachtkerl«, warf Emma in bissigem Ton ein.

»Richtig. Beide hat es erwischt. Und wir wissen trotz des Freispruchs, wer es getan hat.«

»Natürlich.« Paul Reiter hatte zwei Kopfschüsse aus direkter Nähe abgefeuert, als die beiden auf dem Parkplatz nahe dem Gespensterwald in Nienhagen auf ihn warteten, und mit platzierten Spuren den Verdacht auf sie gelenkt, dachte Emma. Es war nicht schade um die beiden – dennoch: Reiter hatte sich zweifellos als scharfsinniger Stratege und kaltblütiger Mörder entpuppt.

»Dann gab es noch die als Unfälle getarnten Morde, die Kosner zumindest beauftragt hatte, über deren konkreten Ablauf wir allerdings herzlich wenig in Erfahrung bringen konnten«, resümierte Tambach weiter. »Immerhin wissen wir, dass die drei Typen im Umfeld der OK tätig waren und Jana vor Jahren überfallen haben. Was die sonst noch auf dem Kerbholz hatten, werden wir wohl nie herauskriegen.«

Paul Reiter hatte Emma in einem persönlichen Gespräch geschildert, dass Kosner davon ausgegangen war, Jana mit diesen Morden ködern zu können. Er hatte ihr die perfekte Rache angeboten. Der Tod der Männer, die sie brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt hatten – ein Trauma, das sie nie vergessen würde. Doch Jana hatte sich geweigert, die geforderte Gegenleistung zu erbringen und Menschen zu verraten oder Verleumdungen zu verbreiten – über Emma zum Beispiel. Dafür hatte sie sterben müssen. Kosner hatte einen Suizid vortäuschen lassen, an den Emma nicht einen Moment geglaubt hatte. Dazu war Paul Reiters Bestätigung gar nicht nötig gewesen.

»Wir sind immer davon ausgegangen, dass es zur Durchführung solcher professionell ausgeführten Taten eine ganze Reihe von Unterstützern, Mitwissern, Aktiven aus entsprechenden Kreisen geben muss«, fasste Tambach die Ergebnisse weiter zusammen. »Doch konkrete Hinweise auf weitere beteiligte Personen und andere Zusammenhänge mit schmutzigen Geschäften fanden sich bislang nicht. Womöglich ist die Bezeichnung Netzwerk schlicht zu hoch gegriffen. Wir verwenden sie nur, weil uns der Durchblick fehlt und wir in Ermangelung weiterer Anhaltspunkte den Eindruck gewinnen, dass es um undurchsichtige Verstrickungen geht, an denen eine Vielzahl von Leuten an allen möglichen Stellen beteiligt sind. Vielleicht ist der Kreis viel kleiner, als wir annehmen.«

»Und was sagen die Experten, die sich seit geraumer Zeit mit all dem beschäftigen?«, fragte Emma.

Für einen Moment war es still in der Leitung. »Nicht viel«, sagte Tambach dann zögerlich.

»Mir ist klar, dass du nicht darüber reden darfst, und du kannst dich darauf verlassen, dass ich meinen Mund halte.«

»Ich befürchte keine Indiskretionen von deiner Seite. Es ist eher so, dass es nur wenig zu berichten gibt und ich auch nicht in jedes Detail eingeweiht bin«, führte Tambach aus. »Fest steht, dass Kosners Manipulationen im Einzelnen ohne weitere konkrete Anhaltspunkte kaum nachvollziehbar sind. Und falls er Leuten aus der Organisierten Kriminalität oder welchen Kreisen auch immer hier und da einen Gefallen getan hat, könnte das völlig unbemerkt vonstattengegangen sein. Ein Zusammenhang mit finanziellen Transaktionen ist bislang jedenfalls nicht nachweisbar, auch digitale Spuren führten zu keinen Ergebnissen. Das ist entweder hochprofessionell abgelaufen, und alle Spuren sind längst verwischt, oder wir wissen einfach nicht, wo wir suchen müssen.«

Ich wünschte, es wäre vorbei, und ich müsste mich nie wieder damit beschäftigen, dachte Emma. Sie strich sich durchs Haar und atmete tief durch. »Es fing mit Reiter an, mit einem bis dahin völlig unscheinbaren Mann, der im Streit einen jähzornigen und gewalttätigen Stalker vor die Straßenbahn gestoßen hatte und den Kosner vor dem Gefängnis bewahrte, indem er einen DNA-Nachweis fälschte – offenbar aus dem Nichts heraus ergriff er die Initiative«, meinte sie schließlich nachdenklich. »Soweit das Ganze zumindest für uns nachvollziehbar ist, wobei Reiter selbst es genauso geschildert hat – er stand nach dieser Geschichte bis zum Hals in Kosners Schuld, und jeder Versuch, sich daraus zu befreien, scheiterte. Und nach gut zehn Jahren endete es mit ihm. Reiter wollte endlich aussteigen, statt weiter für schmutzige Geschäfte benutzt zu werden, und das bedeutete wohl: Leute bespitzeln, entführen, unter Druck setzen oder was sonst noch so anfiel. Genauer können wir es nicht sagen.«

»Ja – und das ist der Punkt und ein verdammt blinder Fleck.«

»Wir wissen immerhin sehr genau, dass er erpresst wurde und nach Kosners Pfeife tanzen musste.«

»Falls das so stimmt. Er stellt es so dar, wenn auch plausibel, das muss ich zugeben.«

»Ich bin davon überzeugt«, erwiderte Emma mit Nachdruck. »Ich habe ihm abgenommen, dass er Angst um seine Tochter hatte. Und ich bin auch sicher, dass sein Verschwinden nicht vorgetäuscht ist.«

»Na schön. Lassen wir das jetzt einfach mal so stehen. Wie geht es weiter? Wo willst du mit der Suche beginnen?«

»Die Ausgangslage scheint mir klar«, stellte Emma fest. »Kosner hat Vorsorge getroffen für den Fall, dass er verhindert ist oder sogar ausgeschaltet wurde. Es gab mehrfach Konflikte mit Reiter. Er hat ihm womöglich schon lange nicht mehr getraut. Und wenn es tatsächlich um Rache geht, muss der Täter Spuren hinterlassen haben. Danach werde ich Ausschau halten – mit der gebotenen Vorsicht natürlich. Außerdem habe ich Christoph und Padorn an meiner Seite.« Auch wenn die beiden noch gar nichts von den neuesten Entwicklungen wissen, schob sie in Gedanken nach.

Tambach seufzte leise. »Das hoffe ich. Und was kann ich tun?«

»Bei der Soko nachhaken«, erwiderte Emma prompt. »Vielleicht hat sich aktuell doch etwas getan, was jetzt wichtig werden könnte.«

»Ich frage nach.«

»Was ist mit der Staatsanwältin? Sollte sie Bescheid wissen?«

»Darüber denke ich nach.«

»Gut.«

Sie wollte sich gerade verabschieden und die Verbindung unterbrechen, als Tambach noch einmal das Wort ergriff. »Sag mal, dieses Video mit Karen Perlmann, das nach einmaligem Abspielen gelöscht wurde – kannst du dich an Einzelheiten erinnern?«

Emma öffnete eine Datei auf ihrem Laptop. »Den genauen Wortlaut kann ich nicht wiedergeben, aber inhaltlich war ihre Botschaft unmissverständlich, und ich habe mir im Anschluss ein paar Notizen gemacht. Karen betonte, dass sie getötet werden sollte, aber in Sicherheit sei, weil Reiter sie versteckt habe. Niemand dürfe wissen, dass sie noch lebte und wer ihr geholfen habe. Ich könne die Suche nach ihr einstellen. Zu Kosner sagte sie, dass er Kontakte zu allen möglichen Leuten habe. Es gehe um Macht und Einfluss – und um einen Psychopathen, der ein Netzwerk ins Leben gerufen hat. Ich solle mich fernhalten und gut auf mich aufpassen. So in etwa lauteten ihre Worte.« Emma runzelte die Stirn. »Das klingt eher allgemein, oberflächlich und passt zu deinem Einwand von vorhin, dass wir diese Bezeichnung wählen, weil wir im Trüben stochern.«

»Und die Frage lautet dann, warum Karen sich so ausdrückt«, wandte Tambach ein. »Hat sie den gleichen Eindruck wie wir? Oder hat Reiter ihr geraten, sich so zu äußern?«

»Damit es möglichst nebulös bleibt und wir keine Anhaltspunkte entdecken, bei denen wir nachhaken und damit sie gefährden könnten?«

»Wäre das so abwegig?«

Emma kniff die Augen zusammen. »Ganz und gar nicht. Ich hoffe, dass wir sie bald persönlich danach fragen können. Bis später, Kollege. Ich habe dich schon viel zu lange aufgehalten.«

»Unsinn. Mach’s gut.«

Emma legte das Telefon beiseite. Dann nahm sie es erneut zur Hand und informierte Jörg Padorn. Der ehemals freie Journalist und Texter war seit einiger Zeit in Christoph Klausens florierender Sicherheitsfirma angestellt und tat dort hauptsächlich das, was er am besten konnte: recherchieren, manchmal auch auf juristisch durchaus fragwürdige Art und Weise, aber höchst effizient, insbesondere, wenn er Emmas Ermittlungen unterstützte. Die überaus harmonische und fruchtbare Zusammenarbeit mit Christophs bestem Freund gehörte zu den erfreulichen Überraschungen der letzten Jahre. Als Emma das erste Mal mit Padorn zu tun gehabt hatte, traute sie ihm keinen Meter über den Weg, und in seinem Lebenslauf gab es durchaus Aspekte, die ihr nicht gefielen. Aber all das spielte keine Rolle mehr, seit sie Christoph in einer gemeinsamen Aktion aus einer höchst prekären Situation befreien konnten und seitdem auf derselbe Seite agierten.

»Hätte mich ja auch fast ein wenig gewundert, wenn wir von der Bagage nichts mehr gehört hätten«, meinte Padorn in lapidarem Tonfall, nachdem Emma ihn ausführlich ins Bild gesetzt hatte. »Ich schau mal, ob ich etwas entdecke. Weiß Christoph schon Bescheid?«

»Nein. Ist er zufällig …«

»Gerade vom Hof gefahren. Ich will ihn ohnehin gleich anrufen. Soll ich ihn informieren?«

»Gute Idee. Ich rede dann später mit ihm und mache mich auf den Weg nach Rostock.«

Auf der A 20 hatte es einen Unfall gegeben; Emma fuhr über die B 105 Richtung Neubukow und Bad Doberan in die Hansestadt. Michaela Reiter, die gemeinsam mit ihrem Mann ein Tabakfachgeschäft in bester Lage führte, stand persönlich hinterm Tresen, als Emma eine gute Stunde später eintraf. Inzwischen war es Nachmittag. Michaela Reiter blickte auf, und Erleichterung flog über ihr blasses Gesicht. Nie im Leben spielt sie mir etwas vor, dachte Emma, aber sie wusste auch, dass das Ehepaar durchaus in der Lage war, sehr geschickt mit gezinkten Karten zu spielen, und sie nicht immer hundertprozentig richtig lag, was die Einschätzung persönlicher Motive anbelangte. Aber wer lag schon immer hundertprozentig richtig?

Michaela Reiter nickte ihr zu und führte sie ins Büro – ein geräumiger und gemütlich eingerichteter Raum mit Teeküche und Essecke sowie Schreibtisch. »Das ging schneller, als ich gehofft hatte«, sagte sie leise. »Darf ich davon ausgehen, dass Sie nach meinem Mann suchen werden?«

Emma nickte.

Michaela Reiter schloss kurz die Augen. »Bitte setzen Sie sich doch. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Der Kaffee ist ganz frisch – und ich habe nicht mit den Bohnen gespart.«

»Sehr gerne.« Emmas Augen weiteten sich nach dem ersten Schluck. Der weckt ja Tote auf, dachte sie und musste sofort an Johanna denken. Ihre Chefin beim BKA Berlin bevorzugte ein Gebräu, dass Emma kaum noch als Kaffee bezeichnen würde, und sie schätzte, dass Reiters Mischung dem sehr nahekam.

»Sie brauchen weitere Informationen, nicht wahr?«, fragte Michaela Reiter, während sie sich auch an den Tisch setzte und nach ihrer Tasse griff. »Ich befürchte allerdings, dass ich Ihnen nicht viel mehr sagen kann, als Sie ohnehin schon wissen. Ich habe bereits alle Leute abtelefoniert, die für ein spätes Treffen infrage kämen …«

»Schreiben Sie mir trotzdem die Namen auf?«, warf Emma ein.

»Natürlich.«

»Ich muss mir sein Arbeitszimmer und den Laptop ansehen oder auch ein Tablet, falls vorhanden.«

Reiter schüttelte den Kopf. »Er hat meistens hier gearbeitet«, erklärte sie und wies auf den Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand, auf dem ein PC stand. »Darauf finden Sie nur geschäftliche Belange. Und seinen Laptop hat er wohl mitgenommen – zumindest habe ich ihn nirgendwo entdeckt.«

Emma runzelte die Stirn. »Er will sich spontan mit einem Freund treffen und nimmt seinen Laptop mit?«

»Das war nur so ein schmales, kleines Teil, das er immer in seiner Tasche hatte. Vielleicht hat er sich nur die Tasche gegriffen und den Laptop zufällig mitgenommen.«

»Wissen Sie die Passwörter zu seinem Account oder einer Cloud?«

Michaela Reiter schüttelte den Kopf. »Er hat mal erzählt, dass er seine Daten sehr gut verschlüsselt.«

Dessen bin ich sicher, dachte Emma. »Und Sie haben überhaupt keine Ahnung, was passiert sein könnte?«

»Nein. Ich bin nicht einen Augenblick stutzig geworden, als er aufbrach. Wir haben über so vieles gesprochen in den letzten Wochen. Wir wollten die Vergangenheit endgültig hinter uns lassen und noch einmal so richtig durchstarten. Keine Heimlichkeiten mehr. Alles schien auf einem guten Weg, verstehen Sie?«

Dein Mann hat einen perfiden Mordplan geschmiedet – mit deiner tatkräftigen Unterstützung – und zwei Typen erschossen, dachte Emma. Einen Neustart, der mit zwei Morden begann, als Aufbruch auf einem guten Weg zu bezeichnen, klang verdammt zynisch.

Michaela Reiter räusperte sich. »Ich kann mir denken, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht, aber …«

»Schon gut. Darüber sprachen wir bereits. Ihr Mann hat sich offensichtlich verschätzt – falls sein Verschwinden mit Kosners Leuten zu tun hat –, und daran zweifeln wir im Moment kaum, oder?«

»Nein. Was sollte auch sonst passiert sein? Ich sehe keinen anderen Grund.«

Emma nickte.

»Was werden Sie unternehmen?«

»Ich muss mich in Ihrem Haus umsehen, und Sie werden mir im Detail noch einmal berichten, wie der gestrige Tag abgelaufen ist. In der Regel ergeben sich daraus dann weitere Fragen, und ich kann mir vielleicht ein besseres Bild machen.«

»Einverstanden. Mein Mitarbeiter kann nachher das Geschäft abschließen. Wir können sofort aufbrechen, wenn Sie einverstanden sind.«

Dagegen hatte Emma nichts einzuwenden.

Das Ehepaar Reiter wohnte in südlicher Ortsrandlage in einem Reihenhaus. Emma ließ sich die Situation vom Vorabend in der häuslichen Umgebung ein weiteres Mal detailliert schildern. Michaela Reiter blieb fast wortgenau bei ihrer Darstellung – ein Anruf von einem Freund, der ihren Mann dringend persönlich sprechen wollte, ein zügiger, aber unaufgeregter Aufbruch gegen neun Uhr am Abend, keinerlei Hinweise auf ungewöhnliche Ereignisse, auch nicht in den Tagen zuvor. »Das Ganze war komplett unauffällig – bis auf die Tatsache, dass er nicht nach Hause gekommen ist und ich ihn seitdem nicht erreichen kann.«

Emma ließ die Atmosphäre des Wohnzimmers einen Moment auf sich wirken – ein konservatives Ambiente mit Sofalandschaft, TV‑Anlage, Essbereich und Wandschrank sowie einigen Familienfotos, die aufgereiht auf einer Kommode standen; häufiges Motiv: die Tochter aus Paul Reiters erster Ehe. Die junge Frau wies kaum Ähnlichkeiten mit ihrem Vater auf.

Michaela Reiter war Emmas Blick gefolgt. »Agnes ist zurzeit in Norwegen – sie besucht Freunde, die sie bei einem Auslandssemester kennengelernt hat«, erklärte sie.

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

Dezentes Zögern. »Nur kurz. Ich wollte sie nicht beunruhigen …«

»Ich fürchte, dass sich das nicht mehr verhindern lassen wird. Ich muss auch sie kontaktieren.«

Reiter holte tief Luft, dann nickte sie.

»Haben Sie eigentlich mitbekommen, dass das Telefon Ihres Mannes klingelte, oder berichtete er nur, dass ein Freund ihn angerufen habe?«, fragte Emma einen Augenblick später weiter.

Reiter überlegte kurz. »Er kam die Treppe herunter und erzählte von einem Anruf. Ich kann es nicht beschwören, aber ich denke …« Sie brach ab und musterte Emma mit fragendem Blick. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Auf nichts Bestimmtes. Solche Details könnten sich als wichtig erweisen.«

»Aber warum sollte er einen Anruf vortäuschen?« Reiters Gesichtsausdruck spiegelte Sorge und Skepsis, und der Gedanke, dass ihr Mann womöglich etwas vor ihr verborgen hatte, gefiel ihr gar nicht – verständlicherweise.

»Das kann ich nicht sagen. Und ich möchte keine Vermutungen anstellen. Nur so viel: Er hat keinen Namen genannt, und Sie wissen auch nicht, was genau der Freund von Ihrem Mann wollte, das keinen Aufschub duldete?«

»Nein, aber das ist doch nicht so ungewöhnlich.«

Emma wiegte den Kopf.

Michaela Reiter runzelte die Stirn. »Vielleicht hat er den Namen auch genannt, aber ich habe ihn nicht richtig verstanden und hielt es in dem Moment für völlig unwichtig«, sagte sie schließlich. »Ich habe vor dem Fernseher gesessen – mein Mann ist nach einer kurzen Erklärung noch mal aufgebrochen. Die Situation war so alltäglich, dass ich nur mit halbem Ohr zugehört habe.«

Wahrscheinlich hat er früher häufig genau mit diesem Argument abends noch mal das Haus verlassen – um für Kosner aktiv zu werden, überlegte Emma.

»Können Sie nicht herausfinden, mit wem Paul gesprochen hat oder sein Handy orten lassen?«

»Eine Nachfrage beim Provider ist nur bei polizeilichen Ermittlungen und mit Beschluss möglich«, erwiderte Emma. »Und für eine Ortung muss es aktiv sein. Falls sich konkret bestätigt, dass sein Verschwinden mit einem kriminellen Geschehen zusammenhängt, können wir feststellen, wann es wo zum letzten Mal eingeloggt war.«

»Ich verstehe.« Reiter atmete tief durch und sah kurz zu Boden. Dann blickte sie wieder auf. »Wissen Sie, wir dachten, es wäre alles vorbei …« Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, Sie erreichen etwas.«

»Ich gebe mir Mühe. Sagen Sie, Frau Reiter, hat Ihr Mann je den Verdacht geäußert, dass es in Ihrem Haus Spyware geben könnte?«

»Sie meinen – versteckte Kameras und Mikrofone?«

»Genau.«

Sie nickte nachdenklich. »Er hat mehrfach alle Räume gründlich durchsucht und dabei auch so ein Messgerät benutzt. Ob er je etwas gefunden hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht beunruhigen wollte.«

Emma sah sich wenig später gründlich in Reiters Werkstatt im Keller sowie in der Garage um und inspizierte den Garten. Michaela Reiter verzog kaum eine Miene, als sie die Telefonliste vom Festnetz und ihrem Handy speicherte und die Kontaktdaten der Tochter aufnahm. Als Emma sich verabschiedete, hielt Reiter plötzlich inne. »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber der Wagen meines Mannes lief bereits auf Reserve – er hatte gestern auf dem Heimweg noch tanken wollen, es dann aber vergessen.«

»Das heißt, es könnte sich lohnen, Tankstellen in der Umgebung abzuklappern. Guter Hinweis. Ich kümmere mich sofort darum. Schicken Sie mir ein aktuelles Foto von Ihrem Mann aufs Handy?«

Das Bild traf ein, als Emma gerade aufgebrochen war. Es zeigte das entspannte Gesicht eines Fünfzigjährigen – er lächelte freundlich in die Kamera.

2

Die vierte Tankstelle, die Emma anfuhr, befand sich direkt an der B 105. Zwei Kunden verließen gerade den Kassenraum. Ein junger Typ mit wild gelocktem Blondhaar und Bartschatten stand hinter dem Tresen und biss gerade von einem Würstchen ab, als sie eintrat. Und er hatte ganz offensichtlich nicht das Geringste gegen eine Abwechslung von der üblichen Routine einzuwenden. Emmas Erklärung, dass sie als private Ermittlerin unterwegs war und nach einem Vermissten suchte, kommentierte er zunächst mit einem schrägen Blick, dann zuckte er mit den Achseln und sah sich das Foto an.

»Gestern Abend, sagen Sie?«

Emma nickte. »Kurz nach neun oder gegen halb zehn.«

Der Blondschopf tunkte den Rest der Wurst in eine ordentliche Portion Senf, steckte sie nach kurzem prüfenden Blick in den Mund und nickte dann. »Ja, der hat vollgetankt und bar bezahlt.« Seine Stimme klang etwas undeutlich.

»War er schon häufiger hier?«

»Kann ich nicht sagen.«

»Ist Ihnen irgendwas an ihm aufgefallen?«

Kurzes Überlegen. »Er hat noch Kaffee und was zu essen mitgenommen und ein ziemlich üppiges Trinkgeld gegeben. Das ist eher ungewöhnlich an einer Tanke, wenn Sie verstehen.« Er nickte. »Vielleicht kann ich mich deshalb an ihn erinnern. Würde mich freuen, wenn Sie ihn fänden – der darf gerne häufiger hier tanken.«

Emma lächelte kurz. »Hatte er es eilig?«

»Nicht eiliger als andere. Aber getrödelt hat er nicht.«

»Gibt es hier eine Videoüberwachung?«

»Klar.«

»Meinen Sie, ich könnte mal einen Blick werfen?«

Der Blondschopf zögerte. »Geht es wirklich nur um einen Vermissten? Oder hat der Typ was ausgefressen?«

»Nein«, entgegnete Emma rasch. Abgesehen davon, dass er zwei Menschen erschossen und noch so einiges auf dem Kerbholz hat, was wohl nie vollständig ans Licht kommen wird, dachte sie, hielt es allerdings für keine gute Idee, an der Stelle ins Detail zu gehen. »Seine Frau macht sich Sorgen, das ist alles. Die beiden haben einiges hinter sich, und er ist nicht erreichbar. Darum hat sie mich beauftragt, nach ihm zu suchen.«

»Und warum kümmert sich nicht die Polizei darum?«

»Bislang gibt es keinerlei Hinweise auf eine Straftat«, entgegnete Emma. »Außerdem ist noch nicht genug Zeit vergangen, und die Behörden werden so früh nicht aktiv, sofern es nicht um Kinder und Jugendliche geht.«

»Und dann beauftragt die Frau sofort eine Privatdetektivin? Hat sie zu viel Geld?«

»Wir kennen uns – und meine Nachforschungen sind im Moment der einfachste Weg, nach ihm zu suchen.«

»Na schön – kommen Sie.«

Emma sah sich kurz darauf an einem winzigen Schreibtisch, auf dem eine bemerkenswerte Ordnung herrschte, die Aufnahmen der Videoüberwachung an, während der Blondgelockte seinen Platz hinter der Kasse wieder einnahm, als die Ladenglocke bimmelte. Paul Reiter war zwanzig Minuten nach neun an die Zapfsäule gefahren und hatte wenig später bezahlt. Die Qualität der Aufnahmen reichte aus, um ihn eindeutig zu identifizieren, war aber nicht so gut, dass sein Gesichtsausdruck gedeutet werden konnte. Reiter hatte zusätzlich einen Becher Kaffee sowie ein Salamibrötchen und ein großes Stück Kuchen gekauft.

Blondlocke trat wieder ins Büro. »Und? Können Sie damit was anfangen?«

»Vielleicht.«

»Na, jetzt bin ich aber gespannt.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie auffordernd an.

»Nun, ich schätze mal, dass der Mann davon ausging, etwas länger unterwegs zu sein.«

»Ach? Wieso?«

»Warum sollte er sich sonst für einen Kurztrip mit so viel Proviant versorgen?«

»Weil er weiß, dass unser Angebot phänomenal gut ist und er richtig Kohldampf hatte?« Blondlocke grinste.

Emma lächelte. »Das ist natürlich auch eine Möglichkeit.« Sie überlegte einen Moment. »Wenn Sie noch mal genauer über die Situation nachdenken: Ist vielleicht doch irgendwas an seinem Verhalten ungewöhnlich oder auffällig gewesen?«

»Nein.« Blondschopf schüttelte energisch seine Locken. »Aber hätte ich gewusst, dass Sie es am nächsten Tag so genau wissen wollen, hätte ich natürlich viel genauer auf den Mann geachtet und ihm diverse Fragen gestellt.« Er lächelte.

Emma bedankte sich, kaufte einen Energydrink und spendierte ein ordentliches Trinkgeld, bevor sie sich wieder hinters Steuer setzte und den Rückweg nach Wismar einschlug. Es dürfte wenig bringen, ohne zusätzliche Informationen weiter durch die Gegend zu fahren und auf gut Glück nach Anhaltspunkten zu suchen. Die Schlussfolgerung, dass Reiter eine längere Tour geplant hatte, war durchaus realistisch, und damit mehrten sich die Hinweise, dass sein Aufbruch nichts mit einem Freundschaftsdienst zu tun hatte. Sie diktierte eine Kurzmitteilung und schickte Padorn und Tambach ein Update. Der Kollege meldete sich zehn Minuten später mit dem Hinweis, dass er einen Beamten aus der Verkehrsüberwachung bitten würde, Aufnahmen aus dem fraglichen Zeitraum zu prüfen – ausgehend von der Tankstelle, die in der Nähe der B 105 lag, die Richtung Nordosten führte sowie im Bereich der Autobahnen A 19 und 20.

»Das kannst du einfach so veranlassen?« Emma war verblüfft.

»Das nicht. Ich habe kurz mit der Staatsanwältin gesprochen. Sie hat nicht lange gezögert, ihr Einverständnis zu geben, dass wir deine Nachforschungen unterstützen – unterhalb jeden Radars.«

»Womit habe ich das verdient?«

»Steiner hält sich nicht lange damit auf, dir etwas nachzutragen«, entgegnete Tambach. »Auch wenn dein letzter Alleingang ziemlich riskant war und du verdammt viel Glück hattest, nicht selbst vor Gericht zu landen – oder zumindest suspendiert zu werden. Und das wäre natürlich auch auf die Rostocker zurückgefallen, wie ich kaum zu betonen brauche.«

Emma seufzte leise, sagte aber nichts. Der Kollege hatte recht. Ihr eigenmächtiges Handeln war manchmal grenzwertig.

»Darüber hinaus ist die Soko ja auch noch tätig«, fuhr Tambach fort. »Und dass Reiters Verschwinden mit den Kosner-Fällen zu tun haben könnte, liegt auf der Hand. Trotz des Freispruchs zweifelt niemand daran, dass er einen Doppelmord begangen hat. Also – der Austausch mit der Verkehrsüberwachung kann nicht schaden.«

»Ihr Pragmatismus ist eine große Hilfe.«

»Werde ich ihr ausrichten. Und sonst? Ist dir noch was aufgefallen?«, fragte Tambach dann.

»Die Tochter«, erwiderte Emma spontan. »Sie ist zurzeit in Norwegen. Das lässt mich stutzen.«

»Du denkst an Perlmann?«

»Nicht so abwegig, oder? Aber bevor wir anfangen, zu spekulieren, werde ich Reiters Tochter kontaktieren und Padorn auf die Schnelle um ein paar Infos zu ihr bitten.«

»Gut. Bis dann.«

Die Wohnung lag im Dunkeln, als Emma zu Hause eintraf. Christoph war noch unterwegs. Seit Michaela Reiters Besuch am Morgen waren viele Stunden vergangen. Der Aufbruch ins neue Jahr hatte einen schalen Beigeschmack bekommen – die alten Geschichten klebten an ihm, und das war kein gutes Gefühl. Emma aß eine Kleinigkeit, überflog Padorns Mitteilung mit den ersten Hinweisen zu Reiters Tochter und versuchte, die junge Frau zu erreichen. Agnes war fünfundzwanzig Jahre alt, sie hatte Biowissenschaften in Rostock studiert und ein Jahr die Universität der Umwelt- und Biowissenschaften in Ås, Viken, in der Nähe von Oslo besucht. An ihr Handy ging sie nicht. Emma hinterließ eine knappe Nachricht und bat um Rückruf.

In den sozialen Netzwerken fand sich wenig zu Agnes, das hatte Padorn bereits festgestellt. Die Angaben waren veraltet und enthielten keine Hinweise auf ihren aktuellen Aufenthaltsort. Das war wenig verwunderlich – Reiter hatte seine Tochter sicher dazu angehalten, keine Spuren zu hinterlassen, nachdem Kosner auch seine Familie bedroht hatte. Andererseits war es Padorn gelungen, innerhalb weniger Minuten Einzelheiten zu ihrer Ausbildung zusammenzutragen. Als enthusiastischer Recherchefachmann mit zig Kontakten und phantasievollen Ansätzen war er selbstredend ein großes Talent – wo andere lange im Ungewissen stocherten, entwickelte er immer wieder kluge Ideen. Dennoch blieb festzuhalten, dass es keine besondere Herausforderung darstellen dürfte, mehr zu Agnes zu erfahren und die entsprechenden Schlussfolgerungen zu ziehen.

Emma wollte gerade Padorn zurückrufen, als eine unbekannte Nummer auf dem Display aufleuchtete. Sie stellte die Verbindung her und meldete sich mit einem schlichten: »Ja? Mit wem spreche ich?«

»Haben Sie bei mir angerufen?« Die Stimme klang jung und angespannt.

»Frau Reiter? Ich nehme an, dass Sie Agnes sind – die Tochter von Paul Reiter«, stellte Emma fest. »Ihre Stiefmutter hat mir Ihre Nummer gegeben. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Michaela hat Ihnen meine Handynummer gegeben?« Das klang verblüfft.

»Sie macht sich Sorgen. Ihr Vater ist seit gestern Abend nicht erreichbar, und sie hat mich beauftragt, nach ihm zu suchen.«

Schweigen.

»Ich nehme an, dass Sie über die Ereignisse der letzten Monate Bescheid wissen«, fuhr Emma fort. »In Anbetracht der …«

»Ich will damit nichts zu tun haben!«, warf Agnes in energischem Tonfall ein. »Ich weiß, dass mein Vater sich mit den falschen Leuten eingelassen hat.«

Das ist eine zugleich sehr oberflächliche und doch zutreffende Beschreibung, dachte Emma.

»Und Michaela sollte das auch begriffen haben und nicht so eine Welle machen«, fuhr Agnes fort, und das klang barsch. »Wenn er nicht erreichbar ist, dann wird er wohl seine Gründe haben. Die hat er doch immer. Einzelheiten dazu interessieren mich nicht.«

Emma runzelte die Stirn. Immerhin verwendete Agnes vorsichtigerweise ein anderes Handy für den Rückruf – Stichwort: eine Welle machen.

»Sie vermuten, dass er …«

»Ich denke, dass er genau weiß, was er tut!«

Emma war von Agnes Reaktion durchaus überrascht. »Darf ich Sie dennoch fragen, wann Sie Ihren Vater zuletzt gesprochen haben?«, fragte sie schließlich.

»Keine Ahnung … Weihnachten, denke ich. Dann kam noch eine Nachricht mit Neujahrsgrüßen.«

»Sie waren über die Feiertage nicht in Rostock?«

»Nein. Ich bin seit über zwei Monaten in Norwegen, nehme an einer Fortbildung an der Uni teil und werde wohl noch einige Zeit bleiben. Es gefällt mir. Die Menschen hier gefallen mir. Sie sind so … ja: unaufgeregt und gelassen.«

Sie macht sich überhaupt keine Sorgen und wirkt eher genervt, dachte Emma, und vielleicht lag sie richtig damit. Oder sie wollte sich keine Sorgen machen, und die Entscheidung, ein anderes Handy zu benutzen, war aus reiner Gewohnheit gefallen. Eine Routine, über die sie nicht mehr lange nachdachte.

»Jedenfalls habe ich nicht die geringste Ahnung, wo sich mein Vater aufhält«, fügte Agnes hinzu. »Wie gesagt – er wird seine Gründe haben. Und Michaela sollte das auch wissen, statt gleich die großen Geschütze aufzufahren und eine Privatdetektivin zu engagieren …« Sie brach ab. »Entschuldigen Sie bitte – Sie machen ja auch nur Ihren Job.«

»Ja, das tue ich. Eine Frage noch. Sagt Ihnen der Name Karen Perlmann etwas?«

»Nein. Wer soll das sein?«

»Eine junge Rechtsmedizinerin aus Rostock, die im letzten Jahr spurlos verschwand.«

»Noch nie gehört. Was hat mein Vater damit … Vergessen Sie die Frage. Ich will es gar nicht wissen.«

»Alles klar. Dann danke ich Ihnen für Ihren Rückruf.« Emma verabschiedete sich und legte das Handy beiseite.

Michaela Reiter hatte berichtet, sie habe Agnes nicht unnötig beunruhigen wollen und darum mit ihr noch gar über das Verschwinden von Paul gesprochen. Doch Agnes hatte nicht einmal ansatzweise beunruhigt gewirkt. Sie hatte offenbar die Nase voll von einem Vater, der sich viele Jahre mit zwielichtigen Gestalten abgegeben hatte und womöglich nicht zur Ruhe kam. An Einzelheiten war sie nicht interessiert, und der Abstand zu ihrer Familie war gewollt – und bei näherer Betrachtung durchaus nachvollziehbar. Als Paul Reiter von der bedrohlichen Situation berichtet hatte, in der er voller Verzweiflung um das Leben seiner Tochter gebangt hatte, war bei Emma allerdings ein gänzlich anderer Eindruck entstanden. Andererseits lag die von ihm beschriebene Situation etliche Jahre zurück, hielt sie sich vor Augen. Inzwischen hatte Agnes sich längst ihre eigene Meinung gebildet und führte ein selbstständiges Leben – unabhängig von der Familie.

Reiters erste Frau war jung gestorben, überlegte Emma weiter, seine Eltern lebten in einem Seniorenheim, weitere Angehörige gab es nicht mehr, wie Michaela noch erwähnt hatte. Emma beschloss, die Eindrücke des Telefonats sacken zu lassen und Feierabend zu machen. Vorher bat sie Padorn, noch etwas in die Tiefe zu gehen, was Reiters Tochter anging.

Christoph kam erst nach Hause, als sie gerade ins Bett ging. Er sah abgekämpft aus und streckte sich seufzend neben ihr aus. »Dieser Reiter gibt tatsächlich keine Ruhe, was?«, murmelte er und zog sie in seine Arme.

»Kann man so sagen.« Emma lächelte. »Ich bin erstaunt – kein spätes Abendessen?«

»Hatte ich schon. Ich muss früh raus. Termin in Schwerin.« Er gähnte herzhaft und war Sekunden später eingeschlafen.

Hauptkommissar Moritz Tambach saß im Wagen und war auf dem Nachhauseweg, als der Kollege aus der Verkehrstechnik anrief.

»Wir haben einen Treffer. Reiter war am späten Abend stadtauswärts unterwegs – eine Kamera an der Auffahrt zur A 19 hat ihn erfasst. Er ist aber nicht auf die Autobahn gefahren, sondern auf der 105 geblieben. Hilft dir das weiter?«

»Klar. Danke.« Tambach verabschiedete sich.

Der Hinweis passte zu Reiters Besuch an der Tankstelle, überlegte er. Offenbar war er Richtung Nordosten unterwegs gewesen, und wie es aussah, hatte er eine längere Fahrt geplant, sofern er nicht zu den Leuten gehörten, die sich zu jeder Tageszeit einen Imbiss an der Tanke gönnten.

Tambach gähnte – er war nach einem langen Dienst bis in die späten Abendstunden hundemüde. Reiters Verschwinden, genauer gesagt, die Umstände seiner möglichen Entführung, berührten ihn höchstens am Rande, wenn er ehrlich war. Der Typ hatte ein falsches, gefährliches und mörderisches Spiel getrieben, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen und andere bluten zu lassen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und er war höchst erfolgreich mit einer fast perfekt durchdachten Strategie gewesen, was im Übrigen seine Rolle als Mitstreiter von Oliver Kosner durchaus anders beleuchtete, als er sie in seiner eigenen Darstellung ausgeführt hatte. Tambach war davon überzeugt, dass er Emma gegenüber einiges heruntergespielt haben dürfte, und er selbst hatte Reiter den besorgten Familienvater, der Kosners Weg endgültig verlassen wollte, nie so richtig abgenommen. Tambach war sich allerdings auch bewusst, dass Emma das Ganze differenzierter betrachtete – und wahrscheinlich hatte sie recht, und zwar unabhängig davon, dass sie einen Suchauftrag angenommen hatte und die Ängste der Ehefrau ernst nahm.

Darüber hinaus ging es womöglich nicht nur um Rache an einem Verräter. Ein ganzer Katalog von ermittlungsrelevanten Fragen zu den Fällen und eventuellen Hinterleuten war bisher nicht geklärt. Hinzu kam, dass Reiter sich unbestritten für Karen Perlmann eingesetzt und damit einen Mord verhindert hatte. Das war ihm hoch anzurechnen, wie Tambach zugeben musste, auch wenn, rein objektiv betrachtet, der allerletzte Beweis für sein Eingreifen fehlte. Dennoch – es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, dass Reiter gezwungen werden könnte, Perlmanns Aufenthaltsort preiszugeben, und somit war die Gefahr, in der die Ärztin nun erneut schweben könnte, nicht von der Hand zu weisen. Sie war und blieb eine wichtige Zeugin, deren Nachforschungen dazu beigetragen hatten, dass sich der Verdacht gegen Kosner erhärtete. Falls das eine tatsächlich mit dem anderen zusammenhing, wandte Tambach in Gedanken ein. Immerhin war nicht vollständig auszuschließen, dass es einen bislang unbekannten Hintergrund gab, und er machte sich unnötige Sorgen.