Todesrauscher - Uli Aechtner - E-Book

Todesrauscher E-Book

Uli Aechtner

4,4

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Hauptkommissar Christian Bär steht vor einem Rätsel. In einer Apfelweinkelterei ist ein Arbeiter im Most ertrunken. Warum kroch der Mann kurz vor dem Abfüllen in den Tank - und wer hat hinter ihm die Luke verschlossen? In die polizeilichen Ermittlungen pfuscht immer wieder Repor terin Roberta Hennig hinein. Bär weiß nicht, ob er sie lieben oder umbringen soll. Noch bevor er das herausfinden kann, geschieht der nächste Mord . . .

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Seitenzahl: 382

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Uli Aechtner studierte Germanistik, Philosophie und Kunstwissenschaft in Bonn. Als Journalistin arbeitete sie für das Französische Fernsehen TF1, für den Südwestrundfunk und für das ZDF. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt sie als freie Autorin in der Wetterau.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-966-0 Originalausgabe

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Wer nix uff’s Stöffche hält, der daut aam laad!

Nix so uff dare Welt mecht aam so Fraad.

Friedrich Stoltze (1816–1891),

Prolog

Du bist abgetaucht ins dunkle Nichts, ein kalter Mantel schließt dich ein. Ein Uterus aus Stahl.

Szenen aus einem oft gesehenen Film werden lebendig: »Fluten, verdammt. Fluten!«

Die stählerne Haut beginnt leise zu knattern, ächzt verzweifelt. Nähte bersten, Nieten springen krachend ab. Ein zischendes Geräusch. Feine Tropfen spritzen in dein Gesicht, dann kleine Fontänen.

»Anblasen! Alles, was drin ist! Verdammt, verdammt. Alarm!«

Das Nass ist schneller als du, es trifft dich mit aller Wucht. Drückt dich nieder. Süße Schwere umspült dich, dringt in dich ein und nimmt dir den Atem. Du hustest, spuckst, schnappst nach Leben. Strampelst dich an die Oberfläche. Doch über dir ist kaum noch Raum. Nur ein schmaler Streifen Luft. In Panik rudern deine Arme durch das klebrige Nass, versuchen deine Fäuste, gegen den eisernen Kokon zu hämmern. Vergebens.

Jetzt hörst du Sirenen schrillen, obwohl es ganz still um dich ist. Du willst auf dem Rücken treiben, dich tragen lassen vom fruchtig-schweren Element.

Doch die Panik reißt dich wieder hoch, du stehst senkrecht im Nass, holst Luft, tauchst ab und hältst den Atem an. Viele Male spielst du dieses Spiel, trittst unter dich und schlägst um dich. Wirst müde. Hustest. Verschluckst dich. Du spürst ein Feuer in deiner Brust, als der Saft in deine Lunge eindringt. Ein jaulender Atemzug noch, und dein Durst ist für immer gestillt. Dann sinkt dein Leichnam ins feuchte Element. Dich gibt es nicht mehr. Nur dein beschuhter Fuß treibt noch ab und an gegen die stählerne Haut und meldet klopfend deinen Verbleib.

EINS

Herman Rabe liebte die Tanks. Still und behäbig lagen die Riesen nebeneinander im Keller, wo sie den ganzen Raum ausfüllten. Wie drei helle gestrandete Wale. Elegant und futuristisch sahen sie aus, obwohl sie über ein halbes Jahrhundert alt waren. Es waren U-Boot-Druckkörper aus dem Zweiten Weltkrieg, zweckentfremdet für höchst friedliche Zwecke. Seit vielen Jahren kam der Süße hinein, der frisch gepresste Saft, aus dem später der Apfelwein werden sollte.

Liebevoll tätschelte Rabe das rechte Monstrum, bevor er sein Ohr an die Wandung legte. Arbeiter hatten in den vergangenen Tagen immer wieder Geräusche gemeldet, die aus dem Tank zu kommen schienen. Ein unregelmäßiges Klopfen. Als würde im Inneren jemand gegen den Stahl treten.

»Der Geist des U-Boot-Kapitäns«, hatte Rabe anfangs geunkt. »Er findet selbst im Most keine Ruhe.«

Ein kleiner Scherz, nichts weiter. Die Druckkörper waren nie im Einsatz gewesen, die Firma hatte sie quasi jungfräulich erstanden. Und an Geister glaubte Herman Rabe schon gar nicht. Doch je öfter ihm seine Arbeiter von den seltsamen Morsezeichen berichtet hatten, desto unruhiger war er geworden. Jetzt war er fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Gelegenheit war günstig. Der Saft hatte sich nun in Wein verwandelt, und das meiste war schon abgefüllt. Nur noch hüfthoch stand der Rest in dem riesigen Tank.

Rabe öffnete die seitliche Luke. Dazu musste er ein großes Kreuz aufdrehen und die Tür nach innen schieben. Sofort stieg ihm der fruchtig-säuerliche Geruch des Apfelweins in die Nase, und er atmete instinktiv flacher. Andächtig lauschte er in den dunklen Bauch des Tanks. Ein leises Gluckern war zu hören, letzte feine Bläschen stiegen hier und da knisternd an die Oberfläche. Und dann vernahm auch er es. Ein dumpfes Klopfen, als würde im Inneren des Tanks etwas gegen die Wand treiben.

Rabe reckte seine Lampe in die Luke und sah in den Tankkörper. Ein ovaler See breitete sich vor ihm aus. Still und undurchdringlich lag er da. Nur dort, wo der Lichtschein entlangglitt, leuchtete er wie pures Gold.

Doch halt, was war das?

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, der Atem stockte ihm, und für einen Moment wurde ihm flau. Direkt unter der Luke, ganz dicht vor ihm und zum Greifen nah, waberte ein Gesicht knapp unter der Oberfläche.

»Tu mir das nicht an, Kapitän«, flüsterte Rabe erstickt.

Er klammerte sich an der Luke fest und schloss für einen Moment die Augen, doch es half nichts. Als er sie wieder öffnete, war das Spukgespenst noch immer da. Der Geist des Kapitäns starrte ihn ausdrucklos an, während sein schimmerndes Haar sich im Apfelwein ausbreitete und ihm eine Art Heiligenschein verlieh.

Rabe brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er es nicht mit irgendeinem Ahab, sondern mit seinem Gesellen Clemens Winkler zu tun hatte.

Er war tot, ertrunken im Most.

***

Hauptkommissar Christian Bär fühlte sich wie zerschlagen. Er hatte den gestrigen Abend damit verbracht, auf seine Nichte Amelie aufzupassen, damit seine große Schwester mal ausgehen konnte. Lara war zwei Jahre älter als er und leitete ein Nagelstudio. Ihre Tochter Amelie zog sie allein groß. Amelies Vater war ihre große Liebe gewesen, nur hatte die Geschichte nicht lange gehalten. Bär sah die Ursachen darin, dass Lara ein wenig störrisch war und Amelies Vater bereits anderweitig vergeben. Er war mit einer Xanthippe verehelicht, was wiederum der Grund dafür sein mochte, dass er bei Lara Zuflucht gesucht hatte. Kurzfristig jedenfalls.

Amelie war inzwischen fünf und ein anstrengender kleiner Racker. Stundenlang hatte sie Bär auf Trapp gehalten. Um sie wenigstens ein bisschen auszupowern, hatte er sich eine Kissenschlacht mit ihr geliefert. Und nachdem es ihm endlich gelungen war, Amelie in ihr Bett zu verfrachten, hatte er wie bewusstlos auf dem Sofa gelegen und in den Flur gehorcht, jeden Moment befürchtend, dass sie wieder aus ihrem Zimmer herauskommen könnte, um ihn erneut zum Spielen und Toben zu animieren.

Als er Laras Schlüssel im Schloss gehört und wenig später ihre vom Teppich gedämpften Schritte vernommen hatte, war eine Welle der Erleichterung durch ihn hindurchgeschwappt. Dankbar hatte er vom Sofa aus zu ihr heraufgeblinzelt, dann war ihm seine Freude jäh vergällt worden. Er hatte kaum fassen können, wen sie da mitgebracht hatte: Katja, seine Verflossene. Die beiden Frauen kannten sich aus Laras Nagelstudio. Giggelnd hatten sie vor dem Sofa gestanden, auf das er sich hingehauen hatte, um ein wenig Ruhe zu finden, seine Lederjacke als zu kurze Decke nutzend. Hatten Witze gerissen und auf ihn herabgelächelt.

Er hatte geglaubt, über Katja hinweg zu sein. Sie hatte ihn heiraten wollen, ein Kind mit ihm haben, eine schicke Wohnung. In dieser Reihenfolge. Das ganze Programm. Ihm war das alles zu plötzlich gekommen. Er war gerade mal dreißig und bei der Kripo. Hatte kein Einkommen, das für große Sprünge reichte, dafür aber regelmäßig Schichtdienst. Eine schicke Wohnung passte genauso wenig zu ihm wie ein Kind.

Er mochte Kinder, so war das nicht. Aber er wusste auch, wie viel Verantwortung es bedeutete, für den Nachwuchs zu sorgen. Nachts aufstehen, um das weinende Baby zu beruhigen. Im Kindergarten für den Elternbeirat kandidieren. Mit den Lehrern herumdiskutieren. Und den ersten Freund ertragen. Aushalten, wie ein fremder junger Mann die eigene Tochter vor der Haustür unter der Laterne abknutscht. Nein, das alles hatte noch Zeit, konnte später kommen. Vorerst reichte es ihm völlig, ab und zu bei seiner Nichte als Babysitter einzuspringen.

Vor einem halben Jahr hatten sie sich dann getrennt. Katjas ewiges Genörgel war ihm auf den Geist gegangen. Glaubte sie etwa tatsächlich, dass er sich ändern würde, nur weil sie ihn einen bindungsscheuen Chauvi schimpfte? Sie hatte einfach nicht verstehen wollen, dass er sein Leben mochte, wie es war. Vorerst.

Aus, Schluss und vorbei. Katja war Schnee von gestern. Aber hatte seine Schwester sie ihm so unbedingt vors Sofa stellen müssen? Seine Eingeweide hatten sich zusammengezogen, als ihm der eine oder andere nette Abend mit Katja wieder eingefallen war. Und wie gut sie ausgesehen hatte. Blond wie Goldtaler und schlank wie ein Reh.

Zu Hause hatte er die Erinnerungen dann mit einer halben Flasche Whisky weggespült. Und bis gegen drei Uhr in der Nacht am PC gedaddelt. GTA5, nicht gerade politisch korrekt, aber die perfekte Triebabfuhr. Mit seinem virtuellen Schlitten war er durch die virtuellen Straßen gekurvt und hatte ein paar virtuelle Blondinen umgenietet. Einfach so. Eine kranke Phantasie, schon klar. Doch schließlich musste niemand davon erfahren. Immerhin war er danach müde genug gewesen, um in den Schlaf zu fallen.

Nun stand er verkatert in dieser Apfelweinkelterei, und vor ihm auf dem Boden lag ein toter Mann. Die Arbeiter hatten ihn aus einem riesigen Tank gefischt, in dem sich nicht mehr allzu viel Apfelwein befand. Schweigend und verstört umringten sie den Toten, einige waren ein paar Schritte zurückgewichen. Die Leiche verströmte einen schweren, süß-säuerlichen Geruch, Fruchtfliegen umschwirrten sie.

»Kann mir jemand sagen, wer der Tote ist?«, wandte sich Bär an die Umstehenden. Immerhin waren die Gesichtszüge des Ertrunkenen noch ziemlich gut zu erkennen. Während er auf die Antwort wartete, schob er sich einen Streifen Zahnpflege-Kaugummi in den Mund. Das übertönte den Duft der Leiche zwar nicht, verschaffte ihm aber wenigstens einen etwas frischeren Geschmack.

»Sicher, das ist Clemens Winkler«, meldete sich jemand zu Wort. »Vor vierzehn Tagen hat er seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Hat allen Kollegen einen ausgegeben. Ein netter Kerl. Ich mochte ihn sehr gern.«

»Aha. Und wer sind Sie?«

»Ich bin Martin Ott. Ich mache hier sauber.«

Bär betrachtete den Mittvierziger mit den Geheimratsecken genauer. Sein Blick glitt über Otts Plastikoverall bis hinunter zu dessen hohen Stiefeln. Offensichtlich stand man hier beim Saubermachen viel im Nassen. »Wie lange, denken Sie, lag er schon im Apfelwein?«

»Befüllt haben wir den Tank vor zehn Tagen.« Der Kellermeister, der ihn an der Tür in Empfang genommen hatte, reichte Bär unaufgefordert seine Visitenkarte. Herman Rabe, las er und versuchte, sich den Namen einzuprägen.

»Das stimmt«, pflichtete Ott seinem Chef bei. Die anderen Arbeiter nickten stumm.

»Wir lagern in diesen Tanks auch schon mal CO2«, erklärte Rabe nüchtern. »Das gewinnen wir beim Gärprozess selbst und setzen es dem Apfelwein später zu, damit er etwas spritziger wird. Die Tanks eignen sich hervorragend zur Lagerung, weil sie aus kräftigem Stahl bestehen und viel Druck aushalten. Gelegentlich bewahren wir auch Apfelsaftkonzentrat darin auf, das bleibt dann bis zu zwei Jahre in dem Tank liegen. Dass wir ihn diesmal für die Gärung hergenommen haben, kam daher, dass wir dieses Jahr so viele Äpfel von Privatkunden geliefert bekamen. Und nun müssen wir alles wegschütten, nur weil…« Er sprach den Satz nicht zu Ende.

»Privatkunden?« Bär betrachtete nun wieder die Leiche. Fünfunddreißig Jahre passte. Etwa ein Meter achtzig. Gut genährt.

»Uns werden viele Äpfel angeliefert von Leuten, die Plantagen oder Streuobstwiesen besitzen. Die verarbeiten wir dann für die Kunden zu Apfelwein.«

»Was sind das überhaupt für Behälter?« Eine üppige junge Frau mit rotbraunen Haaren drängte sich zwischen den Arbeitern hindurch, sie musste schon eine Weile im Hintergrund gestanden und zugehört haben. Rasch ging sie auf den Tank zu und schlug, ein helles Echo erzeugend, mit der flachen Hand gegen den riesigen Stahlkörper. »Roberta Hennig, freie Journalistin bei der ›Neuen Presse‹«, stellte sie sich vor.

»Wie kommen Sie denn hier herein?« Bär konnte den ärgerlichen Unterton in seiner Stimme kaum unterdrücken. Nervös warf er einen raschen Blick auf seine Uhr. Wo blieb überhaupt der Arzt? Das K11 war unterbesetzt, ein grippaler Infekt hatte die Mannschaft dezimiert, und es kam ihm so vor, als müsste er die Arbeit mit seinem Chef Becker allein erledigen. Aber wenigstens den Erkennungsdienst brauchte er vor Ort, der sollte längst hier sein. Wahrscheinlich steckten die Kollegen noch im Feierabendverkehr fest.

»Frau Hennig begleitet ausländische Gäste durch unser Haus«, erklärte Herman Rabe. Er räusperte sich kurz, bevor er sich freundlich der jungen Frau zuwandte. »Diese Tanks sollten eigentlich einmal U-Boote werden. Genau genommen sind es die Druckkörper für die U-Boote. Unser Senior-Chef hatte sie nach dem Krieg im Frankfurter Westhafen entdeckt und der USArmy abgekauft. Natürlich haben wir sie für unsere Zwecke ein wenig umgebaut.«

»Aha. Daher befindet sich kein Einstieg obendrauf, stattdessen ist er hier unten.« Die Füllige ging in die Hocke und versuchte, durch die niedrige kleine Luke in den Tank zu spähen.

»Jeder dieser Tanks ist über zwanzig Meter lang und sechs Meter hoch. Und jeder kann vierhundertachtzehntausend Liter aufnehmen«, gab Rabe höflich weitere Auskünfte. »Hitler hat diese Druckkörper für die Riesen-U-Boote Typ XXI noch kurz vor Kriegsende bauen lassen. Es sollten Vernichtungswaffen werden. Aber wir haben sie für die Apfelweinproduktion hergenommen.«

»Diese Tanks sind bestimmt sehr stabil?«

»Die Wandung besteht aus Krupp-Wehrmachtsstahl, der hält immer noch was aus. Innen ist natürlich alles sauber ausgekleidet.«

»Wie lange hat der Tote Ihrer Meinung nach in dem Tank gelegen?« Nun kaute die Rotbraune an ihrem Bleistift, bereit, die Antwort auf ihren Block zu kritzeln.

»Wie es aussieht, lag er eine ganze Weile darin«, entgegnete Bär knapp. Es ging sie nichts an. Außerdem musste er hier weiterkommen.

»Heute ist der zehnte Tag. Wir haben letzte Woche Montag Apfelsaft eingefüllt. Innerhalb von acht bis zehn Tagen spaltet die Hefe den Fruchtzucker der Äpfel in Alkohol und Kohlendioxid auf«, erklärte Rabe jedoch geduldig. »In dieser Zeit verwandelt sich der Saft in Apfelwein, und solange bleibt er im Tank. Clemens Winkler muss unmittelbar vor der Befüllung in den Tank…« Er stockte.

»Ja, haben Sie Ihren Mitarbeiter denn nicht vermisst?«, fragte Bär verwundert.

Der Kellermeister schüttelte den Kopf. »In ganz Frankfurt scheint in diesem Herbst eine ekelhafte Grippe zu grassieren, ihn hatte es auch erwischt. Er hatte sich an dem Morgen bei mir abgemeldet, um zum Arzt zu gehen. Ob sein Krankenschein oben im Büro abgegeben wurde, kontrollieren wir hier unten aber nicht.«

Die Reporterin machte sich mit verständigem Nicken Notizen.

Bär sah sich die Frau näher an. Sie war noch keine dreißig, schien sich aber um ihr Äußeres wenig zu scheren. Sie trug kein Make-up, ihre Wangen glühten rosig. Und wenn sie konzentriert etwas aufschrieb, bildete sich eine steile Falte auf ihrer hohen Stirn. Ihr Körper wurde von einer großzügig geschnittenen Tunika verhüllt. Lediglich ihr langes rostbraunes Haar schmeichelte ihr, es schimmerte warm und verlockend und verlieh ihr etwas Weiches.

»Es wird vielleicht eine Pressekonferenz zu den Ermittlungen geben.« Bär trat unwillkürlich einen Schritt auf sie zu. »Wenn Sie mir Ihre Karte geben, lade ich Sie dazu ein. Bis dahin müssen Sie sich leider gedulden.«

Sie schien zu verstehen, dass er sie wegschicken wollte, und zögerte einen Moment, doch dann kramte sie tatsächlich eine Visitenkarte aus ihrer Umhängetasche und reichte sie ihm. »Eigentlich schreibe ich gerade einen Artikel über eine Gruppe australischer Geschäftsleute, die die Firma besichtigen, weil sie Apfelwein importieren wollen.« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich, und als Bär in die angezeigte Richtung schaute, sah er dort ein paar Leute unschlüssig im Gang stehen. Ein hoch aufgeschossener Mann, anscheinend ihr örtlicher Fremdenführer, redete beruhigend auf die Gruppe ein. Der Anblick des Toten ließ die Gaffer wohl ebenso erschaudern, wie er sie anzog.

So sind wir Menschen, dachte Bär. Voller Angst und Abscheu und gleichzeitig voller Faszination, wenn es um Todesfälle geht.

Er schüttelte den Gedanken ab.

»Sie exportieren Apfelwein bis nach Australien?«, erkundigte er sich bei Rabe, nur um etwas Neutrales zu sagen.

»Sicher, da tut sich gerade ein neuer Markt auf.« Die Antwort klang sachlich und ernst.

Bär zog ein Paar Handschuhe aus seiner Gesäßtasche und streifte sie über. Er ging neben dem Toten in die Hocke, schloss die Augenlider des Ertrunkenen und tastete nach der Halsschlagader. Der Leichnam war erstaunlich gut erhalten. In dem Tank voller Apfelsaft war er sowohl kühl gehalten worden als auch vom Sauerstoff abgeschlossen gewesen.

Ein Tag in der Erde, eine Woche im Wasser, einen Monat im Grab, rief Bär sich die alte Faustregel für die unterschiedliche Dauer der Verwesung in Erinnerung.

Lediglich die Haut des Toten sah merzerisiert aus, sie war aufgequollen und das Gesicht rötlich angelaufen.

Er erhob sich wieder und suchte Rabes Blick. »Wie lange dauert es, bis so ein Tank voll ist?«

»Etliche Stunden, deswegen fangen wir stets vor der Frühstückspause damit an.« Rabe warf einen langen Blick auf seinen toten Mitarbeiter. »Irgendwann stand ihm der Süße bis zum Hals. Bestimmt hat er versucht, an der Oberfläche zu schwimmen, während der Pegel weiter stieg. Vielleicht in der Rückenlage. ›Toter Mann‹ haben wir früher als Kinder dazu gesagt.«

Bär versuchte, sich das vorzustellen. So nach und nach hatte der ansteigende Saft den Schwimmer unter den Stahl gedrückt, und er musste in Panik geraten sein, hatte vielleicht senkrecht im Saft gestanden und nach unten getreten. Um sich geschlagen, bis ihm der Sauerstoff ausging und er das Bewusstsein langsam verlor. Am Ende hatte er Flüssigkeit eingeatmet.

»Was für eine Qual.« Rabes Seufzer ging in ein Husten über, und er brauchte einen Moment, um weitersprechen zu können. »Was muss er für eine Angst ausgestanden haben.«

»Der Mann wird doch versucht haben, sich bemerkbar zu machen, ist Ihnen nichts aufgefallen?« Bär wandte sich nun wieder an die Umstehenden. Ein leises Gemurmel ging durch die Gruppe der Arbeiter.

»Während der Produktion ist es hier ziemlich laut«, antwortete Rabe. »Außerdem war Winkler krank und sollte zu Hause im Bett liegen. Auf die Idee, dass er hier im Tank… Wir waren doch auf ein, zwei Wochen Fehlen eingestellt.«

»Aber was machte er dann hier unten am Tank? Wieso ist er überhaupt in den Keller gegangen, wenn er doch zum Arzt und nach Hause wollte?«

»Ich weiß es nicht.« Rabe hob in einer Geste der Ratlosigkeit beide Hände.

»Clemens Winkler war äußerst gewissenhaft«, schaltete sich Martin Ott ein. »Wie ich ihn kenne, hat er noch einmal den Tank kontrolliert, bevor er nach Hause ging. Er wusste ja, dass er befüllt werden sollte.«

»Aber die Abfüllzeiten waren doch sicherlich exakt festgelegt und bekannt?«

»Natürlich. Die werden immer mit allen besprochen.«

Ein Räuspern. »Kann es sein, dass ihm etwas in den Tank gefallen ist? Beim Reinschauen? Und dass er hineingestiegen ist, um es noch schnell rauszuholen?«

Bär drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Die Reporterin hatte sich von ihm nicht abweisen lassen und stand noch immer am Unfallort. Sie wies auf die Latzhose des Toten, unter der man mit etwas Phantasie ein ehemals bunt bedrucktes T-Shirt erahnen konnte. In der Brusttasche wölbte sich ein kleiner Gegenstand. Dankbar, dass er seine Handschuhe noch trug, zog Bär das Teil mit zwei Fingern hervor. Es war ein altmodisches Handy.

»Vielleicht dachte er, er schafft es rechtzeitig wieder hinaus, bevor der Saft einläuft«, meinte die Reporterin.

Bär spürte ein Kribbeln in den Fingern. Diese Zeitungsschreiberin fing an, ihn zu nerven. Sie glaubte wohl, an ihr sei eine Profilerin verloren gegangen. Gaffer waren an jedem Tatort die Pest. Und sie war noch dazu vom Typ, der schlaue Bemerkungen machte. Dass ihr Einfall gar nicht so dumm war, machte es für Bär nicht besser.

»Ein tragischer Unfall? Wäre das möglich?«, fragte er Herman Rabe. »Könnte es passieren, dass jemand die Luke verschließt, ohne zu bemerken, dass ein Mann im Tank ist?«

Der Kellermeister machte ein hilfloses Gesicht. Er wollte antworten, doch sein Mitarbeiter kam ihm zuvor.

»Wenn wir mit den Druckreinigern zugange sind, kann man hier sein eigenes Wort kaum verstehen«, gab Ott zu bedenken. »Und wenn Clemens tief in den Tank hineingelaufen war, um bestimmte Stellen zu kontrollieren…«

»…dann hat er womöglich nicht mitbekommen, dass die Luke zugemacht wurde«, schloss Rabe.

»Wer hat sie denn zugemacht?«, fragte Bär in die Runde.

Die Umstehenden tauschten fragende Blicke.

»Wir machen hier täglich unbewusst so viele Handgriffe, das ist alles Routine«, sagte jemand resigniert. »Wer von uns vor zehn Tagen welche Luke geschlossen hat… Woher sollen wir das jetzt noch wissen?«

Die füllige Reporterin fixierte Bär aus grünen Katzenaugen und schüttelte fast unmerklich den Kopf, bevor sie sich abwandte und zu den Australiern zurückging. Wollte diese Besserwisserin ihn etwa tadeln? Vor Ärger verschluckte er sein Kaugummi. Er konnte hören, wie sie mit den Besuchern diskutierte. Dann entfernte sich die Truppe, und die Stimmen verhallten in den Gängen.

»Jetzt mal im Ernst.« Bär nahm den Kellermeister vertraulich zur Seite. »Es steigt doch normalerweise niemand in diese Tanks, oder?«

»Doch.«

»Aber… was hätte er dort zu tun gehabt?«

»Mit den Jahren leidet die Emaille, mit der der Tank ausgekleidet ist, unter dem CO2, das bei der Gärung entsteht, und es können sich kleine Stellen ablösen. Das wird regelmäßig kontrolliert und repariert. Dazu kriecht jemand hinein und erledigt das. Außerdem werden die Tanks vor jedem Befüllen mit Druckreinigern gesäubert.« Er nickte bekräftigend. »Kommen Sie mal mit.«

Bär folgte ihm in den nächsten Gang. Hier standen weitere hell lackierte, röhrenförmige Tanks, nur waren sie viel kleiner als die U-Boot-Druckkörper, und ihre schmalen ovalen Luken saßen an der Stirnseite.

»Hier kriechen unsere Arbeiter hinein, um innen alles auszuspritzen. Man muss den Wasserstrahl dabei in Spiralform führen, sonst ist man hinterher klatschnass.«

»Ja, aber…« Bär rang nach Atem bei der Vorstellung, durch diese enge Öffnung in den Tank zu klettern. Drinnen musste es stockfinster sein, und man bekam mit Sicherheit kaum Luft. Mal davon abgesehen, dass diese Luke für ihn selbst viel zu schmal war. Mit seinen breiten Schultern kam er da auf keinen Fall durch.

»Herr Kommissar? Wo sind Sie?« Martin Ott bog um die Ecke und kam auf sie zugelaufen. »Ihre Kollegen sind eingetroffen.«

»Ja, danke, wir sind gleich da«, rief Rabe zurück.

ZWEI

Roberta war erstaunt, wie weit sich das Innere des Tanks vor ihr ausbreitete. Hörte er überhaupt irgendwo auf? Ihr war, als sei sie in eine unheimliche Welt eingetreten, die sie mit ihren Sinnen nicht ausloten konnte. Der Einstieg durch die enge Luke war beklemmend gewesen, sie hatte sich regelrecht hindurchzwängen müssen und Herzklopfen bekommen, als sie beinahe darin stecken geblieben wäre.

Nun ging sie Schritt für Schritt in das Ungeheuer hinein. Ein säuerlicher Fruchtgeruch schlug ihr entgegen, der Klang ihrer Absätze hallte hell durch den metallenen Körper. Je tiefer sie in den Tank eindrang, desto dunkler wurde es, und bald konnte sie kaum noch die Hand vor Augen sehen. Auch die Atmosphäre veränderte sich mit jedem Schritt, sie musste immer heftiger atmen, um überhaupt noch Luft zu bekommen. In kleinen, kräftigen Zügen hechelte sie nach Sauerstoff. Sie streckte die Hände aus, um nach den gewölbten Wänden zu tasten, aber da war nichts. Die Wände schienen geradezu vor ihr zurückzuweichen.

Dann hatte sie auf einmal die Orientierung verloren, und eine nie gekannte Angst stieg in ihr auf. Vor oder zurück? Wo war die Luke?

Ihr Puls begann zu rasen, und in ihrem Kopf breitete sich ein lähmender Schmerz aus. Fühlte sich eine CO2-Vergiftung so an? Wie lange war sie schon hier drin? Gab es noch genug Sauerstoff in dem stählernen Gehäuse?

Ich muss… hier raus, dachte sie dumpf. Ich muss…

Sie wollte losrennen, egal, in welche Richtung. Doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Ihre Muskeln verkrampften sich, und ihr Körper wand sich in Zuckungen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Ich muss… raus…

Ein überirdischer Schwindel erfasste sie und zog sie in ein gleißendes Nichts. Der Sog war stärker als ihr Wille, und sie begriff, dass sie nicht dagegen ankämpfen konnte. Eine süße Schwere lähmte und erfüllte sie gleichermaßen.

Was, wenn sie sich dem lockenden Nirwana einfach hingab? Zuließ, dass sie sich auflöste?

Ein zischendes Geräusch peitschte eine Welle Adrenalin durch ihre Adern. Die ersten Tropfen einer klebrigen Flüssigkeit spritzten in ihr Gesicht. Sie schleckte danach und schmeckte Apfelsaft.

Himmel, sie ließen den Tank volllaufen!

Und sie war noch drin.

Ihr Herz raste, der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Verzweifelt schlug sie um sich. Sie wollte schreien, brachte aber nur ein Röcheln hervor.

Dann saß sie aufrecht im Bett. Die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch zeigte drei Uhr zehn an, und sie war ganz allein in ihrer Dachstube. Nur der Mond schaute durchs Fenster, voll und rund, und schien milde zu lächeln.

Roberta hörte sich selbst schnaufen. Als ihr Atem sich endlich beruhigt hatte, schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Benommen tappte sie zur Küchenzeile hinüber und goss sich mit zitternden Händen einen Pulverkaffee auf.

Schon die ersten Schlucke des Gebräus taten ihr gut, und mit den langsam erwachenden Lebensgeistern kam auch ihre Tatkraft zurück. Noch im Schlafanzug setzte sie sich an ihren Laptop.

Der Mann, der im Tank ertrunken war, arbeitete seit vielen Jahren bei der Apfelweinfirma, so viel hatte sie von der Pressestelle noch erfahren, nachdem sie die Tour mit den Australiern beendet hatte. Es war unwahrscheinlich, dass er die Gefahren, die in dem U-Boot-Tank lauerten, nicht gekannt hatte. Viel naheliegender war doch, dass jemand die Uhrzeit auf seinem Handy verstellt hatte. Ob die Polizei das überprüft hatte? Möglicherweise war der Mann tatsächlich in den Tank gestiegen, um ihn zu kontrollieren, aber das Zeitfenster, das er dafür gehabt hätte, war manipuliert worden.

Robertas Hände flogen über die Tasten des Laptops. Die Kollegen von der »Neuen Presse« würden sich wundern. Von wegen australische Kunden. Im Laufe der nächsten zwei Stunden fanden all ihre Verdächtigungen und Mutmaßungen Eingang in einen mörderisch spannenden Artikel: »Tod im Most«.

***

»Was für ein Scheißdreck! Ich weiß wirklich nicht, womit wir das verdient haben.« Verärgert schlug Heinz Becker mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Sie waren doch vor zwei Tagen am Tatort, Bär. Was schreibt sich diese Journalistin hier eigentlich zusammen?«

Bär stand am Fenster und studierte die Aussicht in den tristen Hof des Präsidiums, die sich ihm von den Büros des K11 aus bot. Beton und Glas, wohin er sah. Alles gradlinig und im rechten Winkel. Und so schön ordentlich, ganz im Gegensatz zu seinen verworrenen Gedanken. Er riss sich von dem grauen Anblick los, wandte sich um und sah gerade noch, wie sein Chef die Freitagsausgabe der »Neuen Presse« in den Papierkorb warf.

»Oder wollten Sie den Mist auch noch lesen?« Becker machte eine schwache Handbewegung zum Papierkorb hin.

»Ich habe den Artikel schon beim Frühstück überflogen«, gestand Bär. »Phantasie und Schneegestöber, kann ich nur sagen.«

»Das meine ich auch.«

»Die Kollegen des Verunglückten habe ich gestern einzeln vernommen. Clemens Winkler ist am 26.Oktober morgens pünktlich zur Arbeit gekommen, das war ein Montag. Wenig später hat er sich krankgemeldet, weil ihm eine Erkältung zu schaffen machte. Er gab an, dass er sich beim Frühstück noch einigermaßen wohl gefühlt hätte, aber als er dann in der Firma war…«

»…ließ das Kortison nach.«

»Wie bitte?«

»Ist doch klar.« Becker wiegte ungeduldig den kahlen Kopf und schürzte abschätzig die Lippen, sein mächtiger grauer Schnurrbart zitterte ein wenig. »Der menschliche Körper schüttet morgens eine Portion Kortison aus, da fühlt sich ein Kranker schon mal fitter, als er tatsächlich ist. Die Wirkung lässt aber im Laufe des Tages nach.«

»Interessant.« Bär schnalzte anerkennend mit der Zunge. Sein Chef war ein wandelndes Lexikon. Ob Becker so etwas auswendig lernte oder ob er sich die Dinge einfach nur gut merken konnte, hatte er bislang noch nicht herausgefunden. Aber er ließ sich immer wieder gern von seiner Weltkenntnis überraschen. »Clemens Winkler meldete sich jedenfalls ordnungsgemäß ab, wollte einen Arzt aufsuchen und sich zu Hause ins Bett legen«, nahm er den Faden wieder auf. »Offenbar ist er vorher aber noch mal in den Tank geklettert. Und wie es aussieht, hat er es nicht mehr aus dem Mordsbehälter herausgeschafft, bevor der Apfelsaft hineinschoss.«

»Wie muss ich mir das genau vorstellen?«

»Nun, der Apfelsaft wird von der Abfüllanlage über einen seitlichen Stutzen eingeleitet, mit gehörigem Druck. Der Stutzen sitzt ziemlich tief, es muss ihm direkt die Füße weggezogen haben. Die Luke muss da bereits zu gewesen sein; er hat sie nicht mehr erreicht, bevor sie geschlossen wurde.«

»Und er hat sich nicht bemerkbar gemacht?«

»Das hat er bestimmt verzweifelt versucht, aber er hatte den Druck der mit Macht einschießenden Flüssigkeit gegen sich. Bis man da eine Wand erreicht, um dagegen zu klopfen…«

»Ist der Tank denn so groß?«

»Ein altes U-Boot, die Ausmaße sind entsprechend. Kann ja auch sein, er hat sich verschluckt. Da fällt einem das Schreien dann nicht mehr so leicht.«

»Manche Menschen können gar nicht mehr schreien, wenn sie in Panik geraten«, wusste Becker. »Denen verschlägt es buchstäblich die Sprache.« Er griff in den Papierkorb, zog die entsorgte Zeitung ein Stück weit heraus und sah sich die Schlagzeile noch einmal an. Dann ließ er sie wieder fallen, als habe er sich daran verbrannt.

»Das mag so sein. Und es stehen ja auch keine Arbeiter mehr neben dem Tank, nachdem sie die Luke verschlossen haben. Die haben ja noch was anderes zu tun.«

»Der arme Kerl«, murmelte Becker mitfühlend.

»Sicherlich hat er noch eine Weile versucht, in dem Saft zu überleben. Zu schwimmen, meine ich. Aber er hatte keine Chance. Der Apfelsaft stieg in dem Tank auf, und der Sauerstoff wurde immer weniger.«

»Furchtbar.« Beckers Adamsapfel tanzte auf und ab, und Bär musste ebenfalls schlucken.

Sie schwiegen eine Weile, während der wohl nicht nur Bär das Drama in Gedanken noch einmal erlebte.

»Die Spusi hat nichts gefunden?«, fragte Becker schließlich.

»Nichts.«

»Und die Obduktion?«

»Keine Fremdeinwirkung. Nur die klassischen Symptome des Ertrinkens. Er hat irgendwann Apfelsaft inhaliert.«

»Ich kann mir etwas Schöneres vorstellen.« Becker schüttelte sich ein wenig. »Dann hat ihn also niemand in den Tank gestoßen?«

»Wenn er gegen seinen Willen hineinbugsiert worden wäre, hätte er sich gewehrt, sein Widersacher hätte Gewalt anwenden müssen. Man hätte am Opfer Abwehrspuren gefunden.«

»Das ist richtig.«

»Der Tank war frisch gereinigt worden«, gab Bär zu bedenken. »Wegen der anstehenden neuen Befüllung. Vermutlich wollte Clemens Winkler das nur rasch überprüfen.«

»Das scheint ein Hundertprozentiger gewesen zu sein.«

»Genau so haben die Arbeitskollegen ihn beschrieben. Immer pünktlich, stets im Einsatz.« Bär konnte ein leises, spöttisches Lachen nicht unterdrücken. »Wie wir alle hier im Präsidium, nicht wahr?«

Becker ließ das unkommentiert. »Diese Journalistin glaubt, jemand habe die Uhrzeit auf Winklers Handy manipuliert. Damit er noch im Tank war, als die Befüllung begann.«

»Das ist doch völliger Blödsinn. Handys holen sich die Uhrzeit automatisch, per Satellit, soweit ich weiß.«

»Na ja.« Becker zog sein Smartphone aus der Jackentasche und betrachtete es voller Besitzerstolz. Alle im Präsidium wussten, dass es brandneu war, weil er jeden mit seinem Faktenwissen über das Modell beglückte. »Ich erinnere mich allerdings, dass man bei den alten Dingern die Zeitverschiebung auf Sommer- oder Winterzeit manuell einstellen musste. Das sind immerhin sechzig Minuten. Die würden vermutlich dicke reichen, um jemanden in Sicherheit zu wiegen und dann ertrinken zu lassen.«

»Was?« Bär wurde nun doch leicht unsicher. »Ich kann mir das Handy des Ertrunkenen ja noch mal anschauen.«

Becker nickte knapp. »Tun Sie das. Es müsste noch bei den Technikern liegen.«

***

Roberta hatte noch nie ein Fernsehinterview gegeben, vor Aufregung hatte sie den Tag über nichts essen können. Kaum dass die Zeitung ausgeliefert worden war, hatte der Programmplaner der regionalen News Show sie angerufen und gefragt, ob sie abends in die Sendung kommen wolle. Eine Einladung, die sich Roberta als aufstrebende freie Journalistin nicht entgehen lassen konnte.

Die Maskenbildnerin hatte sie zu einem Ebenbild der üppigen rothaarigen Schauspielerin aus der TV-Serie »Mad Men« gemacht, nun aber brannten die Studiolampen unbarmherzig auf sie herab, und Roberta fürchtete, all der Zauber könne sich beim nächsten Schweißausbruch verflüchtigen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Fakten zu konzentrieren und mit ihrer Recherche zu punkten.

»Roberta Hennig…« Mike Niermann, der Moderator der Sendung, gab gern den Charmeur mit grauen Schläfen und ließ sich ihren Namen hörbar auf der Zunge zergehen. »Wie ist Ihr Kosename, Roberta? Wie sagen Ihre Freunde zu Ihnen? Bertie oder Berta?«

»Robby.« Das war ihr herausgerutscht, bevor sie nachdenken konnte. Dabei hatte sie nur so rasch geantwortet, um die eine wie die andere Namensgebung zu verhindern. Kosename! Dass der Interviewton so intim werden würde, hatte sie nicht erwartet.

»Oh, das ist süß. Darf ich Robby zu Ihnen sagen?«

»Gern.« Roberta zwang sich zu einem Lächeln. Das hatte sie nun davon, dass sie sich auf die Einladung des Senders eingelassen hatte. Jetzt half nur noch, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie musste selbst das Thema aufgreifen und zügig abhandeln, nur so kam sie aus dieser Nummer heil wieder raus. »Ich glaube nicht, dass der Mann im Tank der Frankfurter Apfelweinkelterei zufällig ertrank«, begann sie selbstsicher. »Er war bereits viele Jahre bei der Firma beschäftigt und zu versiert, um diesbezüglich einen Fehler zu machen.«

»Ja, und was…«

»Das war Mord.«

»Dann hat ihn also jemand hineingestoßen? An wen denken Sie da? An einen Arbeitskollegen?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass jemand die Uhrzeit auf seinem Handy verstellt hat.« Roberta schaute nun fest in die Kamera. »Clemens Winkler dachte, er hätte bis zur Befüllung des Tanks noch genügend Zeit, also ist er noch einmal in den Stahlkoloss gestiegen.«

»Um dort was zu tun?«

»Das kann ich Ihnen nun wiederum nicht so genau sagen. Da müssen Sie vielleicht mal bei der Firma nachfragen. Aber ich könnte mir denken, dass Clemens Winkler die Sauberkeit des Tanks kontrollieren wollte. Schließlich sollte frischer Apfelsaft eingefüllt werden.«

»Frischer Apfelsaft, der dann in dem Tank gären und zu Apfelwein werden sollte. Aber kann man denn die Uhrzeit eines Handys so einfach verstellen?«

»Das ist gar kein Problem«, erklärte Roberta bestimmt. »Bei älteren Handys lässt sich die Uhrzeit manuell einstellen. Außerdem gibt es noch die radikale Methode.«

»Die radikale Methode?« Mike Niermann beugte sich neugierig zu ihr herüber. »Die müssen Sie uns jetzt aber erklären. Ich bin gespannt.«

»Die radikale Methode funktioniert so: Handy ausschalten, Akku kurz rausnehmen und wieder reinstecken. Wenn man das Handy dann wieder einschaltet, fragen die meisten älteren Geräte nach Datum und Uhrzeit.«

»Und der Ertrunkene hatte so ein altes Gerät? Haben Sie das Handy denn… gesehen?«

»Nur ganz kurz. Aber es wirkte schon ziemlich altmodisch auf mich.«

»Hm.« Mike Niermann legte eine dramaturgische Pause ein und nickte bedächtig. Ganz so, als müsste er das Gesagte erst einmal verdauen, dabei hatte Roberta ihm vor der Sendung die technischen Einzelheiten genau erklärt. »Danke, Robby, das war wirklich sehr aufschlussreich.« Er schenkte ihr noch ein gönnerhaftes Lächeln, dann richteten sich seine Blicke wieder auf den Teleprompter. »Liebe Zuschauer, wir halten Sie über diesen ominösen Todesfall selbstverständlich auf dem Laufenden. Über den Mann, der den Tod im Apfelwein fand. Schalten Sie uns einfach wieder ein.« Er räusperte sich kurz. »Und Sie, Robby, Sie sehen wir hoffentlich auch bald hier wieder. Vielleicht mit anderen interessanten Mordfällen in und um Mainhattan? Ich würde mich freuen.«

***

In seinem kleinen Apartment auf dem ehemaligen Güterbahnhof drückte Hauptkommissar Christian Bär wütend auf die Fernbedienung, um den Fernseher zum Schweigen zu bringen. Am liebsten hätte er im Strahl gekotzt. Verdammte Hacke, was für eine miese Schau lieferte diese Journalistin da eigentlich ab? Benommen starrte er auf den leeren Bildschirm.

Das Handy, über das sie so phantasievoll philosophierte, hatte er sich am Nachmittag in der KTU angesehen. Die Techniker hatten es in seine Einzelteile zerlegt und untersucht. Es funktionierte nicht mehr, nachdem es in den Apfelwein abgetaucht war, und die Daten waren auch nicht mehr zu retten gewesen, dazu hatte die Fruchtsäure das Metall der SIM-Karte zu sehr angegriffen. Mit den Fingerabdrücken sah es besser aus, denn die bestanden aus Hautfetten und hatten das Bad im Apfelsaft überstanden. Sie lieferten keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich neben Clemens Winkler noch jemand Fremdes an dem Handy zu schaffen gemacht hatte. Was wiederum gar nichts bewies. Denn wer sonst noch an dem Handy gewesen war, konnte Handschuhe getragen haben.

Auf seinem Smartphone klickte er sich durch ein paar URLs, bis er die Nummer des Privatsenders gefunden hatte. Mehrmals wurde er verbunden.

»Bär vom K11 in Frankfurt.« Er hoffte, dass man ihm seinen Ärger nicht schon an der Stimme anhörte. »Kann ich den Moderator Ihrer News Show mal sprechen?«

»Wie bitte? Wen?«

»Den Moderator der Sendung, die Sie gerade ausgestrahlt haben.«

»Tut mir leid, aber Sie sind hier in der Zuschauerredaktion gelandet, und wir stellen grundsätzlich keine Anrufer durch. Ich kann Ihr Anliegen aber gern weiterleiten.«

»Nein, dazu ist es zu wichtig. Ich bin auch kein Zuschauer, ich bin von der Kripo.«

»Kriminalpolizei? Worum geht es denn?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich muss den Moderator schon persönlich sprechen.«

Sein Gesprächspartner schien einen Moment nachzudenken. »Das haben Sie jetzt nicht von mir«, begann er, »aber der Moderator ist schon nicht mehr im Haus. Er ist mit seinem Studiogast essen gegangen.«

»Mit seinem Studiogast? Sie meinen, mit dieser Reporterin?«

»Ja, Mike Niermann lädt aufregende Interviewpartnerinnen gern ins Restaurant ein. Ich habe zufällig gerade meine Raucherpause auf dem Gelände gemacht, als die beiden das Haus verließen. Eine hinreißende junge Frau. Wann sieht man heute schon mal ein weibliches Wesen aus Fleisch und Blut, das kein Hungerhaken ist?« Er hüstelte seinen vorlauten Kommentar leicht affektiert fort. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Im Moment nicht«, gab Bär genervt nach und legte verärgert auf. Dieser Tag fühlte sich ganz so an, als sei er schon mal von jemandem gebraucht worden.

***

Roberta sah verwundert auf, als es an ihrer Wohnungstür schellte. Sie lebte in einem Zimmer mit Kochnische unter dem Dach, fünf Stockwerke hoch, und nur wenige ihrer Bekannten machten sich die Mühe, bis zu ihr heraufzukommen, solange sie nicht sicher waren, dass es bei ihr etwas zu feiern gab. Bevor sie freiwillig all die Treppen erklommen, meldeten sie sich lieber auf Robertas Smartphone oder trafen Verabredungen in einer der umliegenden Apfelwein-Kneipen am Schweizer Platz.

»Ja, bitte?« Sie öffnete die Tür einen Spalt weit.

»Christian Bär vom K11. Kennen Sie mich noch?«

In ihrer Verwirrung konnte Roberta nur stumm nicken. Vor ihr stand der Kommissar, der in der Apfelweinkelterei die Leiche aus dem Tank begutachtet hatte. Ein paar verschwitzte Haarsträhnen waren ihm ins Gesicht gefallen, und sein Atem ging so schnell, als sei er die fünf Stockwerke hochgejoggt.

»Darf ich reinkommen?« Sein durchdringender Blick bohrte sich in ihren.

»Ja, von mir aus.« Sie machte ihm ein wenig Platz, und er glitt an ihr vorbei. Ging zielstrebig zum Sofa, das Roberta unter der Dachschräge platziert hatte, um mehr Raum zu gewinnen, und setzte sich mittendrauf. Ein wenig ratlos blieb sie vor ihm stehen.

»Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?«, begann er.

»Wobei?«

»Bei Ihrem seltsamen Auftritt im Fernsehen. Dass jemand die Uhr von Clemens Winklers Handy verstellt haben soll, damit er in dem Tank absäuft…«

»Ja, war das denn nicht so?«

Der Kommissar zog ein paar Fotos aus seiner Jeansjacke und warf sie auf Robertas niedrigen Couchtisch. »Hier sehen Sie den Toten in seiner Latzhose. Und hier ist ein Foto von seinem Handy. Unsere Techniker haben es untersucht, und obwohl es so lange im Apfelwein lag, konnten sie noch ein paar Teilabdrücke sichern.«

»Und?«

»Sie stammen alle von Clemens Winkler.«

»Das beweist doch gar nichts. Hätte jemand das Handy manipuliert, könnte er Handschuhe getragen haben.«

»Eben. Das Handy ist kein verwertbares Indiz, und Ihre Theorie führt zu nichts.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber…« Roberta starrte auf das Bild des aufgedunsenen Toten in seiner bräunlich verfärbten Latzhose. Ihre Theorie von dem manipulierten Handy ließ sich also nicht beweisen. An einen Unfall konnte sie dennoch nicht glauben. Sie suchte nach Worten und knetete verlegen ihre Hände, dann brach es aus ihr heraus: »Kein vernünftiger Mensch steigt in einen Tank, der jeden Moment befüllt werden soll. Schon gar nicht, wenn es nur eine enge Luke gibt, durch die man sich so gerade eben hindurchzwängen kann.«

»Da haben Sie sicherlich recht. Aber vielleicht war Winkler nicht vernünftig.«

Roberta ließ sich vor ihrem Couchtisch auf dem Teppich nieder. »Nahm Clemens Winkler irgendwelche Medikamente?«, fragte sie.

»Sie meinen, ob er Drogen nahm?«

»Zum Beispiel Psychopharmaka, die ihn verwirrten.«

Christian Bär schüttelte den Kopf. »Wir haben seine Schwester befragt, sie wohnt im Frankfurter Speckgürtel.«

»Seine Schwester?«

»Frau und Kinder hatte Winkler nicht, und seine Eltern sind schon verstorben. Seine Schwester war seine einzige Verwandte. Sie hat uns die Adresse von Winklers Hausarzt gegeben. Und wissen Sie was? Der Doc konnte sich kaum an seinen Patienten erinnern, so selten wurde er von ihm konsultiert. Clemens Winkler war zu seinen Lebzeiten gesund wie ein Pferd.«

»Und wenn er geraucht hat?«

»Marihuana? Mann, haben Sie eine Phantasie.« Mit einer brüsken Bewegung erhob er sich vom Sofa. »Tun Sie mir einen Gefallen, und setzen Sie Ihren Spürsinn nicht mehr in meinen Fällen ein, okay? Schreiben Sie von mir aus, was Sie wollen, aber nichts mehr über Tote im Apfelwein.«

Sie nickte schwach, während ihr Besucher auch schon aus der Wohnung strebte. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Roberta setzte sich auf den Platz, den der Polizist eingenommen hatte. An der Stelle, auf der er gesessen hatte, war seine Körperwärme noch gespeichert. Ihre Hände tasteten danach, während ihre Blicke die Fotos fixierten, die er auf dem Couchtisch hatte liegen lassen. Vor allem das Shirt des Toten zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Darauf war eine winzige Figur abgebildet. Ein schwarz gekleidetes Männlein, das eine Leiter und ein Bündel trug.

Roberta brauchte eine Weile, bis sie die Schrift entziffern konnte, so verschmutzt und mitgenommen, wie das T-Shirt war. Sie schaffte es auch nur, indem sie die bereits entzifferten Teile des Satzes in eine Internetsuchmaschine eingab, um mit deren Hilfe die nicht lesbaren Worte zu finden:

»Johnny Appleseed put’n seeds in holes«, las sie halblaut.

Hatte das irgendetwas zu bedeuten? Womöglich war der Tote Mitglied eines ominösen Clubs gewesen.

***

Du treibst im Schiffsbauch in der schweren Süße. Weißt, dass die Luft bald aufgebraucht ist. Ganz still liegst du auf dem Rücken, wagst kaum zu atmen, um noch ein paar Minuten Leben auszuhandeln.

Sinnlos, sage ich dir.

Das Nass wird dich dem Stahl entgegentragen, bis deine Lippen ihn küssen.

Stille Opferung.

Wer hört dein Klagen? Wer geistert durch deine Gedanken, jetzt und in der Stunde deines Todes?

DREI

Christian Bär wusste selbst nicht, warum er die Apfelweinkelterei am Samstag noch einmal anrief und aufsuchte. Vielleicht wollte er sich nur ein letztes Mal vergewissern, dass er richtiglag. Nach dem, was Erkennungsdienst und KTU ihm vorgelegt hatten, war er von einem Unfall überzeugt, was den im Most ertrunkenen Arbeiter anging. Der Mann war in seiner Arbeit akribisch gewesen, hatte sich davon überzeugen wollen, dass der Tank auch wirklich sauber war. Womöglich hatte er einfach nicht richtig auf die Uhr gesehen. Er war von seiner Grippe leicht angeschlagen gewesen und nicht ganz auf dem Damm. Müde hatte er sich in den Tank gequält, um pflichtbewusst einen letzten Check vorzunehmen, in Gedanken schon zu Hause im Krankenbett.

Und dabei war es eben passiert.

Nicht aufgepasst. Ein Unfall.

Bär parkte seinen Wagen direkt an der Straße. Das Wetter war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Er schlüpfte aus seiner Jeansjacke und warf sie auf den Beifahrersitz, bevor er die Türen verriegelte. Die paar Schritte bis zur Kellerei ging er zu Fuß. Über den Hof wehte ein frisch-herber Geruch nach Äpfeln.

Er betrachtete noch die bunte Ausstellung von allen möglichen Apfelweinsorten und Marketingprodukten im Empfangsraum, als der Kellermeister ihn auch schon abholte.

»Sie haben Glück, dass wir wegen des Unfalls heute arbeiten. Haben Sie denn noch Fragen?«

»Nicht wirklich, Herr Rabe.« Bär winkte ab. »Ich will mich nur noch ein letztes Mal umsehen. Mich vergewissern, dass mir nichts entgangen ist.«

Rabe nickte freundlich. Dann ging er voran, führte ihn durch die Gänge und die Treppe hinab.

An dem Tank, in dem Clemens Winkler ertrunken war, wurde emsig gearbeitet. Man hatte den letzten Rest Most abgelassen, nun wurde das riesige Behältnis erneut gereinigt.

»Montag kommt wieder neuer Saft rein«, erklärte Rabe ruhig. »Die Produktion muss halt laufen.«

»Das versteht sich von selbst.«

Martin Ott kam in Stiefeln und Overall auf sie zu und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Schade um den Inhalt, das ist ein herber Verlust für die Firma.«

»Immerhin ist ein Mensch darin ertrunken«, gab Bär zu bedenken. »Das ist weitaus tragischer.«

Rabe nickte zustimmend. »Dieser Unfall ist wirklich furchtbar, wir sind alle noch ganz sprachlos.«

»Aber schaffen müssen wir dennoch.« Martin Ott klang schwermütig. »Das Leben geht schließlich weiter.«

»Sie standen dem Verstorbenen wohl besonders nahe?«, tastete Bär sich vor.

»Das kann man so sagen. Ich mache hier erst ein halbes Jahr sauber, aber Clemens… Obwohl er so viel jünger war und mir andererseits auch Anweisungen gab, ist er mir sofort wie ein Bruder vorgekommen.« Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Manchmal gibt es so was ja.«

»Tut mir leid für Sie«, murmelte Bär. Wenn es um tröstlichen Zuspruch und Beileidsbekundungen ging, fehlten ihm schnell die Worte. »Haben Sie oder Ihre Kollegen inzwischen einen Anhaltspunkt, weshalb Winkler noch mal in den Tank kletterte, bevor er sein Krankenlager aufsuchte?«

Ott sah ihn eine Weile schweigend an. »Ich denke, er wollte tatsächlich nur nachsehen, ob für die Einfüllung alles in Ordnung war«, sagte er dann und hob bedauernd die Schultern. »Er hat immer ›in de Krimmele gesucht‹, schon als Kind. Wenn der Käse schief auf dem Brötchen lag, fing er an zu plärren.«

»Interessant, aber woher wissen Sie das?«

»Ach, solche Sachen hat er gern mal in den Pausen vor versammelter Runde erzählt. Wir haben oft alle gemeinsam darüber gelacht.«

»Na, wenn das so war…« Bär musste trotz der ernsten Situation schmunzeln.