Mein Lover, mein Ex und der Andere - Uli Aechtner - E-Book

Mein Lover, mein Ex und der Andere E-Book

Uli Aechtner

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Beschreibung

Eine turbulente Liebeskomödie in idyllischer Umgebung. Romantisch, leicht, warmherzig. Nicht genug damit, dass Henni ihren Job in einer Boutique verloren hat – nun wird ihr auch noch die Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt. In der schönen Wetterau findet sie Unterschlupf bei ihrer Tante Alma, und mit etwas Flunkerei ergattert sie sogar einen Job als Regieassistentin bei den berühmten Burgfestspielen. Dort pokert sie sich erfolgreich durch ihre heiklen Aufgaben, und mit dem genialen Regisseur Ansgar von Stein liegt Romantik in der Luft. Bis eine einzige Szene alles in Frage stellt . . .

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Uli Aechtner arbeitete als Journalistin, bevor sie zu schreiben begann. Sie war Reporterin für den französischen Fernsehsender TF1, Nachrichtenmoderatorin beim SWF in Mainz und gestaltete Filmbeiträge für ARD und ZDF. Seit 1992 lebt die eingeplackte Hessin in der idyllischen Wetterau vor den Toren von Frankfurt am Main.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive mauritius images/Sina Ettmer/Alamy/Alamy Stock Photos, shutterstock.com/Repina Valeriya

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-025-9

Roman

Originalausgabe

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Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn,dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn,dem Bekannten die Würde des Unbekannten,dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe,so romantisiere ich es.

Novalis

Eins

In der Goldenen Waage drängten sich die Gäste am frühen Nachmittag so dicht zusammen, als gebe es hier etwas umsonst. Schuld daran war das verregnete Wetter. Bei Sonnenschein saßen die Besucher gern unter den großen Marktschirmen vor dem Frankfurter-Altstadt-Café, doch heute bahnte sich der Juniregen seinen Weg sogar zwischen den aufgespannten Schirmen hindurch und ließ seine Tropfen vom Boden aufspritzen, als wollte er den Passanten die Beine waschen.

Drinnen hatte Henni den letzten freien Tisch erwischt. Erlöst glitt ihr Blick über die goldverzierten Sandsteinsäulen bis zur meterhohen weißen Stuckdecke und über die in einem warmen Rotton gestrichenen Wände zur prall gefüllten Kuchentheke, aus der sie sich gleich etwas aussuchen würde. Heute war ihr Geburtstag. Die gefürchtete Vier hatte sich angeschlichen, und Henni hatte beschlossen, den Abschied von ihren Dreißigern achtsam mit sich selbst zu feiern.

Entschleunigen, nachdenken, Pläne machen.

»Kind, du siehst noch phantastisch aus«, hatte Tante Alma vergangene Woche anerkennend gesagt. Mit vierzig wird der Sex endlich gut, hatte ein Internetblog versprochen. Doch das halbe Leben war mit vierzig vorbei, rein rechnerisch betrachtet. Noch Kinder in die Welt zu setzen, war gewagt, wollte man nicht riskieren, dass einem die Kniegelenke knackten, wenn man mit dem Nachwuchs Kuchen im Sandkasten buk.

»Haben Sie schon bestellt?« Ein junges Mädchen stand an ihrem Tisch. In ihren schwarzen Leggins, ihrem engen schwarzen Shirt und mit den weißen Sneakers sah sie aus, als wollte sie gerade ins Fitnessstudio, doch eine kleine weiße Rüschenschürze wies sie als Kellnerin aus.

»Ein Glas Crémant, bitte«, orderte Henni. »Und einen Frankfurter Kranz.«

Den Klassiker aus Rührteig, Buttercreme und Haselnusskrokant gab es hier im Miniformat, so klein, dass er auf eine Handfläche passte. Schon im Schaufenster konnte man die niedlichen Gebilde betrachten, die wie ihr großes Vorbild mit Buttercremetupfen und roten Belegkirschen verziert waren.

Die junge Kellnerin tippte etwas in ihr elektronisches Notizbuch und schwebte zur Theke. Henni streckte zufrieden ihre Beine aus. Der Geschmack des Crémants lag ihr in Gedanken bereits auf der Zunge. Immer mehr Menschen suchten derweil Unterschlupf im trockenen Innenraum des Cafés. Eine Blondine, schätzungsweise etwas jünger als sie selbst, rückte einen der beiden Stühle zurecht, die unbenutzt an ihrem Tisch standen.

»Entschuldigen Sie, sind bei Ihnen noch zwei Plätze frei?«

Henni atmete tief durch. Frei waren die bequem gepolsterten Sitzgelegenheiten, na klar. Aber die eigentliche Frage war ja, ob die Blonde sich – mit wem auch immer – daraufsetzen und ihr Gesellschaft leisten durfte. An ihrem Geburtstag, den sie allein feiern wollte. Was sollte sie sagen? Verzeihung, ich erwarte meinen Mann mit unseren Kindern? Sie hatte derzeit keinen Mann, nicht mal einen gelegentlichen Lover, und leider auch kein einziges Kind.

Die Blonde zog ihr regennasses Strickjäckchen enger um sich und strich eine feuchte Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Ein wenig Wimperntusche hatte sich unter ihren Augen selbstständig gemacht und ließ sie aussehen wie einen Pandabären. Einen liebenswürdigen Pandabären, der dringend eine trockene Höhle suchte. Hennis innerer Widerstand schmolz.

»Ja, setzen Sie sich ruhig zu mir«, hörte sie sich sagen.

Die Blonde seufzte erleichtert. Sekunden später lagen ihr nasses Jäckchen und ihre feuerrote Clutch so besitzergreifend auf den freien Stühlen wie die Hier-ist-reserviert-Badelaken an den Pools von Malle. Hennis neue Tischnachbarin huschte derweil zur Tür.

»Hier!«, rief sie freudig winkend hinaus. »Hier ist tatsächlich noch was frei!«

Hennis Bestellung kam. Sachte ließ die Bedienung den Crémant in ein schräg gehaltenes Glas laufen. Henni lächelte ihr dankbar zu. Sie nippte an ihrem Schaumwein, beugte sich über ihr Frankfurter Kränzchen und zögerte noch, das kleine Kunstwerk mit der Kuchengabel zu zerstören, da trat der Mann, der zu der Blonden gehörte, an den Tisch. Aus den Augenwinkeln nahm sie die Bewegung wahr, mit der er die rote Clutch vom Stuhl nahm und seiner Begleiterin reichte, ehe er sich setzte. Als Henni den Blick hob, wäre sie am liebsten im Erdboden versunken, tief unter den schönen, schachbrettartigen schwarz-weißen Marmorboden des Cafés, wenn das nur irgendwie möglich gewesen wäre.

»Hallo«, sagte der Mann.

Henni gegenüber saß ihr Ex, ihr letzter Lebensabschnittsgefährte. Niko, der Ökofreak. Na ja, öko war er durch und durch, aber kein Freak. Er sah gepflegt aus, trug schicke Anzüge zu offenen weißen Hemden, Lederschuhe, ging zum Friseur. Und er besaß sogar ein SUV, wenngleich er es fast nie benutzte und zur Minimierung seines ökologischen Fußabdrucks die Öffis oder das Fahrrad bevorzugte. Die Umwelt rettete er mit seinen kritischen Zeitungsberichten, und nur gelegentlich ließ er sich dazu herab, auch mal etwas für das Feuilleton zu schreiben. Niko war freier Journalist. Der Planet Erde war in seinen Augen ein einziger Schandfleck, vermüllt und ausgeraubt durch die Spezies Mensch, die zwangsläufig bald aussterben würde. Und dann? Dann würde etwas ungeheuer Neues entstehen. Eine neue Spezies vielleicht. Zumindest etwas ganz anderes als Menschen.

Er lehnte sich ein wenig zu ihr vor. »Henriette?«

Henni zuckte zusammen. Den Namen Henriette hatte ihre Mutter ihr gegeben, weil sie sich nach diversen Krächen mit ihrer bestimmenden älteren Schwester versöhnen wollte. Und Henni sah unwillkürlich Tante Henriette mit ihrem von Falten umzogenen, verkniffenen Mund vor sich, sowie der Name fiel. Doch Niko hatte er immer gefallen, und manches Mal hatte er ihn lachend benutzt, nur um sie hochzunehmen.

»Hallo, Nikolaus«, rächte sie sich. »Lange nicht gesehen.«

Niko grinste amüsiert, dann schien ihm wohl einzufallen, dass er seine Begleiterin gerade vernachlässigte.

»Doris, das ist Henriette Arends. Henriette, das ist Doris Heim«, stellte er sie einander vor. Henni fühlte sich wie in einem amerikanischen Film, in dem der Protagonist seine beiden Tischdamen miteinander bekannt machte.

Die Bedienung eilte herbei; Niko und Doris bestellten Milchkaffee und Tee.

»Gibt’s was zu feiern?« Ungeniert wies Niko auf ihr Glas, in dem der Crémant seine Perlen aufsteigen ließ.

Henni seufzte gequält. Früher hatte ihr seine Direktheit gefallen. Er war halt ein Frankfurter Bub, und sein Humor war so herb-frisch wie sein geliebter Ebbelwoi. Nun umwölkte sich sein Blick. So schaute er aus, wenn er angestrengt über etwas nachdachte. In vielen Gesprächen hatte dieser Blick sie fasziniert, selbst in ihrer letzten entscheidenden Diskussion, die nun etwas mehr als ein Jahr zurücklag.

Er sah auf seine Uhr und las wohl das Datum ab.

»Mein Gott, Henriette, du hast heute Geburtstag! Einen runden noch dazu. Du wirst …«

»… älter«, sagte Henni rasch. »Wie wir alle. Wer nicht alt werden will, muss jung sterben.«

»Wie schrecklich!«, kam es von Doris. Sie hatte ihre rote Clutch aufgeklappt und betrachtete in dem darin montierten Spiegel ihre Panda-Augen. »Bin mal kurz für kleine Königstiger«, flüsterte sie entschuldigend, während sie sich von ihrem Platz erhob. Ehe sie wegging, winkte sie Henni zu und intonierte leise ein Kinderlied: »Zum Geburtstag viel Glück …«

Niko folgte Doris mit seinem Blick, und seinen Mund umspielte ein bewunderndes Lächeln. »Sie ist wirklich eine Schauspielerin.«

Henni war nicht so recht klar, was er damit sagen wollte. »Du meinst, sie spielt dir gern etwas vor?«

»Nicht doch. Sie tritt im Theater auf.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er ihn von jedem weiteren Gedanken an Doris frei machen, und fasste in einer fürsorglichen Geste nach Hennis Hand. »Und? Wie kommst du so zurecht? Geht es dir auch gut?«

»Alles bestens«, gab sie zurück. »Ich hab nur gerade heute nicht viel Zeit.«

»Ich meine, weil du so ganz allein hier …« Er stockte.

Henni ging nicht darauf ein. »Mein Vermieter, Herr Simon, du kennst ihn doch … Er will nachher meine Wohnung inspizieren. Er saniert sie weiterhin, wo er nur kann, und jedes Mal erhöht er anschließend die Miete.«

»Verstehe«, murmelte Niko.

Im letzten Jahr ihrer Beziehung hatte Niko bei ihr gewohnt und die Hälfte der Mietkosten getragen. Seit Henni wieder allein für ihre Wohnung aufkommen musste und ihren Job verloren hatte, kam sie mit den Mietzahlungen kaum noch nach. Sie war bereits im Rückstand, aber was nützte es, ihrem Ex davon vorzujammern.

»Hast du deinen Job noch? Den in der Boutique am Flughafen?« Niko hatte nun diesen Sozialarbeiterton drauf, bei dem Henni nie wusste, ob sie sich freuen sollte, weil er so besorgt um sie war, oder ob es sie einfach bloß nervte.

Sie hob bedauernd die Schultern. »Die Besitzerin ist pleitegegangen.«

»Wenn ich dir helfen kann, ich meine, finanziell …«

»Ach was, ich finde bald was Neues. Du kennst mich doch.«

»Und wenn ich dir zur Überbrückung etwas leihe? Du brauchst dich vor mir nicht zu schämen.«

»Nein, wirklich nicht.« Sie konnte selbst hören, wie pampig sie klang. Hilfe anzunehmen gab ihr das Gefühl, unvollkommen und klein zu sein. Lieber nahm sie ihre Probleme selbst in die Hand. Und was Niko anging, hatte sie ihr Leben mit ihm teilen wollen, nicht sein Geld oder das seiner Eltern. Mit einem Rechtsanwalt als Vater und einer Immobilienmaklerin als Mutter kannte Niko von Haus aus keine Ebbe im Portemonnaie. Selbst verdiente er auch recht gut, und vermutlich konnte er sich auch nicht vorstellen, dass sie keine Almosen von ihm annehmen mochte, obwohl sie jeden Cent umdrehen musste.

Schweigend machte sie sich über ihr Kränzchen her und atmete auf, als Doris an ihren Tisch zurückkam. Ihre Panda-Augen waren verschwunden und frisch renovierten Smokey Eyes gewichen.

»Da bin ich wieder. Wie wär’s mit einem Gläschen Sekt, um mit dem Geburtstagskind anzustoßen?«, fragte sie Niko.

»Ja klar, lassen wir die Korken knallen!« Er gab sich leutselig und winkte der Bedienung.

Als die Kellnerin an ihrem Tisch stand, griff Henni zum Portemonnaie und nestelte den Zwanziger heraus, den Tante Alma ihr wie jedes Jahr in die Geburtstagskarte gelegt hatte. »Ich würde gern zahlen.«

Niko und Doris sahen sie vorwurfsvoll an.

»Ich muss leider heim«, beharrte Henni, beglich ihre Rechnung und leerte ihr Glas. »Ich erwarte doch Herrn Simon, meinen Vermieter.«

»An Ihrem Geburtstag?« Doris zog einen niedlichen Flunsch. »Will er Ihnen Blumen vorbeibringen?«

»Eher nicht, so wie der Typ drauf ist«, lästerte Niko.

»Er hatte keinen anderen Termin frei«, erklärte Henni sachlich.

»Ach, wie schade. Wir haben uns noch gar nicht richtig unterhalten!«, bedauerte Doris. Sie wirkte tatsächlich enttäuscht.

»Na ja, vielleicht ein andermal«, entgegnete Henni, den Rest ihrer anerzogenen Höflichkeit zusammenkratzend. Dass Herr Simon sie erst in einigen Stunden heimsuchen würde, behielt sie für sich. Je eher sie hier wegkam, umso besser. Ihr Ex und seine neue Flamme waren nun mal nicht die Geburtstagsgäste, die sie sich freiwillig ausgesucht hätte.

Niko beendete ihr zufälliges Zusammentreffen auf seine Art: »Kopf hoch, Henriette! Wir sehen uns!«

Minuten später bummelte Henni durch die neue Frankfurter Altstadt. Deren im Krieg zerstörte Bauten waren, wie auch die Goldene Waage, vor nicht allzu langer Zeit wieder aufgebaut worden, und das mittelalterliche Stadtzentrum war wie von Zauberhand neu entstanden, wenn auch ohne all die lärmenden Handwerksbetriebe, die es hier früher einmal gegeben hatte, oder gar die Schweine, die hier vor Jahrhunderten frei herumgelaufen waren. Wo einst kaum Licht in enge Gassen gefallen war, erstrahlten heute bunte Häuser, vor denen Touristen und Touristinnen mit gezückten Handys Selfies machten, und in den Schaufenstern sah man Panamahüte, filigranen Schmuck oder die Paulskirche als Souvenir, in handlicher Größe aus Ton getöpfert.

»Es ist die Erinnerung an das Schöne, die hier bewahrt wird«, hatte Niko einmal gesagt, »deshalb gefällt es den Leuten so gut.« Er selbst hätte sich eine Neubebauung der Altstadt mit ökologischen Wohnungen für Geringverdiener gewünscht.

Vermutlich war es Doris’ Einfluss zu verdanken, dass auch er sich inzwischen in der Goldenen Waage wohlfühlte.

***

Mischen, schütteln, auftragen. In ihrem Badezimmer studierte Henni die Gebrauchsanleitung für die dunkle Haartönung, die sie auf dem Heimweg in einem Drogeriemarkt erstanden hatte. Jahrelang hatte sie ihr Aschblond mit Strähnchen aufgehellt. Niko hatte es so gefallen, aber der hatte nun eine neue Blonde. Es war Zeit für eine radikale Veränderung. Sie schnippelte an ihrem Pony herum, bis sie ihn zu kurz fand. Nun, Haare wuchsen bekanntlich nach. Dann zog sie die Plastikhandschuhe über, die der Farbpackung beigelegt waren, legte sich ein Handtuch über die Schultern und schritt zur Tat. Klar, ein Besuch beim Friseur wäre komfortabler gewesen, aber leider auch viel teurer. Die Chemikalien wurden wie vorgeschrieben von ihr gemischt, und Haarsträhne für Haarsträhne musste dran glauben. Wer wagt, gewinnt, sprach Henni sich in Gedanken Mut zu.

Sie wanderte von Zimmer zu Zimmer, während die Farbe einwirkte. Ihre kleine Altbauwohnung hatte sie sich von Anfang an nur leisten können, weil sie in Nied lag, einem der weniger mondänen und daher preiswerteren Stadtteile Frankfurts. Das Gebäude war an die zweihundert Jahre alt, aber in bestem Zustand, weil Herr Simon, der nicht nur der Eigentümer, sondern zudem Vorarbeiter bei einer Baufirma war, alles dransetzte, es zu hegen und zu pflegen. Es war sein Elternhaus, und er hatte die hohen alten Holztüren und die Jugendstilfliesen in Küche und Flur aus Pietät erhalten. Hübsch sah das aus. Jetzt kam alles drauf an, dass er so lange Geduld mit ihr hatte, bis sie einen neuen Job fand, mit dem sie Miete und Mietschulden bezahlen konnte. Eine zahlende Mitbewohnerin war eine andere Idee, die Henni als zusätzliche Lösung vorschwebte. Sie schwor sich, ihren ganzen Charme aufzubieten, um Herrn Simon auf ihre Seite zu ziehen, wenn er gleich kam.

Schellt er pünktlich, gelingt mir das, prophezeite sie sich selbst. Nicht dass sie abergläubisch war. Diese kleinen Wenn-dann-Spiele machten ihr einfach Spaß und ließen sie Stress oder manchmal auch Langeweile besser ertragen.

Sie spähte aus dem Küchenfenster, von dem aus sie die Straße mit den parkenden Autos einsehen konnte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie gut in der Zeit lag.

Es läutete an der Tür, bevor sie die Haarfarbe ausgewaschen hatte. Mist, zu früh war dennoch unpünktlich, oder? Rasch riss sie das Handtuch von ihren Schultern, wickelte es um ihren Kopf und öffnete.

»Hallo, Frau Arends.« Herr Simon streifte seine Schuhe länger als nötig an der Fußmatte ab und starrte irritiert ihren Frotteeturban an. Schon klar, so hatte der Gute sie noch nie gesehen. Er war auch nicht allein, in seiner Begleitung war ein junges Mädel. »Meine Tochter Maja«, stellte er sie vor. Und nicht ohne Stolz in der Stimme fügte er hinzu: »Sie studiert demnächst Dramaturgie an der Goethe-Universität.«

»Das klingt ja spannend!« Henni wurde direkt neugierig. »Lernt man da auch, Theaterstücke zu schreiben? So für die Bühne?« Sie selbst notierte verrückte Erlebnisse in ihrem Internetblog, manchmal setzte sie auch einen kleinen Sketch ab. An etwas Längeres hatte sie sich noch nie gewagt.

Herr Simon rieb sich die Hände. »Und ob meine Tochter da lernt, Bühnenstücke zu schreiben! Wie eine echte Dramaturgin.«

»Ich studiere Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Papa«, kam es gequält von Maja. »Ich will Filmemacherin werden.«

»Ist ja kein großer Unterschied.« Herr Simon winkte unwillig ab, und Maja wandte sich an Henni.

»Wir dürfen uns doch umsehen?«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, begannen die beiden eine Art Rundgang durch ihre Wohnung und inspizierten Raum für Raum, Maja immer einen Schritt voraus. Dabei unterhielt sie sich mit ihrem Vater über die Schulter, als sei Henni gar nicht anwesend.

»Das Parkett könnte mal aufgearbeitet werden«, schlug sie im Wohnzimmer vor. Nicht nur ihr Ton, auch ihre rote Igelfrisur mit der langen Ponysträhne, ihre schwarzen Cargohosen und ihr schlaksiger Gang waren ein wenig burschikos. Sie schlenderte zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. »Der Hof wäre auch mal dran.« Eine Inspektion des Schlafzimmers und der winzigen Küche führte zu einem halbwegs zufriedenen Nicken. »Der Rest geht ja so gerade.«

Henni hielt den Atem an.

»Aha«, ließ Maja im Bad mit einem wissenden Blick auf Hennis leere Farbfläschchen hören. Dann wandte sie ihr Interesse der Badewanne zu. »Diese großen Wannen hat man heute nicht mehr, Papa, da verbraucht man viel zu viel Wasser, bis die voll sind. Ich fände eine Walk-in-Dusche besser.«

Ihr Vater schob die Daumen unter die Hosenträger, die sein kleines Bäuchlein einrahmten. »Das lässt sich sicherlich machen.«

»Also bitte, Herr Simon«, ging Henni dazwischen. »Mit der Badewanne bin ich vollkommen zufrieden. Erst vor einem halben Jahr haben Sie doppelt verglaste Fenster eingesetzt. Und vor einem Jahr gab’s neue Wasserleitungen. Ich brauche weder neuen Bauschutt noch die nächste Mieterhöhung. Und die steht mir doch sicherlich ins Haus, wenn Sie schon wieder etwas renovieren.«

»Sie schulden mir noch drei Monatsmieten«, sagte Herr Simon mit einer Ruhe, als hätte er verkündet, welcher Wochentag heute war.

»Und schöner geht immer«, ergänzte Maja leichthin. »Schließlich muss es mir gefallen.«

»Ihnen? Wieso Ihnen?« Ein ungutes Gefühl stieg in Henni auf. Was kam jetzt noch?

»Ja, also …« Herr Simon blickte kurz verlegen zu Boden. Dann hob er energisch den Kopf und sah Henni fest an. »Maja zieht hier ein.«

Sie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand Eiswürfel unter den Kragen geschoben. Eiskaltes, gefrorenes Wasser, das nun ganz langsam schmolz und ihren Rücken hinablief. Gerade hatte sie fragen wollen, ob sie ein Zimmer untervermieten dürfe. Aber das hatte sich wohl erledigt. Und die angehende Jungfilmerin sah auch nicht so aus, als wollte sie mit ihr zusammen hier leben.

»Ich werde meiner Tochter die Wohnung zu ihrem Studienbeginn überlassen«, erläuterte Herr Simon seine Pläne. »Ihnen kündigen wir hiermit wegen Eigenbedarf.«

Henni atmete tief durch. »Da müssen Sie mich erst rausklagen!«, wehrte sie sich eine Spur zu laut. »Und das dürfte dauern. Es gibt schließlich Sperrfristen.«

Herr Simon lächelte mitleidig. »Ist Ihnen denn eine außerordentliche Kündigung wegen Ihres Mietrückstands lieber? Wir machen Ihnen ein Angebot. Sie ziehen freiwillig zum nächsten Ersten aus, und wir erlassen Ihnen Ihre Mietschulden.«

In der Wohnung war es plötzlich so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

»Das macht drei volle Monatsmieten, die Sie nicht mehr bezahlen müssen«, sagte Maja in die Stille hinein. »Ist das nicht ein toller Deal?«

Hennis Gedanken rasten. Ihre Schulden erlassen zu bekommen, war eine Sache. Einen Job und eine neue Bleibe zu finden, eine andere. Aber klar, sie saß am kürzeren Hebel, über kurz oder lang müsste sie ja doch ausziehen. Vielleicht könnte sie fürs Erste bei Tante Alma unterkommen?

»Ich werde es mir überlegen«, meinte sie zögernd.

»Das freut uns.« Herr Simon klang beinahe erlöst. Offenbar war er dankbar, um einen größeren Konflikt herumgekommen zu sein.

Seine Tochter erwies sich als weniger zartbesaitet. »Denken Sie nicht zu lange nach«, ermahnte sie Henni forsch. »Der nächste Erste ist schon bald.«

Als die Wohnungstür hinter den beiden zufiel, fasste Henni sich an die Stirn und ertastete den Handtuchturban auf ihrem Kopf. Himmel, die Haarfarbe! Die hatte sie ganz vergessen. Nicht so schlimm, falls das Frotteetuch mittlerweile verfärbt war, es war eines von denen, die Niko hier vergessen hatte. Doch was war inzwischen mit ihren Haaren geschehen? Hätte die Tönung nicht längst rausgewaschen werden müssen? Im Badezimmer wickelte sie das Handtuch vorsichtig ab und besah sich das Ergebnis im Spiegel. Die Chemikalien hatten ganze Arbeit geleistet. Ihr Haar war tiefdunkel geworden. Mit ihrem arg kurzen Pony sah sie nun aus wie Beth Ditto in schlank.

Zwei

Tante Alma erinnerte Henni stets an ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Ihre altmodische Dauerwelle kriegte sie nie in den Griff, und ihre grauen Löckchen lagen fluffig auf ihrem Kopf wie vom Wind zerzauste Daunen. Ihre schmale prominente Nase trug nicht unwesentlich zu ihrem Vogeläußeren bei. Zudem war sie so klein und zierlich, dass man sie sogleich beschützen wollte, egal wovor. Nur ihre Stimme war für ihre fast achtzig Jahre erstaunlich jung und kräftig.

»Henni, mein Kind! Da bist du ja!«

»Hallo, Tante Alma.«

»Ich hätte dich ja kaum wiedererkannt. Was hast du nur mit deinen Haaren gemacht?«

»Neue Farbe. Pechmarie-Schwarz.« Henni lachte und zupfte an ihrem kurzen Pony. Mit ihrer Frisur hatte sie sich inzwischen arrangiert. Sie sah damit nicht mehr so aus wie alle. Zwar war sie immer noch mittelalt und mitteldünn, aber nicht mehr mittelblond. Ein Grund weniger, sich »Henni Mittel« zu schimpfen, wenn sie wütend auf sich war. Sie schob ihr Rad in einen freien Fahrradständer, dann umarmte sie ihre Tante. Die alte Dame hatte den Dottenfelderhof als Treffpunkt vorgeschlagen, und Henni war den Weg von Nied bis hierher nach Bad Vilbel geradelt. Eine gute Stunde Strampeln in frischer Luft, die meiste Zeit am Flüsschen Nidda entlang, das machte den Kopf frei.

»Lass uns für dich einkaufen, Kind.« Tante Alma fasste sie am Arm und wollte sie in Richtung des großen Hofladens ziehen, der wie eine überdimensionale hölzerne Auster im Sonnenschein lag. »Du brauchst bestimmt Gemüse, Brot und Käse. Das meiste produzieren sie hier selbst, es kommt frisch vom Feld, aus dem eigenen Holzofen oder von glücklichen Kühen.«

»Das ist lieb von dir«, wehrte Henni ab, »aber ich habe ein anderes Attentat auf dich vor, Tante Alma. Ich bin Job und Wohnung los. Kann ich eine Zeit lang bei dir wohnen? Nur ein paar Wochen, bis ich wieder Tritt gefasst habe?«

So, nun war es schon heraus.

Alma zwinkerte nervös. Für Henni sah es aus, als wollte sie sie mitsamt ihrem Anliegen wegbeamen, aber der Tante war wohl nur ein Insekt ins Auge geraten, so rasch, wie sie sich wieder fasste.

»Lass mich nachdenken. Die Scheune, die dein seliger Onkel Artur uns zur Wohnung ausgebaut hat, ist ja ziemlich groß. Aber ganz ehrlich? Wohngemeinschaften hatte ich in meiner Jugend, so was brauche ich heute nicht mehr.«

»Und das eigentliche Haus, das kleine Fachwerkbauernhaus an der Straße?«, beharrte Henni.

»Ach, das meinst du. Dir ist schon klar, dass es alt und halb verfallen ist? Wir haben es anfangs vermietet, aber die Ansprüche der Mieter stiegen mit der Zeit, und nachdem Artur gestorben war, hatte ich keine Lust mehr auf große Umbauten. Da habe ich das Häuschen einfach sich selbst überlassen. Die Fenster sind zugig, durch das Dach pfeift der Wind, und es gibt nur einen alten Ofen.«

»Du übertreibst doch, Tante«, schmeichelte Henni. »Außerdem haben wir Sommer. Da muss ich nicht heizen, und wenn es ein wenig reinregnet, wische ich es einfach wieder auf. Solange ich keine Eimer aufstellen muss …«

»Wir können uns die Sache ja mal ansehen«, gab Alma nach. »Aber vorher müssen wir uns unbedingt stärken.« Mit ihrem Spazierstock wies sie zum alten Hofgebäude hin. Es lag ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite der Fahrbahn. Ein Café war dort eingezogen, und es gab einen großen Außenbereich mit Tischen und Stühlen.

Henni nickte und fasste ihre Tante unter.

»Was darf ich dir bestellen?«, wollte Alma bereits auf dem Weg dorthin wissen. »Engadiner Nusstorte oder Bobbes? Die machen hier übrigens einen Frankfurter Kranz, da wird die Mainmetropole neidisch. Sie nehmen dazu einen Teil Dinkelmehl, das macht den Kuchen schön locker und saftig. Und ihre Buttercreme ist nicht so mächtig.«

»Das klingt doch gut.«

»Im Alter verträgt der Magen nichts Schweres mehr, weißt du, und bei Zucker und Fett ist besondere Vorsicht geboten.«

»Hm, ja.« Henni war in Gedanken bei ihrem Geburtstagskränzchen in der Goldenen Waage. Sie sah Niko vor sich am Tisch sitzen, gepflegt wie immer, und neben ihm Doris mit ihren verregneten Panda-Augen.

Ob er glücklich mit ihr war?

Plötzlich knallte ihr etwas gegen die Wade, und Henni schrie gellend auf. Jemand war ihr von hinten in die Beine gefahren.

»Autsch! Was zum Henker …?« Sie drehte sich um und rieb sich die schmerzende Stelle. Der Übeltäter war ein vielleicht fünfjähriger Pimpf, der auf einem grünen Spielzeugtraktor saß.

»Hab ich dir wehgetan?« Weinerlich verzog er das Gesicht.

War sein Mitleid mit ihr so groß, oder fürchtete er sich vor einer Strafe? Henni wollte das Kind trösten und suchte nach passenden Worten. Ihr Blick fiel auf eine Tafel an der Hauswand, auf der die Gerichte des Tages angepriesen wurden. Mit bunter Kreide hatte jemand einen Spruch dazugeschrieben: Power to the Bauer. Sie musste lachen, was der Junge wohl als Geste des Verzeihens ansah. Brummend ahmte er einen Motor nach, stieß sich mit den Füßen vom Boden ab und fuhr auf seinem Traktor davon.

Tante Alma dirigierte sie an einen Tisch im Außenbereich des Cafés. In Sichtweite befand sich ein Spielplatz, auf dem Kinder über hölzerne Stege balancierten. An den Tischen ließen Väter Babys auf ihren Knien hopsen, Hunde lagen schläfrig zu Füßen ihrer Frauchen. Es roch nach Heu und frischem Kaffee. In Henni kam Bullerbü-Feeling auf.

»Kommst du öfter hierher?«, fragte sie Alma.

»So oft ich kann. Ich hab’s ja nicht weit.« Almas Miene besagte, dass sie sich ihrer Privilegien bewusst war. »Was macht deine Wade? Wirst du nachher laufen können, oder muss ich dich huckepack nehmen?«

»Nein danke, es geht schon wieder.« Niko hatte sie mal auf dem Rücken gefühlt durch halb Frankfurt getragen. Sie hatten das Museumsuferfest besucht, und an Hennis High Heels war ein Absatz abgebrochen. »Das kommt davon, wenn man sich derart in Schale wirft«, hatte Niko gelästert. Aber dann hatte er sie klaglos auf dem Rücken bis zum Taxistand geschleppt. Sie waren beide ein bisschen angeheitert gewesen, schließlich hatten sie ein paar Cocktails intus gehabt. Und Henni hatte die ganze Zeit albern gekichert.

Als die Bedienung an ihren Tisch kam, orderte Alma Kaffee und Kirschstreuselkuchen, Henni beließ es bei einem Wasser. Sie wollte bei ihrer Tante einziehen, ihr aber nicht auf der Tasche liegen.

»Du hast also deine Arbeit verloren?«, ging Alma zu den wichtigen Themen über.

»Ja, die Boutique im Flughafen musste leider schließen, die gibt es nicht mehr.«

»Schade. Den Job hast du geliebt, nicht wahr?«

»Oh ja! Ich mag es einfach, schicke Klamotten um mich zu haben. Und meine Kundinnen waren ausnahmslos interessant.«

Füllige Schönheiten auf der Suche nach einem Badeanzug für den Strand, der zwei Kilo Bauchfett wegschummelte. Businessfrauen, die noch schnell ein Kostüm für ein Meeting brauchten, Preis egal. Herren mit grauen Schläfen, die ganz dezent ein paar Dessous erstanden. Alle erwarteten sie große Abenteuer, und ihr Reisefieber hatte sich oft genug auf Henni übertragen.

»Der Duft von Shalimar und Kerosin«, hatte Niko gewitzelt, wenn sie ihm davon erzählte. Bei Flugzeugen konnte er an nichts anderes denken als an Energieverbrauch und Klimakrise.

»Und deine Wohnung bist du auch los?«, hakte Alma ungläubig nach.

Henni nickte traurig. »Die Tochter meines Vermieters soll sie übernehmen. Eine freche Göre, die Filmemacherin werden will. Ihr Herr Papa ist ganz wild darauf, sie in die Wohnung zu verpflanzen. Ich kann es ihm leider nicht verdenken, immerhin gehört sie ihm ja.«

»Trotzdem schade«, meinte Alma. »Vor allem, wo du in der Wohnung so glücklich warst. Mit Niko.«

Henni gab sich alle Mühe, die Erwähnung von Nikos Namen zu überhören. Es klappte.

Eine junge Frau brachte ihre Bestellung an den Tisch, und Alma machte sich gut gelaunt über ihren Kirschkuchen her.

»Erzähl mal, was es sonst noch Neues gibt«, bat sie. »Was macht mein kleiner Bruder so?«

Henni nippte an ihrem Wasser. Ihr Vater hatte sich nach dem Tod ihrer Mutter in ein Bergdorf in Italien zurückgezogen, wo Henni und Niko ihn noch kurz vor ihrer Trennung besucht hatten. Wie eine Weltreise war ihr die Fahrt in den abgelegenen Ort vorgekommen. In Serpentinen schlängelte sich die Straße durch das Gebirge, und vor jeder schlecht einsehbaren Kurve hatte Niko sicherheitshalber mehrmals gehupt.

»Die Italiener machen das auch so«, hatte er sich verteidigt, als Henni die Huperei zu viel geworden war. Und tatsächlich hatte ihr Vater Nikos Verhalten später für richtig erklärt. Nur wer ständig hupte, kam unversehrt bei ihm an. Das Dorf, in dem er nun lebte, war Henni wie eine Kuriosität vorgekommen. Es gab gefühlt nur eine Handvoll Einwohner, und wie es schien, wussten alle genauestens übereinander Bescheid. In wollenen schwarzen Kleidern, die für die dort herrschenden Temperaturen viel zu warm waren, hatte eine ältere Frau vor Vaters Haus gestanden und auf sie gewartet.

»Sono arrivati«, sie sind angekommen, hatte sie lautstark verkündet, als Niko und Henni aus dem Auto ausstiegen. Besuch aus Deutschland! Offenbar waren sie die Attraktion des Tages gewesen.

»Papa wandert über die Berge, und in seinem kleinen Garten baut er Tomaten an«, berichtete Henni nun. »Wir telefonieren öfter mal. Er ist wohl gern allein und hat versprochen, sich zu melden, falls er uns braucht.«

Am Tisch gegenüber nahm eine Frau mit drei kleinen Kindern Platz. Sie neckten einander, zogen sich gegenseitig an den Haaren, und eines versteckte sich unter dem Tisch. Ihre Mutter widmete sich gelassen der Speisekarte. Mit einem Mal hörte Henni ein Quäken, das zu keinem der Kinder gehörte. Die Mutter griff hinter sich, wo sie allem Anschein nach einen Kinderwagen abgestellt hatte, und zauberte auch noch ein winziges Baby daraus hervor. Kaum saß es auf ihrem Schoß, war es zufrieden, riss seine großen Augen auf und starrte Henni stumm und wie gebannt an.

Henni seufzte leise. Drei Jahre lang hatte sie versucht, Niko zu einem Kind zu überreden. Aber alle Liebesmühe war vergeblich gewesen. Die Verantwortung für einen neuen Erdenbürger wollte er nicht übernehmen. Er sah nur Überschwemmungen, Feuersbrünste, Dürren und Hungerplagen in einer nahen Zukunft, die er niemandem zumuten mochte, schon gar nicht dem eigenen Kind.

»Hast du noch Kontakt zu Niko?«, fragte Alma wie aufs Stichwort. »Ich habe ihn immer gemocht. Er war so ein hübscher Kerl und obendrein sehr nett.«

»Hübsch und nett ist er nach wie vor. Gerade gestern habe ich ihn zufällig getroffen.«

»Und? War er allein?«

»Er hatte eine blonde Frau dabei. Doris, er hat sie mir vorgestellt.«

»Vermisst du ihn noch?«

Henni schüttelte den Kopf. »Unsere Einstellungen zum Leben sind zu verschieden, daraus konnte nichts Gemeinsames erwachsen.« Sie hoffte, dass das Thema damit abgeschlossen war.

Das Baby schaute sie immer noch an. Ein paar Meter entfernt hob ein Vater seinen Sohn auf die Schultern und lief im Galopp mit ihm davon. Der Kleine juchzte laut auf. »Lauf, Pferdchen, lauf!«, hörte Henni ihn rufen.

In den Jahren mit Niko hatten die Diskussionen um den Nachwuchs sie viel Kraft gekostet. Sie hatte ihm vorgeschlagen, ein Kind zu adoptieren, eines, das es auf dieser Welt schon gab. Der Vorschlag war ihm entgegengekommen. Doch dann hatte ihn ein wichtiger Termin daran gehindert, sie zur Adoptionsstelle zu begleiten. Ganz allein hatte sie der Vermittlerin gegenübergesessen.

»Werden Sie weiterhin arbeiten?«, war sie gefragt worden.

»Aber sicher«, hatte sie stolz gesagt.

Es war die falsche Antwort gewesen. Man gebe die Kinder lieber an Mütter, die tagsüber daheimblieben, hieß es, adoptierte Kinder bräuchten besonders viel Zuwendung von ihren neuen Bezugspersonen, da die Bindung, die bereits im Mutterleib entstehe, ja wegfiele.

»Dann arbeite ich eben nicht«, war Henni umgeschwenkt. Niko würde es als gut verdienender Freelancer bestimmt schaffen, eine kleine Familie allein zu ernähren.

In den Ohren der Vermittlerin hatte ihre Antwort wohl zu kess geklungen, sie runzelte kritisch die Stirn. »Darf es auch ein behindertes Kind sein?«, lautete ihre nächste Frage.

Henni hatte unschlüssig die Schultern gehoben. »Was genau meinen Sie damit?«

»Wie behindert darf das Kind sein, das Sie adoptieren?«

Nun war Henni nervös geworden.

»Alle wollen ein gesundes neugeborenes Kind, verstehen Sie? Aber nicht alle Kinder, die wir an Adoptiveltern vermitteln müssen, kommen so zur Welt. Wenn Sie wirklich ein Kind adoptieren wollen, sollten Sie überlegen, eins mit einer Behinderung zu akzeptieren.«

Henni hatte versucht, sich das vorzustellen: Pflege rund um die Uhr. Arztbesuche. Sonderschule. Auch sie wollte mit ihrem Kind auf dem Spielplatz herumtoben. Im Kino über Kinderfilme gemeinsam lachen. Zusehen, wie es das Seepferdchen machte. War das zu egoistisch? Vielleicht.

»Oder Sie müssten ein schwarzes Kind annehmen«, hörte sie die Vermittlerin sagen. »Wie schwarz darf es für Sie sein?«

»Ja sind wir denn hier auf einem Basar?« Henni war abrupt aufgestanden, fast hätte sie den Tisch umgeworfen, an dem sie mit der Vermittlerin gesessen hatte. Aufgewühlt war sie nach Hause gelaufen. Ein farbiges Kind? Klar, warum nicht? Aber seit wann konnte man über die Hautfarbe eines Menschen verhandeln wie über die Farbe eines Abendkleides? Nie mehr hatte sie mit Niko über Adoption gesprochen.

***

Den Weg nach Dortelweil gingen sie zu Fuß. Für ihr Alter schritt Alma zügig voran, nur hin und wieder schien sie nach Atem zu ringen. Henni trottete mit ihrem Rad neben ihr her, eine Hand am Lenker. Sie passierten Wiesen, auf denen Hühner gemächlich pickend durchs Gras staksten, und Äcker, auf denen Störche nach Essbarem suchten. An einer Schranke mussten sie einen Regionalzug vorbeilassen. Alma sah ihm einen Moment versonnen nach. »Der fährt ins Keltenland.«

»Dorthin, wo diese Sandsteinstatue gefunden wurde?« Davon hatte Henni im Internet gelesen. Gräber aus keltischer Zeit waren vor fast drei Jahrzehnten in der Wetterau entdeckt worden, dazu Grabbeigaben und die Überreste von vier lebensgroßen Statuen. Halbwegs unversehrt war nur einer der steinernen Männer gewesen, ihm fehlten lediglich die Füße, und die Bevölkerung hatte rasch einen Namen für ihn gefunden. »Der Keltenfürst vom Glauberg«, erinnerte sich Henni.

»Ob er tatsächlich ein Fürst war, weiß niemand«, meinte Alma. »Vielleicht war er ein berühmter Feldherr, vielleicht ein hoher Priester. Auf jeden Fall war er eine wichtige Persönlichkeit. Aus hundert Kilometer Entfernung hat man ihm Met als Grabbeigabe gebracht.«

»Honigwein von so weit her?«, meinte Henni skeptisch. »Woher will man das heute noch wissen?«

Ihre Tante lächelte geheimnisvoll. »Das haben die Blütenpollen ausgeplaudert, die man im Met fand.«

Die Nachmittagssonne stand träge über der Landschaft, und auf einer kleinen Brücke legten sie eine Pause ein. Als wäre sie eine Fremdenführerin, wies Alma auf das Flüsschen unter ihnen, an dessen Ufern gelbe Teichrosen auf der Wasseroberfläche waberten. »Darf ich vorstellen? Die Nidda.«

Henni konnte nicht widerstehen. Sie lehnte ihr Rad ans Geländer, beugte sich vor, spuckte ins dahinziehende Wasser und genoss es, sich für Sekunden wieder wie ein Kind zu fühlen. Gebannt sah sie zu, wie ihr Speichel größer werdende Kreise zog, bevor er sich unter die seichten Wellen mischte.

»Früher war das hier ein schnurgerader Kanal, durch den das Wasser nur so hindurchschoss«, erzählte Alma. »Inzwischen hat man die Nidda an vielen Stellen aus ihrem zu engen Bett befreit. Hier darf sie nun wieder mäandern, und es herrscht neues Leben. Hör mal, wie die Frösche quaken! Es sind die liebestollen Männer. Das Weibchen erhört denjenigen, der sich am meisten anstrengt.«

»Arme Kerle. Bei so viel Konkurrenz …«

Kein einziger Frosch war zu sehen, aber dem Konzert nach, das sie gaben, mussten sie eine Heerschar sein.

Lachend zogen sie weiter. Ihr Weg führte sie eine kleine Anhöhe hinauf und geradewegs auf ein Ensemble alter Herrenhäuser zu, die einen Platz und eine Straße säumten.

»Wusstest du, dass mein Dorf sechshundert Jahre lang zu Frankfurt gehörte?« Alma schien sich in ihrer Rolle als Fremdenführerin wohlzufühlen. »Dortelweil war quasi der Gemüsegarten der freien Reichsstadt. Durch die Nidda und durch Haingräben war das Dorf wie eine Festung gesichert. Bis heute gibt es eine dreihundert Jahre alte Dorfmauer. Habe ich dir die tatsächlich noch nie gezeigt?«

Henni schüttelte den Kopf. »Wir sind immer viel zu sehr mit Kaffeetrinken und Ratschen beschäftigt, wenn ich dich besuche. Aber was sind denn Haingräben?«

»So nannte man tiefere Gräben, deren Aushub man am Rand zu einem Wall aufwarf und mit Hainbuchen und anderen Bäumen und Sträuchern bepflanzte. Es gab sie überall in der Gegend, durch manche floss Regen- oder Quellwasser. Im Mittelalter waren die Bauern nie sicher vor plündernden Soldatenheeren, und so mancher Wolf schreckte nicht davor zurück, sich am Vieh zu vergreifen. So konnten sie wenigstens die Höfe schützen. Die Ländereien der Gutsbesitzer lagen ja rund um das Dorf verstreut. Einige Parzellen gehörten auch Klöstern, andere dem Ritter Bechtram.«

»Alma, du bist ja ein wandelndes Lexikon!«

»Ich war mal Lehrerin, schon vergessen? Deutsch und Geschichte. Aber was ich dir hier erzähle, weiß man einfach, wenn man in der Wetterau lebt.

»Du meinst, jeder hier kennt diesen Ritter?«

»Na sicher. Der Ritter Bechtram wohnte in Vilbel in einer Wasserburg. Deren Ruine steht noch heute, und auch die können wir uns gern mal anschauen.«

»Hm, ja.« Henni sah etliche ermüdende Besichtigungstouren mit ihrer Tante auf sich zukommen, dabei suchte sie doch nur ein Dach über dem Kopf.

***

In ihrem Wohnzimmer durchsuchte Alma Schubladen, Kisten und Kästen. »Herrgott, wo hab ich nur die Schlüssel für das Häuschen? Magst du ein Glas Apfelsaft trinken? Ist von meinen eigenen Äpfeln hinten im Garten. Wir haben einen Apfelweinkelterer hier im Dorf, der hat sie mir gepresst.«

»Lieb von dir, aber nein danke.« Henni wollte das Häuschen sehen. Der Apfelsaft konnte warten.

Tante Alma eilte dennoch in die Küche, um ihr wenig später ein Glas Saft vorzusetzen.

Aus Höflichkeit trank Henni ein paar Schlucke. »Mmh, schmeckt gut!«

Ihre Blicke wanderten durch Almas Wohnzimmer. Dass der Raum einmal Teil einer Scheune gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Dafür sprachen schon allein die hohen Decken und die luftige Weite. Das ehemalige Scheunentor war durch große Fenster ersetzt worden, und die wenigen Möbel verloren sich fast im Raum: ein hohes Bücherregal, ein Sofa, ein paar Sessel und eine Kommode. Auf dem niedrigen Couchtisch lag eine Ausgabe der Frankfurter Rundschau neben einer Obstschale voller Äpfel. Henni blätterte die Zeitung auf und vertiefte sich in die Stellenanzeigen. Rentner boten sich als Tapezierer und Gärtner an, ältere Frauen als Gesellschafterinnen. Ein Job für sie war nicht dabei, und zum Zeitvertreib wechselte sie zu den Kontaktanzeigen.

»Hör dir das an!«, rief sie amüsiert und las vor: »Welches Burgfräulein möchte sich in ihrer Freizeit von einem treuen Ritter begleiten lassen? Ich arbeite beim Theater. Alles kann, nichts muss.«

Alma zog den Kopf aus einer Schublade ihrer Kommode. »Das nenne ich mal knapp und bündig formuliert. Was hältst du davon, dem netten Ritter ein paar Zeilen zu schreiben? Vielleicht geht er mal mit dir aus. Du kannst deinem Niko ja nicht ewig nachtrauern.«

»Tue ich das denn?«

»Na, so ein bisschen machst du auf mich schon den Eindruck.«

»Ach was, Niko ist Geschichte.«

»Wenn du meinst …« Alma kramte seelenruhig weiter, und Henni befürchtete, dass sie die Druckerschwärze aus der Zeitung gelesen hätte, bis ihre Tante die Schlüssel fand.

Die Burgfestspiele seien in vollem Gange, stand auf der Wetterauer Seite der Zeitung. Den ganzen Sommer über wurden bekannte Stücke gegeben, nachmittags sogar für Kinder. Eine Regieassistentin hatte Hals über Kopf ins Ausland geheiratet. Nun suchten sie dringend eine Vertretung.

»Diese Burgfestspiele, finden die in der Ruine von diesem Ritter Bechtram statt?«, fragte Henni in Richtung der Kommode, in der ihre Tante gewissenhaft das Unterste zuoberst kehrte. »Da könnte ich mich doch bewerben!«

Eine Schublade wurde krachend zugeschoben, und Alma stand wie aus dem Boden gewachsen vor ihr. »Aber Kind, als was denn?«

Henni dachte einen Moment darüber nach. Als Regieassistentin bräuchte sie Theatererfahrung, die sie nicht hatte. Aber vielleicht konnte sie einen anderen Job übernehmen.

»Kostümbildnerin?« Sie ließ das Wort in der Luft hängen.

Alma nahm ihr kopfschüttelnd die Zeitung aus der Hand. »Das ist kein Job, den man einfach so macht«, erklärte sie sanft. »Dazu brauchst du eine Ausbildung. Als Modedesignerin oder eben als Kostümbildnerin.«

»Von Verkleidung verstehe ich aber was«, beharrte Henni. »Was meinst du, was ich in der Boutique den ganzen Tag gemacht habe? Es gibt ja Kolleginnen, die immer nur beteuern: Ja, das passt prima. Das steht Ihnen ausgesprochen gut. Und das sagen sie selbst dann, wenn die Kundin in einem Kleid wie Wurst in Pelle ausschaut. Hauptsache, die Kasse stimmt. Aber das war nie mein Ding. Die wahre Kunst ist doch, etwas zu finden, das die Kundin gut aussehen lässt und ihren Charakter unterstreicht. Bei Theaterkostümen wird das nicht so viel anders sein. Und nähen kann ich auch.«

»Da magst du recht haben«, lenkte Alma ein. »Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass sie jemanden ohne Erfahrung nehmen. Frag doch mal nach, ob sie in der Kostümabteilung eine ungelernte Hilfe brauchen. Vielleicht kannst du die Kostüme für die Schauspieler bügeln.«

»Bügeln?«, maulte Henni. »Du traust mir ja nicht viel zu.«