Todesstrand & Todeshaff - Katharina Peters - E-Book
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Todesstrand & Todeshaff E-Book

Katharina Peters

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Beschreibung

Zwei packende Ostsee-Krimis mit verdeckter Ermittlerin und Inselflair von Bestsellerautorin Katharina Peters in einem E-Book. Todesstrand: Ostseemorde. Emma Klar war eine leidenschaftliche Polizistin. Bis ein Einsatz gegen Mädchenhändler furchtbar schieflief. Sie wurde tagelang gefangen gehalten und wäre fast getötet worden. Nun hat sie sich ins beschauliche Wismar zurückgezogen – angeblich als Privatdetektivin. In Wahrheit jedoch hat man sie angewiesen, verdeckt zu ermitteln. Ihr erster Fall erscheint harmlos. Ein Mann glaubt nicht, dass seine sechzehnjährige Tochter sich umgebracht hat. Routiniert macht sich Emma an die Arbeit. Bald findet sie heraus, dass noch andere junge Frauen verschwunden sind – und sie stößt auf einen Namen, der sie beinahe in Panik versetzt: Teith. Ein Mann mit diesem Namen gehörte zu ihren Peinigern. Todeshaff: Die Toten am Salzhaff. Die verdeckte Ermittlerin Emma Klar soll einen Mann beschatten, der wegen Totschlags zehn Jahre im Gefängnis saß, dessen Tatmotiv jedoch unklar geblieben ist. Christoph Klausen verhält sich zunächst völlig unauffällig, doch dann werden in einer Ferienanlage an der Ostsee zwei grausam zugerichtete Leichen gefunden. Emma glaubt, in Klausens Vergangenheit eine Verbindung zu den Toten zu erkennen. Sie heftet sich eigenmächtig an seine Fersen – und kommt ihm dabei gefährlich nahe ...

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Informationen zum Buch

Zwei packende Ostsee-Krimis mit verdeckter Ermittlerin und Inselflair von Bestsellerautorin Katharina Peters in einem E-Book.

Todesstrand:

Ostseemorde. Emma Klar war eine leidenschaftliche Polizistin. Bis ein Einsatz gegen Mädchenhändler furchtbar schieflief. Sie wurde tagelang gefangen gehalten und wäre fast getötet worden. Nun hat sie sich ins beschauliche Wismar zurückgezogen – angeblich als Privatdetektivin. In Wahrheit jedoch hat man sie angewiesen, verdeckt zu ermitteln. Ihr erster Fall erscheint harmlos. Ein Mann glaubt nicht, dass seine sechzehnjährige Tochter sich umgebracht hat. Routiniert macht sich Emma an die Arbeit. Bald findet sie heraus, dass noch andere junge Frauen verschwunden sind – und sie stößt auf einen Namen, der sie beinahe in Panik versetzt: Teith. Ein Mann mit diesem Namen gehörte zu ihren Peinigern.

Todeshaff:

Die Toten am Salzhaff. Die verdeckte Ermittlerin Emma Klar soll einen Mann beschatten, der wegen Totschlags zehn Jahre im Gefängnis saß, dessen Tatmotiv jedoch unklar geblieben ist. Christoph Klausen verhält sich zunächst völlig unauffällig, doch dann werden in einer Ferienanlage an der Ostsee zwei grausam zugerichtete Leichen gefunden. Emma glaubt, in Klausens Vergangenheit eine Verbindung zu den Toten zu erkennen. Sie heftet sich eigenmächtig an seine Fersen – und kommt ihm dabei gefährlich nahe ...

Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.

Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord« und »Fischermord« lieferbar.

Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung« und »Toteneis« lieferbar.

Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar.

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Katharina Peters

Todesstrand & Todeshaff

Zwei Ostsee-Krimis in einem E-Book

Inhaltsübersicht

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Todesstrand

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Todeshaff

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Impressum

Katharina Peters

Todesstrand

Ein Ostsee-Krimi

Prolog

Seine Augen würde sie nie vergessen – diesen absurd freundlich fragenden Blick, in dem sich Wärme, Heiterkeit und sogar eine Prise Besorgnis zu mischen schienen. Als würde er ein Kind beobachten, das allzu wild auf dem Spielplatz tobt. Aber sie war kein Kind, und nichts schien ferner als spielerische Leichtigkeit. Sie war an Händen und Füßen gefesselt und lag bäuchlings auf dem Boden, er saß in einem Sessel an der Wand neben der Tür und neigte den Kopf, damit ihm nichts von dem entging, was seine beiden Vertrauten mit ihr anstellten. Sie wusste nicht, was schlimmer war: die Erniedrigung, die Angst oder die Schmerzen, die sie ihr zufügten.

Die Kunst besteht darin, innerlich abzuschalten, dachte sie, die Situation damit erträglicher zu machen. Natürlich gelang ihr das nicht oder immer nur für lächerlich kurze Momente, in denen gnädigerweise alles verschwamm und unwichtig wurde. Paradoxerweise bereitete es ihr tiefe Genugtuung, die Namen und Gesichter der Bastarde im Laufe der Nacht völlig aus ihrem Kopf zu verbannen. Nur seine Augen nicht.

Die beiden Männer betraten erneut den Raum – zum vierten und wahrscheinlich letzten Mal in dieser Nacht. Sie trugen Jacken, Handschuhe und Stiefel. Sie wusste, was ihr bevorstand, er hatte es gleich zu Beginn der langen Nacht in beiläufigem Ton angedeutet. Sie würden sie nach unten an den Fluss bringen und ertränken. Sie hatte nicht reagiert, sich bemüht, keine Miene zu verziehen. Wenn sie eine Chance hatte, dann ausgerechnet in diesem letzten tödlichen Moment, aber jegliches Zeichen von Hoffnung würde ihn misstrauisch machen.

Keiner der drei konnte wissen, dass sie nicht nur eine versierte Taucherin war, sondern in der Spezialdisziplin des Apnoetauchens seit vielen Jahren hervorragend abschnitt. Sie war in der Lage, mit einem einzigen Atemzug gut vier Minuten bewegungslos unter Wasser zu verharren – der Weltrekord der Frauen, den eine Russin hielt, lag bei ungefähr neun Minuten, der deutsche Rekord bei zirka sechs Minuten. Ihre Bestzeit hatte sie in ausgeruhtem Zustand vor einigen Wochen bestätigt. In diesem Moment war natürlich alles anders – sie war weder ausgeruht noch in guter Verfassung –, aber schon drei Minuten durften ausreichen, ihre Peiniger davon zu überzeugen, dass sie tot war. Die größte Herausforderung würde darin bestehen, ihnen den Todeskampf realistisch vorzuspielen und dabei nicht in den Sog der Angst zu geraten und damit wertvollen Atem zu vergeuden.

Einer der beiden trat hinter sie und schnitt ihr die Fußfesseln durch. Der andere packte sie an den Armen und riss sie hoch. »Abmarsch«, flüsterte er in hämischem Ton. »Du wirst mir fehlen, Kleine. War eine wirklich geile Nacht mit dir.«

Sie bugsierten sie – nackt und blutverschmiert, wie sie war – auf die Rückbank eines SUV und warfen ihr eine Decke über. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde, so schätzte sie, während sie tief und gleichmäßig atmete und ihre Lunge zu füllen begann. Leere im Herzen, Leere im Kopf – beides schien unmöglich, und dennoch half ihr das konzentrierte Atemschöpfen zumindest äußerlich die Ruhe zu bewahren. Die drei sprachen kein Wort. Irgendwann verließen sie die Hauptstraße, der Wagen glitt flüsternd über weichen Boden, dann stoppte er, und der Motor erstarb.

Die Tür schwang auf. Sie roch den Fluss, als die Decke beiseitegerissen wurde. Sie zogen sie von der Rückbank, und sie stand auf wackligen Beinen. Er trat nahe an sie heran und suchte ihren Blick. »Du hast einen Wunsch frei«, sagte er leise. »Was darf es sein? Eine letzte Zigarette? Oder ein Stück Schokolade? Ein Bier? Nur zu, ich habe heute meinen spendablen Tag, und die Gelegenheit solltest du unbedingt ergreifen.«

Nimm mir die Handfesseln ab, du mieses Dreckschwein, schrie es in ihr, aber sie starrte ihn nur stumm an. »Ein Bier«, sagte sie dann mit leiser Stimme.

Er nickte und gab einem der Männer ein Zeichen.

»Wirklich?«

»Ja.«

Während der erste den Kofferraum öffnete und eine Bierflasche aus einer Kiste zog, sah er den zweiten Mann an. »Schneid ihr die Fesseln durch.«

»Echt?«

»Drücke ich mich so unklar aus?«

Die Flasche war kalt und schwer. Sie konnte sie kaum halten, führte sie mit Mühe an die Lippen und trank einen Schluck. Er schmeckte angenehm bitter.

»Tapfer, tapfer«, sagte er. »Sehr schade, dass du auf der falschen Seite stehst. Aus dir hätte was werden können. Verstehst du, was ich meine?«

Sie antwortete nicht, sondern trank einen zweiten Schluck und atmete weiter tief und gleichmäßig. Er wartete noch einen Moment, dann nickte er seinen Männern zu. Sie ließ sich zum Fluss hinunterführen, während er kurz oben stehen blieb, einen Blick in die Runde warf und dann langsam folgte.

Wasser war immer mein Element, beschwor sie sich – Seen, Flüsse, das Meer. Ein Ort für Träume und Hoffnungen, für Leben und Aufbegehren, für Lust und … Sie stießen sie zu Boden und packten rechts und links ihre Arme, er stellte seinen Fuß auf ihren Nacken, sie atmete noch einmal tief ein, bevor er ihren Kopf unter Wasser drückte. Das ist der Augenblick, in dem sich alles entscheidet, dachte sie seltsam emotionslos. Wenn die Panik sofort die Zügel in die Hand nahm, war alles vorbei. Dann würde sie sterben, mit gerade einmal achtundzwanzig Jahren. Meine Lunge ist voller Atem, voller Leben und Kraft. Sie spürte die gedehnten Flügel und konzentrierte sich auf das sanfte Pulsieren, zugleich strampelte sie mit den Füßen – vorgeblich stark und hoffentlich überzeugend verzweifelt im Todeskampf, einem täuschend echten Todeskampf, so betete sie. Eine Minute, schoss es ihr durch den Kopf, eine Minute ist fast vorbei. Apnoetaucher spüren die Zeit wie ihren Puls. Ihr Herz raste, die Bewegungen ihrer Beine ließen nach, ermatteten. Bitte, bitte, glaubt mir …! Sie erschlaffte, aber der Druck im Nacken ließ nicht nach. Sie wissen es, durchfuhr es sie plötzlich. Ich werde sterben. Ich bin vielleicht schon tot.

Der Fuß hob sich, ihre Arme waren von einem Moment zum nächsten frei. Sie verharrte für drei Sekunden, für fünf. Dann schob sie behutsam das Gesicht zur Seite, an die Oberfläche und schöpfte tief und leise Atem. Ich lebe, ich atme, ich lebe, schrie es in wildem Triumph in ihr, ich habe euch besiegt und werde leben … Sie ließ sich treiben – bewegungslos. Der Fluss trug und umschmeichelte sie.

»Fischt sie raus«, hörte sie ihn plötzlich rufen.

»Warum? Was soll das denn jetzt?«

»Nur so ein Gefühl. Es sollte nichts von ihr übrig bleiben. Falls ihre Leiche zu schnell gefunden wird, könnte man noch Spuren sichern. Bei einer ermordeten Polizistin werden sie sehr genau hinsehen, davon müssen wir ausgehen.«

»Aber …«

»Kein Aber. Ich hab’s mir anders überlegt. Es sollte nichts von ihr übrig bleiben.«

»Na schön, du bist der Chef.«

»So ist es. Holt sie raus. Wir verbuddeln sie irgendwo und verschwinden dann ein paar Tage von der Bildfläche.«

Der Drang zu fliehen, schnellte augenblicklich in ihr hoch, aber sie wusste, dass es sinnlos war, in diesem Moment einen Fluchtversuch zu unternehmen. Sie war bei aller Euphorie zu schwach, um ein Wettschwimmen gegen drei Männer zu gewinnen, die nur wenige Meter von ihr entfernt herumstanden, auch wenn der Überraschungseffekt ihr zunächst einen Vorteil verschaffen mochte. Drängende Verzweiflung umklammerte sie für Momente, sie zitterte und kämpfte erneut mit aller Macht gegen die Panik an. Ihre einzige Chance bestand darin, die drei aus dem Nichts heraus zu überrumpeln – innerhalb weniger Sekunden.

Sie ließ sich ans Ufer ziehen. Die zwei packten sie mit grobem Griff an den Oberarmen und zerrten sie hoch, um sie in ihre Mitte zu nehmen. Als ihre Knie den Boden spürten, krallte sie die Zehen in die Erde und stellte die Füße auf, dann drückte sie sich in die Höhe und hob den Kopf. Fast im selben Augenblick drosch sie dem Mann zu ihrer Linken den Ellenbogen ins Gesicht, dem anderen rechts von ihr stieß sie den Mittelfinger mit ganzer Kraft ins Auge und brach ihm eine Sekunde später mit einem zweiten Schlag die Nase. Er sackte auf die Knie, sie trat noch einmal zu und hoffte, dass ihm das Nasenbein direkt ins Gehirn schoss, bevor sie hochblickte.

Nicht mehr als drei, vier Sekunden waren vergangen. Der Beobachter stand ungefähr vier, fünf Meter von ihr entfernt. Er war völlig perplex, erstarrt in fassungsloser Ungläubigkeit. Seine Augen durchbohrten die Dunkelheit. Sie wusste, dass er keine Waffe dabeihatte, und sie war hundertprozentig davon überzeugt, dass er sich ihr nicht nähern würde. Die Situation war schwer einschätzbar, und ohne seine Mitstreiter war er feige. Das wird er nie vergessen, dachte sie. Allein für diese Erkenntnis wird er mich ewig hassen.

Sie drehte sich um und rannte, stolperte am Flussufer entlang – halb ohnmächtig, immer wieder stürzend, triumphierend, schluchzend, still vor Erschöpfung, getragen von der Hoffnung zu überleben. Später wurde ihr klar, dass sie einen Mann schwer verletzt und den anderen getötet hatte. Sie bereute nichts.

1

Die Stadt hatte sie bereits am Vorabend mit schönstem Sommerwetter empfangen. Am Marktplatz tummelten sich Touristen, buchten Rundfahrten und beäugten die Kirchen der Hansestadt. Emma war früh aufgewacht und hatte nach einem kleinen Frühstück einen Spaziergang am Alten Holzhafen und durch die engen Kopfsteinpflastergassen der Altstadt unternommen. Keine Frage – Wismar verbreitete heiteren Charme und bot auch sonst einiges von dem, was ihr wichtig war. Dennoch – der ursprüngliche Plan war ein anderer gewesen, und sie fragte sich zum gefühlt hundertsten Mal, ob sie, umgeben und durchdrungen von trügerischer Beschaulichkeit, im Begriff war, eine falsche Entscheidung zu treffen.

Emma betrat einen Coffee-Shop in der Sargmacherstraße, wo sie mit Johanna Krass, Sonderermittlerin des Bundeskriminalamtes in Berlin, verabredet war. Der Treffpunkt war Krass’ Idee gewesen, und Emma hatte ihrer Stimme angehört, dass sie der Straßenname amüsierte. Dabei war Johanna Krass ganz sicher keine Persönlichkeit, die mit Humor punktete, weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick. Auf den dritten allerdings schon.

In den letzten zwei Monaten hatten sie sich einmal in Dresden getroffen, wo Emma bis vor ungefähr zwei Jahren dem LKA angehört hatte, einmal in Berlin. Vor der ersten Begegnung hatte Johanna sich selbst beschrieben, höchst zutreffend, wie Emma dann feststellen konnte: »Man sieht mir an, dass ich die fünfzig überschritten habe, und noch deutlicher sieht man mir an, dass mir das völlig schnurz ist. Und was mir kaum jemand abnimmt, ist die Kommissarin, schon gar vom BKA, sofern man damit die Vorstellung von einer seriösen und hochangesehenen Behörde verbindet.«

Damit lag sie hundertprozentig richtig. Johanna Krass machte auch bezüglich ihres Outfits keinerlei Hehl aus ihrer Unangepasstheit; sie trug am liebsten Outdoor-Klamotten und verstaute ihren Kram in einem abgewetzten Lederrucksack. Man hätte wetten können, dass Johannas kantiges Gesicht, in dem große blaue Augen vorherrschten, noch niemals mit Make-up in Berührung gekommen war. Es war die skurrile Persönlichkeit der älteren Kommissarin und ihre gelassene Hartnäckigkeit, die Emma veranlasst hatten, ihrem Vorschlag einer Zusammenarbeit keine vorschnelle Absage zu erteilen, sondern das Für und Wider gut durchdacht abzuwägen.

»Geben Sie der Idee eine Chance, und lehnen Sie nicht sofort ab«, hatte Krass sie gebeten.

Emma hatte nach der ersten Kontaktaufnahme mit Hilfe ihres Exkollegen Patrick Koboch in Erfahrung gebracht, dass Johanna in ständigem Clinch mit ihrer Vorgesetzten lag, die sie seit einigen Jahren wohl auch aus diesem Grund am liebsten auf Dienstreise schickte. Krass hatte vornehmlich in Niedersachsen, wo sie aufgewachsen war, alte Fälle bearbeitet – sehr eigenwillig und mit einigem Erfolg, wenn man sie einfach machen ließ. Die erfahrene Beamtin galt als schroff und wenig teamfähig, sie nahm selten ein Blatt vor den Mund, auch Kollegen gegenüber nicht. Es hieß, dass sie längst suspendiert worden wäre, wenn nicht ein hoher BKA-Beamter sich immer wieder für sie starkgemacht hätte – warum, wusste niemand, aber eine lange zurückliegende Affäre wurde uncharmanterweise gar nicht erst in Betracht gezogen.

Emma bestellte einen Caffè Latte und nahm in der hintersten Ecke des Lokals Platz. Zwei Tische weiter saß ein Liebespaar, daneben hatten es sich zwei junge Frauen bequem gemacht, die augenscheinlich Wichtiges zu besprechen hatten, Handys summten, der Milchaufschäumer zischte, ein Lachen flog durch den Raum, Stühlescharren. Die Türglocke schlug an, und Johanna betrat das Café – eine kleine hagere Gestalt, olivgrün und schwarz gekleidet. Der Rucksack baumelte achtlos über ihrer Schulter. Sie bestellte Kaffee und Kuchen und drängte sich mit ihrem Tablett durch den Gang in Emmas Richtung. Zwei, drei Gäste folgten ihr mit irritierten Blicken.

»Nettes Städtchen, oder?«, fragte Johanna statt einer Begrüßung, wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern machte sich sofort mit sichtlichem Appetit über den Kuchen her.

Emma deutete ein Nicken an und versuchte, ihre abrupt aufsteigende Unruhe zu ignorieren. Das kannte sie schon – das plötzliche Flattern in der Brust, der beschleunigte Atem, der heftige Impuls davonzustürzen, von einem Augenblick auf den anderen, ohne Erklärung, ohne Worte, nur weg … Aber der lautlose Aufruhr ließ sich in diesem Moment nicht einfach durch Missachtung auflösen, also atmete Emma tief aus und beschwor das Bild vor ihr inneres Auge, das die Kraft hatte, das Gefühl der Bedrängnis abzuschwächen und allmählich ausklingen zu lassen, statt sich zu einer Panikattacke aufzubäumen: Unter Wasser. Luftblasen. Schwerelosigkeit. Stille. Der Frieden des inneren Atems. Andere Gewaltopfer mit ihrer Geschichte hätten sich nie wieder in die Nähe von, geschweige denn ins Wasser getraut, Emma suchte immer wieder das Element auf, in dem sie das Überleben gelernt hatte –, zumindest tat sie das in vollem Bewusstsein, seitdem ihr klar geworden war, dass sie sich nicht länger verstecken oder weglaufen wollte.

»Ich komme gerade aus Rostock«, ergriff Johanna wieder das Wort. »Dort sind wir jetzt so weit.« Ihr Blick glitt über Emmas Gesicht. »Ich bin mit den Vorbereitungen sehr zufrieden.«

»Schön.«

»Alles okay mit Ihnen?«

»Aber ja.«

»Gut. Wir müssen heute eine Entscheidung über den Wismarer Standort treffen.«

»Das dachte ich mir schon.«

»Meiner Ansicht nach ist er ideal – als Außenstelle von Rostock und dennoch eigenständig.«

Ich sehe mir wie besprochen den Laden an, und dann verschwinde ich, durchfuhr es Emma. Sie trank einen Schluck Kaffee. Ihre Unterlippe zitterte. Was für eine absurde Idee, mit einer alten, verschrobenen BKA-Frau gemeinsame Sache machen zu wollen. Der ursprüngliche Gedanke, ihr Ding allein durchzuziehen – ohne BKA oder sonstige Dienststellen im Hintergrund –, war der richtige gewesen: unauffällig, effizient, losgelöst von Ämtern und Vorgesetzten, ohne die Gefahr undichter Stellen. Bereits jetzt wussten viel zu viele Leute von ihrer neuen Identität, von dem Plan verdeckter Ermittlungen, getarnt durch die harmlose Betätigung in einer Allerweltsdetektei, die untreuen Ehemännern und säumigen Schuldnern hinterherschnüffelte.

»Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«, scheuchte Johanna sie aus ihren Gedanken auf.

»Ich habe über den Vorschlag, wie versprochen, lange nachgedacht, aber … ich denke, wir haben keine Chance«, erwiderte Emma nach kurzem Überlegen ohne Umschweife. »Bestenfalls erreichen wir nichts, und schlimmstenfalls fliegt meine Deckung sehr schnell auf. Ich will in kein Team gepresst werden, dem ich über jeden meiner Schritte Rechenschaft schuldig bin.«

»Das wären Sie keineswegs, aber okay …« Johanna nickte nachdenklich, rührte im Rest ihres Kaffees herum, schob die letzten Kuchenkrümel zusammen und zuckte schließlich mit den Schultern. »Ich werde Ihre Entscheidung natürlich akzeptieren.«

»Gut.« Emma atmete erleichtert aus.

Johanna legte den Löffel beiseite und blickte einen Moment zum Fenster hinaus. »Es war Ihre Idee gewesen, als Privatdetektivin aktiv zu werden«, ergriff sie dann erneut das Wort. »Ein hervorragender Einfall übrigens. Sie wollen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, mindestens.«

»Als Einzelkämpferin komme ich wesentlich weiter als eingebunden in einen schwerfälligen Apparat mit hundert Mitwissern und vor allen Dingen Besserwissern.«

Johanna zuckte mit den Achseln. »Wir haben diese Diskussion schon mehrfach geführt, Emma. Ich weiß, was Sie beunruhigt, oder kann es mir zumindest gut vorstellen, ebenso Ihre grundlegenden Bedenken, und Sie kennen meinen Standpunkt. Ich denke, dass Sie angesichts der vereinbarten Grundsätze für unsere Zusammenarbeit die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Der schwerfällige Apparat, der ganz schön flott agieren kann, wenn man ihn zu nutzen weiß, schaltet sich nur ein, wenn wir ihn anfordern und seine Unterstützung erbitten, ansonsten bestimmen wir, wo es langgeht, und ungefragte Einmischung verbitten wir uns.«

Emma hob eine Braue. »Tatsächlich? Verraten Sie mir doch mal, seit wann sich das BKA von solchen Forderungen und Vereinbarungen beeindrucken lässt?«

»Ich stelle die Frage andersherum: Seit wann lasse ich mir vom BKA dazwischenfunken?« Johanna ließ für Sekundenbruchteile ein wölfisches Grinsen aufblitzen. Dann beugte sie sich vor und hielt Emmas Blick fest. »Sie werden auf sich allein gestellt nicht sehr weit kommen, nicht nur was die technischen und logistischen Möglichkeiten betrifft – oder aber erneut in große, nicht einschätzbare Gefahr geraten.«

Emma gab sich Mühe, keine Miene zu verziehen.

»Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass wir zu zweit, unterstützt durch die Rostocker Detektei sowie hochprofessionelle Rückendeckung, eine gute Chance haben«, fuhr Johanna fort. »Wie wollen Sie im Alleingang diesem Typen und seinen Leuten nachspüren, wenn Sie hier oben an der Küste so ganz zufällig, oder auch weniger zufällig, als Wald-und-Wiesen-Detektivin deren Spur aufnehmen? Mit Fernglas, Fotoapparat und Notizbuch? Unterstützt durch ein bisschen Internetrecherche und Schnüffeltechnik, wie sie die Privaten gerne nutzen? Wohl kaum, oder? Und wie soll es dann weitergehen? Wir reden hier über ein mit großer Wahrscheinlichkeit weitverzweigtes Netz im Bereich der Organisierten Kriminalität. Ist Ihnen das eigentlich in seiner ganzen Schärfe bewusst? Wie gelangen Sie an Material, das vor Gericht Bestand hat? Wie wollen Sie Nägel mit Köpfen machen?«

Emma verschränkte statt einer Antwort die Arme vor der Brust. Es ist doch ganz einfach, dachte sie. Der ganze OK-Kram ist mir scheißegal, gerichtsfeste Beweise sowieso. Wenn ich ihn erwische, sorge ich dafür, dass er nie wieder Schaden anrichten kann. Sie hoffte, dass sich der Gedanke nicht auf ihrer Miene widerspiegelte. Einen Moment lang war sie verblüfft, dass ihr nicht schon viel eher bewusst geworden war, worin der tiefere, der eigentliche Grund ihres Zögerns lag.

»Das BKA lagert die verdeckten Ermittlungen nicht ohne Grund aus«, fuhr Johanna mit gedämpfter Stimme fort. »Je weniger Akten bei ihnen herumliegen, desto besser. Je weniger offizielle Anträge und interne Prüfungen, umso effizienter. Das können und sollten wir uns sogar zunutze machen. Wir gewinnen sehr viel Spielraum und können den Typen auf den Pelz rücken, ohne bei jedem Schritt das Okay des Staatsanwalts einholen zu müssen. Das hat zweifellos viele Vorteile.«

»Nun …«

»Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass eine Spur nach Rostock und Umgebung führt.«

»Die kann falsch oder längst erkaltet sein.«

»Klar. Oder auch nicht.«

Johanna schob ihren Teller beiseite und stand abrupt auf. »Sehen wir uns das Büro der Detektei an? Fünf Minuten Fußweg von hier in Richtung Alter Holzhafen. Eine kleine Wohnung im Dachgeschoss gehört übrigens dazu.«

»Ich …«

»Treffen Sie dort Ihre Entscheidung«, unterbrach Johanna sie plötzlich in einem Tonfall, der keinerlei Widerspruch duldete.

BKA-Abteilungsleiterin Magdalena Grimich hatte das gut drei Monate zurückliegende Gespräch mit einem freundlichen Lächeln eingeleitet. Allein das wäre Anlass genug gewesen, sich Sorgen zu machen. Solange Johanna mit Grimich zu tun hatte, waren sie einander in herzlicher Abneigung verbunden, und dienstliche Unterredungen wurden stets in kühlem, häufig barschem Ton geführt. Die elegante, ehrgeizige Grimich hatte in den vergangenen Jahren keine Gelegenheit ausgelassen, Johanna unmissverständlich klarzumachen, dass sie ihren Job nur noch hatte, weil jemand von ganz oben, aus für sie kaum nachvollziehbaren Gründen, schützend seine Hand über sie hielt. Und sie nutzte jede Möglichkeit, Johanna auf Dienstreise zu schicken – am liebsten in Richtung Niedersachsen, wo sie sich inmitten staubiger Aktenberge die Zähne an unaufgeklärten Fällen ausbeißen sollte und häufig im Clinch mit den dortigen Dienststellenleitern lag. Nichtsdestotrotz hatte Johanna einige brisante Fälle aufklären können, was wohl niemanden mehr wunderte und wurmte als Grimich.

Johanna setzte sich, als ihre Vorgesetzte mit einer knappen Geste auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch wies: »Kaffee?«

Johannas Augen weiteten sich. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Grimich ihr je einen Kaffee – oder was auch immer – angeboten hatte, und nickte irritiert. Grimich bestellte telefonisch zwei Tassen Kaffee und eine Schale mit Gebäck.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, dachte Johanna perplex. Ich habe den größten Mist aller Zeiten gebaut, Grimich holt zum finalen Gegenschlag aus und wirft mich achtkantig raus, nachdem sie mich zuvor mit falscher Freundlichkeit aufs Glatteis gelockt hat. Oder Grimich wird befördert und hat nie wieder etwas mit mir zu tun. Das muss sie feiern – mit einem letzten Treffen, bei dem sie alle Register zieht, um sich an meiner Verblüffung zu weiden. Johanna schüttelte innerlich den Kopf über ihre abstrusen Spekulationen.

Die Sekretärin servierte kaum eine Minute später den Kaffee und Johannas Lieblingsgebäck. Die Kommissarin griff sofort beherzt zu, ließ Grimich aber nicht aus den Augen.

»Ihr letzter Fall in Niedersachsen liegt bereits einige Wochen zurück«, hob sie schließlich an.

Johanna schluckte, setzte ihre Tasse wieder ab und runzelte die Brauen. »Es gab keinen Fall – also keinen Mordfall. Ich bin auf keinen einzigen brauchbaren Ansatz gestoßen. Der Braunschweiger Geschäftsmann hat sich augenscheinlich selbst erhängt. Etwas anderes ließ sich nicht ermitteln, auch wenn mich das Ergebnis nicht unbedingt zufriedenstellte.«

Peter Librecht, Anfang vierzig, Familienvater, Immobilienbranche, fügte Johanna in Gedanken hinzu. Sie hätte schwören können, dass der Mann ermordet worden war, weil er sich mit den falschen Leuten angelegt hatte. Aber die Lage war undurchsichtig geblieben, weil niemand reden wollte, die Spuren ließen keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu, und sie hatte unverrichteter Dinge wieder abreisen müssen. Das war höchst unbefriedigend, passierte aber hin und wieder mal.

Grimich lächelte erneut. »Das soll nicht Gegenstand unserer Unterredung sein. Ich teile Ihre Einschätzung, dass mehr dahintersteckte, aber es geht mir um einen anderen Aspekt. Librecht hatte, wie Sie ja wissen, Drogen konsumiert.«

»Eine synthetische Partydroge, Ecstasy, und einiges andere in einer ziemlich fiesen Zusammensetzung«, bestätigte Johanna. »Das Screening ergab allerdings, dass er nicht sonderlich viel genommen hatte, und der Rechtsmediziner meinte …«

Grimich winkte ab. »Dass die Suizidgefahr natürlich erhöht sein kann, wie bei vielen Drogen, erst recht in der Mischung mit anderen Substanzen. Dennoch ist nicht zwingend von einer Selbsttötungsgefahr auszugehen – ich kenne die Akte.«

Anscheinend sogar die Details. Johannas Verblüffung wuchs von Minute zu Minute.

»Stutzig macht in diesem Zusammenhang etwas anderes«, fuhr Grimich fort. »Die Droge taucht in genau dieser gepanschten Kombination nicht zum ersten Mal auf. Bei einer jungen Frau, die vor knapp zwei Jahren in Polen als vermisst gemeldet worden war und wenige Tage später bei Pirna, einige Kilometer südlich von Dresden, tot aus der Elbe geborgen wurde, konnte eine ganze Menge davon nachgewiesen werden. Unser Drogenexperte ist sicher, dass das Gemisch aus ein und demselben Labor beziehungsweise aus der Hand eines Chemikers stammt.«

Interessant, aber worauf will sie eigentlich hinaus? Die Tatsache, dass ein Drogengemisch republikweit vertrieben wurde, war so ungewöhnlich nicht, überlegte Johanna. Librecht hatte hin und wieder Drogen zur Stimulanz genommen, vornehmlich auf Partys, vielleicht auch mal zur Leistungssteigerung im stressigen Berufsalltag, doch er war alles andere als ein Junkie gewesen, sondern ein erfolgreicher Geschäftsmann und Familienvater. So viel, immerhin, hatte sie herausgefunden.

»Die junge Frau ist weder durch Suizid noch aufgrund eines Unfalls oder im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch gestorben«, fuhr Grimich konzentriert fort. »Marta Jankowski, achtzehn Jahre alt, wurde gequält, vergewaltigt, brutal ermordet und anschließend in die Elbe geworfen. Bei den Ermittlungen stellte sich heraus, dass sie aus ihrem Heimatort direkt hinter der Grenze östlich von Dresden entführt worden war. Ein Zeuge war sicher, mitbekommen zu haben, wie die Frau von drei Männern in ein Lokal gebracht wurde. Er hatte den Eindruck, dass da irgendwas nicht stimmte, wie er sich ausdrückte – ohne das konkreter beschreiben zu können. Bei Befragungen im Umkreis der Gaststätte konnte sich zunächst niemand an etwas Ungewöhnliches erinnern, doch ein anonymer Hinweis sorgte schließlich für eine heiße Spur. Die Ermittler konnten kurze Zeit später einen gewissen Bruno Teith und zwei seiner Leute identifizieren.«

Johanna konnte mit dem Namen nicht das Geringste anfangen.

»Teith hat vor vielen Jahren als Diskothekenbetreiber angefangen, inzwischen hält er, zum Teil über Mittelsmänner und verzweigte Unternehmensbeteiligungen, bundesweit Geschäftsanteile an unterschiedlichsten Lokalitäten – auch in Braunschweig. Außerdem betreibt er einen Cateringservice für exklusive Kundschaft.«

»Rotlichtmilieu?«

»Wir gehen davon aus, dass dort sein Hauptbetätigungsfeld liegt – allerdings nur im hochpreisigen Bereich und sehr professionell getarnt.«

»Nun gut – möglicherweise gibt es eine irgendwie geartete Verbindung zwischen Librecht und Teith …«

Grimich nickte.

»… die sich bei meinen Nachforschungen nicht erschloss.«

»Nicht erschließen konnte«, fügte Grimich rasch hinzu. »Das Drogengutachten stand Ihnen nicht zur Verfügung, und das Ergebnis des Abgleichs beschäftigte andere Dienststellen.«

Aha, dachte Johanna, lass mich raten: Die Parallele hat sich zufällig ergeben, nachdem ich meinen Bericht abgegeben habe – jeder kocht sein eigenes Süppchen. Sie schob den Gedanken beiseite und setzte eine gelassene Miene auf. »Davon mal abgesehen: Der Drogenaspekt allein, so interessant er sein mag, dürfte den Fall Librecht wohl kaum entscheidend voranbringen. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, werden nicht auskunftsfreudiger, wenn ich den Namen Teith fallen lasse – noch dazu ohne zusätzliches Belastungsmaterial. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.«

Grimich nickte.

»Darüber hinaus stellt sich mir gerade die Frage, warum ein Mann wie Teith höchstpersönlich eine junge Frau aus Polen entführte, die wenig später sterben muss.«

»Das ist eine sehr gute Frage.« Grimich schlug ein Bein über das andere. »Eine forsche LKA-Beamtin mit einem ganz bestimmten Verdacht wollte es genauer wissen. Sie fackelte nicht lange und ließ Teith und seine Männer vorläufig festnehmen.«

»Ach?«

»Aber nach wenigen Stunden sorgte allerdings ein ebenso eifriger wie windiger Anwalt dafür, dass die drei wieder gehen konnten. Das übliche Spiel.«

Johanna runzelte die Stirn. »Mit einem ganz bestimmten Verdacht? Geht das etwas konkreter?«

»Und ob. Die junge Beamtin – sie ist übrigens in Hannover geboren, also ganz in der Nähe Ihrer Geburtsstadt – ermittelte bereits seit geraumer Zeit in einer Sonderkommission Menschenhandel«, berichtete Grimich. »Sie war und ist davon überzeugt, dass Teith zu den Drahtziehern einer Organisation gehört, die junge Frauen und auch Männer in die Prostitution lockt, nötigt, in bestimmte Kreise vermittelt, wie auch immer – womöglich ist er sogar der entscheidende Mann an der Spitze, zumindest seinerzeit gewesen. Sie hoffte, ihm und seinen Leuten die Entführung der Frau, womöglich den Mord und andere Straftaten ähnlichen Kalibers nachweisen zu können, hat sich damit aber deutlich zu weit aus dem Fenster gelehnt.«

»Verstehe. Aber das Ganze liegt inzwischen knapp zwei Jahre zurück. Wie ging es in der Zwischenzeit weiter?«

»Ziemlich dramatisch. Die Beamtin wurde entführt. Sie war eine Nacht in der Gewalt von Teith und seinen Kumpanen, und niemand weiß im Einzelnen, was die mit ihr angestellt haben. Sie spricht nicht darüber.«

Johanna schwieg betroffen.

»Der Kollegin gelang erstaunlicherweise die Flucht. Dabei tötete sie einen der Männer und verletzte einen zweiten.« Grimich unterbrach kurz. »Teith und sein Kumpan verschwanden spurlos, die achtundzwanzigjährige Kommissarin erlitt einen schweren Zusammenbruch und zog sich aus dem Polizeidienst zurück.«

Plötzlich war es sehr still. Was hat diese grauenhafte Geschichte mit mir zu tun? Johanna warf Grimich einen langen Blick zu.

»Wie es aussieht, hat die junge Frau keine Lust mehr auf die Opferrolle. Sie plant seit einiger Zeit eine Rückkehr in den Ermittleralltag – allerdings mit neuer Identität und in der Rolle einer Privatdetektivin«, berichtete Grimich weiter. »Gar keine schlechte Idee, wie ich finde. Die Ereignisse von damals lassen ihr keine Ruhe – verständlicherweise. Außerdem geht sie davon aus, Teith werde nicht vergessen, dass sie einen seiner Männer getötet und ihm erhebliche Probleme bereitet hat. Immerhin musste er ihretwegen abtauchen. Das hat sein Leben erheblich erschwert, und er wird das auf Dauer nicht so stehen lassen wollen.«

Johanna nickte. »Gibt es Hinweise auf seinen Aufenthaltsort?«

Grimich nickte. »Er scheint über sehr gute Kontakte zu verfügen. Wir gehen davon aus, dass er sich in Rostock und Umgebung herumtreibt – mit neuer Identität natürlich.«

»Was ist mit seinen geschäftlichen Aktivitäten?«

Grimich hob die Hände. »Die sind hochprofessionell auf mehrere Firmen und Mittelsleute verteilt und mit wasserdichten Verträgen abgesichert – wir kommen da zurzeit ohne geänderte Beweislage nicht weiter.«

»Verstehe, und was genau erwarten Sie in der Sache von mir? Das klingt doch alles sehr nach OK-Bereich.«

Grimich stützte das Kinn auf die Hand, als würde sie intensiv nachdenken. »Sie werden gemeinsam mit der Exkollegin als Privatermittlerin tätig werden, Hauptbüro Rostock, eine Außenstelle in Wismar. Offiziell werden Sie genau das tun, was Privatdetektive tun, inoffiziell geht es darum, Teith ausfindig zu machen und seine Organisation aufzudecken. Das BKA bleibt im Hintergrund und unterstützt Sie auf höchst unbürokratische Weise mit allem, was nötig ist – Informationen, Technik, schnelle Intervention bei den örtlichen Dienststellen und so weiter.«

Johanna lehnte sich tief durchatmend zurück. »Das ist kein Scherz, nehme ich an?« Das ist eine rein rhetorische Frage, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Natürlich nicht.«

»Warum gerade ich?«

»Nun, die Verbindung zum Braunschweiger Fall ist eine Sache – vielleicht erlangt er noch einmal Bedeutung im weiteren Verlauf, vielleicht auch nicht. Darüber hinaus bin ich sicher, dass Sie die richtige Partnerin für Emma sein könnten und fähig sind, sie von den Vorteilen einer Zusammenarbeit mit uns zu überzeugen.«

Das war für Grimichs Verhältnisse ein schmalztriefendes Kompliment, wie sie es garantiert nie wieder von ihr hören würde. Es konnte Johanna jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, worum es tatsächlich ging: Das BKA hielt sich fein säuberlich im Hintergrund und griff nur auf Zuruf ein – wer weiß, wer da eine Leiche im Keller herumliegen hatte und bei welcher Recherche mal wieder geschlampt worden war. Davon sollte möglichst wenig nach außen dringen. Die Hände durften sich andere schmutzig machen, am besten eine toughe, zutiefst persönlich betroffene Beamtin, die danach gierte, den Fall auf ihre Art zu bearbeiten, unterstützt von Johanna, die ohnehin nur dann funktionierte, wenn eine ungewöhnliche Aufgabe rief – abseits der Hauptflure des BKA, das erst dann wieder ganz hochoffiziell zur Stelle war, wenn es darum ging, sich in der Öffentlichkeit mit Erfolgen zu schmücken. Und last but not least bist du mich los – ein weiterer wahrhaft schöner Grund zum Feiern für Grimich. »Bedenkzeit?«

»Bis morgen. Dann müssen die Einzelheiten besprochen und konkrete Vorbereitungen getroffen werden. Es wird nicht einfach werden, Emma für den Plan zu erwärmen. Es heißt, sie hätte ihren eigenen Kopf.«

Damit kenne ich mich bestens aus.

Grimich lächelte süffisant.

Ich weiß genau, was du denkst.

2

Zwei Zimmer im Erdgeschoss – ein lichtdurchflutetes Büro, an das sich ein kleiner Raum mit Garderobe, Teeküche und Abstellkammer anschloss. Eine Treppe im Eingangsbereich führte ins Dachgeschoss. Der Geruch hatte schließlich den Ausschlag gegeben, so absurd das klang. Apfel und Vanille. Auf halber Treppenhöhe war ihr der Duft entgegengeströmt und hatte ein Kindheits-Déjà-vu ausgelöst. Wie albern. Aber der aufgeregten Freude, die sie plötzlich ergriff, konnte sich Emma nicht entziehen. Vielleicht hatte die Kommissarin geahnt, dass sie sich verzaubern lassen würde, wodurch auch immer, und darum auf der Besichtigung der Räume bestanden. Blödsinn. Allerdings hatte die alte Kommissarin zweifellos das eine oder andere Ass im Ärmel, das sie genau zum richtigen Zeitpunkt zu präsentieren verstand.

Später, als Johanna ihr die Schlüssel ausgehändigt und sich schließlich verabschiedet hatte, verharrte Emma minutenlang auf dem Balkon und blickte hinüber zum Hafen. Zwei Monate, dachte sie. Ich gebe diesem Projekt zwei Monate und ziehe alles raus, was ich für meine Suche benötige. Es würde sich bald zeigen, was hier ging und was nicht, dessen war sie sicher.

Sie rauchte einen Joint und rief dann Patrick an. Er würde sich um alles Weitere kümmern – die Anlieferung ihrer wenigen Möbel und Habseligkeiten, die seit geraumer Zeit bei einer Spedition lagerten, den notwendigen Papierkram und so weiter.

»Soll ich mich mit deiner Familie in Verbindung setzen?«, fragte er schließlich. »Ich meine – die sollten vielleicht wissen, dass alles okay ist und …«

»Nein. Nicht nötig.«

»Bist du sicher?«

»Würde ich es sonst sagen?«

»Na schön. Wir hören uns. Denk dran, regelmäßig das Handy zu wechseln.«

Emma drehte die Augen gen Decke. »Patrick, deine Sorge in allen Ehren, aber …«

»Ja, schon gut. Du bist ein großes Mädchen und kannst auf dich alleine aufpassen.«

»Klingt, als würdest du es langsam kapieren.«

»Ich habe das längst kapiert, Josy«, entgegnete er pikiert. »Aber die Leute, mit denen ihr euch anlegen wollt, sind nun mal ein besonderes Kaliber.«

»Ich weiß.« Ich bin diejenige, die es am eigenen Leib erfahren hat, und das fühlte sich manchmal an, als wäre es gestern gewesen. »Und nenn mich nicht mehr Josy, die Zeiten von Josefine Emma Rupert sind Geschichte«, setzte sie nach. »Gewöhn dich endlich an Emma Klar.«

»Ja, mach ich.«

Sie legte auf. Patrick meinte es nur gut, wie es immer so schön hieß, und letztlich hatte er recht. Teith hatte eine Rechnung mit ihr offen, und irgendwann, wenn die Gelegenheit günstig war, würde er sie begleichen wollen. Das konnte morgen oder in drei Jahren der Fall sein. Schon klar, Teith. Aber die Überraschung wird groß sein, wenn du mitkriegst, dass ich dich längst erwarte, mehr noch: dass ich schon seit geraumer Zeit auf der Suche nach dir bin.

Sie brauchte nicht lange, um sich in den neuen Alltag einzuleben. Das war eine ihrer Stärken – Emma war anpassungsfähig und pragmatisch. Wahrscheinlich hatten ihr diese Eigenschaften das Leben gerettet und einen Rest ihres Seelenfriedens bewahrt. Ihre Therapeutin hatte mal so etwas angedeutet, obwohl auch sie nur die Hälfte der Geschichte kannte, wenn überhaupt, und lediglich Ausschnitte ihres posttraumatischen Leidens. Es gab Nächte, in denen schreckte sie schweißüberströmt und verzweifelt nach Atem ringend hoch – fest davon überzeugt, in genau diesem Moment zu ertrinken. Manchmal stellte sie sich vor, wie sie Teiths Kopf mit dem Gesicht nach oben unter Wasser drückte und in seine panikerfüllten Augen eintauchte, während das Leben aus ihm wich. Sie genoss das Bild ohne eine Spur von Reue oder Erschrecken.

Emma richtete sich innerhalb weniger Tage in Büro und Wohnung ein, schaltete Anzeigen mit Fotos der neu eröffneten Detektei und saß ab neun Uhr morgens am Schreibtisch. Ihr Vorgänger war nicht gerade mit Aufträgen überschüttet worden – um genau zu sein, hatten seine Einnahmen kaum die Kosten gedeckt, wie Johanna erläutert hatte –, doch Emma schätzte, dass früher oder später doch der eine oder andere Job zu erledigen sein würde. Sie nutzte die Zeit, um das Netz und Polizeidatenbanken nach Hinweisen zu durchforsten – jede Meldung, Anzeige oder sonstige Berichterstattung, bei der es um Straftaten, ungewöhnliche Ereignisse, Vermisstenmeldungen oder Ähnliches ging, sammelte sie in einer Tabelle. Damit setzte sie die Arbeit der vergangenen Monate fort, wobei die Zugriffsberechtigung des BKA die Recherche jedoch ganz entscheidend vereinfachte.

Ihre eigene Akte war allerdings nach wie vor gesperrt. Emma hatte immer wieder versucht, das System auszutricksen, ohne Erfolg, und auch Patrick hatte ihr in diesem Punkt nicht helfen wollen. Niemand musste ihr erklären, dass ihr der Zugriff zu ihrem eigenen Schutz verwehrt wurde. Die Konfrontation mit den Fotos, die entstanden waren, als man sie fand, konnte einen Schock auslösen; auch das medizinische Gutachten und die psychologische Einschätzung sollte sie nicht lesen. Und doch … Manchmal wollte sie zurück an den tiefsten Punkt ihres Lebens, in die klare Schärfe der Verzweiflung und deren Überwindung, um sich bewusst zu machen, wie weit sie gekommen war.

Ein-, zweimal in der Woche traf sie sich zum Rechercheabgleich mit Johanna. In der Regel besuchte die Kollegin sie in Wismar, und sie spazierten zum Hafen hinunter, vertilgten Fischbrötchen und tranken Kaffee. Die Atmosphäre war absurd heiter, anders konnte Emma es nicht ausdrücken. Die Kollegin in Rostock war in eine gut funktionierende Detektei eingestiegen, in der zwei Mitarbeiter – Jens Bormer, zweiunddreißig, und Florian Kirch, achtunddreißig – die üblichen Aufträge erledigten. Beide hatten bereits in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich mit verschiedenen Dienststellen zusammengearbeitet und galten als vertrauenswürdig. Emma war dennoch skeptisch, ob es eine gute Idee war, Externe in eine derart brisante Ermittlung einzubeziehen.

»Ich hatte anfangs ähnliche Bedenken«, gab Johanna auf eine diesbezügliche Anmerkung bei einem ihrer Treffen zu, wischte sich die Hände an der Hose ab und holte sich ein zweites Brötchen vom Fischstand. »Aber die beiden sind okay, wurden zudem auf Herz und Nieren geprüft, und eine Neugründung wäre ohnehin zu auffällig gewesen«, fuhr sie wenig später fort. »Darüber hinaus sind sie nicht bis ins letzte Detail eingeweiht – deine persönliche Geschichte zum Beispiel kennen sie nur oberflächlich und soweit es für die Zusammenarbeit nötig ist. Du kannst selbst entscheiden, wem du was wann erzählst – oder auch nicht.«

»Ist das hundertprozentig sicher?«

»Nichts ist hundertprozentig sicher. Damit müssen wir uns abfinden. Damit muss sich jeder abfinden.«

Emma war mit der Antwort alles andere als zufrieden, aber sie schätzte Johannas Ehrlichkeit, und natürlich hatte sie recht.

Als Emma an diesem Nachmittag ins Büro zurückkehrte, sah sie von weitem, dass ein Mann vor der Ladentür stand und das Schild mit den Öffnungszeiten studierte. Sie ging langsam näher. Sie schätzte ihn auf vierzig oder auch einige Jahre älter. Schlechte Haltung, dachte sie, kraftlos, wenig Sport, die Jeans saß sehr locker, das kurzärmlige Hemd war ein Markenprodukt, aber ungebügelt wirkte es schlampig. Er drehte ihr das Gesicht zu, als sie neben ihn trat, eine lange blonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, und Emma erschrak. Sein Blick war leer.

»Kann ich helfen?«, ergriff sie das Wort und nestelte nach dem Schlüssel.

Er runzelte die Stirn und schien einen Moment zu überlegen. »Sind Sie Frau Klar, die neue Inhaberin der Detektei?«

»Ja. Ich habe das Büro vor einigen Wochen übernommen.« Sie schloss auf. »Möchten Sie hereinkommen?«

»Lohnt sich das eigentlich? Ich meine …« Er warf einen Blick in die Gasse – eine junge Frau schob mit verkniffener Miene einen Kinderwagen an ihnen vorbei – und fasste Emma wieder ins Auge. »Ihr Vorgänger hatte nicht genug zu tun.«

»Kann sein.« Emma schob die Tür auf. »Wir werden sehen.«

Er zögerte einen Moment. »Ich bin nicht sicher …«

»Das müssen Sie nicht. Wir können einfach erst mal reden, und Sie entscheiden später, was daraus wird – oder auch nicht.«

Er nickte. »Einverstanden.«

Der Mann mit dem verstörenden Blick hieß Paul Zilbert und bat um eine Tasse Tee, als Emma ihm etwas zu trinken anbot. Sie nahmen in der Sitzecke neben dem Schreibtisch Platz. Emma war leicht angespannt, was nichts damit zu tun hatte, dass sie womöglich ihrem ersten Mandanten gegenübersaß. Sie spürte plötzlich mit aller Schärfe, wie isoliert sie in den letzten zwei Jahren gelebt hatte. Isoliert – das klang sehr geschönt und sachlich. Sie räusperte sich und musterte Zilbert aufmerksam. »Fangen Sie einfach irgendwie an«, forderte sie ihn auf.

Er nickte, umschloss seine Tasse mit beiden Händen und rührte einen weiteren Löffel braunen Zucker in den Tee. »Marie. Ihr Name ist Marie.«

Seine Frau? Sie hatte eine Affäre …

»Meine Tochter. Sie ist nur sechzehn Jahre alt geworden …« Zilbert brach ab und trank einen Schluck.

Emma nahm den Block zur Hand und schraubte den alten Füllfederhalter auf, den ihr Großvater Karl vor gefühlt hundert Jahren geschenkt hatte, als sie beim LKA anfing zu arbeiten. Der Alte war inzwischen achtzig, und er war der Einzige, mit dem Emma sich hin und wieder in Verbindung setzte – ohne dass irgendjemand davon wusste oder auch nur ahnte, dass ein Kontakt bestand.

Zilberts Blick wanderte zu ihren Händen. »Ein schöner Füller«, sagte er leise. »Ungewöhnlich für Ihre Generation. Tippt man heutzutage nicht alles direkt ins Tablet oder Notebook?«

»Mag sein, aber für mich gilt das nicht. Notizen mache ich mir grundsätzlich mit einem Stift, gerne mit diesem.« Sie schob ein leises Lächeln hinterher, das er nicht erwiderte.

Emma wartete ab.

»Marie ist seit drei Monaten tot.« Er sah auf seine Hände. »Ich habe sie nach dem Tod meiner Frau vor zehn Jahren alleine großgezogen. Das war … nicht immer einfach.«

Emma malte ein zweites Kreuz auf die Seite.

»Man hat ihre Leiche am Wendorfer Strand gefunden. Die Polizei ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Marie Suizid begangen hat. Ihre Pulsadern waren aufgeschnitten, und sie litt seit einiger Zeit unter Liebeskummer.« Seine Miene war angestrengt. Er hatte sich die Worte gut zurechtgelegt und schien froh, sie ausgesprochen zu haben.

»Haben das die Ermittlungen ergeben oder wussten Sie über Maries Probleme Bescheid?«

Er sah sie an, als hätte er mit dieser Frage gerechnet. »Beides. Marie war eine ganze Weile unglücklich in einen Mitschüler verliebt. Darüber hat sie mit mir gesprochen – nicht besonders ausführlich, aber sie hat sich mir anvertraut.« Zilbert trank einen Schluck Tee. »Je mehr Zeit vergeht, desto fester bin ich davon überzeugt, dass meine Tochter sich niemals selbst getötet hätte.«

Du bist einsam, dachte Emma, und zutiefst verzweifelt. Womöglich plagen dich Schuldgefühle, im entscheidenden Augenblick nicht für sie da gewesen zu sein.

»Ich habe schon mehrfach überlegt, den Fall überprüfen zu lassen – ohne dann tatsächlich die Initiative zu ergreifen. Mir fehlte die Kraft und wohl auch der Mut. Tja, und als ich vorhin vor dem Laden stand, tauchten Sie plötzlich auf, und irgendwie …« Er gab sich einen Ruck. »Vielleicht ist eine Frau besser dafür geeignet. Ich könnte mir jedenfalls vorstellen, dass Frauen mehr Feingefühl haben, wenn es um so was geht.«

Nicht unbedingt, dachte Emma, behielt den Gedanken aber für sich.

»Ist ja auch egal – ich möchte, dass Sie sich das Ganze genauer ansehen, mit Leuten sprechen und so weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht zur Ruhe komme, solange ich nicht alles versucht habe und dem Zweifel nachgegangen bin, der an mir nagt, verstehen Sie?«

»Natürlich. Das kann ich selbstverständlich tun. Worauf begründet sich Ihre Skepsis?«

»Marie war zweifellos traurig, verletzt. Aber die Geschichte mit Luis lag schon einige Zeit zurück, und ich hatte den Eindruck, dass es ihr wieder besser ging. Sie wirkte munterer und deutlich unternehmungslustiger. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie …« Er drehte das Gesicht zur Seite und strich eine Haarsträhne zurück. »Sie hat nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen oder auch nur einen winzigen Hinweis. Das passt für mich einfach nicht.«

Das ist verdammt dünn, dachte Emma. Junge Mädchen und Liebeskummer, zu dem Thema hätte sie selbst einiges beizutragen gehabt, aber das gehörte nicht hierher. Sehr wahrscheinlich hatte sie ihrem Vater längst nicht alles erzählt. Hätte sie mit sechzehn ihren Vater in Liebesangelegenheiten eingeweiht? Wohl kaum. Ihre Mutter? Auch nicht. Aber es gab womöglich Sechzehnjährige, die das taten. Marie hatte keine Mutter mehr, und die Bindung zum Vater war vertraut, so klang es zumindest. Dennoch konnte die Lovestory alle möglichen Wendungen genommen haben, von denen Zilbert nichts ahnte.

»Außerdem passte der Ort nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Marie litt unter einer Sonnenallergie – keine besonders heftige Form, aber sie hielt sich grundsätzlich selten am Strand auf, zu keiner Jahreszeit. Eine Wasserratte war sie auch nicht. Warum sollte es sie ausgerechnet in einer Situation größter Verzweiflung dorthin ziehen?«

»Vielleicht spielte das keine Rolle mehr«, gab Emma zu bedenken.

»So ähnlich argumentierte die Polizei auch, aber das überzeugt mich nicht.«

Emma nickte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Schlafen Sie eine Nacht darüber und entscheiden Sie morgen. Falls Sie mir den Ermittlungsauftrag erteilen möchten, benötige ich detaillierte Angaben über die letzten vierundzwanzig Stunden Ihrer Tochter, außerdem eine Liste mit Freunden und sonstigen Kontakten, die polizeilichen Unterlagen, die Ihnen zur Verfügung stehen, und alles, was Ihnen sonst noch wichtig scheint.«

»Und Sie brauchen einen Vorschuss«, ergänzte Zilbert.

Darüber hatte Emma noch gar nicht nachgedacht. »Eine kleine Anzahlung ist üblich.«

»Kein Problem.«

Paul Zilbert arbeitete als selbständiger Zahntechniker und verdiente gut, wie er Emma am nächsten Tag unaufgefordert erläuterte, als er die Unterlagen vorbeibrachte und den Auftrag unterschrieb. Er zahlte, ohne mit der Wimper zu zucken, fünfhundert Euro in bar an.

»Nehmen Sie sich Zeit und prüfen Sie alles sehr genau«, sagte er noch, bevor er die Detektei verließ. »Auf den ersten Blick scheint alles völlig klar.«

Emma versprach, ihn stets auf dem Laufenden zu halten, schlug den blauen Ordner auf und vertiefte sich sofort in die chronologisch sortierten Berichte und Aufstellungen.

Marie Zilbert hatte ihr Elternhaus am 24. April morgens verlassen und war zur Schule gegangen. Am frühen Nachmittag hatte sie zum letzten Mal mit ihrem Vater telefoniert, der zu diesem Zeitpunkt noch in seinem Labor beschäftigt war. Sie sei zu Hause und esse zu Mittag. Später sei sie zu der Geburtstagsparty einer Schulkameradin eingeladen, dort werde sie wahrscheinlich auch übernachten, so hatte er das kurze Gespräch zusammengefasst. Zilbert wunderte sich demnach nicht, als seine Tochter am nächsten Morgen nicht am Frühstückstisch erschien.

Spaziergänger entdeckten ihre Leiche gegen zehn Uhr in einem Gebüsch am Wendorfer Strand in der Nähe eines Hotels. Die Ermittler gingen sofort von Suizid aus, die späteren Ergebnisse der Kriminaltechnik und der Rechtsmedizin bestätigten den ersten Eindruck vom Auffindeort. Marie hatte sich die Pulsadern beider Unterarme der Länge nach mit einer Rasierklinge aufgeschnitten, die neben ihr lag und ausschließlich ihre Fingerabdrücke aufwies. Der Todeszeitpunkt wurde zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh geschätzt – eine genauere Angabe war wegen zwischenzeitlichen Regens, der auch die allgemeine Spurensituation beeinträchtigt hatte, nicht möglich.

In den ersten Befragungen stellte sich heraus, dass Marie gar nicht auf der Geburtstagsfeier gewesen war. Die Nachfrage einer Freundin per SMS, warum sie nicht komme, war unbeantwortet geblieben. Eine andere Schulkollegin wies darauf hin, dass Luis Renger, den sie nach wie vor anhimmelte, auch nicht auf der Fete war und Marie womöglich deswegen gar keine Lust gehabt hatte.

Emma blickte auf. Sie schätzte, dass die Polizei aufgrund der Eindeutigkeit des Falls nicht einmal ein Bewegungsprofil vom Handyprovider angefordert hatte. Wahrscheinlich war der Liebeskummer mit ganzer Wucht zurückgekommen, Marie war durch die Gegend gestromert, hatte sich irgendwo eine Rasierklinge besorgt und schließlich ihrem Leben ein Ende bereitet – mit tiefen Schnitten vom Ellenbogen bis zum Handgelenk. Niemand hatte etwas beobachtet oder mitbekommen, was allerdings an einem späten Aprilabend oder in der Nacht am Wendorfer Strand nicht weiter verwunderlich war.

Emma blätterte weiter. Den Obduktionsbericht hatte man Zilbert offenbar nicht zur Verfügung gestellt. Sie schreckte auf, als ihr Handy klingelte – die Rufnummer sagte ihr nichts, und sie meldete sich mit einem vagen »Ja?«.

Es war Zilbert. »Was sagen Sie?«

»Es ist zu früh …«

»Gut, und was werden Sie unternehmen?«

Emma unterdrückte eine unwillige Bemerkung – sie ermittelte als Dienstleisterin, das durfte sie nicht vergessen und daran musste sie sich erst gewöhnen. »Ich werde den Kontakt zu einigen Freunden und zu Luis Renger aufnehmen und mich an der Schule umhören. Das wird mein erster Schritt sein.«

»Werden Sie mit den Polizeibeamten sprechen?«

Ihrer eigenen Erfahrung nach unterhielten sich Kriminalbeamte nur ausnahmsweise mit Privatermittlern; sie brauchte einen triftigen Grund, wenn sie an offizieller Stelle Aufmerksamkeit für einen abgeschlossenen Fall erregen wollte. »Sobald es einen fruchtbaren Ansatz gibt, werde ich auch das tun.«

»Ein fruchtbarer Ansatz? Was darf ich mir darunter vorstellen?«

»Die Zweifel, die Sie hegen, sind nachvollziehbar und verständlich, aus Ihrer Sicht. Was ich jedoch brauche, ist ein fundierter Hinweis, besser noch ein Beweis, der auch die Ermittler hellhörig werden lässt.«

»Zum Beispiel?«

»Eine Beobachtung, die nicht berücksichtigt wurde, eine Aussage, die unterging – etwas in der Art.«

»Gut.« Er verabschiedete sich flüchtig.

Emma beschlich das untrügliche Gefühl, dass diese private Ermittlung sehr viel mehr Zeit und Engagement in Anspruch nehmen würde, als im Vorfeld des Projekts überhaupt geplant war.

3

Tom Girbach checkte in der Mittagspause seine Mails. Die Nachricht des Reiseveranstalters war im Spamordner gelandet, und er hätte ihr normalerweise nicht die geringste Beachtung geschenkt. Doch am Abend zuvor hatte zu Hause sein Telefon zweimal geklingelt, und jedes Mal war es still in der Leitung geblieben. Der Hinweis war unmissverständlich.

Tom stellte sein Geschirr in die Ablage und verließ die Kantine des LKA Dresden. Im Hof steckte er sich eine Zigarette an und öffnete die Mail. Sie enthielt Werbung für Pauschalreisen zum Schnäppchenpreis – sowie versteckt eine Telefonnummer, die sich von den angegebenen »Knüllerpreisen« ableitete. Tom prägte sich die Ziffern ein, löschte die Nachricht und rief die Nummer wenig später vom Festnetz im Hauptbüro der Drogenfahnder an. Die meisten Schreibtische waren besetzt, um ihn herum herrschte rege Betriebsamkeit, drei Kollegen diskutierten einen bevorstehenden Einsatz, Türen knallten, Telefone klingelten. Tom zwinkerte einem vorbeieilenden Kollegen zu und lauschte dem Freizeichen. Die Stimme, die er kurz darauf vernahm, klang freundlich und sehr leise, wie meistens.

»Neuigkeiten?«

»Nein.« Tom schüttelte den Kopf.

»Letzte Überprüfung?«

»Vor ein paar Wochen.«

»Geht das konkreter?«

Tom überlegte kurz. Es war mehr als zwei Monate her, dass er seine Fühler ausgestreckt hatte, aber die Auskunft würde dem Anrufer nicht gefallen.

»Ich schätze mal – gut ein Monat, ungefähr. Es war viel los und …«

»Das interessiert mich nicht. Wir haben eine Vereinbarung …«

»Ich weiß, aber …«

»Ich kenne die Liste deiner Aber – vergiss sie und setz deinen Arsch in Bewegung. Es gibt immer eine Lösung, erst recht nach so langer Zeit.« Die rüde Bemerkung spiegelte sich in keiner Weise im gleichbleibend ruhigen Ton wider.

»Klar doch.« Tom lächelte verkniffen. »Ich melde mich.«

Tom legte den Hörer beiseite und machte sich auf den Weg zur Teamsitzung. Es war alles andere als ein Kinderspiel, an die Info, die der Anrufer regelmäßig einforderte, heranzukommen. Es ging nicht um die Hintergründe eines Drogendeals oder eine geplante Razzia im Rotlichtmilieu, sondern um ein Kapitalverbrechen, in dessen Mittelpunkt eine Kollegin gestanden hatte, die ihr Engagement beinahe mit dem Leben bezahlt hatte – auch wenn inzwischen Gras über die Sache gewachsen sein würde.

Seit gut zwei Jahren war sie wie vom Erdboden verschluckt. Die offizielle Version lautete: Sie war von OK-Typen, denen sie im Laufe einer Ermittlung verdammt dicht auf den Pelz gerückt war, entführt und schwer verletzt worden; tief traumatisiert schied sie wenig später aus dem Polizeidienst aus. Tom war davon überzeugt, dass sie längst mit neuer Identität ins Ausland gegangen war – so hätte er es an ihrer Stelle getan. Er kannte zwar ihre Hintergrundgeschichte, aber die nutzte ihm gerade herzlich wenig, denn niemand kam an ihre Akte heran, natürlich nicht – das lief ab wie im Zeugenschutzprogramm. Jakob, wie er sich inzwischen nannte, interessierten derlei Erklärungen und Hindernisse allerdings überhaupt nicht. Er war davon überzeugt, dass Josefine Rupert eine Spur hinterlassen hatte, wohin auch immer sie gegangen war. Sie konnte ihn nicht nur erheblich belasten, sie hatte ihm auch das Leben schwer gemacht, mehr noch: ihn vorgeführt. Das sollte sie teuer bezahlen, so schätzte Tom Jakobs Beweggründe ein. Nachvollziehbar, und dennoch: Ob es besonders schlau war, einer Frau, einer Expolizistin noch dazu, nachzujagen, die womöglich nur noch ein seelisches Wrack war und in irgendeinem Kaff in Spanien oder Kanada oder wo auch immer das Erlebte vergessen wollte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Tom hielt es allerdings für unklug, Jakob diese Frage zu stellen, sondern musste möglichst schnell eine Lösung finden. Jakob war geduldig, aber er wusste sehr genau, was er wollte, und er hatte Tom in der Hand, wie so manch anderen auch.

Als der Mann vor fünf Jahren das erste Mal Kontakt zu ihm aufnahm, hatte er sich in der Nacht zuvor mit einer Prostituierten vergnügt. Die Pillen, die sie ihm spendiert hatte, waren hammermäßig gut gewesen. Er hatte stundenlang gevögelt, getanzt, getrunken, ohne eine Spur von Erschöpfung oder Müdigkeit zu spüren. Nur mit der Erinnerung haperte es etwas, denn die Fotos, die am nächsten Tag in seinem Postfach eintrafen, offenbarten eine völlig unbekannte Seite von ihm: eine dunkle, aggressive Seite, die ihn zutiefst erschreckte und die er offensichtlich komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte. Er hatte die junge Prostituierte grün und blau geschlagen. Der anonyme Absender der Mail versprach, die Angelegenheit vertraulich zu behandeln. Doch es war natürlich klar, was passieren würde, und Tom hatte in diesem Moment zwei Möglichkeiten: sofort seinem Vorgesetzten Bericht zu erstatten oder zu schweigen und abzuwarten, wie hoch der Preis für diese Nacht sein würde.

Tom war dreißig, alleinstehend, beliebt, auf dem Weg zum Teamleiter im Drogendezernat. Sein Job war ihm wichtig, bedeutete ihm aber beileibe nicht alles, und moralische Bedenken nahm er ohnehin nicht allzu ernst, die buchstabengetreue Einhaltung von Gesetzen, Vorschriften und Dienstanweisungen war darüber hinaus noch nie sein Ding gewesen. Er gehörte eher zu denen, die auch mal improvisierten, in welche Richtung auch immer.

Als ihn knapp einen Monat später ein junger Typ beim Joggen ansprach, hatte er die Angelegenheit nicht vergessen, aber zumindest erfolgreich verdrängt. Der Typ war freundlich, hatte ein sympathisches Lächeln und wollte lediglich einen kleinen Tipp für seinen Boss, wie er sich ausdrückte, und so begann Toms Karriere auf der anderen Seite des Gesetzes – hier ein Hinweis, wenn größere Razzien geplant waren, dort mal die eine oder andere Info aus Ermittlungsakten, manchmal ein Kurzdossier zu höchst unterschiedlichen Leuten. Für jeden Hinweis erhielt Tom ein fürstliches Entgelt. Dass er eine Spirale in Gang gesetzt hatte, die lediglich in eine Richtung führte, war ihm natürlich bewusst, doch die Tatsache berührte ihn erstaunlich wenig. Solange der Aufwand gering und das Risiko kalkulierbar blieben, bereitete ihm sein zweites Standbein keinerlei Kopfzerbrechen. Kriminelle würde es immer geben – erfolgreiche und weniger erfolgreiche und die, die immer am längeren Hebel saßen. Über die Rolle der Behörden hatte er sich schon früher keine Illusionen gemacht. Wir verwalten das Verbrechen, dachte er, hin und wieder schnappen wir ein paar von den kleinen oder auch mittelgroßen Fischen, wenn es gut lief, und das war es dann. Es schien ihm durchaus angemessen, sich von jeder Seite ein Stück des Kuchens zu sichern.

Doch nach der Josefine-Geschichte wurde alles komplizierter. Tom war die Karriereleiter einige Sprossen nach oben geklettert. Seine Aufgaben waren anspruchsvoller, seine Befugnisse deutlich erweitert, doch umso vorsichtiger musste er sein. Datenbankrecherchen unter seinem Namen sollten gut begründbar sein, Nachforschungen zur Exkollegin konnte er selbstverständlich nur verdeckt anstellen.

Als die Teamsitzung beendet war, verabschiedete Tom sich rasch und fuhr nach Hause. Was er bisher herausgefunden hatte beziehungsweise ohnehin bekannt war, war lächerlich wenig. Rupert stammte aus Hannover, wo sie auch ihre Ausbildung absolviert hatte, wenig später hatte sie in Dresden eine Stelle angenommen und war in die Soko Menschenhandel gewechselt. Hin und wieder war Tom ihr sogar mal über den Weg gelaufen – sie galt als hartnäckige Ermittlerin, eine Beamtin, die sich mit vollem Einsatz auch in brandgefährliche Aufgaben stürzte. Tja, und was hatte sie davon gehabt? Tom schüttelte den Kopf. Wie bescheuert muss man eigentlich sein? All diese engagierten Polizisten hatten seiner Ansicht nach zu viele amerikanische Cop-Filme gesehen, deren Helden sie nacheiferten – bis es sie erwischte, und zwar in der oftmals grauen Wirklichkeit des Polizistenlebens.

Er angelte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und stellte sich ans Fenster. Jakob würde bald ungeduldig werden, und Tom hatte überhaupt keine Lust, mit einem seiner Schlägertypen Bekanntschaft zu machen – oder wen auch immer er losschicken würde, um seine Zuträger auf Linie zu bringen. Auch wenn ihm der Gedanke, in dieser Weise aktiv zu werden, überhaupt nicht gefiel: Es wurde Zeit für einen Ausflug nach Hannover. Emmas Eltern lebten dort, und in irgendeinem Kaff im Umkreis der niedersächsischen Landeshauptstadt gab es noch einen uralten Großvater.

Luis Renger war in natura noch attraktiver als auf dem Foto, stellte Emma fest, als er nach Schulschluss über den Parkplatz auf sie zuschlenderte – dunkelbraunes gut geschnittenes Haar, tiefblaue Augen, schlank, geschmackvoll gekleidet, ein junger, bartloser Jake-Gyllenhaal-Typ. Vor kurzem hatte er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Sie hatte ihn am Tag zuvor angerufen und um ein persönliches Gespräch gebeten. Er nickte ihr zu, als sie grüßend die Hand hob.

»Gehen wir was trinken?«, fragte Emma.

»So viel Zeit habe ich nicht«, erwiderte er und sah kurz auf die Uhr. »Sie sind wirklich Privatdetektivin, Frau Klar?« Er lächelte amüsiert.

»Ja, die gibt es nicht nur im Fernsehen.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte zwei Schülern zu, die mit neugierigen Gesichtern an ihnen vorbeiliefen.

Emma überlegte kurz. Die Situation war gewöhnungsbedürftig, verglichen mit Befragungen, die sie während ihrer LKA-Zeit durchgeführt hatte. Luis war ein selbstbewusster Teenager, der sich zwar zu einem Treffen bereit erklärt hatte, aber zu rein gar nichts verpflichtet war. Wenn ihn das Ganze anödete, konnte er sich einfach davonmachen. Wenn er keine Lust hatte, sich mit ihr in ein Café zu setzen, sondern lediglich bereit war, ihr auf einem belebten Parkplatz im Schnelldurchgang die eine oder andere Auskunft zu erteilen, musste sie wohl oder übel damit leben.

»Wie ich am Telefon schon sagte – es geht um Marie. Ihr Vater ist skeptisch, was den Suizid seiner Tochter anbelangt. Er möchte, dass ich mir den Fall noch einmal ansehe.«

Luis verzog den Mund. »Er will es nicht wahrhaben?«

»Tja – schon möglich. Sie war heftig in dich verliebt, oder? Ich darf doch du sagen?«

»Klar.« Er lächelte eine Spur selbstgefällig. »Wir haben mal auf einer Party herumgeknutscht, und sie dachte wohl, dass wir nun ein Paar sind.«

»Das war aber nicht so?«

»Nö.« Er zog die Schultern hoch.

»Wann war diese Party?«

»Puh«, er fuhr sich leise stöhnend durch die Locken. »Anfang des Jahres? Ja, ich glaub, das war im Januar. Danach ist sie mir eine ganze Weile hinterhergelaufen und hat mich angeschmachtet.« Er nickte, garantiert passierte ihm das häufiger.

»Du wolltest aber nicht?«

»Nö. Sie war nicht mein Typ.«

Verstehe. Zum Knutschen hatte es gereicht, aber sonst interessierte ihn Marie nicht. Emma nickte verständnisvoll. Drei Monate später beging Marie Suizid, weil sie nicht über die Abfuhr hinwegkam. Möglich? Trotz des langen Zeitraums: ja, nicht auszuschließen. Wer weiß, wie lange sie schon in ihn verliebt gewesen war.

Sie suchte Luis’ Blick. »Hat es dich irgendwie verunsichert oder vielleicht sogar erschreckt, dass Marie sich deinetwegen das Leben genommen hat?«

Er zwinkerte. »Na ja, ist irgendwie schon merkwürdig, aber …« Einen Moment wirkte er irritiert. Er hob die Hände. »Ich kann ja nichts dafür.«

»Natürlich nicht.«

»Sie hätte ja auch in einen anderen verliebt sein können.«

»Durchaus.«

Luis hob das Kinn.

»Wo warst du eigentlich an dem Abend?«

»An welchem Abend? Als Marie …«

»Ja.«

»Warum interessiert Sie das?«

»Nur so«, erwiderte Emma beiläufig. »Marie war zu einer Party eingeladen, wo sie aber nie auftauchte. Eine Freundin meinte, dass du auch nicht dort warst.«

»Na und?«

Emma lächelte. Warum so schnippisch, Kleiner? »Die Freundin war davon überzeugt, dass Marie keine Lust auf die Party hatte, weil sie wusste, dass du nicht kommen würdest. Du warst also auch eingeladen.«

»Ach so, ja, klar war ich eingeladen …« Luis schüttelte den Kopf. »Ich hab gearbeitet, in einem Bistro auf Poel. Eigentlich wollte ich später noch hin, aber …« Er grinste. »Hat sich dann noch was anderes ergeben.«

»Verstehe.«

»Sind Sie sicher?« Luis lächelte und blickte wieder auf seine Uhr. »War es das jetzt? Ich muss los.«

»Sicher – danke für deine Auskünfte.«