Tödliche Gewissheit - Roger Graf - E-Book

Tödliche Gewissheit E-Book

Roger Graf

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Beschreibung

Es ist kalt, der Nebel wird immer dichter. Philip Maloneys Klientin Frau Koller ruft den Privatdetektiv zu einem Bürogebäude, in dem ihr Freund vor über vier Stunden verschwunden ist. Doch sie kommen zu spät: Der Mann, der behauptete, Basil Huber zu heißen, ist tot, erhängt. Frau Koller ist überzeugt, dass ihr Freund sich nicht selbst das Leben genommen hat. Maloney findet heraus: Die Fingerabdrücke des Toten zeigen eine klare Übereinstimmung mit einem gewissen Urs Imhasli, Privatdetektiv wie Maloney – allerdings eigentlich schon seit Jahren tot. Gemeinsam mit seiner Kollegin Jasmin rollt Maloney die alten Fälle des Toten auf. Die Leiche seines Kollegen führt sie zu vier getöteten Kindern, einem abgetauchten Pädophilen und ins Herz der Schweizer Politmaschinerie.

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Seitenzahl: 355

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Roger Graf

Tödliche Gewissheit

Ein Fall für Philip Maloney

Kriminalroman

atlantis

Für meine Schwester Jeannette

»Der Experimentator, denke er, habe nichts anderes zu tun, als zu experimentieren, er frage schließlich nicht mehr, warum er experimentiere, er habe diese Frage nicht zu stellen, er experimentiere sich zu Tode.«

Thomas Bernhard, Das Kalkwerk

1

Nebel lag über der Stadt. Auf den Straßen hörte man eilige Schritte, und man sah Lichter von Autos, deren Fahrer heilfroh waren, wenigstens ein paar Meter weit zu sehen. Es war keine Nacht für Spaziergänge. Die Einschaltquoten der verschiedenen TV-Sender erreichten Traummarken und in den Bars spülten die einsamen Säufer den letzten Rest an Willensstärke weg. In solchen Nächten sehnen sich selbst die abgebrühtesten Menschenfeinde nach einem Zipfel an Gemeinsamkeit.

Ich selbst konnte mir das abschminken. Ich war beruflich unterwegs. Die Schubertstraße war eine jener Seitenstraßen, die zu den Albträumen aller Taxifahrer gehören. Meiner fluchte unentwegt vor sich hin, als er dreimal vergeblich versuchte, links abzubiegen, und dabei jedes Mal in einer Sackgasse landete. Abwechslungsweise machte er dafür die Politiker und den Nebel verantwortlich. Vermutlich hielt er auch das Wetter für eine Schikane der neuen Regierung, der es, wie allen Regierungen zuvor, nach seiner lautstark kundgegebenen Meinung zu urteilen, nur darum ging, den Taxifahrern das Geschäft zu vermiesen. Ich machte den Kerl darauf aufmerksam, dass er erneut drauf und dran war, falsch abzubiegen, was eine weitere Fluchtirade zur Folge hatte. Wenig später stand ich in der Schubertstraße und atmete mich durch den Nebel von Tür zu Tür. Die meisten Türen gehörten zu Wohnhäusern. Ich suchte ein Geschäftshaus und meine neue Klientin, von denen weit und breit nichts zu sehen war. Einige Meter weiter vorne sah ich durch den Nebel ein fahles Licht, das in einem Haus brannte. Ansonsten war es in der Straße dunkel, zwei trübe Straßenlaternen änderten daran nicht viel. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, dass es kurz vor Mitternacht war. Irgendwo wurde ein Gartentor geöffnet und wieder geschlossen. Schritte. Eine Autotür. Ein Wagen, der sich entfernte. Dann war es wieder still. Ich ging auf das Licht zu und stand schließlich vor einem hässlichen Bürohaus. Vier Stockwerke, große Fenster, viel Stahl, billige Konstruktion. Am Eingang waren zwei Dutzend Klingeln angebracht. Ein Drittel davon war nicht angeschrieben. Der Rest waren Schilder kleinerer Firmen und Bürogemeinschaften. Ich trat einige Schritte zurück und schaute nach oben. Noch immer brannte dieses eine Licht. Dann stand sie plötzlich neben mir. Mittelgroß, dunkle Haare, um die vierzig.

»Sind Sie Philip Maloney?«

»Wer zum Teufel würde sonst so behämmert sein und hier die Aussicht genießen«, fragte ich sie.

»Koller ist mein Name. Sie müssen entschuldigen. Aber ich musste dringend mal.«

»Schon gut. Ist er noch drin?«

»Ja«, sagte sie.

»Und wenn er rausgekommen ist, während Sie auf der Toilette waren?«

»Ich war drüben im Gebüsch.«

Sie zeigte auf den Vorgarten eines schmucken Hauses, gleich gegenüber. Ich schaute sie mir genauer an. Ihr Gesicht war gepflegt, gut geschminkt, und die Augen verrieten Intelligenz. Sie war nicht die Frau, die sich einen Spaß daraus machte, Privatdetektive sinnlos im Nebel herumstochern zu lassen.

»Wie lange ist er schon drin?«

»Vier Stunden«, sagte sie und tippte mit einem Finger auf ihre kleine Armbanduhr.

»Er sagte, dass es höchstens eine Stunde dauern wird.«

»Was sollte höchstens eine Stunde dauern?«

»Die Besprechung. Oder was auch immer er vorhatte. Er sagte mir, dass es wichtig ist. Er war nervös. Ich spürte, dass es etwas Unangenehmes sein musste. Ich fuhr ihn hierher. Er sagte, ich solle ihn in einer Stunde wieder abholen. Ich ging etwas trinken. Als ich zurückkam, brannte oben das Licht. Aber es öffnet niemand. Ich habe überall geklingelt.«

»Vielleicht ist er längst bei Ihnen zu Hause?«

»Nein«, sagte sie. »Ich habe angerufen. Mehrmals. Vom Auto aus.«

»Und wenn er im Lift steckengeblieben ist?«

Sie überlegte kurz, schüttelte dann den Kopf. Sie öffnete die Handtasche, wühlte darin und fand eine Packung Kaugummis. Sie bot mir einen an. Ich verzichtete.

»Schon als wir uns kennenlernten, wusste ich, dass er mir etwas verheimlichte. Vielleicht war es das, was mich so sehr an ihm faszinierte. Nicht, dass er ein Verbrecher ist, oder so etwas. Nein, das hätte ich gespürt. Er spricht nicht gern über sich, sein Leben. Es ist so, als wollte er sein bisheriges Leben verschweigen, so tun, als ob nie etwas gewesen war, vorher. Er wollte auch nicht, dass ich zu ihm kam. Immer trafen wir uns bei mir. Ich habe seine Wohnung bis heute nicht gesehen.«

»Könnte es sein, dass sich Ihr Freund da oben mit einer anderen Frau vergnügt?«

Ich zeigte auf die Fensterfront des Gebäudes. Sie schaute mich verblüfft an, forschte in meinem Gesicht, ob die Frage ernst gemeint war und lachte leicht überdreht. Noch während sie lachte, kullerten zwei Tränen über ihre Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg und schniefte. Ich schaute nach oben. Es hätte mich nicht erstaunt, wenn es in diesem Moment zu schneien begonnen hätte. In solchen Momenten beginnt es fast immer zu schneien. Doch es fielen keine Flocken, und meine Klientin erholte sich wieder.

»Tut mir leid«, sagte sie, »aber das ist die Anspannung. Das mit der anderen Frau, ob Sie es glauben oder nicht, daran habe ich überhaupt nie gedacht. Nein, nein, so verstellen kann sich kein Mann. Er liebt mich. Es muss etwas anderes sein. Er hat Angst. Seit ich ihn kenne, hat er Angst. Ich weiß nicht wovor. Aber er schaut sich immer um, wenn er meine Wohnung verlässt. Er geht fast nie aus, und wenn, dann nur abends. Tagsüber war er oft in meiner Wohnung und schaute fern.«

»Arbeitet er nicht?«

»Er sagt, dass er in der Werbung arbeitet. Konzepte und so. Aber ich habe nie etwas von ihm gesehen.«

»Wie lange kennen Sie ihn schon?«

»Zwei Monate. Ich weiß, das ist nicht lange.«

»Wie kamen Sie auf mich? Sie hätten auch die Polizei verständigen können.«

»Basil hat Ihren Namen einmal erwähnt. Basil Huber, so heißt er. Und er hat mir gesagt, dass er keinesfalls mit der Polizei zu tun haben möchte. Wegen irgendeiner alten Geschichte. Nichts Schlimmes. Das sagte er wenigstens.«

Ich atmete tief ein. Es deutete einiges darauf hin, dass meine Klientin an einen äußerst zwielichtigen Burschen geraten war. Die Liebe macht nicht nur blind, sie führt manchmal auch dazu, dass Leute wie ich frierend im Nebel stehen, auf ein beleuchtetes Bürofenster starren und sich herzergreifende Geschichten anhören müssen. Um der ganzen Sache ein wenig mehr Drive zu geben, klatschte ich zweimal in die Hände und begann »Lili Marlen« zu summen. Frau Koller fand das gar nicht komisch.

»Können Sie nicht reingehen und schauen, was los ist?«

»Und wie, bitte, soll ich das bewerkstelligen? Ich habe kein Dynamit dabei, um die Tür aufzusprengen.«

»Aber irgendwie muss man da doch reinkommen.«

Ich zuckte die Achseln und schaute mir die Tür etwas genauer an. Sie war aus dickem Glas, massiv. Das Ganze war vermutlich elektronisch gesichert, und wenn ich Pech hatte, lauerte hinter der Tür ein Mann von einer Überwachungsfirma, oder ein Kerl von einer Sekte, der Gratiseintritte für religiöse Filme verteilte. Ich klingelte mich durch die vier Stockwerke, rechnete aber nicht mit einem Erfolg. Zehn Minuten später brannte im dritten Stock noch immer Licht und Frau Koller schaute mich nervös und beunruhigt an.

»Wenn ich Ihnen eine Extraprämie zahle, kommen Sie dann einfacher in das Haus?« fragte sie mit leicht zitternder Stimme.

»Sie schauen sich zu viele Filme an.«

»Ich habe kein gutes Gefühl. Es muss ihm etwas passiert sein.«

Ich befürchtete, dass sie mir nun die Geschichte ihrer Liebe Teil zwei bis zehn erzählen würde und tat deshalb so, als wäre mir gerade die rettende Idee gekommen. Sie schaute mich interessiert an. Ich drehte mich um und betrachtete das Haus schräg gegenüber. Ein Kellerfenster war angelehnt. Ich sagte Frau Koller, sie solle auf mich warten und ging auf das offene Fenster zu. Ich kletterte über den Zaun, durchbrach das Gebüsch und sah, als ich mich umdrehte, Frau Koller heftig winken. Erst als ich den Vorgarten hinter mir hatte, fiel mir ein, dass sie das Gebüsch als Toilette benutzt hatte. Doch von solchen Kleinigkeiten lässt sich unsereins nicht von Ermittlungen abhalten.

Es war leicht, in das Haus einzudringen. Vom Keller führte eine Treppe in die oberen Stockwerke. Ganz oben stolperte ich über eine Skiausrüstung, konnte einen Sturz gerade noch vermeiden, fing die Skier auf und lauschte. Nichts regte sich. Es hat auch sein Gutes, dass sich in diesem Land die Bevölkerung gewissenhaft auf den nächsten Arbeitstag vorbereitet und frühzeitig schlafen geht. Das Fenster im Treppenhaus ließ sich problemlos öffnen. Ich sah schräg gegenüber die Umrisse von Frau Koller, die bei der Eingangstüre des Bürohauses wartete. Das erleuchtete Fenster war leicht seitlich versetzt, ich konnte nur einen Teil davon einsehen. Alles, was ich sah, war eine helle Wand und ein Schatten. Der Schatten bewegte sich ganz leicht. Es war der Schatten eines Körpers, der in der Luft baumelte.

2

Niemand hinderte mich daran, gewaltsam in das Bürogebäude einzudringen. Frau Koller, der ich andeutete, was ich gesehen hatte, folgte mir.

Das Büro im dritten Stock war nicht verschlossen. Die Tür war nur angelehnt. Ich schnitt den Mann von der Stange, die zu einem großen, leeren Wandschrank gehörte, dessen Türen entfernt worden waren. Frau Koller sagte kein Wort. Sie stand nur da und atmete heftig. Ich sah sofort, dass der Mann tot war. Der leblose Körper plumpste auf den Teppichboden, Frau Koller trat einen Schritt zurück.

Das Büro war praktisch leer. In einer Ecke lag am Boden ein Telefon, darunter ein Beantworter. Ein Lämpchen blinkte und zeigte an, dass jemand angerufen hatte. Frau Koller starrte auf den Toten und schluchzte leise.

»Ich muss jetzt die Polizei anrufen«, sagte ich.

»Er hat sich nicht umgebracht. Das ist unmöglich.«

»Haben Sie gesehen, wie jemand das Gebäude verlassen hat?«

»Nein. Vielleicht ist es passiert, während ich was trinken war.«

Sie wendete sich ab von dem Körper ihres toten Freundes und ging zum Fenster. Die Arme hatte sie über der Brust gekreuzt und um ihre Schultern gelegt. Ich bückte mich und schaute mir den Toten etwas genauer an. Sein Gesicht war rundlich, es hatte eine auffällige, leicht nach links gebogene Nase, und einer seiner Schneidezähne war dunkelgrau verfärbt. Die Schlinge war aus einem dünnen, bunten Seil, wie es Bergsteiger benutzen. Der Mann trug einen Anzug, darunter ein Baumwollhemd. In der Innentasche des Jacketts fand ich eine Brieftasche mit zwei Fünfzigfrankenscheinen. Kein Ausweis. Keine Karten. Nichts, was den Mann identifizierte.

»Trug Ihr Freund nie einen Ausweis bei sich?«

Frau Koller drehte sich vom Fenster weg, vermied es aber, ihren toten Freund anzuschauen. Sie ging den Wänden entlang auf mich zu, an mir vorbei und auf den schmalen Gang. Ich folgte ihr.

»Es ist wie damals«, sagte sie. »Sie müssen wissen, dass ich vor fünf Jahren eine Tochter verloren habe. Sie hatte Leukämie. Eines Morgens war sie plötzlich tot. Sie lag in ihrem Bett, und ich stand daneben. Ich spürte eine große Distanz. Das, was da lag, war nicht mehr meine Tochter. Das war nur noch ein Körper, der aussah wie meine Tochter. Es ist schon verblüffend, was es ausmacht, wenn das Leben aus dem Körper weicht. Ich bin kein religiöser Mensch, aber beim Tod meiner Tochter begriff ich, dass das Leben mehr ist, als ein Herz, das schlägt, und ein Lebewesen, das atmet. Was da drin liegt, ist nicht mehr mein Freund.«

»Weshalb sind Sie so sicher, dass er sich nicht umgebracht hat?«

»Sicher? Ich bin mir nicht sicher. Ich spüre es einfach. Weshalb sollte er sich umbringen? In einem leeren Büro, bei diesem grässlichen Licht? Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Hat er Ihnen gesagt, wen er hier treffen wollte?«

»Nein. Aber er fürchtete sich davor. Das sagte ich schon, nicht wahr? Eigentlich müsste ich jetzt wohl zusammenbrechen. Aber ich bin ganz ruhig.«

»Das ist der Schock«, sagte ich.

»Ich weiß nicht viel über ihn«, sagte sie. »Ich mochte es, dass er etwas Geheimnisvolles in mein Leben brachte.«

Sie begann wieder von ihrem Leben zu erzählen. Von einem Mann, den sie verlassen hatte, weil sie ihn verdächtigte, ihre gemeinsame Tochter allzu sehr zu lieben. Wie viele Menschen, die unter Schock standen, redete sie in einem seltsamen monotonen Singsang. Zwischendurch schnappte sie nach Luft. Ich wusste, dass sie kurz davor war zusammenzubrechen. Sie erzählte von einer Reise in die Karibik, bei der sie gesehen hatte, wie ein belgischer Tourist von einer Palette erschlagen wurde, die nicht sachgerecht an einem Kran befestigt worden war. Mich interessierte das nicht sonderlich.

Sie redete, während ich zurück in das Büro ging und mir den Telefonbeantworter anschaute. Ich borgte mir von Frau Koller ein Taschentuch. Es war feucht. Ich drückte damit eine Taste des Beantworters. Das Gerät spulte zurück. Dann hörte man ein Quietschen und die Stimme einer Frau. Was sie sagte, klang seltsam, angesichts der Leiche, die nur einen Meter neben dem Telefon lag.

Sie sagte: »Da ist Silvia. Der Pizzakurier ist unterwegs.«

Ich spulte vor, drehte die Kassette um und lauschte. Nichts. Es war der einzige Anruf auf der Kassette. Dann nahm ich den Telefonhörer und drückte die Wahlwiederholtaste. Es meldete sich ein Realtime-Börsenservice. Ich hörte mir an, wie es Dow Jones ging, und legte dann auf. Wenig später hatte ich die Polizei am Draht.

 

Meine Klientin wartete am Ende des Ganges im Dunkeln auf mich. Wir starrten eine Weile aus einem Fenster in den Nebel. Unten auf der Straße war es ruhig. Bis der Wagen der Polizei vorfuhr. Hugentobler stieg aus und gähnte. Ich ging nach unten und begleitete ihn und seine beiden Helfer ins Haus.

Meine Klientin beantwortete ruhig und beherrscht die Fragen der Polizisten. Ich rief einen Arzt an und sagte ihm, dass er sich um Frau Koller kümmern solle. Er war nicht sonderlich begeistert und brummte eine Weile in den Hörer, ehe er sich auf den Weg machte.

Ich ging zurück zu der Leiche und zu Hugentobler. Blitzlichter erhellten den kahlen Raum. Es war ein trostloser Anblick. Hugentobler schnäuzte sich die Nase und zeigte mit einem Kugelschreiber auf meinen Mund.

»Wie sind Sie eigentlich in das Haus gekommen, Maloney?«

»Ich habe zweimal kräftig gehustet, und dann fiel die Tür aus den Angeln.«

»Ist Frau Koller Ihre Klientin?«

»Sieht ganz danach aus«, sagte ich. »Sie hatte Angst, dass ihrem Freund etwas zugestoßen sein könnte.«

»Und das da war ihr Freund?« Er zeigte auf die Leiche, um die sich ein Mann mit Gummihandschuhen kümmerte.

»Ja«, sagte ich.

»Basil Huber soll der Mann heißen. Ihre Klientin weiß offenbar nicht sehr viel über ihn.«

»Kommt in den besten Beziehungen vor«, sagte ich.

»Auf den ersten Blick sieht das nach einem Selbstmord aus. Passt zur Jahreszeit, Maloney. Eine gute Zeit für Depressionen.«

»Wieso sollte er sich in einem leeren Büro aufhängen?«

»Keine Ahnung«, sagte Hugentobler. »Einen Abschiedsbrief hat er auch nicht hinterlassen.«

»Weist die Leiche noch andere Verletzungen auf?«

»Ein Hämatom am Oberarm. Könnte von einem Sturz herrühren.«

»Oder von einer kräftigen Hand«, sagte ich.

»Wir werden das überprüfen, Maloney.«

Er kratzte sich am Kopf. Schuppen schneiten auf den sauberen Teppichboden. Ich ging nach unten und verließ das Haus. Der Nebel war noch dichter geworden. Das Blaulicht des Polizeiautos leuchtete lautlos auf. Weiter vorne brummte leise ein Motor. Es war der Wagen meiner Klientin. Sie saß am Steuer, beide Hände auf das Lenkrad gestützt, und starrte durch die Windschutzscheibe. Ich klopfte an das Fenster und stieg ein.

»Ich wusste, dass er tot ist«, sagte sie. »Schon als ich bei Ihnen anrief. Vielleicht gibt es eine unsichtbare Energie, die zwei Menschen verbindet, und ich habe gespürt, dass diese Energie nicht mehr da war. Ich spürte, dass er nicht mehr lebt. Können Sie das verstehen?«

»Wenn er tatsächlich ermordet wurde, gibt es einige interessante Fragen zu beantworten. Weshalb ging er zu der Verabredung, wenn er ahnte, dass ihm etwas zustoßen würde? Und weshalb traf er keine Sicherheitsvorkehrungen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Er wollte mir nicht sagen, um was es bei dem Treffen ging. Es muss etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben.«

»Wo hat er gewohnt?«

»Zurlindenstraße. Die Nummer weiß ich nicht auswendig. Er sagte mir, dass es ein möbliertes Apartment sei, sehr klein. Ich war, wie gesagt, nie bei ihm.«

»Sind Sie ihm nicht wenigstens einmal gefolgt?«

»Nein. Ich vertraute ihm.«

»Toll«, sagte ich. »So wie allen Politikern, Banken und Steuerberatern?«

»Haben Sie in sein Gesicht gesehen? Einem solchen Gesicht muss man vertrauen.«

Ich schaute sie verblüfft an. Vermutlich stand sie mehr unter Schock, als das aus ihrem Verhalten zu erkennen war. Sie hielt noch immer das Lenkrad umklammert, und die Fingernägel gruben sich in das weiche Plastik.

Ich öffnete kurz die Türe und schaute zurück. Das Blaulicht zuckte noch immer durch den Nebel. Eine Kirchturmuhr schlug zweimal, und die Kälte drang in das Wageninnere.

»Ich möchte jetzt nach Hause«, sagte sie.

»Das ist keine gute Idee. Ich habe einen Arzt angerufen. Sie sollten jetzt irgendwas schlucken und dann eine Weile schlafen.«

»Ich schlucke keine Medikamente. Ich habe zu Hause schwedische Schlaftropfen.«

»Mit denen können Sie höchstens ein Ikea-Regal ruhigstellen.«

»Ich habe schon schlimmere Situationen gemeistert.«

Ehe ich protestieren konnte, fuhr sie aus der Parklücke und drückte das Gaspedal brutal durch. Ich schloss schleunigst die Tür und schnallte mich an. Frau Koller war eine gute Fahrerin. Sie manövrierte ihr Auto durch die dichte Suppe, als hätte sie in ihrem Kopf einen digitalen Richtungsweiser eingebaut, der vor jeder Kreuzung quäkte: Links abbiegen, rechts einspuren, geradeaus weiter. Ich erkannte mit Mühe und Not einige der Straßen, durch die sie fuhr. Meinem Magen bekam die Fahrt nicht besonders gut. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Es half. Sekunden später bremste der Wagen lautstark, und meine Klientin seufzte auf.

Ich stieg aus und wartete. Frau Koller wohnte in einem sanft renovierten Altbau. Meine Schritte verursachten knackende Geräusche auf der Holztreppe. Ich freute mich auf einen wärmenden Drink. Die Wohnung war überheizt, im Wohnzimmer summte ein Luftbefeuchter.

»Ich kann Ihnen leider nur einen Kaffee oder Wasser anbieten«, sagte sie. »Oder möchten Sie vielleicht einen Hagebuttentee?«

Mich schauderte bei dem Gedanken. Ich ließ mich in einen roten Sessel fallen und erschrak, weil eine riesige, fette Katze, die unter dem Sessel lag, laut fauchte und mir ihre Krallen in die Wade bohrte. Es gibt Nächte, in denen alles schiefgeht. Als Frau Koller mir den Kaffee brachte, rechnete ich fest damit, dass es sich um aufgebrühte schwedische Schlaftropfen handelte. Um so erfreuter nahm mein Gaumen zur Kenntnis, dass es bester italienischer Espresso war. Immerhin etwas.

3

Das möblierte Zimmer des toten Herrn Huber lag im dritten Stock eines schnörkellos gebauten Hauses, das an einer lärmigen Durchfahrtsstraße stand. Im Inneren des Gebäudes roch es nach Bohnerwachs und abgestandener Luft. Die vielen Türen erinnerten an ein Hotel. Die Tür zum Zimmer 15A war nicht verschlossen. Eine ältere Frau saß in einem Sessel und blätterte in einer Fernsehzeitschrift. Als sie mich sah, stand sie erschrocken auf und griff mit der einen Hand einen Putzlappen und mit der anderen das Rohr eines Staubsaugers.

»Ich bin gleich fertig«, sagte sie.

»Das sehe ich«, sagte ich.

»Man darf doch wohl mal eine kleine Pause machen. Es hat sich noch nie jemand über mich beschwert.«

»Und wer bezahlt Sie für das Herumsitzen?« fragte ich.

»Die Hausverwaltung. Das Putzen ist in der Miete inbegriffen.«

»Dann kennen Sie den Herrn, der hier wohnt?«

»Wieso? Ich dachte, Sie wohnen hier?«

»Sehe ich etwa so aus?«

»Das ist mir egal«, sagte sie. »Die Mieter wechseln ständig. Viele wohnen nur hier, weil sie von ihren Frauen oder Ehemännern vor die Tür gesetzt wurden. Ich könnte Ihnen einiges erzählen.«

Solche Drohungen sind meistens ernst gemeint. Ehe sie mir aber ihre Drehbuchideen für Sendungen wie Ehen vor Gericht um die Ohren schlagen konnte, ergriff ich den Staubsauger mit der einen und einen Arm der Frau mit der anderen Hand und setzte beides vor die Tür. Als sie protestierte, drückte ich ihr die Fernsehzeitschrift in die Hand, was sie mit einem versöhnlichen Knurren quittierte.

 

Das möblierte Zimmer war so unpersönlich wie ein Schlafzimmerschrank in einem Kaufhaus. Außer ein paar wenigen Kleidungsstücken und einer zwei Wochen alten Illustrierten fand ich zwei Sachbücher über Insekten und andere Viecher sowie einen mit Barthaaren verstopften Rasierapparat, zwei Kondome, eine Packung Kaugummi, einen Reisewecker, einen kleinen Koffer, einen Stadtplan und ein Foto von einem unansehnlichen kleinen Hund. Alles lag so herum, als sei es schon mal von jemandem genauer betrachtet worden. Vermutlich hatten sich Hugentobler und seine Leute auch schon über die magere Beute gewundert. Vielleicht waren die wirklich interessanten Gegenstände längst auf irgendeinem Pult im Polizeipräsidium gelandet. Da ich schon mal in dem Zimmer war, machte ich es mir gemütlich und legte mich eine Weile aufs Bett. Aus dieser Perspektive machte der Raum einen noch trostloseren Eindruck. Der helle mit schmalen Spiegeln versehene Schrank und der riesige mit schwarzem Kunststoff überzogene Sessel wirkten billig und schäbig. Der Blick aus dem Fenster war auch keine Augenweide; ein riesiger Kran, der über einer Baustelle installiert war.

Was hatte Basil Huber wohl bewogen, in diesem schäbigen Zimmer zu leben? Konnte er sich nichts Besseres leisten? Liebte er es, in anonymen Absteigen zu leben, in denen sich schon Hunderte von gescheiterten Existenzen nach einem Lottosechser gesehnt hatten? Es wunderte mich jedenfalls nicht mehr, dass er nicht wollte, dass seine Freundin ihn zu Hause besuchte. Ich stand auf und schaute mich noch einmal im Zimmer um. Unter dem Bett wurde ich fündig. Zwei Fotos. Auf einem noch einmal der hässliche Hund. Das andere war ein älteres Foto, unscharf, verwackelt. Es zeigte einen Mann bei der Gartenarbeit. Mehr nicht. Ich steckte das Bild ein und verließ das Zimmer.

 

Von einem Nachbarn erfuhr ich, dass die Vermieterin gegenüber wohnte. Es war ein wesentlich schöneres und gepflegteres Haus. Die Frau roch nach süßem Parfüm und milden Zigaretten. Sie hatte den Tick, jedes Mal wenn sie zum Sprechen ansetzte, mit den Fingern zu schnippen. Ich erfuhr von ihr, dass die Wohnung nicht von Basil Huber, sondern von einer Frau gemietet worden war, die sich Veronika Meyer nannte. Die Miete sei immer pünktlich überwiesen worden, der Rest interessierte die Vermieterin nicht. Hubers Ableben bedauerte sie, aber noch im selben Atemzug bot sie mir die Wohnung des Verstorbenen als Büro an. Ich verzichtete und lüftete draußen das Parfüm aus meinen Kleidern.

Es war an der Zeit, Hugentobler einen Besuch abzustatten. Wir unterhielten uns in der gemütlichsten Ecke des Polizeipräsidiums, direkt vor dem Kaffeeautomaten neben den Toiletten.

»Na, Maloney? Haben Sie schon im Nachlass des bedauernswerten Herrn Huber gewühlt?«

»Sie meinen in dem, was Sie übriggelassen haben?«

»Schön wär’s«, sagte er. »Da gab es nichts, was wir mitnehmen konnten. In dem Zimmer lag weniger persönlicher Kram herum als in jedem Hotelzimmer. Da stimmt etwas nicht.«

»Allerdings«, sagte ich. »Das war kein Selbstmord.«

»Das steht noch nicht fest. Nein, nein, Maloney. Ich meine diesen Basil Huber. Mit dem stimmte etwas nicht. Es ist nirgends ein Basil Huber registriert.«

»Vielleicht war das bloß sein Künstlername?«

»Also wie ein Künstler sah der nicht aus«, sagte Hugentobler. »Eher wie einer, der irgendwo auf einer Fahndungsliste steht. Seltsam wäre dann nur, dass auch seine Fingerabdrücke nirgends registriert sind.«

»Vielleicht hatte er künstliche Fingerkuppen?«

»Schon gut, Maloney. Haben Sie etwas über den Mann herausgefunden?«

»Wie sollte ich? Wenn nicht einmal die Polizei mit all ihren Hunden, Parkuhren und dem ganzen wissenschaftlichen Dienst weiterkommt?«

»Wenn Sie mich fragen, hatte der Mann etwas zu verbergen«, sagte er. »Vielleicht war er deshalb verzweifelt und hat sich erhängt. Es gibt unzählige Gründe, weshalb sich Menschen selbst umbringen.«

»Gehört dieser Automatenkaffee auch dazu?«

Er schüttelte langsam den Kopf und hielt mir dann einen kleinen Vortrag über die Vorzüge des hauseigenen Automaten, der neben Kaffee auch noch Leckereien wie Hühnerbrühe und Eistee ausspuckte. Ehe ich das Gleiche tat, verließ ich das Gebäude und ging zurück in mein Büro.

Ich telefonierte ein wenig in der Gegend herum, unterhielt mich mit einigen Ablegern der weitverzweigten Sippe der Hubers, ohne jedoch auf ein Mitglied namens Basil zu stoßen. Es wäre auch zu schön gewesen. Da ich es mir angewöhnt hatte, bei hoffnungslosen Fällen sowohl meine Nerven als auch mein Spesenkonto zu schonen, legte ich mich eine Weile unter den Schreibtisch und gönnte meinem Rücken die harte Unterlage.

4

Ich döste vor mich hin und träumte von einer schönen Klientin, der neben der Unschuld vor langer Zeit auch noch ein paar andere Dinge abhandengekommen waren, als mich Jasmin Weber überfallartig in die Realität zurückholte, indem sie mir gnadenlos ein Mobiltelefon ans Ohr drückte.

»Liegt doch gut am Ohr, oder?« fragte sie.

Ich nickte matt und rieb mir die Augen. Sie trug einen blauen Overall, der ihr mindestens drei Nummern zu groß war, und riesige Turnschuhe, in die die Füße einer ganzen Basketballmannschaft gepasst hätten.

Meine Berufskollegin, die zwei Stockwerke unter mir arbeitete, hatte sich auf vermisste Personen spezialisiert. Nach anfänglichen Reibereien, die rein beruflicher Natur waren, einigten wir uns darauf, statt in Konkurrenz auf Synergie zu machen und uns, wie alle großen Geschäftsleute dieser Welt, gegenseitig die fettesten Aufträge unter dem Arsch wegzuklauen. Da sie weiter unten residierte, war ihre Ausbeute weit größer, meine Klienten mussten schon sehr viel guten Willen aufbringen, um die morschen Treppen zu meinem Büro zu erklimmen. Es war noch nicht ganz ein Jahr her, dass wir gemeinsam einen ziemlich komplizierten Fall gelöst hatten. Seither arbeiteten wir wieder hauptsächlich auf eigene Rechnung, was nicht ausschloss, dass ich ab und zu auf ihre Kosten einen Drink zu mir nahm. Unsere Verbindung war, wie gesagt, rein beruflicher Natur, und es hatte auch über ein Jahr gedauert, bis wir uns duzten, deshalb mag es auch nicht weiter erstaunen, dass ich sie nie zuvor in dem albernen Overall gesehen hatte.

»Nur zu«, sagte sie. »Lästere über das, was momentan mega-in ist.«

»Overall und Riesenlatschen?«

»Stammt von meinem letzten Fall. Ein verschwundener 14jähriger Junge. Ist von zu Hause abgehauen. Ich fand ihn an einer dieser Partys. Vollgedröhnt mit Ecstasy und schlechter Musik.«

»In dieser Tarnung gingst du tanzen? Den Anblick hättest du mir ruhig gönnen können.«

»Ich habe mir von dem Honorar unter anderem ein neues Mobiltelefon gekauft.«

Ich schluckte leer. Nicht weil ich es übertrieben fand, sich ein solches Gerät anzuschaffen, mich störte mehr das »unter anderem«. Ich wäre ganz froh, wenn ich mir von meinen Honoraren ein Mobiltelefon kaufen könnte. Meistens reicht es nicht einmal für die letzte Telefonrechnung. Sie holte ein anderes Telefon aus ihrem Overall und hielt mir auch das ans Ohr.

»Auch nicht schlecht, oder? 100 Gramm leichter. Mehr Speicher. Besserer Akku.«

»Elektrosmog soll Gehirnzellen zerstören.«

»Dafür brauchst du dir keine Telefonnummern mehr zu merken«, sagte sie. »Alles automatisch. Ich schenke es dir. Detektive müssen heutzutage überall erreichbar sein.«

»Toll. Und wo steckt der Haken?«

»Du sollst das Ding dabeihaben und nicht an die Wand hängen«, sagte sie.

»Ich dachte eher an den sprichwörtlichen Haken.«

»Ach so. Möchtest du nicht runter kommen? Ich habe eine hübsche kleine Flasche Lord Richmond bei mir. Jahrgang 63.«

»Nicht übel«, sagte ich. »Der Haken riecht immer besser.«

»Ich kann dir auch ein neues Ballerspiel zeigen. Ziemlich rasante Angelegenheit.«

Ich streckte mein Kreuz durch und folgte ihr.

Ihr Büro war vollgepfercht mit Elektronik. Überall flogen Toaster herum und schwammen Fische über den Bildschirm. Die ehemalige Informatikstudentin Jasmin Weber schenkte mir großzügig ein Glas mit Whisky ein und öffnete sich selbst ein Wittekopp. Dem ersten Schluck schob sie ein Gummibärchen nach. An das hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Ich wusste, dass spätestens nach dem dritten Bärchen der Haken kam. Er kam schon nach dem ersten.

»Ich arbeite zurzeit an einem Fall, der schon einige Jahre zurückliegt«, sagte sie. »Genaugenommen zehn Jahre. Ein Knabe, Sebastian Steiner, damals siebenjährig, verschwand spurlos hier in der Stadt. Hat für ziemlichen Wirbel gesorgt, weil schon in den zwei Jahren davor insgesamt drei Kinder spurlos verschwunden waren. Drei Kinderleichen wurden später gefunden. Der Sohn meiner Klientin tauchte bis heute nicht auf. Ein Mann wurde im Laufe der Ermittlungen verhaftet. Er gestand in der Untersuchungshaft drei Morde, nicht aber den Mord an Sebastian Steiner. Zu einer Verhandlung kam es nicht, der mutmaßliche Täter erhängte sich in seiner Zelle. Frau Steiner möchte, dass ich den Fall neu aufrolle. Du hast vermutlich auch gelesen, dass vor einem Monat im Tessin wieder ein Knabe verschwunden ist. Frau Steiner glaubt, dass es sich um denselben Täter handeln könnte. Man kann das nicht ausschließen, ich halte das aber für eher unwahrscheinlich. Ich vermute, dass sie vor allem endlich Gewissheit über das Schicksal ihres Sohnes haben möchte.«

»Langsam nimmt der Haken Gestalt an«, sagte ich.

»Ich brauche die Akte«, sagte sie. »Oder eine Kopie davon.«

»Kannst du sie nicht mit deinem Computer herunterladen?«

»Das wäre toll«, sagte sie. »Geht aber nicht. Die Akte liegt bei der Polizei. Irgendwo im Keller.«

»Und ich soll mich als Wühlmaus verkleiden und die Akte klauen?«

»Nein. Du sollst mir Kopien besorgen. Einer der damals ermittelnden Beamten hieß Hugentobler.«

»Ach du meine Güte. Da erstaunt es mich nicht, dass der Fall nie geklärt wurde.«

»Kannst du mir die Kopien bis übermorgen besorgen?«

Ich seufzte und nippte an Lord Richmond. Er schmeckte nicht mehr so toll. Jasmin setzte sich an ihren Computer und startete ein Kommunikationsprogramm. Offenbar wollte sie in meiner Anwesenheit eine kleine Datenreise machen.

»Einmal angenommen«, sagte ich, »ich komme an die Akte ran. Was, außer dem Mobiltelefon, springt dabei für mich heraus?«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen.«

»Klingt nicht sehr verlockend.«

»Die Mutter des verschwundenen Kindes hat kein Geld. Aber der Fall interessiert mich.«

»Vom Interesse allein kann ich nicht leben.«

»Und wovon lebst du zurzeit, Philip?«

Ich dachte an den toten Mann im Bürohaus und an Frau Koller, von der ich nicht einmal wusste, ob sie mir mehr als nur ein paar Tageshonorare bezahlen konnte. Jasmin loggte sich ins Internet ein und tippte eifrig auf der Tastatur herum. Das brachte mich auf eine Idee.

»Kannst du für mich nach einem Basil Huber suchen?« fragte ich. »Er ist nirgends registriert, lebte aber hier in der Stadt. Vielleicht wird er in einer anderen Stadt vermisst.«

»Ist er tot?«

»Ja.«

»Keine Personalien? Beruf, Alter oder sonst etwas in der Richtung?«

»Nichts, was ich mit Sicherheit wüsste.«

Sie lachte und schüttelte den Kopf. Auf dem Monitor konnte ich lesen, dass ein Harald aus Frankfurt einen neuen Blondinenwitz gehört hatte. Nachdem sich auch noch ein Oliver aus Wien mit einem ähnlichen Witz auf Jasmin Webers PC bemerkbar machte, nahm ich einen letzten kräftigen Schluck Lord Richmond und ging zur Tür. Jasmin schaute mich über den Rand des Bildschirmfilters an.

»Basil Huber gegen die Akte? Ist das abgemacht?«

»Ein unfaires Angebot«, sagte ich. »Du kannst hier sitzen bleiben und dich an Blondinenwitzen ergötzen, während ich mich mit Hugentobler abgeben muss.«

Sie antwortete nicht, dafür legte sie sich ein weiteres Gummibärchen auf die Zunge.

5

Hugentobler schob mir in seinem Büro einen Stapel Fotokopien zu. Die Blätter waren noch warm. Er blickte zum Fenster und vermied es, mir zuzuschauen, wie ich die Kopien in meiner Mappe verstaute.

»Sie wissen, dass Sie mich damit in Schwierigkeiten bringen könnten, Maloney?«

»Aber ja doch«, sagte ich. »Beamte sollten nicht außerdienstlich Fotokopien machen. Der Bund der Steuerzahler mag so etwas nicht.«

»Die Akten dürfen das Polizeipräsidium nicht verlassen. Was ich Ihnen kopiert habe, ist eine Zusammenfassung, sozusagen die Essenz der damaligen Ermittlungen. Die echten Akten füllen zwölf Bundesordner. Aber auch diese Papiere sind nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.«

»Es sollte doch auch im Interesse der Polizei sein, dass ungelöste Fälle neu aufgerollt werden.«

»Das ist auch der Grund, weshalb ich mich jetzt nicht an die Dienstvorschriften halte«, sagte er. »Wir waren damals nahe dran, Maloney. Es gab vier Hauptverdächtige. Drei fielen schon bald aus. Der Vierte gestand drei Morde, erhängte sich dann aber. Dennoch gab es einige Unstimmigkeiten. Vor allem wegen dem vierten Knaben. Er verschwand hier in der Stadt. Das war untypisch. Die anderen Kinder stammten alle aus einem anderen Kanton. Ich war übrigens nur am Rande mit den Ermittlungen betraut. Für einen Kollegen, der aus gesundheitlichen Gründen ausfiel.«

»Wie kam man dem Täter auf die Spur?«

»Damals wurde uns schnell klar, dass es sich um einen Serientäter handelte. Wir begannen systematisch Männer, die früher schon einmal wegen ähnlicher Delikte verhaftet und verurteilt worden waren, zu observieren und zu verhören. Bei einer Hausdurchsuchung fanden wir Kleidungsstücke, die den toten Kindern gehörten. Deshalb wurde Brustmann, so hieß der Mann, verhaftet.«

»Und was war mit den drei anderen Verdächtigen?«

»In einem Fall beobachtete eine Zeugin, dass der Knabe in einen dunklen Mercedes stieg. Das war ein Anhaltspunkt. Einer der Verdächtigen war früher als Pädophiler mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Und er fuhr einen Mercedes. Er hatte aber einwandfreie Alibis. Die beiden anderen fuhren keinen Mercedes, waren aber einschlägig vorbestraft. Brustmann war als Sexualstraftäter bekannt, und er fuhr auch einen alten Mercedes. Zudem hatte er keine Alibis, und, wie gesagt, man fand in seiner Wohnung schon bald belastendes Material.«

»Das ist eine erstaunliche Ausbeute für den minimalen geistigen Einsatz, den Sie bei Ihrer Arbeit investieren«, sagte ich.

»Mir ist nicht nach Scherzen zumute, Maloney. Noch heute denke ich manchmal darüber nach, ob wir damals wirklich alles unternommen haben. Oder ob wir uns nicht zu schnell damit zufriedengaben, einen Täter gefunden zu haben. Brustmann hat in der Untersuchungshaft relativ schnell drei Morde gestanden. Er gab uns auch Hinweise auf die Orte, wo er die Leichen der Kinder verscharrt hatte. Den vierten Mord aber gestand er nie. Dennoch wurden die Ermittlungen eingestellt. Heute geht man in der Öffentlichkeit davon aus, dass Brustmann ein vierfacher Mörder war. Falls Sie zu einem anderen Resultat kommen, lassen Sie es mich wissen, Maloney. Auch wenn ich meine Zweifel daran habe, dass Sie nach all den Jahren mehr herauskriegen, als wir damals ermitteln konnten.«

Er schlüpfte langsam wieder in seine mir besser bekannte, rauere Haut und stierte grimmig auf seine abgenagten Fingernägel, als ich die Mappe schloss und das Büro verlassen wollte. Er trat auf mich zu und atmete tief ein, ehe er sich dazu überwand, mich um etwas zu bitten.

»Der Tote in dem Bürohaus konnte noch immer nicht einwandfrei identifiziert werden«, sagte er.

»Der Mann hieß Basil Huber. Das sagte ich doch schon.«

»Haben Sie uns wirklich alles verraten, Maloney? Es gibt nämlich keinen Basil Huber. Es wird auch sonst kein Huber vermisst in der Schweiz, auf den die Beschreibung des Toten passen würde.«

»Und was ist mit seiner Wohnung?« fragte ich.

»Gemietet von einer Veronika Meyer. Ebenfalls unbekannt. Die Miete wurde per Post überwiesen. Bar eingezahlt. Dieser Basil Huber war so etwas wie ein Untermieter. Ein Mann, den es nicht gibt, als Untermieter einer Mieterin, die es nicht gibt. Das sind ein bisschen viel Unbekannte in der Gleichung.«

»Ich kann Ihnen leider auch nicht weiterhelfen«, sagte ich. »Aber ich bin sicher, dass der stets gut geölte Polizeiapparat spätestens in zwanzig Jahren herausfindet, was es mit Huber und Meyer auf sich hat.«

»Wir werden ein Foto der Leiche in der Presse veröffentlichen«, sagte Hugentobler. »Irgendjemand muss doch den Toten gekannt haben und Näheres über ihn wissen.«

Da hatte er natürlich recht. Er begleitete mich zur Tür und wies mich noch einmal auf die Brisanz hin, die die kopierten Akten verkörperten. Ich versprach ihm, die Papiere wie die Krone der englischen Königin zu behandeln, was mir nicht besonders schwerfiel, weil ich mir nichts aus Monarchen und deren Kopfbedeckungen machte.

6

Die Altbauwohnung von Frau Koller sah tagsüber noch älter aus als in der Nacht. Stromleitungen führten über dem Verputz durch die Räume, und an einigen Stellen an der Decke waren dunkle Wasserflecken zu sehen. Frau Koller hatte sich freigenommen. Auf dem Küchentisch standen mehrere Fläschchen homöopathischer Heilmittelchen herum. In einem Glas, das sie schluckweise zum Mund führte, schwappte eine dunkelgelbe Flüssigkeit.

»Das ist für die Nerven«, sagte sie. »Es geht mir nicht sehr gut. Ich glaube, die Trauer kommt erst noch. Jetzt bin ich wütend. Wütend über mich. Wütend darüber, dass ich so wenig über Basil weiß. Wir waren so oft zusammen und waren uns doch immer noch so fern.«

»Die Polizei wird morgen ein Foto von ihm veröffentlichen«, sagte ich. »Sie glaubt, dass Basil Huber nicht sein richtiger Name war.«

»Langsam glaube ich das auch. Ich dachte immer, dass ich eine gute Menschenkenntnis habe. Jetzt komme ich ganz schön auf die Welt.«

»Hat er nie Andeutungen gemacht über seine Vergangenheit? Sich verplappert? Einen Namen erwähnt?«

»Nein. Er war sehr schweigsam. Mir gefiel das. Er machte nicht viel Aufhebens um seine Person. Er gab nie an, war nicht geschwätzig. Mein erster Mann redete ständig, gab groß an, konnte stundenlang von seinen Heldentaten im Büro berichten. Ich mochte an Basil, dass er sich nicht wichtig nahm. Er lebte einfach. Und ich glaube, er war glücklich.«

»Sie sagten, dass er für die Werbung arbeitete.«

»Das hat er mir gesagt. Konzepte, als Freelancer. Ich habe aber nie etwas von seinen Arbeiten gesehen. Er sagte, dass er Erspartes habe und nicht jeden Auftrag annehmen müsse. Er half mir auch ab und zu am Kiosk aus.«

»Sie besitzen einen Kiosk?«

»Ja«, sagte sie. »In der Innenstadt, direkt an der Limmat. Läuft ganz gut. Und ist nützlich für meine andere Arbeit.«

Ich hatte es bis dahin vermieden, über mein Honorar zu sprechen. Doch eine Frau, die einen Kiosk besaß und daneben noch einem anderen Job nachging, konnte der Tagesansatz eines Privatdetektivs wohl kaum aus der Fassung bringen. Sie lächelte traurig, als ich ihr den Vorschlag machte, für eine Pauschale nach dem Mörder ihres Freundes zu suchen.

»Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte sie. »Ich habe von meinen Eltern geerbt. Das meiste davon ist in Aktienfonds angelegt und hat sich in den letzten acht Jahren fast verdoppelt. Ich habe mir den Kiosk gekauft und werde mir demnächst eine kleine Eigentumswohnung kaufen. Zum Leben brauche ich nicht viel. Ich möchte, dass Sie möglichst viel über Basil herausfinden.«

»Sie haben genug Geld, um mir für eine Weile mein Nachtessen zu finanzieren und arbeiten dennoch Tag und Nacht? Freiwillig?«

»Ich habe ein Hobby. Ich sammle Gesichter.«

»Donnerwetter«, sagte ich. »Ist sicher mindestens so aufregend wie Briefmarkensammeln. Wie kriegen Sie die Gesichter denn alle? Mit dem Rasiermesser?«

»Nein. Mit der Schere und dem Fotoapparat. Ich schneide Gesichter aus Illustrierten und Katalogen aus und mache Fotos. Manchmal von Kunden am Kiosk. Ich glaube nämlich, dass es eine Typologie der Gesichter gibt. Ein paar Grundgesichter, alle Menschen haben Variationen davon. Und die Gesichter sagen viel über den Charakter der Menschen aus.«

»Interessant. Und was lesen Sie aus meiner Boxernase?«

»Sie sind ein Tatmensch. Ein Einzelgänger mit Hang zu depressiven Schüben. Aber man kann Ihnen vertrauen.«

»Klingt nicht übel. Und was war Basil Huber für ein Typ?«

»Eine Mischform«, sagte sie. »Sie haben sicherlich seine Nase bemerkt. Sie ist verbogen. Stammt vermutlich von einem Unfall. Nasenbeinbruch, schlecht verheilt.«

»Nicht schlecht die Diagnose. Wissen Sie auch, wann das geschah?«

»Nein. Er hat nicht darüber gesprochen. Möchten Sie meine Sammlung sehen?«

Sie war schon unterwegs zu einem massiv gebauten Büchergestell, ehe ich mich zur Wehr setzen konnte. Sie kam mit einem dicken Bildband zurück. Darin waren Hunderte von Gesichtern verewigt. Sie zeigte mir einige der Grundtypen. Es waren Gesichter, wie man sie täglich auf der Straße sieht.

»Ich möchte eines Tages ein Buch veröffentlichen«, sagte sie, »in dem jeder sich wiedererkennt anhand ausgewählter Gesichtstypen. Es gibt übrigens auch verblüffende Übereinstimmungen mit anderen physiologischen Merkmalen. Welcher Typ eher dazu neigt, kurz- oder weitsichtig zu sein. Bei Männern gibt es ganz bestimmte Typen, die Schnäuzer und Bärte tragen. Bei Frauen lassen sich typische Kurzhaar- und Langhaartypen unterscheiden. Und das alles anhand der Gesichtszüge. Man erkennt auch berufliche Neigungen anhand der Gesichtszüge. Natürlich ist das jetzt alles sehr vereinfacht, was ich sage. Die meisten Gesichter sind Mischtypen und deshalb auch charakterlich indifferent.«

»Klingt ein bisschen hochgestochen für eine Kioskbesitzerin.«

»Ich habe Soziologie studiert. In den Siebzigern, als das total in war. Danach arbeitete ich für einen wissenschaftlichen Verlag. Ziemlich langweiliger Job. Möchten Sie noch mehr aus meiner Sammlung sehen?«

Ich schaute auf meine Armbanduhr und stand auf. Frau Koller hinderte mich nicht daran. Es war ihr durchaus ernst mit ihrem Bemühen, die Menschheit anhand ihrer individuellen Gesichter zu klassifizieren.

Ich hatte es schon längst aufgegeben, aufgrund von Äußerlichkeiten nach einem Schlüssel zur menschlichen Seele zu suchen. Das, was die Menschen antrieb, Verbrechen zu begehen, hatte nichts mit ihren Gesichtern, ihren Händen, ihrem Gang oder ihrem Horoskop zu tun. Es waren viel einfachere Motive, die jeden irgendwann in seinem Leben zu etwas treiben konnten, was er sich Jahre zuvor nie und nimmer zugetraut hätte. Genauso wie jeder sich seine ganz persönliche Maske modellierte, mit der er durchs Leben ging, gab es eine ganz persönliche Art, mit Ängsten, Niederlagen, Hass, Neid und Habgier umzugehen. Für einige bestand diese persönliche Art darin, eines Tages einen Mord zu begehen. Und bei den wenigsten ist so etwas voraussehbar.

7

Jasmin Weber versuchte, auf ihrem Computer ein paar putzige Lemminge davon abzuhalten, in den Abgrund zu stürzen, als ich ihr die Kopien der Akte unter die Nase hielt. Sie schaute auf das Papier und überließ die Lemminge ihrem Schicksal. Die Kerle gaben ein quäkendes Geräusch von sich, ehe sie zerplatzten. Mit einem Tastendruck stoppte sie das spielerische Massaker und blätterte in den Papieren.

»Nicht schlecht«, sagte sie. »Hast du etwas gegen Hugentobler in der Hand, oder hast du ihm mit Liebesentzug gedroht?«

»Weder noch. Was ist mit Basil Huber? Hat er auf dem Internet eine digitale Spur hinterlassen?«

»Das Internet ist keine Wundertüte. Und für solche Nachforschungen nicht besonders gut geeignet. Ich habe mit einem Beamten der Einwohnerkontrolle telefoniert und in einem elektronischen Verzeichnis gewühlt. Und dann habe ich auch noch einige andere elektronische Archive abgeklappert. Aber es gibt nichts über einen Basil Huber. In der ganzen Schweiz nicht. Auch keine Vermisstmeldung. Nicht mal bei der Super-ADD wussten sie etwas über ihn.«

»Wer zum Teufel ist die Super-ADD?«

»Eine Firma, die Adressen verkauft. Ist nicht zimperlich darin, an relevante Daten zu kommen. Es gibt wohl keine Adresse in der Schweiz, die nicht bei denen registriert ist. Die besitzen sogar ein Verzeichnis von Geheimadressen. Aber auch bei denen gibt es keinen Basil Huber.«

»Und Veronika Meyer? Die Mieterin der Wohnung an der Zurlindenstraße?«

»Es gibt über ein Dutzend Veronika Meyers«, sagte sie. »Ich habe noch nicht alle überprüft, aber ich vermute mal, dass keine die Mieterin ist. Meyer und Huber, das klingt nach Alibinamen. Was ist eigentlich mit dem Toten? Es stand nirgendwo etwas in der Zeitung.«

»Kommt erst morgen oder übermorgen«, sagte ich. »Vielleicht noch später. Es gibt zu viele Ungereimtheiten, da ist die Polizei vorsichtig.«

Sie nickte und begann, die Akte zu lesen. Ich blätterte in einer Computerzeitschrift, die auf dem Pult herumlag, und informierte mich über die neuesten Modems und Tintenstrahldrucker. Jasmin klopfte die Kopien sorgfältig zu einem Haufen, nachdem sie sie zu Ende gelesen hatte.