Todsünde - Christine Becker-Schmidt - E-Book

Todsünde E-Book

Christine Becker-Schmidt

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Beschreibung

Mitten hinein in die Idylle einer lauschigen Sommernacht fallen Schüsse am Strand der Emder Knock. Vier junge Menschen verlieren in dieser Nacht des Sommers 1992 ihr Leben. Jahrzehntelang bleibt der feige Mord unentdeckt. Erst ein heftiger Sturm in der Neujahrsnacht 2025 öffnet das Grab im kalten Sand. Im Zuge der Ermittlungen gerät das Team um den schroffen Kommissariats-Leiter Franz Hagel in ein gefährliches Katz- und Mausspiel mit dem unbekannten Mörder. Einem Mann in einem langen grauen Ledermantel, der immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Ein packender Krimi, der Vergangenheit und Gegenwart untrennbar miteinander verbindet.

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Krimis von Christine Becker-Schmidt sind für die Autorin weit mehr als klassische ‚Whodunits‘: Sie verwebt spannende Handlungen in ostfriesische Besonderheiten, würzt sie mit bissiger Sozialkritik und garniert sie mit einer Prise Humor. In ihren Geschichten erforscht sie gerne die düsteren Seiten des menschlichen Charakters.

Ihre liebenswerten Ermittlerfiguren sind keine strahlenden Helden, sondern Menschen mit Ecken, Kanten und einem eigenen moralischen Kompass.

Es ist ihr wichtig, dass gute Unterhaltung nicht oberflächlich daherkommt. Deshalb regen ihre Krimis zum Nachdenken an und zeigen, dass es lohnt, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Bisher erschienen:

Tod geschwiegen (ISBN: 9783752640519)

Tod gelacht (ISBN: 9783748184843)

Tod geglaubt (ISBN: 9783769327960)

Die Hoffnung ist der Regenbogen über dem herabstürzenden Bach des Lebens

Friedrich Nietzsche

Inhaltsverzeichnis

Freitag, siebzehnter Juli 1992

Kapitel 1

Mittwoch, erster Januar 2025

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Donnerstag, zweiter Januar 2025

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Freitag, dritter Januar 2025

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Samstag, vierter Januar 2025

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Sonntag, fünfter Januar 2025

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Montag, sechster Januar 2025

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Dienstag, siebter Januar 2025

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Mittwoch, achter Januar 2025

Kapitel 57

Samstag, fünfundzwanzigster Januar 2025

Kapitel 58

Freitag, siebzehnter Juli 1992

1

Der Mond hatte sich kurz hinter den Wolken versteckt, als der hagere große Mann aus seiner Deckung hinter einem Dornenbusch heraustrat. Er fühlte die Wut, die in ihm kochte. In den dreiundvierzig Jahren seines Lebens war sie häufig sein Antrieb gewesen. Das hatte ihn nicht belastet. Im Gegenteil, er genoss die Kraft, die davon ausging. Seit längerer Zeit schon hatte sein unbändiger Zorn ihn einen düsteren Plan fassen lassen. Heute war die Nacht, an dem er zur Vollendung gebracht werden sollte. Mit einem fiebrigen Schauder und einer prickelnden Anspannung schlich er am Fuß des Deichs der Emder Knock hinter Büschen entlang. Das beliebte Ausflugsziel der Ostfriesen inmitten des Wattenmeers würde durch ihn die harmlose Unschuld der schönen Natur verlieren. An seiner Schulter hing ein Mauser K98k Repetiergewehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Er hatte es von seinem Vater geerbt. Genau wie den langen grauen Ledermantel, der seither sein Markenzeichen war. Er zog ihn bei jeder Gelegenheit an und trug ihn auch heute. Der Mantel verlieh ihm Stärke und gab ihm ein Gefühl von Überlegenheit. Sein Vater hatte ihm als Kind das Schießen beigebracht. Er hatte so viel geübt, dass er sein Ziel aus allen Lagen treffen konnte. Das alte Gewehr war voll funktionstüchtig. Das hatten seine Tests in den letzten Wochen ergeben. Nachdem der Mann ein kurzes Stück auf dem Schotterweg gegangen war, entdeckte er in der Ferne das Lagerfeuer. Dort war der Ausgangspunkt seiner Wut. Eine Gruppe junger Menschen, die, in einer lauen Sommernacht, am Sandstrand ausgelassen feierten. Er wusste, dass die vier am nächsten Morgen das Land verlassen wollten, um auf der Insel La Gomera ein neues Leben zu beginnen. Es war seine letzte Gelegenheit. Der Mann lief vorsichtig näher heran. Er konnte die Stimmen der Feiernden hören. Eine ganze Weile stand er, geschützt durch die Dunkelheit der Nacht, in unmittelbarer Nähe und beobachtete die Gruppe. Mit jeder Minute, die er der kleinen Feier zusah, wurde seine Wut größer und sein Hass drängender. Er fühlte es in jeder Faser seines Körpers. Das sündige Pack musste weg. Es gehörte nicht in diese Welt und er würde es beseitigen. Als er einen günstigen Zeitpunkt für gekommen hielt, bewegte er sich zügig auf die jungen Menschen zu. Das Gewehr hielt er zum Abschuss bereit vor seine Brust. Den ersten erschoss er zielsicher von hinten. Die anderen drei jungen Leute waren so erschrocken, dass sie nicht reagierten. Sie schauten ihn vollkommen erstarrt an, als wäre er eine Erscheinung aus einer anderen Zeit. Ohne mit der Wimper zu zucken, erschoss er ruckzuck auch sie. Er hatte nur vier Schuss gebraucht. Sein Vater, das wusste er, hätte ihn dafür gelobt. Der Mann stand da und betrachtete die Toten. Wo eben noch unangenehmes störendes Gelächter zu hören war, blieb, von einer Sekunde auf die andere, eine beruhigende Stille. Nichts hörte der Mann, außer seinem eigenen Herzschlag. Blut rann von den Körpern in den Sand. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er auf Menschen geschossen hatte. Sein Vater hatte ihn gelehrt, dass das Gewissen außer Kraft tritt, wenn es einen wirklichen Feind trifft. Oh ja, seine Opfer waren seine wirklichen Feinde gewesen. Er beugte sich über die Toten, um sich zu vergewissern, dass er wirklich alle vier exakt erwischt hatte. Ja, sie waren tot. Er hatte die Körper genau getroffen. Das machte ihn zufrieden. Stolz nahm den Platz ein, den eben noch die Wut für sich beansprucht hatte. Der Mann lauschte. Das Gewehr war laut gewesen. Vielleicht hatte es jemand auf dem Campingplatz in der Ferne gehört. Er wartete, bereit, sich sofort zu entfernen, falls jemand kommen würde. Aber niemand kam. Alles blieb ruhig. Er konnte seinen Plan vollenden. Nach und nach entkleidete er seine Opfer und zog die nackten Toten zu einer Senke, die er am vorherigen Tag etwas tiefer ausgehoben hatte. Er legte die Leichen dicht beieinander darin ab. Bis zum frühen Morgen schüttete er mit einem Spaten erst Klei und dann Sand auf die Toten, bis die Umgebung wieder aussah wie vorher. Als er zurückkam zum Strandplatz der Feier, wurde es bereits hell und das Lagerfeuer war erloschen. Er beeilte sich und grub den Sand um, auf dem die Toten gelegen hatten, damit kein Blut mehr zu sehen war. Den Rest würden die Flut und der Wind erledigen. Dann packte er den Proviant, die Kleidung der Gruppe und seine Utensilien in einen Handwagen, den die vier jungen Leute mitgebracht hatten. Den Wagen zog er zu einem VW Bulli, der einem seiner Opfer gehörte. Nachdem er alles verstaut hatte, fuhr er das Auto zum Emder Schrottplatz im Hafen. Dort arbeitete ein Bekannter aus der Kneipe, die er regelmäßig besuchte. Er gab ihm Einhundert Mark und forderte ihn auf, den Bulli, ohne Fragen zu stellen, zügig in der Presse zu zerstören. Danach ging er nach Hause und legte sich kurz schlafen. Am späten Nachmittag ließ er sich von einem guten Freund zurück an die Knock bringen und holte sein eigenes Auto wieder ab. In den Wochen und Monaten nach dieser Nacht wartete er aufmerksam ab, ob irgendeine polizeiliche Ermittlung wegen vermisster junger Menschen in den Zeitungen auftauchen würde. Aber es passierte nichts. Gras wuchs über das Grab. An der Knock wurden große moderne Windmühlen gebaut. Das Gelände der Gasraffinerie wuchs kontinuierlich. Ein Ausflugslokal entstand. Menschen gingen tagein, tagaus an der Knock spazieren. Das Grab blieb davon unberührt. Manchmal besuchte es der Mann in seinem langen grauen Ledermantel, um sich an seine Heldentat zu erinnern. Nie hatte es dort eine Untersuchung gegeben, denn niemand suchte an der Emder Knock nach den jungen Menschen, die zur Insel La Gomera verschwunden waren.

Mittwoch, erster Januar 2025

2

Daniela Kreutzer machte sich am Neujahrstag früh am Morgen auf den Weg zur Knock. Hinten im Auto lag ihr Collie Boomer. Beide, Frauchen und Hund, hatten in der Silvesternacht kaum geschlafen. Die Böller waren in den letzten Wochen in Dauerschleife zu hören gewesen und hatten den Hund regelmäßig in eine Art Schockstarre versetzt. Daniela Kreutzer hatte gehofft, dass die meisten Böller und Raketen verbraucht sein würden. Aber da irrte sie sich. In der Silvesternacht war es erheblich schlimmer gewesen. Den Geräuschen nach herrschte Krieg auf den Straßen Emdens. Dazu heulte ein gewaltiger Sturm, der das Dröhnen der Raketen noch verstärkte. Bis in die frühen Morgenstunden hatte das Spektakel gedauert und an Schlaf war nicht zu denken gewesen. Nun hatte sich der Sturm etwas gelegt und die junge Frau wollte die Chance nutzen, während alle noch schliefen, die Stille auf dem Deich des Dollarts zu genießen. Ihr Auto parkte sie vor der Strandlust, dem einzigen Lokal, das einsam auf der Deichkrone thronte. Sie stieg aus, ließ den Hund ins Freie und beide machten sich auf den Weg über den Deich zum entlegenen Sandstrand im ostfriesischen Wattenmeer. Die Flut der letzten Nacht hatte mit dem Sturm Treibgut auf die Steinbefestigung des Deiches getragen. Einiges an Hölzern, aber auch viel Plastikmüll lag dort verstreut. Daniela Kreutzer hatte für Boomer einen Ball mitgenommen. Sie warf ihn immer wieder hoch auf den Deich und der Hund brachte ihn fröhlich zurück. Niemand störte das Spiel. Daniela Kreutzer war allein unterwegs. Als sie den Sandstrand erreichte, rannte der Hund durch das flache Wasser. Die junge Frau freute sich an der Spielbegeisterung Boomers und lief hinter ihm her. Der Wind an der Küste blies immer noch heftig und bremste sie ordentlich aus. Boomer war erheblich schneller und so lief der Hund ihr weit voraus. Sie konnte aus der Ferne sehen, wie Boomer plötzlich die Richtung wechselte und ins Landesinnere lief. Laut rief sie ihn, aber gegen den Wind konnte der Hund sie nicht hören. Boomer verschwand aus ihrem Sichtfeld. Daniela Kreutzer beeilte sich, an die Stelle zu gelangen, an der Boomer abgebogen war. Als sie die kleinen Dünen erreichte, sah sie, dass der Sturm und die Flut der letzten Nacht an den Sandhügeln gewütet hatten. Es schienen große Brocken abgetragen worden zu sein. Sie erreichte Boomer, der in dem freigelegten Sandstück buddelte.

»Boomer, was machst du denn da? Hast du etwas gefunden?«

Daniela Kreutzer näherte sich ihrem Hund, der stolz zu ihr aufblickte. Im Maul hielt er etwas, das wie ein Holzstück aussah.

»Komm, gib mir das Stöckchen«, forderte sie Boomer auf, ihr seine Beute zu übergeben. Gehorsam ließ der Hund das Gefundene fallen. Sie beugte sich herunter, um es aufzuheben und noch einmal für den Hund an den Strand zu schmeißen. Dann erschrak sie. In der Hand hielt sie einen langen Knochen. Sie ließ ihn fallen und lief zu der Grube, in der Boomer gebuddelt hatte. Es interessierte sie, welches Tier dort vergraben liegen würde. Vielleicht müsste sie solch einen Fund irgendwo melden. Brav lief Boomer neben ihr her. Als sie an die Grube kam, entfuhr ihr ein lauter Schrei. Zu ihren Füßen lag der Schädel eines Menschen.

3

Das Autoradio knisterte. Franz Hagel fuhr mit seinem Wohnmobil auf der Autobahn A7 Richtung Hannover. In Kürze würde sich sein Sender aus Sachsen-Anhalt verabschieden. Vor gut einer halben Stunde war er in Goslar aufgebrochen und hatte sein bisheriges Leben hinter sich gelassen. Vor ihm lag eine ungewisse Zukunft. Er überlegte, ob er tatsächlich warten wollte, bis er gar nichts mehr im Radio würde empfangen können, oder ob er vorher freiwillig umschalten sollte. Neben ihm, auf dem Beifahrersitz, lag eingerollt seine Rauhaardackelhündin Sissy. Jedes Mal, wenn das Radio knisterte, hob sie kurz den Kopf und schaute ihn schräg von der Seite an. Das Geräusch schien sie zu stören.

»Okay, Sissy«, sagte Franz Hagel. »Schauen wir mal, welche Sender wir in besserer Qualität zur Auswahl haben.«

Er ließ sich die Liste der möglichen Sender anzeigen. Das waren viele, aber Franz Hagel wusste, dass er bei den meisten sehr bald ebenfalls den Empfang verlieren würde. Also entschied er sich für NDR 1 Radio Niedersachsen. Er drückte die Taste und augenblicklich sangen Roland Kaiser und Maite Kelly ihren größten gemeinsamen Hit: Warum hast du nicht nein gesagt. Die Dackelhündin Sissy schüttelte sich. Dann wendete sie sich demonstrativ vom Radio ab und rollte sich wieder ein um weiterzuschlafen. Franz Hagel musste kurz lächeln. Seine Hündin teilte offensichtlich seinen Musikgeschmack. Das Wohnmobil befand sich in diesem Augenblick auf einer Anhöhe und die Sicht aus der Windschutzscheibe bot Franz Hagel einen weiten Blick ins Tal.

»Tja«, sagte er zu sich selbst. »Warum habe ich nicht nein gesagt?«

Seit fünfundfünfzig Jahren lebte er in den Bergen. Als Kind mit den Eltern in Gernrode im Ost-Harz und später als Erwachsener in Goslar im West-Harz. Nun allerdings hatte er entschieden, die Berge zu verlassen und in das flache Ostfriesland an die See umzusiedeln. Ob das eine gute Idee war, wusste er noch nicht zu beurteilen. Der Grund allerdings war ein schwerwiegender. Er ließ seine Gedanken noch einmal Revue passieren. Vor neun Jahren hatte seine damals neunzehnjährige Tochter Sofia von einem Tag auf den anderen das Elternhaus verlassen. Wütend war sie gewesen. Angeschrien hatte sie die Eltern, sie würde sich ihr Leben nicht bestimmen lassen. Franz Hagel und seine Frau Linda hatten verzweifelt versucht, die Tochter von der irrwitzigen Idee abzubringen, eine Milieustudie im Hamburger Kiez durchzuführen. Sofia Hagel wollte für ihr Studium einen Essay schreiben, über die Problematik, wie junge Menschen in Prostitution und Drogenkonsum abdriften können. Dafür wollte sie sich selbst in diese Gefahr begeben und auf dem Kiez in einer Gaststädte als Kellnerin arbeiten. Franz Hagel hatte alles versucht, ihr klarzumachen, wie gefährlich das sein würde. Seine Frau hatte geschimpft, gebettelt und geweint. Nichts hatte geholfen. Sofia war gegangen. Aus Wut über diesen Schritt seiner Tochter hatte er sich und seiner Frau verboten, Nachforschungen anzustellen. Er rechnete fest damit, dass Sofia über kurz oder lang reumütig wieder auftauchen würde. Als er zwei Jahre später endlich nach ihr suchen ließ, war sie wie vom Erdboden verschwunden. Sie war zuletzt bei ihm zu Hause gemeldet gewesen. Danach existierte sie nicht mehr in den Datensätzen der Behörden Deutschlands. Es gab keine Hinweise, dass sie tot wäre. Nichts. Die Kollegen der Bundespolizei versuchten ihn zu beruhigen. Vermutlich wäre sie ins Ausland gegangen, vielleicht nach Australien. Entsprechende Papiere, die das hätten beweisen können, gab es nicht. Man sagte ihm, wenn sie tot wäre, dann hätte er eine Nachricht bekommen. Seine Frau Linda machte ihm schwere Vorwürfe. Sie hätten sich um Sofia kümmern müssen. So lange zu warten, wäre ein großer Fehler gewesen. Die Gespräche zwischen ihm und seiner Frau waren überschattet von dem großen Leid und so verstummten beide. Letztlich verließ ihn seine Frau, nach fast vierzig Jahren gemeinsamen Lebens. Sie hatten sich bereits seit der Schulzeit gekannt und trotzdem verloren. Inzwischen war Linda an Krebs gestorben. Er hatte erreicht, dass seine Tochter für immer verschwunden war und seine Frau am Kummer starb.

Vor einem halben Jahr hatte ihn ein ehemaliger Kollege, der bereits in Pension war, zu sich eingeladen. Er meinte, dass er ihn dringend sprechen müsse. Als Franz Hagel ihn besuchte, hatte der Kollege Brettschneider ihm versichert, dass er es sich nicht leicht gemacht hätte, mit ihm zu sprechen. Er habe lange überlegt, ob er es überhaupt machen sollte …, sich dann aber dafür entschieden. Franz Hagel hatte ihn in seiner schroffen Art gebeten, es doch nicht so spannend zu machen. Und dann hatte der alte Karl Brettschneider seinem ehemaligen Kollegen Franz Hagel erzählt, dass er bei einem Urlaub in Ostfriesland seine Tochter Sofia Hagel gesehen hätte. Einfach so, bei einem Besuch in Emden beim Otto Huus. Er wäre sich ganz sicher, dass sie es gewesen ist, die an der Eisdiele nebenan mehrere Kugeln Haselnusseis gekauft hätte.

Franz Hagel hatte den Kollegen Brettschneider sofort verlassen. Er war sich längst sicher gewesen, dass seine Tochter nicht mehr leben würde. Für ihn war es logisch, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war und dass ihre Leiche irgendwo verscharrt lag, wo man sie niemals finden würde. Wenn sie am Leben wäre, hätte er sie gefunden. Ganz sicher! Ostfriesland, so ein Quatsch. Sie müsste dort gemeldet sein. Das hatte er in ganz Deutschland recherchiert. Nein, Brettschneider musste sich irren. Er wollte davon nichts mehr hören.

Aber dann kam der Gedanke immer wieder … Was, wenn doch? Haselnusseis war ihr liebstes Eis gewesen. Was, wenn doch?

Als dann die Leitung für das Kommissariat in Leer neu besetzt werden sollte, hatte er sich beworben. Ohne wirklich daran zu glauben, dass die Wahl auf ihn fallen würde. Aber sie war auf ihn gefallen. Und jetzt war er auf dem Weg nach Ostfriesland, um am nächsten Morgen seinen neuen Dienst anzutreten. Er wollte die Chance auf Gewissheit.

4

Hauptkommissar Friedjof Winter war gemeinsam mit Kommissarin Maren Hinrichs auf dem Weg an die Knock. Seine jüngere Kollegin hatte ihn mit dem Auto abgeholt, denn er vermutete, dass sein Restalkohol der gestrigen Silvesterfeier seine Fahrtüchtigkeit in Frage stellen könnte. Als sie durch das Dorf Wybelsum fuhren, war Friedjof Winter wieder eingeschlafen. Maren Hinrichs betrachtete ihn von der Seite und lächelte. Friedjof Winter wusste nicht, dass sie schon lange Gefühle für ihn hegte. Sie mochte seine direkte Art und fand ihn für seine fünfundfünfzig Jahre sehr attraktiv. Bisher hatte sie sich eine Empfindung strikt untersagt, denn die ehemalige Leiterin des Kommissariats, Josefine Herbst, war seine Ex-Frau und als Chefin immer präsent gewesen. Außerdem hatten die beiden einen gemeinsamen Sohn. Jannik Winter lebte in dem Haus, das einst dem Ehepaar gehört hatte. Vater und Mutter hatten eigene Wohnungen gehabt und hatten den Sohn abwechselnd in dem Haus betreut. Vor Kurzem war Friedjof Winter zu seinem Sohn gezogen, denn Josefine Herbst hatte Ostfriesland verlassen, um im Harz die Inspektion in Goslar zu leiten und mit einem anderen Mann ein neues Leben zu beginnen. Das änderte alles. Maren Hinrichs überlegte, ob sie jetzt offensiver vorgehen sollte. Immerhin war Jannik Winter fast erwachsen und wie lange wollte sie warten? Sie erreichte die Abbiegespur zur Knock. Das Ändern der Fahrtrichtung ließ Friedjof Winter erwachen.

»Oh, wir sind gleich da? Habe ich etwa geschlafen?«

»Ja, Sie haben geschlafen«, antwortete Maren Hinrichs wahrheitsgemäß.

»Du!«, sagte Friedjof Winter. »Wir waren beim letzten Fall alle miteinander schon beim Du! Das sollten wir beibehalten.«

»Gerne … «, lächelte Maren Hinrichs ihn an. »Ja, du hast geschlafen, tief und fest.« Sie genoss das Gefühl mit ihm eine vertraute Atmosphäre zu teilen.

»Naja, ist ja auch kein Wunder«, gähnte Friedjof Winter. »Ich hatte vielleicht drei Stunden Schlaf.«

»Ich habe auch nicht viel mehr geschlafen«, erwiderte Maren Hinrichs.

»Aber du bist fünfzehn Jahre jünger. Das macht was aus! Sind eigentlich Kollegen vor Ort?«

»Ja, einige Streifenpolizisten sind bereits dort. Sie sichern das Gelände ab, damit niemand die Spuren verwischt.« Maren Hinrichs konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Die Straße zur Knock hatte einige Schäden und sie musste mehrfach kurven, um nicht direkt durch die Löcher zu fahren.

»Wurde nicht ein Schädel gefunden?«, fragte Friedjof Winter. »Der liegt bestimmt bereits länger dort … Da werden wohl kaum noch Spuren sein.«

»Naja, vielleicht Kleidung, oder Taschen«, warf Maren Hinrichs ein.

Sie erreichten das alte Sieltor am Deich. Maren Hinrichs fuhr gerne an die Knock. Der freie Blick über die Felder und über das Wasser bis hin zum gegenüberliegenden Industrieufer der Niederlande gefiel ihr.

»Dieser Rysumer Nacken ist ein Kleinod«, sagte sie. »Gefällt es dir hier auch?«

»Ich bin nicht so für Natur«, antwortete Friedjof Winter. »Witzig finde ich die beiden Figuren vorne an der Brücke. Was machen der Große Kurfürst und der Alte Fritz an einem Schöpfwerk mitten in der Pampa?«

»Vielleicht sollen sie zeigen, dass Kunst überall sein kann«, bemerkte Maren Hinrichs. »An dieser Stelle fallen sie auf jeden Fall auf!«

»Vielleicht wollten die Emder sie einfach nicht in der Stadt haben«, meinte Friedjof Winter.

Maren Hinrichs fuhr über die Brücke und bog in die lange Straße zum Ausflugslokal Strandlust ein. Die Sonne schien und die Strahlen glitzerten auf dem Wasser. Die großen Strommühlen auf der rechten Seite drehten sich gemächlich im Wind.

»Wenn wir jetzt nicht im Einsatz wären, dann hätte ich gesagt, dass wir ein bisschen spazieren gehen sollten.« Maren Hinrichs lächelte Friedjof Winter an. »Der Sturm der letzten Nacht hat sich gelegt und es ist so ein schöner Morgen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so romantische Anwandlungen hast.« Friedjof Winter sah sie skeptisch an. »Dachte immer, du wärst wie ich eher nüchtern aufgestellt.«

Maren Hinrichs reagierte nicht auf seinen Einwand. Sie zog es vor zu schweigen, um nicht ihre Gefühle zu verraten. Hinter dem Ausflugslokal war die Schranke zum Gelände des Wattenmeeres von den Kollegen geöffnet worden, und so konnte sie mit dem Auto bis zum Fundort fahren. Zwei Polizeiwagen und ein Rettungsfahrzeug des Roten Kreuzes waren bereits vor Ort. Friedjof Winter und Maren Hinrichs stiegen aus und näherten sich den Kollegen, die in der Senke eines Hügels standen.

»Wie ist die Lage, Baumann?«, wandte sich Friedjof Winter an einen der Polizisten.

»Wir haben das Gelände weiträumig abgesperrt«, antwortete der junge Mann. »Der Schädel wurde von der Frau gefunden, die dort am Rettungswagen steht. Ihr Hund Boomer hat zuerst einen Knochen ausgebuddelt. Wir haben noch nicht gegraben! Ich denke aber, hier sind noch mehr Knochen zu finden.«

»Sehr logisch geschlussfolgert!«, lobte Friedjof Winter. »Ein Schädel und ein Knochen machen noch kein Skelett.«

»Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, wollte der junge Polizist wissen.

»Sollten wir nicht vielleicht den neuen Chef informieren?«, fragte Maren Hinrichs vorsichtig.

»Der Hagel fällt erst morgen«, grinste Friedjof Winter. »Traust du uns keine vorschriftsmäßige Ermittlung zu?«

»Doch, doch, aber wenn wir irgendetwas nicht so machen, wie er es gewünscht hätte, dann haben wir gleich Ärger.« Maren Hinrichs blieb vorsichtig. »Das könnten wir doch vermeiden. Hast du die Mobilnummer vom neuen Chef? Ich könnte ihn anrufen.«

»Nee, nee, das mache ich selbst«, lenkte Friedjof Winter ein. Das würde sein Ego nicht zulassen, einer jungen Kollegin den Vortritt zu geben. »Sprich du doch lieber mit der jungen Frau«, schlug er stattdessen vor. »Sie kann danach nach Hause fahren. Den Hund verhören wir morgen im Präsidium.«

Maren Hinrichs schüttelte mit dem Kopf und lief zum Rettungswagen, um Daniela Kreutzer nach einer kurzen Befragung zu entlassen. Friedjof Winter bat den jungen Polizisten, die Kollegen zu informieren, dass sie warten müssten, bis die Anweisungen vom neuen Kommissariats-Leiter geklärt wären. Dann wählte er auf seinem Mobiltelefon die Nummer von Franz Hagel.

»Hagel«, meldete sich dieser. »Mit wem habe ich es zu tun?«

»Ein frohes neues Jahr! Hier spricht Friedjof Winter vom Kommissariat Emden. Wir haben einen Knochenfund, beziehungsweise Schädel und Knochenfund an der Knock.« Friedjof Winter kam ohne Umschweife direkt zur Sache. Smalltalk lag ihm nicht.

»Das ist höchst interessant«, bemerkte Franz Hagel. »Soweit ich weiß, stammt das Wort Knock, Vermutungen nach, von dem Begriff Knochen. Das hat in der Vergangenheit, nämlich 1286, zum Namen der Ortschaft Knocka geführt. Die befand sich dort, wo die heutige Knock ist.«

»Aha.« Friedjof Winter war irritiert. Er hatte nicht damit gerechnet, vom neuen Chef eine Belehrung über geschichtliche Hintergründe Ostfrieslands zu bekommen. »Ist das wichtig?«, fragte er deshalb etwas genervt.

»Naja, noch wissen wir nicht, wie alt die Knochen sind, die dort gefunden wurden«, antwortete Franz Hagel süffisant.

»Ich denke nicht, dass die Knochen aus dem dreizehnten Jahrhundert stammen«, entgegnete Friedjof Winter energisch. »Wäre davon in dem Fall überhaupt noch etwas vorhanden?«

»Nur wenn sie luftdicht gelagert gewesen wären«, erklärte Franz Hagel weiter. »Davon können wir in diesem Fall vermutlich nicht ausgehen. Obwohl, an der Knock gibt es Kleiboden. Der ist luftdichter als Sand. Die Zeit der vollständigen Verwesung könnte demnach dreißig plus x Jahre betragen. Es werden vielleicht nicht mehr alle Knochen vorhanden sein.«

»Wäre das von Belang?«, kommentierte Friedjof Winter, der den Sinn des Dialogs nicht vollständig nachvollziehen konnte. Er war eher pragmatisch orientiert und wollte wissen, was polizeilich zu tun sein würde.

»Wie man’s nimmt«, fuhr Franz Hagel unbeirrt fort. »Immerhin wurde der Schädel rechtzeitig vor der vollständigen Zersetzung gefunden. Wir haben folglich die Chance oder auch den Auftrag herauszubekommen, was passiert ist. Warum an der Knock jemand begraben wurde. Das ist sicherlich auch in Emden nicht der gängige Bestattungsort.«

»Davon können Sie ausgehen!« Friedjof Winter wartete ab, was als Nächstes für eine Erklärung kommen würde.

»Wir müssen unbedingt die Spezialisten von der Spurensicherung anfordern. Übernehmen Sie das?«, fragte Franz Hagel.

»Ja, ich versuche sofort jemanden zu erreichen! Das wird sicher nicht so einfach am ersten Tag des Jahres.« Friedjof Winter war froh, dass der Chef jetzt auf die Arbeitsebene wechselte.

»Bevor die Spurensicherung eintrifft, müssen Sie dafür sorgen, dass um Himmels Willen nichts angerührt wird!«, ordnete Franz Hagel weiter an. »Ich weiß, das ist ein Ausflugsziel, aber es darf niemand das Terrain betreten. Umso wichtiger ist es, dass wir schnell arbeiten.« Franz Hagel überlegte und wurde lauter. »Der Ort muss unbedingt vor Kontaminierung geschützt werden. Lassen Sie bitte Schutzzelte aufbauen. Kriegen Sie das hin, Winter?«

»Na klar!« Friedjof Winter klang bestimmt. Er würde es auf jeden Fall hinbekommen.

»Gut! Dann bin ich beruhigt«, erklärte Franz Hagel. »Mit meinem Eintreffen können Sie heute Mittag rechnen. Ich bin bereits auf dem Weg.«

Friedjof Winter verabschiedete sich, ehe er bemerkte, dass er ins Nichts gesprochen hatte, denn Franz Hagel hatte das Gespräch bereits vorher beendet.

»Und?«, fragte Maren Hinrichs neugierig. »Wie ist der so?«

»Unverschämt, sehr speziell und dazu ein wandelndes Geschichtslexikon«, erklärte Friedjof Winter und wandte sich an die Polizisten vor Ort. »Sie müssen hierbleiben und den Fundort großflächig absichern. Niemand darf das Terrain betreten!«

Dann fragte er Maren Hinrichs. »Weißt du, wie wir jemanden von der Spurensicherung erreichen?«

»Ich könnte versuchen, deren Leiterin Frau Langner privat zu kontaktieren«, schlug Maren Hinrichs vor. »Bisher habe ich sie nicht persönlich kennengelernt, aber im Kommissariat habe ich gehört, sie soll freundlich sein. Das könnte helfen, wenn wir uns am Neujahrstag mit einem Auftrag melden. Was meinst du?«

»Gute Idee, mach das bitte so!«

»Ich kümmere mich darum!« Maren Hinrichs freute sich über das Lob, lief zum Fahrzeug und begann zu telefonieren. Friedjof Winter forderte derweil weitere Kolleginnen und Kollegen an, die Schutzzelte mitbringen sollten. Anschließend half er den Polizisten vor Ort beim Absperren des Geländes. In sicherer Entfernung sammelten sich bereits erste Schaulustige und filmten mit ihren Handys. Unter ihnen war auch ein großer hagerer Mann in einem langen grauen Ledermantel.

5

Franz Hagel hatte inzwischen Bremen erreicht. Er wollte in die Harzburger Straße, denn dort wohnte eine gute Bekannte von ihm. Frau Doktor Laura Bonari, eine forensische Pathologin aus Italien. Sie hatte in einem früheren Fall mit ihm zusammengearbeitet und seither hatten beide locker Kontakt gehalten. Kurz nach dem Gespräch mit Friedjof Winter hatte er entschieden, sie spontan zu besuchen und in den Fall einzubeziehen. Was er zunächst nicht bedacht hatte, war die Tatsache, dass er mit seinem Wohnmobil mitsamt Anhänger unterwegs war. Hinter dem großen Gefährt zog er sein altes Motorrad und so würde er unmöglich in der Harzburger Straße parken können. Im Grunde genommen würde er überhaupt nirgendwo in der Innenstadt Bremens parken können. Vielleicht, so hatte er überlegt, bei einem großen Einkaufscenter. Deshalb hatte er den Parkplatz in Brinkum vor dem Ikea Kaufhaus angesteuert. Dorthin hatte er sich ein Taxi geordert, das bei seiner Ankunft bereits auf ihn wartete. Wie gehofft, war der Parkplatz leer und er konnte sein großes Wohnmobil ohne Schwierigkeiten abstellen. Seine Dackelhündin Sissy schaute ihn erwartungsvoll an, als der Motor verstummte. Franz Hagel stieg aus und lief um das Wohnmobil herum. Sissy stand bereits aufrecht am Fenster der Beifahrertür und bellte. Die Hündin wollte sicherstellen, dass Herrchen sie nicht alleine zurücklassen würde. Er hob die Dackeldame heraus, leinte sie an und lief gemeinsam mit ihr zum Taxi. Dort nahm er sie auf dem Beifahrersitz auf den Schoß und ließ sich kreuz und quer durch Bremen zu seiner Zieladresse fahren. Als Franz Hagel zweimal an der Haustür von Laura Bonari geläutet hatte und niemand öffnete, bekam er kurz Zweifel, ob das eine gute Idee gewesen war, so spontan hier aufzutauchen. Auch das Taxi zu entlassen, war vielleicht nicht klug gewesen. Er klingelte ein drittes Mal und jetzt tat sich etwas im Haus. Mit einem Bademantel bekleidet und völlig verschlafen öffnete Laura Bonari die Tür.

»Francesco, du?« Laura Bonari traute ihren Augen nicht.

»Entschuldige«, sagte Franz Hagel. »Habe ich dich etwa geweckt?«

»Es ist der erste Januar 2025 und elf Uhr morgens und du fragst, ob du misch geweckt hast?« Laura Bonari sah ihn ungläubig an. »Isch bin vor vier Stunden von eine wunderbare Feier nach Hause gekommen. Gerade habe isch geschlafen.«

»Ähm … verstehe.« Franz Hagel schaute betreten drein. Sissy schnüffelte inzwischen fröhlich an den rosafarbenen Pantoffeln von Laura Bonari. »Kann, ähm, kann ich vielleicht reinkommen? Wir könnten einen Kaffee zusammen trinken?«

»Kaffee?«, fragte Laura Bonari. »Ist sich besser Espresso, meinst du nischt?«

»Ganz bestimmt sogar!«, antwortete Franz Hagel.

»Gut«, lenkte Laura Bonari ein. »Komm rein, isch mache uns einen Espresso.«

Franz Hagel trat in den Hausflur der hundertjährigen Villa. Doktor Laura Bonari hatte das Haus liebevoll saniert und lebte alleine dort. Es war sichtbar, dass sie viel italienisches Design untergebracht hatte. Alles wirkte geschmackvoll, frisch, hell und leicht. Die hohe Decke war mit Stuck ausgestattet. Der Boden mit italienischen Fliesen gestaltet. Nur ordentlich war es nicht. Franz Hagel stolperte als erstes über diverse Paare High Heels, die mitten im Weg verstreut lagen.

»Scusa!«, lächelte Laura Bonari. »Isch konnte gestern nischt entscheiden, welsches Paar isch anziehen sollte.«

»Schon gut«, sagte Franz Hagel. »Ich kann sehen und entsprechend aufpassen … «

Auch die Küche war elegant und geschmackvoll eingerichtet. Franz Hagel war Laura Bonari gefolgt und setzte sich auf einen Hocker an der Theke der Kochinsel. Sissy rollte sich zu seinen Füßen wieder ein. Die Espressomaschine meldete geräuschvoll, dass das erste Getränk bereits fertig war. Laura Bonari stellte die kleine Tasse vor Franz Hagel ab. »Jetzt erzähl doch endlisch, weswegen du hier bist!«

»Ich habe eine neue Stelle in Ostfriesland angenommen«, begann Franz Hagel seine Erklärungen, die in der geräuschvollen Fertigstellung des zweiten Espresso untergingen.

»Scusa, isch konnte disch nischt verstehen.« Laura Bonari setzte sich mit ihrer Tasse an die Ecke der Theke und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Also nochmal … Ich bin ab morgen in Ostfriesland beschäftigt. Dort übernehme ich in Leer die Verantwortung für das Kommissariat in Emden.«

»Ostfriesland?«, fragte Laura Bonari. »Wieso gehst du dorthin?«

»Der alte Brettschneider hat mir vor gut einem halben Jahr erzählt, dass er dort Sofia gesehen haben will.«

Laura Bonari schluckte. »Das glaubst du doch nischt wirklisch, oder?«

»Und ist die Hoffnung noch so klein, man lässt sich immer auf sie ein«, sagte Franz Hagel und schwieg einen Moment. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll … Weil ich es nicht wirklich weiß.«

»Verschtehe, Francesco.« Laura Bonari drückte die Hand von Franz Hagel. »Aber deshalb stehst du nischt heute Morgen hier vor der Tür.«

»Nein, selbstverständlich nicht.« Franz Hagel schaute sie an. Ihr Mascara war verwischt unter ihren Augen und die schwarzgetönten Haare hatte sie flüchtig zu einem katastrophalen Dutt nach oben gewickelt. So ganz passte das ernsthafte Gespräch nicht zu ihrem Äußeren, aber Franz Hagel ignorierte das erfolgreich.

»Ich brauche deine Expertise bei meinem ersten Fall in Emden«, fuhr Franz Hagel fort. »Es gibt dort einen Schädel und Knochenfund.«

»Du weißt aber schon, dass isch gar nischt mehr arbeite? Isch schreibe nur noch Büscher für die Forschung.«

»Ja, das weiß ich.« Franz Hagel zögerte einen Moment.

»Äh … und? Warum fragst du misch dann nach meiner Expertise?«

»Du bist mit Abstand die beste forensische Pathologin weit und breit. Ich will wissen, wer dieser Schädel ist, und die Einzige, die mir diese Frage so beantworten kann, dass ich zufrieden bin, bist du. Deshalb frage ich dich einfach … Machst du mit mir ein paar Tage Urlaub in Ostfriesland?« Franz Hagel trommelte mit den Fingern auf dem Tisch herum.

»Also ist diese Untersuchung inoffiziell?« Laura Bonari legte ihre Hand auf die trommelnden Finger.

»Genau!«

»Isch brauche ein Labor! Gute Reschner. Wie denkst du dir das? Ein bisschen Ausrüstung kann isch mitnehmen, aber …«

»Darum kümmere ich mich, sobald wir vor Ort sind.« Franz Hagel schaute ungeduldig auf seine Armbanduhr.

» Und wo mache isch diesen Urlaub?« Laura Bonari atmete tief durch.

»Also ich dachte, mit mir und Sissy zusammen in meinem Wohnmobil. Ich habe zwei Schlafplätze, die weit voneinander entfernt sind und mit einem Vorhang getrennt werden können. Den Campingplatz habe ich vorhin gebucht, der ist direkt an der Küste und unmittelbar am Ort des Geschehens. Fährst du gleich mit?« Franz Hagel sah Laura Bonari fordernd an. »Du hättest dort Zeit, an deinem neuen Sachbuch zu schreiben. Vielleicht kannst du die Erkenntnisse sogar gebrauchen.«

»Wie viel Zeit habe isch zum Packen?« Laura Bonari stand auf.

»Dreißig Minuten?«

»So viel doch … Eine halbe Stunde?« Laura Bonari lachte in sich hinein. »Isch gehe duschen!«

»Hast du deine Sachen hier, die du dafür brauchst?«, rief Franz Hagel besorgt hinter ihr her.

»Klar, meine Koffer sind immer gepackt für einen Einsatz in der Forschung. Bei der Arbeit halte isch Ordnung. Es kann gleisch losgehen.«

»Prima!« Franz Hagel atmete tief durch und orderte ein weiteres Taxi für einen Termin in einer Stunde.

6

Am frühen Nachmittag hatten sich die Schaulustigen am Rysumer Nacken mehr als verdoppelt. Die Polizei hatte die Schranke hinter dem Lokal Strandlust wieder verschlossen, sodass die Menschen einen guten Fußweg in Kauf nehmen mussten, um an den Fundort der Skelettteile heranzukommen. Das hielt jedoch niemanden davon ab. Der Parkplatz füllte sich mit Fahrzeugen. In den Medien kursierten bereits diverse Fotos der Absperrungen und aufgebauten Schutzzelte, die selbstverständlich neugierig machten und weitere Menschen anzogen. Auch einige Personen von der Presse warteten vor Ort, um herauszubekommen, welchen spektakulären Fund es an der Knock gegeben hatte. Das Lokal hatte spontan geöffnet und verzeichnete Umsätze wie sonst an guten Tagen im Sommer. Maren Hinrichs und Friedjof Winter hatten entschieden, die Kolleginnen und Kollegen vor Ort bei der Sicherung des Terrains zu unterstützen. Immer wieder versuchten Menschen, auf anderen Wegen in die Nähe des Fundorts zu gelangen.

»Siehst du das auch?«, fragte Maren Hinrichs. »Da vorne kommt ein riesiges altes Wohnmobil angefahren. Wie ist das Fahrzeug durch die Sperre gekommen?«

»Das wüsste ich auch gerne!« Friedjof Winter lief dem Wohnmobil entgegen, das sich im Schneckentempo durch die wartenden Menschen bewegte. Er nahm die Polizeikelle und hielt das Fahrzeug an. Der Fahrer drehte das Seitenfenster herunter. Friedjof Winter betrachtete ein skurriles Pärchen. Der Mann war mindestens Mitte fünfzig und trug Jägerkleidung. Eine grüne Lodenjacke, ein Halstuch und einen Hut mit einer Feder darauf. Er war etwas übergewichtig und hatte einen Drei-Tage-Bart. Die dunkelhaarige Frau hingegen schätzte Friedjof Winter erheblich jünger ein. Sie war attraktiv, schlank und sportlich schick gekleidet.

»Was machen Sie hier?«, fragte Friedjof Winter ungehalten. »Es ist nicht erlaubt, hier hereinzufahren. Wie sind Sie an den Kollegen vorne vorbeigekommen? Mit Ihrem Fahrzeug mitsamt Anhänger wird es unmöglich zu wenden! Sie kommen hier gar nicht wieder heraus. Das gibt eine saftige Verwarnung für Sie!«

In diesem Augenblick begann hinten im Wohnmobil ein Dackel ohne Unterlass zu bellen. Der Fahrer kramte in der Innentasche seiner Lodenjacke, holte seinen Ausweis hervor und hielt ihn Friedjof Winter vor die Nase.

»Moin, Winter! So sagt man doch hier, oder?« Franz Hagel genoss die Überraschung, die sich in Friedjof Winters Blick breitmachte. »Sie sind doch Winter, nicht wahr?«

Friedjof Winter nickte.

»Ich denke, ich werde ein kleines Stück weiterfahren dürfen, meinen Sie nicht?«, fuhr Franz Hagel fort. »Meine Dackelhündin Sissy müsste mal dringend nach draußen und hier sind viel zu viele Menschen.«

Friedjof Winter biss sich auf die Unterlippe und trat beiseite. Er ärgerte sich, dass er nicht im Netz nachgeschaut hatte, wie der neue Chef aussehen würde. Maren Hinrichs wäre dieser Faux Pas sicher nicht passiert. Sie hatte recherchiert, das wusste er. Das Wohnmobil mit Anhänger fuhr langsam an ihm vorbei und parkte direkt an der Absperrung des Fundorts. Franz Hagel, Laura Bonari und Sissy stiegen aus. Die Dackelhündin machte sofort einen kleinen Ausflug ins Grüne. Maren Hinrichs begrüßte den neuen Chef.

»Guten Tag, Herr Hagel. Ich bin Maren Hinrichs. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«