Tom und der Zauberfußball - Ulla Klopp - E-Book + Hörbuch

Tom und der Zauberfußball E-Book

Ulla Klopp

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Beschreibung

Tom und seine Fußballkumpels lassen sich auf eine gefährliche Wette ein: Um Mucabes Dorf in Afrika zu retten, wetten sie mit einem Bauunternehmer, dass sie gegen seine Fußballmannschaft antreten. Gewinnen sie, bleibt Mucabes Dorf erhalten, gewinnt die gegnerische Mannschaft, wird statt des Dorfes ein Ferienpark entstehen. Was sie nicht wissen: Die Mannschaft des Bauunternehmers wird in dem härtesten Fußballinternat trainiert - mit scheinbar illegalen Methoden.

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Seitenzahl: 289

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Ulla Klopp · Dietmar Brück

Mit Illustrationen von Zapf

Impressum

Aktualisierte und überarbeitete Neuausgabe 2014

© KERLE

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

© KERLE

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.kerle.de

Illustrationen: Zapf

Umschlagillustration: Zapf

Umschlaggestaltung: Daniela Schulz

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80129-7

ISBN (Buch): 978-3-451-71249-4

Ulla Klopp widmet das Buch

Dennis, Marc, Jürgen und Johnny

Dietmar Brück widmet das Buch

seinen Eltern Willi und Käthi,

Kirstin und Sophia

sowie seinen Patenkindern Marie, Pascal und Yannik

Vorwort von Jürgen Klopp

Hallo Kinder,

herzlich willkommen in meiner Welt:

Und das sind Fußballspielen und Bücherlesen.

Ich bin mittlerweile schon 46 Jahre alt und kann das selbst kaum glauben. Und wenn ich darüber nachdenke, was mich die vergangenen 46 Jahre am meisten interessiert hat, dann sind das Fußball und Bücher.

Fußball, weil schon ein Tor in unserem Wohnzimmer stand, als ich gerade mal zwei Jahre alt war.

Und Bücher, weil ich schon immer gern geträumt habe.

Ich habe früher auch sehr gerne ferngesehen.

Aber als ich so alt war wie du, gab es nur drei Programme. Ja, du liest richtig, nur drei Programme. Und die besten Filme liefen immer dann, wenn ich schon im Bett lag.

Nachmittags war ich natürlich draußen und habe mit meinen Freunden Fußball gespielt, aber an Schlechtwettertagen gab es für mich nichts Schöneres, als mich mit einem spannenden Buch zurückzuziehen und ganz tief in eine neue Welt einzutauchen. Meistens hatte es mir eine Figur aus dem Buch besonders angetan und plötzlich war ich selbst diese Figur. So habe ich als Geheimagent Lennet furchtlos für Recht und Ordnung gesorgt. Als Tommy der Mittelstürmer war ich ein Ausnahmetalent in einem Bundesligaverein. Als Lukas der Lokomotivführer besiegte ich die wilde 13. Und im Internat auf Schloss Schreckenstein habe ich Tag und Nacht mit meinen Freunden zusammengewohnt.

Vielleicht lachst du jetzt und denkst: Der spinnt ja. Aber erstens: Kann sein. Und zweitens ist es genau das, was Lesen so unfassbar schön macht.

Beim Lesen sind unserer Fantasie keine Grenzen gesetzt. Ich kann sein, wer ich will. Und du kannst sein, wer und was du willst. Und niemand kann uns sagen, dass wir das nicht dürfen.

In diesem Buch wirst du ganz viele tolle Jungs und fantastische Mädchen kennenlernen. Und vielleicht möchtest du ja sein wie der eine oder die andere von ihnen.

Also lass deiner Fantasie freien Lauf. Begib dich gemeinsam mit Tom und dem Zauberball auf eine Reise in ferne Länder. Erlebe all die kleinen und großen Abenteuer.

Begleite deine neuen Freunde dabei, wie sich ihr Leben auf großartige Weise verändert.

Vielleicht treffen wir uns irgendwann einmal und reden über unsere eigene kleine Geschichte.

Oder unsere Träume.

Manchmal werden sie wahr.

Und ganz bestimmt auch deiner.

Euer Kloppo

Jürgen Klopp hat viele seiner Träume wahr gemacht. Er hat als Fußballprofi 325 Mal gespielt und 52 Tore geschossen. 2001 wurde er bei Mainz 05 über Nacht vom Spieler zum Trainer. 2008 wechselte Jürgen Klopp als Trainer zu Borussia Dortmund und wurde mit dieser Mannschaft bereits zwei Mal Deutscher Meister, 2012 gewann er zusätzlich den DFB-Pokal. 2013 erreichte Dortmund sogar das Finale der UEFA Champions League.

Dortmund

Tom spielt auf dem Dachboden – und hört ein seltsames Geräusch

„… 54, 74, 90, 2010 … 2014 hau’n wir rein, mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein, werden wir Weltmeister sein …“

Tom grölte seine Version des Kultsongs laut vor sich hin und wirbelte mit seiner Luftgitarre durchs Zimmer. Er schüttelte seine blonden Haare, wie er es bei den Rockstars der „Sportfreunde Stiller“ gesehen hatte. Mit einem Ruck winkelte er sein rechtes Bein an, dass sein Knie fast die schweißnasse Stirn berührte. Schließlich ließ er sich auf die Knie fallen und tat, als würde er seine Gitarre auf dem Boden zertrümmern.

Erschöpft, aber glücklich zog Tom sich sein Reus-Trikot über. Dann nahm er ein langes Lineal vom Schreibtisch, das sich in seiner Hand in ein Mikrofon verwandelte, und fing an, sich seiner zweitliebsten Beschäftigung hinzugeben. Jetzt war er kein Musiker mehr, sondern Fußballkommentator.

Tom war wieder mal voll im Fußballfieber. Er flitzte aus seinem Zimmer im zweiten Stock, zog die Schiebeleiter herunter und kletterte geschwind auf den Dachboden. Bereits auf dem Weg nach oben fing er an zu kommentieren wie ein Profi: „Wien, 11:11 Uhr, kurz vor Spielende. Im ausverkauften Stadion stehen sich Deutschland und Italien gegenüber. Im Finale der Europameisterschaft steht es 1 : 1. Nur noch eine Minute zu spielen. Der deutsche Nationaltrainer zieht seinen größten Joker. Er flüstert dem elfjährigen Supertalent Tom letzte Anweisungen für seinen Einsatz im wichtigsten Spiel seines Lebens ins Ohr.“

Tom war mittlerweile auf dem Speicher angekommen. Er stürmte in sein selbst gebautes Stadion unter dem Dach und sprach wie im Rausch weiter: „Spielerwechsel. Unruhig wartet Tom auf der Seitenlinie auf Mario Götze. Für ihn soll er kommen. Die beiden umarmen sich. Mario raunt Tom zu: ‚Hol den Pott für uns.‘ Ein Griff ins Gras und los geht’s. Tom rast nach vorne ins Sturmzentrum, Einwurf Deutschland. Poldi auf Özil, Özil auf Schweini, Schweini auf Reus, Reus auf Poldi, Flanke von rechts. Volleyabnahme Tom, Tooooooooor. Tooooooooooooor. Toooooooooooooooooor.

Sekunden später der Schlusspfiff. Deutschland hat den Pott geholt. Deutschland ist Europameister. Jaaaaaaaaaaaaaaaa!“

Solche Anfälle hatte Tom öfter.

Er liebte diese Träumereien.

Vor seinen Augen verwandelte sich das Mikrofon zurück in ein Lineal und statt in Wien war er wieder in Dortmund – in seinem kleinen Reich auf dem Dachboden seines Elternhauses. Hier oben vergaß Tom fast vollständig, dass er nicht besonders gut kicken konnte. Zumindest nicht, wenn ihm jemand zuschaute.

Es war wie verhext.

Auf dem Platz verließ ihn jeglicher Mut. Seine Hände wurden feucht, seine Beine fingen an zu zittern und er fiel und stolperte eher über den Ball, als dass er ihn auch nur annähernd Richtung Tor brachte. Seine Pässe landeten fast immer beim Gegner oder in den Feldern und Büschen abseits des Spielfeldes.

Im Sportunterricht wurde er oft als Letzter gewählt, und wenn es ganz übel kam, dann sagte Julian, das größte Sportass der Klasse, so schlimme Sachen wie: „Okay, wir nehmen Paule, dafür bekommt ihr Tom, Malte und Anni.“

Eine größere Demütigung gab es nicht. Er wurde mit dem unsportlichsten Jungen auf diesem Planeten und mit einem Mädchen auf eine Stufe gestellt.

„Schlimmer geht’s nimmer“, hatte sein bester Freund Salvatore, der coolste Sprücheklopfer aller Zeiten, in solchen Momenten achselzuckend gesagt.

Jetzt, nachdem Salvatore mit seinen Eltern nach Italien gezogen war, verbrachte Tom fast seine gesamte Freizeit auf dem Dachboden in Dortmund am Ahlenberg. Seine Eltern, die Beckers, besaßen eine mit Efeu bewachsene Villa im Grünstreifen der Großstadt. Sie war ein alter Familienbesitz.

Tom ließ sich auf einen Berg von Kissen fallen und sah sich um. Sein kleines Stadion war die Wucht. Toms Vater hatte ihm eine zwei Meter hohe Trennwand samt Tür gebaut, die die Fußballarena vom größeren Rest des Speichers abtrennte. Zusammen mit der östlichen Hausmauer war so ein kleiner, halbrunder Platz unter dem Giebel entstanden. Tom hatte ihn „Toms Stadion“ getauft und den Namen auf ein Pappschild gepinselt.

Für die Einrichtung hatte er selbst gesorgt. Den Boden bedeckte ein alter grüner Teppich. An dessen schmalen Enden standen zwei – ein Meter auf achtzig Zentimeter große – Tore, die einst sein verstorbener Großvater zusammengenagelt hatte. Ein alter Lampenschirm auf einem Stuhl diente als Flutlichtmast. Als Zeitanzeige benutzte Tom eine kaputte Standuhr. Die unverputzte Mauer und die Trennwand aus Sperrholz waren kaum mehr zu erkennen. Sie wurden von Schals, Fahnen und Postern großer und kleiner Fußballvereine bedeckt: Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt, VfL Bochum, 1. FC Köln, Werder Bremen, Schalke 04, Bayern München und alles, was sonst noch um Punkte und Tore kämpfte.

Dieser Ort war einfach himmlisch. Tom schloss die Augen und träumte.

Er sah sich gerade wieder als Fußballstar durch die Arena stürmen, da hörte er etwas.

Ein seltsames Geräusch.

Wumm. Wumm. Wumm.

Irgendwo bewegte sich was. Da war es wieder. Ein gleichmäßiges, leises Wumm-Wumm-Wumm.

Was konnte das bloß sein? Das seltsame Geräusch setzte aus, begann erneut.

Wumm. Wumm. Wumm.

Tom kannte jeden noch so kleinen Winkel auf dem riesigen Dachboden. Hier oben war seine geheime Stadt, wie er sein Fantasiereich nannte. Er hatte sich zwischen dem Gerümpel, alten Schränken und Krimskrams, Unmengen von Büchern und der kaputten Standuhr eine verwinkelte Abenteuerwelt aufgebaut. Neben seinem Stadion war der zweitgrößte Raum sein Meisterzimmer, in dem all die Fußballpokale seines verstorbenen Großvaters funkelten.

Tom lauschte. Das Geräusch schien verschwunden.

„Komisch“, dachte er. „Bestimmt ist nur irgendwo etwas heruntergefallen.“

Seine Gedanken drifteten davon. Opa war ein brillanter Fußballer gewesen. Seine Eltern sagten oft zu Tom, wenn er mit hängenden Schultern nach Hause kam, weil er wieder mal nur für zehn Minuten eingewechselt worden war und nichts gerissen hatte: „Ach Junge, dein Opa hatte so viel Kickerblut in den Adern. Du hast ganz bestimmt was von seinem Talent geerbt. Du musst nur daran glauben.“

„Erwachsenensprüche“, dachte Tom, „davon spiele ich auch nicht besser.“ Doch egal wie niederschmetternd eine Niederlage auch gewesen sein mochte, schon am nächsten Morgen war Tom wieder voller Hoffnung, irgendwann doch noch ein ganz Großer auf dem Platz zu werden.

Ein ganz großer Fan war Tom jetzt schon.

Wenn Spiele der Nationalmannschaft übertragen wurden, schlief Tom sogar in seinem Reus-Trikot und zog es unter Protest allerhöchstens zum Duschen aus.

Genauso begeistert war er von Borussia Dortmund, seinem Heimatverein. Schaffte er es ausnahmsweise, ein Heimspiel mitzuerleben, war das so schön wie Weihnachten und sein Geburtstag zusammen. Die Dortmunder Profis waren klasse, die Nationalspieler Weltklasse. Aber von einem andern Stern schienen die Brasilianer zu sein. Tom kam aus dem Staunen nicht heraus, wenn er sah, wie sie mit dem Ball jonglierten und dabei ihre Körper so geschmeidig wie Katzen bewegten.

Für Tom war das Magie.

„Ich wünschte, ich könnte das auch“, dachte er. „Dann würden mich die anderen auf Händen tragen, und ich hätte wunde Finger vom Autogrammeschreiben. Aber bei mir wirkt alles, als wäre ich ein falsch zusammengeschraubter Roboter. Der rechte Fuß weiß nicht, was der linke tut“, seufzte Tom.

Jedenfalls war es meistens so. Nur wenn er ausnahmsweise keinen Gedanken daran verschwendete, wie schlecht er im Vergleich zu all den Fußballgöttern auf seinen Postern war, spielte er auf einmal ganz anders, ziemlich gut sogar.

„Das kommt leider so gut wie nie vor“, dachte Tom.

Wumm. Wumm. Wumm.

Da war das Geräusch wieder. Tom horchte auf. Die Quelle musste hier irgendwo auf dem Dachboden sein. Die Zeiger seiner Armbanduhr standen auf 20 Uhr. Mutter bügelte, und Vater bastelte in seiner Werkstatt herum. Und sonst lebte niemand in der Villa. Tom hatte keine Geschwister.

„Vielleicht haben sich meine Eltern ja heimlich zum Kopfballtraining verabredet“, grinste er vor sich hin, obwohl ihm das alles nicht ganz geheuer war.

Seine Eltern und Fußball. Zwei Welten trafen aufeinander. Obwohl Toms Vater früher mal bei einem kleinen Dorfverein in der Eifel als Linksaußen gestürmt hatte, war ihm heute jeder Ballsport schnuppe. Er segelte lieber. Und seine Mutter hielt ein Tor wahrscheinlich für einen Wäscheständer. Doch Tom nahm seinen Eltern ihr Desinteresse nicht übel. Dafür hatte er sie viel zu gern.

Wumm. Wumm. Wumm.

Der rätselhafte Radau wurde immer lauter. Jetzt klang er schon nach einer halben Fußballmannschaft.

Tom kämpfte sein mulmiges Gefühl nieder und verließ seine Kissenburg. Vorsichtig öffnete er die Tür in der Sperrholzwand. Dahinter lag der größte Teil seiner geheimen Stadt. Es war stockfinster.

Wumm. Wumm. Wumm.

Jetzt klang das Geräusch wie ein Hopsen.

„Das muss ein Tier sein“, überlegte Tom. Aber welches Tier machte derart abenteuerliche Geräusche?

Tom lief ein Schauer über den Rücken. Er lauschte in die Düsternis.

Wumm. Wumm. Wumm.

Hier gab es nur das Licht, das von seinem Stadion herüberschimmerte. Das komische Hopsen schien vom westlichen Ende des Speichers zu kommen. Tom angelte nach seiner Taschenlampe, die er hinter der Tür deponiert hatte. Er leuchtete in den Tunnel, der vor ihm lag und dessen Wände aus zerlesenen Buchbänden bestanden.

Seine Eltern waren echte Bücherwürmer.

Der Tunnel mündete in einen kleinen Raum, den er aus Schrankwänden und zwei alten Regenschirmen, die als Dach dienten, konstruiert hatte. Um das Licht ein wenig zu dämpfen, schob er die Taschenlampe unter sein Trikot.

Leise und vorsichtig schlich Tom weiter. Vor ihm lag sein Brasilienzimmer. Es bestand aus aufeinandergetürmten Pappkartons, die von einer gelb-grünen Brasilienflagge überspannt wurden. Überall hingen Poster von brasilianischen Fußballspielern.

Der Junge inspizierte im Lichtkegel seiner Lampe jeden Winkel. Er sah nichts, aber auch gar nichts Verdächtiges. Doch langsam kam er der Geräuschquelle näher.

Wumm. Wumm. Wumm.

Tom bog in einen weiteren Tunnel ein. Der würde sich zu dem Meisterzimmer öffnen, nahezu am anderen Ende des Speichers. Dort war er oft mit seinen besten Freunden, Salvatore und Winston, gewesen und hatte Großvaters blitzende Trophäen bestaunt. Jetzt hätte er seine Freunde gut brauchen können. Doch nicht nur Salvatore, sondern auch Winston war mittlerweile unerreichbar weit weg. Winston lebte in England. Toms Freunde waren vor knapp einem Jahr fast zeitgleich weggezogen.

„Ich muss hier allein durch“, dachte der Junge und wurde kurz traurig, dass die beiden ihn verlassen hatten.

Dann konzentrierte er sich wieder auf das Geräusch, das nun ganz nah war.

Ob sich das hopsende Etwas Opas Pokale ansah?

Tom ging vorsichtig weiter. Kein Zweifel, der Eindringling hatte sich im geräumigen Meisterzimmer breitgemacht. Tom bekam feuchte Hände. Instinktiv knipste er die Taschenlampe aus, während er seinen Blick über die Pokale schweifen ließ. Einige von ihnen funkelten im Abendlicht, das durch ein winziges Dachfenster einfiel.

Alles war voller Schatten und Schemen. Dann sah er es.

Dortmund

Tom macht die Entdeckung seines Lebens

Tom traute seinen Augen nicht. Sein Herz begann wie wild zu klopfen. Er kniff sich fest in die Wange und zwickte sich zur Sicherheit auch noch in den Arm. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Da vorne tanzte etwas. Er konnte nicht genau erkennen, was es war. Tom konnte nur sehen, dass es seine Farbe änderte, mal gelb aufleuchtete, dann wieder blau und grün.

Der Junge duckte sich hinter einen Pappkarton. Im gleichen Augenblick kam etwas in einem Affenzahn auf ihn zugesprungen und landete krachend in den Kartons. Tom war sich sicher, hier musste es sich um ein Monster handeln, das ihn im nächsten Moment auffressen würde. Er konnte sich kaum rühren vor Schreck. Hatte seine letzte Stunde geschlagen?

Doch Tom war niemand, der sich in seinen eigenen vier Wänden so leicht in die Flucht schlagen ließ. Er rappelte sich auf. Bei seiner letzten Schlacht wollte er dem Angreifer ins Auge blicken.

Da entfernte sich das Ding ebenso schnell, wie es gekommen war – es flitzte durch einen der Tunnel in Richtung Stadion. Im Bruchteil einer Sekunde drehte sich Tom um und flitzte hinter dem Flüchtenden her. Eine wilde Jagd begann.

„Na warte, dich krieg ich“, rief er aus. Auch, um sich selbst Mut zu machen.

Sein Stadion war ihm heilig, da verstand er keinen Spaß. Er würde es bis zur letzten Sekunde verteidigen.

Das komische Ding war rasend schnell. Aus den Augenwinkeln sah Tom, wie es die Trennwand zum Stadion mühelos übersprang. Keuchend erreichte er die Tür und stieß sie mit einem Schwung auf.

„Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Noch so ein schlauer Spruch von Salvatore“, redete er mit sich selbst und preschte vor in sein Stadion, um im nächsten Moment zu erstarren.

„Das gibt’s doch nicht.“

Tom riss die Augen auf. Was er sah, war vollkommen irre.

Der seltsame Eindringling hüpfte auf seinem Fußballfeld herum, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Tom hätte am liebsten laut aufgeschrien, so unheimlich war das. Doch zugleich spürte er, dass er keine Angst haben musste. Das hier war kein Monster, das ihn durch sein Höhlensystem jagen würde. Bei dem eben noch furchterregenden Ding handelte es sich schlicht und ergreifend um einen ziemlich durchgedrehten Lederball.

Tom lachte laut auf.

„Ich glaub, ich spinne!“

Ihn packte die Neugierde. Er tastete sich langsam zum Stuhl vor und schaltete sein Flutlicht an. Jetzt war es taghell, da blieb kein Raum für Zweifel. Was er zu sehen bekam, war kaum zu glauben. Vor ihm sprang der Ball auf und ab wie ein Hund, der bei seinem Herrchen einen Knochen vermutete.

„Au Backe, kennen wir uns etwa?“, fragte Tom.

Seine Angst hatte sich in nichts aufgelöst. Tom nahm den Ball, der sich problemlos fangen ließ. In Toms Händen fühlte er sich wie ein ganz normaler, aber ziemlich alter Fußball an. Mit ihm mussten schon Generationen von Kickern gespielt haben, so abgenutzt sah er aus. Die Außenhülle aus Leder war braun und wies Schrammen und Grasflecken auf. Die Nähte an den Waben hielten noch, wirkten aber ein wenig ausgefranst. Tom strich behutsam über die raue Oberfläche und roch an dem alten Leder.

Der geheimnisvolle Ledergeselle kam Tom wie ein Freund vor, obwohl ihm natürlich klar war, dass Bälle keine Lebewesen sein können, nicht denken und fühlen und einem echten Kicker einen gehörigen Tritt nicht übel nehmen, was bei Menschen böse ins Auge gehen konnte.

Aber dieser Ball war kein normaler Ball. Vielleicht war er ein Zauberwesen.

„Und mit mir geht die Fantasie durch“, dachte Tom. „Und doch …“, redete der Junge selbstvergessen weiter. „Er bewegt sich von alleine. Er hat mein geheimes Stadion entdeckt. Er …“

Tom dachte nach. Ihm lag etwas auf der Zunge. Er musterte den Ball noch einmal, drehte ihn in den Händen herum.

„Er lebt … irgendwie“, sprach er vor sich hin.

Er hatte fast Hemmungen, ihn mit dem Fuß zu berühren. Trotzdem wagte Tom es.

Da ereignete sich das nächste Wunder. Mit diesem Ball am Fuß kam er sich gar nicht mehr wie ein kaputter Roboter vor, der komisch rumzappelte. Mit diesem Ball fühlte er sich wie ein brasilianischer Fußballspieler.

„Wow“, dachte Tom, „ist das cool.“

Er schoss den Ball ein paar Mal mit dem rechten Fuß in die Höhe und fing ihn elegant auf, federte ihn ab und ließ ihn auf dem Spann ruhen. Dann nahm er ihn wieder hoch, wechselte das Bein, kickte ihn zum Giebel und ließ den Ball anschließend auf der Stirn tanzen. Und alles war auf einmal ganz leicht, geschah wie von selbst, als hätte Tom eine magische Formel gefunden, die ihn innerhalb von Sekunden in einen Ballakrobaten verwandelte.

„Bin ich das überhaupt?“, dachte Tom und zwickte sich.

Er schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Nein, er träumte nicht. Der Ball schmiegte sich regelrecht an Toms Fuß. Die Lederkugel kam ihm wie ein Teil seines Körpers vor, der seine Bewegungen erahnte, bevor er sie ausführte. Dieser Ball war ein Geschenk des Himmels.

Das alles war nicht zu fassen. Tom hatte keine Ahnung, wie sein neuer Freund in seine Fußballstadt unterm Dach gekommen war. Alle Fenster waren verschlossen. Das Dach hatte keine Löcher. So sehr er auch nachdachte, Tom konnte dieses Geheimnis nicht lüften.

„Hauptsache, ich habe dich gefunden“, dachte er.

Tom drückte den Ball einfach nur glücklich an sich.

Wieder in seinem Zimmer, zwei Etagen tiefer, versteckte er seinen kleinen Freund in der alten Truhe, in der er seine wertvollsten Schätze aufbewahrte, darunter ein Trikot seines Großvaters. Dann legte er sich – erschöpft von all der Aufregung – aufs Bett.

„Erst Rockmusiker, dann Europameister. Und jetzt einen Zauberball als Freund. Was für ein cooler Abend. Das glaubt mir keiner“, dachte Tom in bester Laune.

Er kniff sich noch einmal in die Wange. Eigentlich wollte er sich auch noch in den Arm zwicken, aber da war er schon eingeschlafen. Er hörte nicht mehr, dass der Ball in der Kiste noch ein paar Mal fröhlich vor sich hin hopste und dann endlich Ruhe gab.

Dortmund

Tom entdeckt, dass der Ball viele Geheimnisse hat

Es war an einem Morgen im August, als Tom eine Stunde früher als gewöhnlich aufwachte. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte 6 Uhr an. Draußen war es stockdunkel. Erst in einer Stunde würde der Wecker rappeln. Tom war hundemüde, morgens döste er auch nach weniger aufregenden Nächten meistens so lange, bis seine Mutter ihn zum dritten Mal rief. Sie hatte wirklich eine Engelsgeduld mit ihm. Für Tom war sie einfach die beste Mutter auf der Welt, und das, obwohl sie Fußballschuhe nicht von Wanderschuhen unterscheiden konnte.

Tom knipste das Licht an. Mit halb geschlossenen Augen tappte er auf seine Schatzkiste zu.

„Hoffentlich habe ich nicht alles nur geträumt“, dachte er. Aufgeregt wuchtete er den schweren Holzdeckel hoch. Gott sei Dank. Der Ball war noch da.

„Was für ein Hammer“, entfuhr es Tom.

Er hob seinen neuen Spielgefährten ehrfürchtig aus der Kiste, machte das Licht aus und legte die Lederkugel auf die Bettdecke. In diesem Moment hätte er nirgendwo sonst auf der Welt sein wollen. Er hatte einfach nur Spaß, im Dunkeln die Umrisse seines unglaublichen Fundes zu betrachten.

Dann geschah etwas vollkommen Seltsames. Tom nahm ein unerklärliches Leuchten wahr.

„Da brennt ein Feuer oder eine Lampe im Innern des Balles“, erschrak Tom und erinnerte sich an das eigentümliche Farbenspiel auf dem Dachboden.

Der helle Fleck an der Oberfläche des Balles wanderte, dann verharrte er an einer bestimmten Stelle. Tom sträubten sich die Nackenhaare. Aber er war viel zu fasziniert, um wirklich Angst zu haben.

Was ging hier vor? Die Oberfläche des Fußballs veränderte sich noch immer. Aus dem Leuchten formten sich jetzt Buchstaben.

„Spinn ich?“, fragte Tom sich.

Das alles zog ihn so sehr in seinen Bann, dass er sogar vergaß, sich in die Wange oder in den Arm zu zwicken.

Jetzt sortierten sich die flimmernden Buchstaben und bildeten Worte. Tom schoss vor Aufregung die Röte ins Gesicht. Was er da sah, war so umwerfend, als hätte eben einer der brasilianischen Fußballstars an seine Tür geklopft und Tom mit schüchternem Blick um ein Autogramm gebeten.

In scharfer, grün-gelber Schrift las er zwei Worte: Tom Deutschland.

In den nächsten beiden Tagen malte Tom in der Schule ausschließlich braune Männchen mit Lederballköpfen auf den Rand seiner Hefte. Er konnte sich nicht wirklich auf die Schule konzentrieren. Wenn er nicht so ein guter Schüler gewesen wäre, hätte es bestimmt Ärger gegeben. Er musste ständig an sein großes Geheimnis denken. Jede freie Minute verbrachte er mit dem wundersamen Ball. Am liebsten im Dortmunder Westfalenpark oder auf seinem Dachboden.

Mit dem Ball konnte er die tollsten Kunststücke machen: atemberaubende Hackentricks oder Drehungen um die eigene Achse, ohne dass die Kugel den Boden berührte. Es war herrlich.

Tom verriet niemandem etwas von seiner Entdeckung. Salvatore oder Winston hätte er den Ball gerne gezeigt. Aber die beiden hatten ja mit ihren Eltern wegziehen müssen. Auf E-Mail oder SMS hatte Tom keine Lust. Er war noch immer enttäuscht, dass die beiden so schnell verschwunden waren.

„Sie hätten sich ruhig etwas mehr gegen den Willen ihrer Eltern sträuben können“, dachte er. „Warum sind die beiden bloß so verdammt weit weg?“

Der Ball gab Tom immer mehr Rätsel auf. Am Abend des zehnten Tages begann er wieder zu leuchten. Ein neuer Name und ein neuer Ort erschienen: Anna Schweden.

Was hatte das bloß zu bedeuten? Noch dazu ein Mädchenname. Tom konnte sich keinen Reim darauf machen. Doch am nächsten Tag begann sich das Rätsel zu lösen.

Tom war auf dem Weg zum Westfalenpark. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so voller Begeisterung gewesen war. Er hielt es einfach nicht aus, die ganze Geschichte mit dem Ball komplett für sich zu behalten. Heute würde er den Zauberball in die Gesellschaft ein paar junger Fußballer einführen. Schließlich stieg ein kleines Turnier von Klassenkameraden und Nachbarsjungen im Westfalenpark.

Tom hatte wieder einmal niemand Bescheid gesagt.

„Das werden sie bereuen. Den anderen werde ich mal zeigen, was man mit einem Ball so alles machen kann“, dachte Tom gerade übermütig, als der Ball in seinen Händen zu zucken begann.

„Was ist denn los?“, fragte Tom. „Du warst auf dem Weg hierher schon so unruhig. Du bist doch nicht aufgeregt, weil du gleich zum Einsatz kommst? Mir könnte das nie passieren“, zwinkerte er dem Ball zu.

Tom erinnerte sich an all die Pleiten auf dem Fußballplatz.

Aber heute würde es anders sein. Ganz anders.

Tom, der sich angewöhnt hatte, seinen runden Freund direkt anzusprechen, sah seinen Lederkumpel vergnügt an.

„Wir zwei zusammen – das wird sie umhauen“, frohlockte er.

Gleich würde er ihnen die größte Sensation ihres Lebens vor die Füße knallen.

Die Jungs hatten sich schon auf dem Rasen versammelt, als Tom eintraf. Die meisten kannte er. Trotzdem wurde Tom eher beiläufig begrüßt. Allein sein Ball schien ein gewisses Interesse zu wecken. Aber anders, als er es sich vorgestellt hatte.

„Hey, was hast du uns denn da Schönes mitgebracht?“, nahm ihn einer der Kicker auf die Schippe.

„Sieht aus wie etwas, das früher mal ein Ball gewesen sein muss, hahaha, bist du etwa an einem Flohmarktstand vorbeigekommen?“, lästerte ein anderer.

Tom ließ die Frotzeleien abprallen, holte tief Luft und antwortete feierlich: „Darf ich euch vorstellen, das ist unsere neue Wunderwaffe, ein echter Zauberball. Wem der gehört, der macht im Spiel jeden Gegner platt.“

Tom war fest davon überzeugt, dass der Ball immer zu ihm und seiner Mannschaft halten würde.

Doch auf die Jungs im Park machte seine kleine Ansprache wenig Eindruck.

Zu Toms großer Verwunderung brachen sie in schallendes Gelächter aus und schrien laut durcheinander. Tom konnte nur einzelne Wortfetzen heraushören: „Wunderwaffe … lächerlich, Tom … schon immer komisch … hat ’nen Vollschuss … müsste man einsperren … altes Stück Leder … damit spielt nicht mal ein Mädchen.“

Tom schwoll der Kamm. Weil er nicht wusste, wie er sich Luft verschaffen sollte, tat er einfach irgendetwas. Wütend schoss er den Ball in die Luft. Und der ging ab wie eine Rakete, flog höher und höher, als wolle er zum Nachbarplaneten fliegen.

Tom interessierte sich nicht mehr für die verdutzten Gesichter der anderen. Er flitzte dem Ball hinterher, der sich bereits wieder im Landeanflug auf die Erde befand. Die Kugel schlug fast am anderen Ende des Westfalenparks auf, vollführte wilde Sprünge und rollte blitzschnell weiter.

Tom hatte zwar eine gute Kondition, aber dieser Ball schaffte ihn beinahe. In einem Höllentempo wetzte er hinter seinem ledernen Freund her. Aus den Augenwinkeln sah er den Ball hinter einem Busch verschwinden. Als Tom völlig erschöpft um die Ecke bog, wurde er von der einen zur anderen Sekunde zum wild entschlossenen Kämpfer. Ein anderer Junge hatte es gewagt, sich nach seinem Ball zu bücken. Nach seinem Ball!

„Lass das, der Ball gehört mir“, fauchte Tom den Jungen an, der blonde, wuschelige Haare und viele Sommersprossen hatte und den Tom nur flüchtig kannte.

„Sein Vater ist doch dieser Ingenieur, der angeblich an Luftschiffen herumtüftelt“, fuhr es Tom durch den Kopf. Von Tom derart angefahren, schreckte der Junge zurück. Doch der Ball schien einen neuen Freund gefunden zu haben. Denn er begrüßte den Jungen, der Michael hieß, so herzlich, dass Tom sich wieder einmal in die Wange zwicken musste.

Der Ball tanzte um den Jungen herum und hopste ihm in die Arme. „Tut mir leid“, sagte Michael scheu, „ich will deinen Ball nicht stehlen.“

Er schlug die Augen nieder und drückte Tom den Ball in die Hand. Doch der sprang von Tom weg und rollte Michael vor die Füße. Der traute sich nicht mal mehr ihn anzusehen, geschweige denn ihn aufzuheben.

„Ich glaube, der Ball will zu dir“, sagte Tom traurig.

Er begann zu verstehen. Tief in seinem Innern hatte er immer befürchtet, dass auch sein neuer Freund ihn verlassen würde – wie Salvatore und Winston. Wenn es so war, konnte er es nicht ändern.

„Mit dem Ball ist das so“, sagte er zu dem Jungen. „Dieser Ball ist ein ganz besonderer Ball, na, wie soll ich es sagen, du wirst es schon merken. Dieser Ball hat seinen eigenen Willen.“

„Und“, Tom machte eine Pause, weil es ihm schwer ums Herz wurde, „er sucht sich seine Freunde selbst aus.“

Michael lächelte vorsichtig, denn er mochte den runden Ledergesellen auf Anhieb und konnte Tom deshalb gut verstehen.

„Ich kann den Ball gar nicht gebrauchen“, sagte Michael schnell, als er in Toms betretenes Gesicht sah.

„Mein Vater testet einen neuen Zeppelin. Er fliegt mit ihm bis nach Schweden. Und zum ersten Mal darf ich mit. Da kann ich keinen Ball mitnehmen.“

Tom durchfuhr es siedend heiß. Schweden?

„Der Zeppelin fliegt nach Schweden?“, fragte er noch einmal.

„Ja, bis hoch in den Norden sogar“, antwortete der Junge.

Toms Gehirn ratterte wie ein Glücksspielautomat. In seinem Kopf flammte ein Licht nach dem anderen auf. Hatte auf dem Ball nicht „Anna Schweden“ gestanden? Na klar. Das musste es sein.

„Der Ball braucht dich, um nach Schweden zu kommen, dort trifft er nämlich ein Mädchen, die Anna.“

Tom überlegte: „Mich würde es nicht wundern, wenn diese Anna auch Fußball spielt. Das muss ein ganz besonderes Mädchen sein.“

Michaels Gesicht war ein einziges Fragezeichen, das von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

„Also, noch mal von vorne“, sagte Tom, während der Ball fröhlich um sie beide herumhopste.

„Ich erzähle dir jetzt die ganze Geschichte.“

Am Ende hatte Michael ganz strahlende Augen, so aufregend fand er das alles. Aber Tom wurde schwermütig. Er wusste, dass er sich nun verabschieden musste.

„Mach’s gut, mein Freund“, sagte er zu dem Ball, der jetzt nur noch langsam hin und her rollte, als würden ihm gleich ein paar Tränen aus den Nähten rinnen.

Tom drehte sich um und lief davon. Er hasste Abschiede. Vor allem wenn er wenige Minuten zuvor zu allem Übel auch noch von den hochnäsigen Jungs im Westfalenpark verspottet worden war. Angestrengt versuchte er, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden.

Dabei half ihm die Erinnerung an Salvatore. Der hatte einfach für alles einen Spruch parat.

„Wie war das noch?“, dachte Tom. „Na klar, Hochmut kommt vor dem Fall, würde Salvatore sagen. Und dann noch: Gut jetzt und basta.“

Auf den letzten Metern bis zur elterlichen Villa dachte Tom nur noch an seinen kleinen runden Freund. Immer wieder erinnerte er sich daran, wie vergnügt der Ball bei ihrer ersten Begegnung auf dem Speicher um ihn herumgesprungen war.

Und dann lachte er laut, um nicht losweinen zu müssen.

Schweden

Die bärenstarke Anna sorgt sich um Großvater Gustav und hat Ärger mit ihrem Stiefbruder Sven

Während Tom dem Ball nachtrauerte, sah Anna den Enten zu, wie sie, kleine Wasserfontänen aufwerfend, im Vänersee landeten. Der Vänersee war der größte See Schwedens und eigentlich ein Meer. Anna hatte nicht die leiseste Ahnung, wo sich das gegenüberliegende Ufer befand. Manchmal träumte sie, eines Tages würde Pippi Langstrumpf mit einem Schiff voller Piraten am Horizont auftauchen, um sie auf eine wilde Abenteuerreise mitzunehmen.

Ob Piraten auch Fußball spielten?

„Na klar“, dachte Anna, „sonst ist das Piratenleben ja langweilig.“

Die Zehnjährige war die beste Stürmerin des Fußballclubs Allsvenska. Zudem glaubte sie fest daran, dass sie irgendwie mit dem berühmtesten aller schwedischen Mädchen verwandt sein musste. Denn Anna hatte nicht nur rote Haare und Sommersprossen wie Pippi, sie war auch bärenstark. Zwar konnte sie kein Pferd mit einem Arm in die Luft stemmen. Aber jeder Junge hatte einen gehörigen Respekt vor Anna. Wer ihr dumm kam, dem verdrehte sie die Nase oder zog ihm die Ohrläppchen lang, dass seine Ohren noch eine Weile feuerrot leuchteten.

Aber das kam selten vor. Denn Anna war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen und eigentlich immer gut gelaunt.

Jetzt saß sie mit verschwitztem Trikot und Fußballschuhen im Schilfgras. Sie trug die Nummer 4 wie die schwedische Rekordtorschützin Pia Sundhage. Hier am Waldrand – nicht weit von dem kleinen, hölzernen Bootsanlegesteg – war es herrlich ruhig. Ein einsamer Zeppelin schwebte am Himmel wie eine riesige fliegende Zigarre. Anna blickte fasziniert nach oben.

„Das wäre auch ein tolles Abenteuer, da mitzufliegen“, dachte sie.

Anna genoss die letzten Tage des Spätsommers. Bald würde es wieder früh dunkel werden. Ohne Flutlicht war es dann auf dem Trainingsplatz stockfinster. Schweden war ein seltsames Land. Denn mitten im Sommer schien sogar noch zur Geisterstunde die Sonne. Alle Kinder durften lange aufbleiben. Und Anna konnte stundenlang kicken.

Heute im Training hatten sie sieben gegen sieben gespielt. Anna legte sich die Hand auf den Bauch. Wenn sie an das Training dachte, bekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Sie hatte die Kugel meistens am Tor vorbeigeschossen und ein paar richtig schlechte Pässe gespielt. Das passierte ihr in jüngster Zeit öfter.

„Anna, du hast nur ein kleines Formtief“, hatte ihr Trainer sie getröstet.

Herr Larson hielt sie für ein großes Stürmertalent, das hatte er ihr schon oft gesagt. Obwohl sie erst zehn war, hatte sie einen Schuss, der jeder Torfrau die Knie schlottern ließ. Trotzdem würde ihr Trainer sie aus der Stammmannschaft nehmen müssen, wenn es weiter so schlecht lief, da war Anna sich sicher. Und das fünf Tage vor dem großen Spiel um den Värmland-Pokal, bei dem sie unbedingt dabei sein wollte.

Anna nahm sich vor, beim nächsten Training wieder tolle Pässe zu schlagen und jede Menge Bälle im Tornetz zu versenken. Doch sie fühlte sich nicht gut. Irgendetwas bedrückte sie.

Anna sah dem Zeppelin hinterher, der in nördlicher Richtung entschwand. Nach einer Weile war er nur noch als kleiner Punkt in der Nachmittagsdämmerung auszumachen. Anna hätte viel darum gegeben, an Bord der kleinen Gondel zu sein, die am Bauch dieser komischen Zigarre klebte. Im schwedischen Norden, in Lappland, dort wo kaum jemand lebte, da wohnte der Mensch, an den sie seit Wochen ununterbrochen denken musste: ihr Opa Gustav.

Wenn sie ihm nur helfen könnte? Sein geliebter Hund Thor war gestorben – und nun saß Opa Gustav den ganzen Tag traurig in seinem Schaukelstuhl. Vor drei Wochen erst hatte Anna ihn besucht – und fast nicht wiedererkannt.

Er hatte kaum ein Wort herausbekommen. Dabei war es bei Opa Gustav immer lustig gewesen. Seine Augen funkelten wie Diamanten, wenn er für Anna schauspielerte oder ihr Geschichten erzählte. Manchmal setzte er sich hinter das leere Gehäuse eines alten Fernsehers und tat so, als wäre er ein berühmter Schauspieler oder ein Nachrichtensprecher. Anna kugelte sich dann vor Lachen.

Bei ihrem jüngsten Besuch hingegen hatten beide dauernd an Thor denken müssen. Auch Anna vermisste den Hund wie verrückt. Und sie fühlte sich schrecklich, wenn sie sich vorstellte, dass sie ihren Opa alleine in seiner kleinen Hütte zurückgelassen hatte.

Anna hätte ihn gerne mit nach Hause genommen, um ihn zu trösten. Aber Opa Gustav war kein Mensch, der auf Reisen ging.

„Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, sagte er nur. Da konnte Anna wenig machen.

„Na, da ist sie ja, unsere Superstürmerin“, rief ihr am Bootssteg jemand von hinten zu.

Anna brauchte sich gar nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da angerückt kam. Ihr Stiefbruder Sven wie immer im denkbar unpassendsten Moment. Er war knapp zwei Jahre älter als sie. Eigentlich hätten sie dicke Freunde sein können, denn Anna hatte sonst keine Geschwister. Aber Sven lief den ganzen Tag wie ein aufgeplusterter Gockel durch die Gegend und tat nichts lieber, als sie zu hänseln und zu provozieren.

„Der ist nur neidisch, weil er ein schlechter Sportler ist und kaum Freunde hat“, dachte Anna oft.