TONSPUR - Udo Schmitt - E-Book

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Udo Schmitt

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Beschreibung

Der frühere Rockstar »Warrior« plant nach zehn Jahren ein musikalisches Comeback mit der einst international gefeierten Band »Brandmal«. Nachdem er seine ehemaligen Bandkollegen von der Idee überzeugt hat, taucht unvermittelt ein Widersacher auf, der als »Warriors« Doppelgänger für schlechte Presse sorgt. Alte Rivalitäten unter den Musikern bringen zusätzliche Reibereien. Zum Schrecken aller kommt es auch noch zu einem Anschlag auf den Leadsänger. Doch wer ist dieser rätselhafte Gegenspieler, der das ehrgeizige Musikprojekt fortwährend torpediert? Und warum spielt die deutsch-deutsche Geschichte bei den Konflikten eine Rolle?

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Udo Schmitt

Tonspur

Rocklegenden und ein Spaziergang am Meer

Udo Schmitt

TONSPUR

Rocklegenden und ein Spaziergang am Meer

Zwischen den Stühlen 10

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: November 2023

Zwischen den Stühlen @ p.machinery

Kai Beisswenger & Michael Haitel

Titelbild: Sebastian Ervi (Pexels)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Kai Beisswenger

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Zwischen den Stühlen

im Verlag der p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.zds.li

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 363 5

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 742 8

Arbeit

Kai lag rücklings auf dem Sofa in seinem Wintergarten und starrte zum Himmel. Weiße Wolken zogen vorbei, mächtigen Segelschiffen gleich. Versonnen strich er sich über den Bart. Wie lang er geworden war. Vollbärte sind eine vortreffliche Sache, dachte er sich, zuverlässig verstecken sie fast jede Emotion.

Genüsslich gab sich Kai dem Nichtstun hin. Ihn bewegte die Vorstellung, er befände sich am Grund des Pazifiks. Die Wolken bildeten die Oberfläche, dazwischen Megatonnen von Wasser. Entspannt genösse er die Ruhe des Stillen Ozeans, ihm bliebe aber nur Sauerstoff für fünfzehn Minuten. Zu wenig, um noch rechtzeitig auftauchen zu können.

»Kai, geh endlich arbeiten«, sagte jemand mit klarer Stimme, und beendete damit seinen Traum abrupt. Ruckartig richtete er sich auf und sah Alex, die sich vor ihm aufgestellt hatte, die Hände in die Hüften gestemmt.

Einen winzigen Augenblick gönnte er sich, um in der Realität anzukommen, ehe er konterte: »Ich bin vierzig. Was soll ich in meinem Alter noch arbeiten?«

»Mit dreißig hast du dich vom Arbeiten verabschiedet. Jetzt bist du vierzig. Und ist inzwischen etwas passiert?«

Was Alexandra damit andeuten wollte, wusste Kai genau. Vor zehn Jahren war Brandmal auseinandergebrochen, zusammen mit seiner Frau hatte er aber lange Zeit das gewohnte Luxusleben als ehemaliger Rockstar fortgeführt. Nun wurden die Einkünfte knapp.

»Am besten frage ich Vater, ob er eine Stelle in seiner Firma für dich hat. Oder ist es dir lieber, ich bitte ihn, dass er uns ein weiteres Mal mit einer größeren Summe aushilft?«

Alex setzte einen verzweifelten Gesichtsausdruck auf. Kai sah unbeeindruckt an ihr vorbei in den Garten. Dort trotzte ein kahler Apfelbaum beharrlich dem Winter. »Jetzt übertreibst du aber. Die alten Alben von Brandmal verkaufen sich bis heute. Wenn wir die Ansprüche etwas herunterschrauben .?«

Dafür hatte Alex allerdings nur ein müdes Lächeln übrig. Kai wusste selbst, dass die Einkünfte durch CD-Verkäufe seit den Downloadplattformen ständig geringer wurden. »Hättest du dein Studium beendet, würde es dir leichter fallen, eine passende Anstellung zu finden«, mäkelte sie.

Verächtlich rümpfte Kai die Nase. »Und du wärst jetzt die Frau eines langweiligen Vermögensberaters und nicht die einer charismatischen Rocklegende.« Er lächelte verschmitzt.

»Was nützt mir die Rocklegende, wenn sie nur in den Tag hinein lebt und mit vierzig bereits keine Ziele mehr hat?«

Mit halbem Ohr hörte Kai die Vorwürfe, während er die letzten Jahre Revue passieren ließ. Natürlich war er Alex unendlich dankbar dafür, dass sie ihm dabei geholfen hatte, ein neues Leben zu beginnen. Nach dem psychischen Absturz folgten Drogenentzug, Therapien, Krankenhausaufenthalte. Auch bei den gerichtlichen Streitigkeiten mit den übrigen Bandmitgliedern war sie ihm tapfer zur Seite gestanden. Seitdem bemühte sich Kai nach besten Kräften, allen vermeidbaren Belastungen und jeder Auseinandersetzung mit anderen Menschen aus dem Wege zu gehen. Er wollte ein Leben in Harmonie führen, um endlich über seine Dauerlebenskrise hinwegzukommen. Oder hatte er es sich die letzten Jahre einfach nur bequem gemacht und sollte schleunigst aus dem Dornröschenschlaf erwachen?

»Geh ins Marketing. Da brauchen sie Leute wie dich, schließlich bist du eine bekannte Persönlichkeit.«

Kai lachte, richtete sich auf und streckte die Schultern nach hinten. Versöhnlich nahm er Alex’ Hände und strich mit dem Finger über ihren Ehering. »Von deinem Vater lasse ich mich ganz gewiss nicht durchfüttern.«

»Dann überleg dir eine bessere Lösung.«

»Beziehungen müsste man haben.«

Alexandras Lippen umspielte ein listiges Lächeln. »Beziehungen? Kein Problem. Ich kenne jemanden, der hervorragende Beziehungen hat.«

»An wen hast du gedacht?«

»An Tommaso natürlich.«

Ein Gefühl wie Zahnschmerz durchfuhr Kai. Tommaso? Im Reinen war er mit dem Manager längst nicht, obwohl sie sich halbwegs ausgesöhnt hatten, als alle Rechnungen zwischen ihnen beglichen waren.

Alexandra nickte eifrig. »Ruf am besten noch heute bei ihm an.«zeigte auf Kais Handy, das auf dem Tisch lag. »Oder besuch ihn, wenn er gerade in München ist.«

Unschlüssig zuckte Kai mit den Schultern. Ausgerechnet den alten Brandmal-Manager? Er schob das Handy bis an die Tischkante. Sicher, Tommaso war ein exzellenter Geschäftsmann. Verträge auszuhandeln beherrschte er vortrefflich, allerdings war in der Vergangenheit vorwiegend der eigene Vorteil für ihn an erster Stelle gestanden. Und ihm sollte er aufs Neue vertrauen? Er war es doch gewesen, der bei den gerichtlichen Auseinandersetzungen am meisten gegen ihn geschossen hatte. Die anderen stufte Kai eher als Mitläufer ein, die von Tommaso angestiftet worden waren. Kai sah zu Boden. Egal. Das lag lange zurück. Er tat Alex den Gefallen, nahm das Handy und wählte die Nummer.

»Cinotti«, meldete sich der Manager mit seiner dunklen Stimme.

Kai biss sich auf die Unterlippe und spürte den Drang, sofort wieder aufzulegen; mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit rief er stattdessen in den Hörer: »Kai ist hier! Ciao, Tommaso!«

»Was für eine Überraschung!« Es entstand eine kurze Pause. War der Manager überhaupt zu einem Gespräch bereit? Er ergänzte mit leicht italienischem Akzent: »Eine Überraschung, die mich wirklich freut! Wie gehte es dir?«

»Uns geht es hervorragend!«

»Ich habe viele Jahre nichts gehört von dir. Warum hast du dich nicht früher gemeldet? Kann ich etwas für euch tun?«

Kai war erleichtert, dass Tommaso ihn nicht sofort abwies. Er wollte nicht lange um den heißen Brei herumreden und stellte fest: »Ich möchte wieder arbeiten.«

»Accidempoli! Was ist in dich gefahren?« Man hörte das breite Grinsen förmlich durch das Telefon. »Willst du etwa wieder ins Musikbusiness einsteigen?«

»Nein, ich möchte einfach nur arbeiten.«

»Das ist nicht dein Ernst? Hast du vor, in eine Blauemann Windschutzscheiben in der Waschgarage zu putzen?« Tommaso lachte etwas zu laut über seinen Witz.

»Warum nicht?« Kai bereute es, auf Alexandra gehört zu haben. Das hatte er nun davon, Tommaso machte sich lustig über ihn.

»Leider habe ich keine Waschgarage«, scherzte der Italiener weiter. »Obwohl ich mir von dem Geld, das du mir freundlicherweise überwiesen hast, ein paar Waschgaragen kaufen kann. Dann werde ich dich sofort engagieren.«

Kai zog genervt die Brauen zusammen. Sein Blick fiel auf Alex, die aufmunternd mit der Hand wedelte. »Ich stelle mir eher einen höher bezahlten Job vor, vielleicht bei diesem großen Medizingeräteunternehmen in der Stadt, das so gut wie jeden einstellt.«

»Ja sicher!«, entgegnete Tommaso. »Aber was willst du dort anfangen?«

»Ich hatte an eine Tätigkeit im Marketing gedacht.«

»Warum nicht?« Tommaso klang ein wenig enttäuscht; hatte er gehofft, Kai ließe sich zu einem Comeback überreden?

»Du kennst doch viele Leute, kannst du nicht mit irgendjemandem reden?«

»Sicher kenne ich viele Leute, vor allem kenne ich die richtigen Leute.«

»Könntest du ein gutes Wort für mich einlegen? Eine Empfehlung …?« Kai suchte nach der passenden Formulierung, fühlte sich dabei aber wie ein Obdachloser, der in der Fußgängerzone Passanten um Kleingeld anbettelte.

»Klar«, unterbrach Tommaso die Redepause. »Das mache ich selbstverständlich für dich.« Süßlich fügte er hinzu: »Nenn mir nur kurz deine Qualitäten, ich habe sie gerade vergessen.«

Kai hob die Augenbrauen. Er versuchte, die Aussprache des Italieners zu imitieren: »Es gab eine Zeit, da war ich deine beste Pferd im Stall. Ist das nicht eine ganz exquisite Referenz? Einen Großteil deines Vermögens hast du letztendlich mir zu verdanken.«

»Wenn du willst, kann ich diese Kleinigkeit für dich erledigen«, lenkte Tommaso ein, merklich um eine korrekte Aussprache bemüht. »Ich rede mit …« Er nannte einen Namen. »Das sollte kein Problem sein.«

»Hervorragend!«, frohlockte Kai und notierte vorsorglich den Namen auf einem Notizblock.

Tommaso schickte einen lang gestreckten Vokal durch das Telefon, ehe er fortfuhr: »Was ist los, möchtest du arbeiten, weil dir langweilig ist?«

Kai zögerte. Wenn er gegenüber Tommaso zugäbe, dass es wegen des Geldes sei, sähe dieser doch nur auf ihn herab. Stattdessen behauptete er: »Ich bin vierzig und suche nach einer neuen Herausforderung.«

Ein verächtlicher Ton war auf der anderen Seite der Leitung zu hören. »Das passt nicht zu dir. Marketing. Was soll das?«

Tommaso hatte leicht reden, er war gut im Geschäft. Noch immer galt er als Größe in der Branche. Kai war zu Ohren gekommen, dass er inzwischen mehrere Newcomer managte, mit Brandmal hatte er vor zehn Jahren jedoch alle Rekorde gesprengt. Und Tommaso war stets sehr geschickt darin gewesen, den Erfolg in bare Münze umzuwandeln. »Marketing hat mich schon seit dem Studium interessiert«, log Kai. »Ich würde gerne im Arbeitsleben Fuß fassen.«

»Was für eine dumme Idee! Trotzdem, ich werde helfen. Abgemacht.«

Kai atmete erleichtert aus. Er hatte erreicht, was er wollte: Ihm war es gelungen, Tommaso für seine Zwecke einzuspannen. Nach dem Austausch von Höflichkeiten legte Kai auf.

Alex belohnte ihn mit einer anerkennenden Miene. »Na, also!« Sie schnappte sich ihr Tablet und gab den Namen ein, den Kai auf den Notizblock geschrieben hatte. Im Nu fand sie heraus, für welchen Firmenbereich der Mann zuständig war. »Am besten schreibst du die Bewerbung noch heute. Dann brauchen wir nur auf das Go von Tommaso zu warten.«

Kurz darauf verschickte Kai wie gewünscht seine Unterlagen. Es dauerte nicht lange, bis er zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde. Am Ende der darauffolgenden Woche erhielt er eine Zusage. Kai war sich unschlüssig, ob er darüber glücklich oder entsetzt sein sollte. Im Bewerbungsgespräch hatte sich der Marketingchef wenig angetan von ihm gezeigt. Doch Tommasos unsichtbares Agieren hatte offensichtlich Wunder bewirkt. Egal! Hauptsache, er hatte den Job. Und mit dem Gehalt konnte er leben.

Ein paar Tage später hatte Tommaso auf dem Festnetz angerufen, um sich nach Kai zu erkundigen, als der nicht zu Hause gewesen war.

»Warum hat er angerufen? Was genau gab es zu besprechen? War es wegen des Jobs? Was hat er gesagt?«

»Tommaso hat sich nur erkundigt, wie es uns geht. Was ich übrigens sehr charmant gefunden habe.«

»Und sonst nichts?«

»Dein Job natürlich.«

»Das war alles?«

Alexandra griff sich mit zwei Fingern an die Stirn, als ob sie sich das Gespräch erst in Erinnerung rufen müsste. »Irgendwann kam ich darauf zu sprechen, dass ich bald nach Italien fahre.«

»Ja, zu deinem Kongress in Venedig.«

»Richtig! Und er machte den Vorschlag, dass ich ihn vorher in seiner italienischen Villa besuchen solle.«

»Wie bitte?« Kai drehte sich unwillig ein Stück zur Seite. »Du hast hoffentlich abgesagt.« Er erinnerte sich, dass Tommaso bereits zu Brandmal-Zeiten zwei Häuser besessen hatte. Eines davon befand sich in Italien, ein protziger Neureichenpalast mit riesigem Swimmingpool und drei Garagen für seine Luxuskarossen.

»Aber nein! Natürlich habe ich zugesagt. Ich wollte schon immer Tommasos Frau kennenlernen, das wäre eine hervorragende Gelegenheit. Komm doch mit! Tommaso war von der Idee übrigens begeistert.«

»Nächste Woche fange ich mit meinem Job an, soll ich ihn wegen Tommaso gleich wieder sausen lassen?«

»Dann bist du eben mal zwei Tage krank.«

»Was macht denn das für einen Eindruck?« Jetzt sollte die Firma plötzlich zweitrangig sein? Alex war wie so oft recht spontan in ihren Entscheidungen.

»Ach!« Sie winkte ab. »Ich fände es herrlich, wenn du mich begleiten würdest.«

»Und ich fände es herrlich, wenn du die Verabredung mit Tommaso schnellstens wieder absagen würdest.«

»Kai!« Alex bemühte ihren unschuldigen Augenaufschlag. »Ich wünsche es mir so sehr. Wir beide in Venedig. Und vorher ein Kurzbesuch bei Tommaso in Padua.«

Kai wandte sich Alex zu und umarmte sie. »Lass uns besser vorsichtig sein, Tommaso ist ein gerissener Hund.«

»Für mich klang er absolut harmlos.«

Kai senkte den Blick und schwieg.

Montag war Kais erster Arbeitstag. Mit röhrendem Motor fuhr er gegen neun Uhr in einem schwarzen Lamborghini Countach vor, parkte das luxuriöse Fahrzeug auf dem freien Kundenparkplatz, direkt gegenüber dem Eingang, und stellte den Motor ab. Zunächst blieb er noch reglos im Auto sitzen, da ihn ein seltsames Gefühl beschlich, wie vor Beginn eines großen Konzerts, wenn er hinter der Bühne ausharren musste, während die Zuschauermassen bereits ungeduldig tobten. Ein Sammelsurium merkwürdiger Gedanken schoss ihm durch den Kopf. Anders als bei einem Konzert waren es heute keine Fans, die auf ihn warteten. Niemand umlagerte das Fahrzeug, in dem der Ex-Sänger vorgefahren war, kein roter Teppich wurde extra ausgerollt. Mit ausgestrecktem Zeigefinger schlug Kai im Takt der Musik auf das Lenkrad. Der Bluestitel You Can Leave Your Hat On dröhnte in voller Lautstärke aus dem Radio. Dieser Titel wäre die passende musikalische Untermalung für einen spektakulären Auftritt gewesen, hätte ihn nur irgendjemand bemerkt.

Er schaltete das Radio aus und fuhr die Fensterscheiben hoch. Das Lied klang weiter in seinen Gedanken, als er bereits die Beine aus dem Fahrzeug streckte. Die schwarzen Lederstiefel und die eng geschnürte Lederhose erschienen Kai, trotz des grellen Sonnenlichts, adäquat. Es war, als würde er von Scheinwerfern beschienen. Nachdem der einstige Star den Oberkörper aus dem Auto gewunden hatte, sah er sich verstohlen um, während er das Sakko glatt zog. Hinter den Glasscheiben des Firmengebäudes war jedoch niemand zu entdecken, der von seiner Ankunft hätte Notiz nehmen können. Der Weltkonzern schien vom showreifen Auftritt völlig unbeeindruckt geblieben zu sein.

Vor ihm strebte der Firmenbau mit viel Glas und Stahl in den Himmel. Auch wenn es die Erbauer des Hochhauses beabsichtigt haben sollten, Kai wollte sich durch die imposante Architektur keinesfalls einschüchtern lassen. Lässig sprintete er die Treppe hinauf, gab der Drehtür einen Schubs und stand erwartungsfroh vor dem Empfang.

Eine junge Dame mit gepflegtem Äußeren saß hinter einer Theke und lächelte. Kai registrierte einen Hauch von Verwirrung auf ihrem Gesicht. Hatte sie ihn erkannt?

»Ich möchte zu Herrn Lautenschläger. Wir haben telefoniert.«

»Sind Sie Herr Mertens?«, flötete die Blondine.

»Ja, das bin ich.«

Die Dame nickte. »Ich werde Herrn Lautenschläger informieren.« Sie griff zum Telefon und sprach ein paar Worte. Dann widmete sie sich wieder ihrer Arbeit.

Irgendwann lehnte sie sich zurück und musterte Kai. Sie öffnete den Mund, da kam Lautenschläger die Treppe heruntergetänzelt. Wegen seiner betonten Lockerheit hatte er auf Kai bereits beim Bewerbungsgespräch den Eindruck eines Entertainers gemacht. Er wirkte adrett im Sakko von Armani, schwarz mit weißen Streifen. Dazu trug er ein T-Shirt, auf dem im Punkteraster ein Gesicht abgebildet war. Vermutlich handelte es sich um eine bedeutende Persönlichkeit, die zu dem wichtigen Manager passte, der Kai nun die Hand schüttelte.

»Guten Tag, Herr Mertens! Sind Sie gut bei uns angekommen?«

»Ja, bestens. Mit schlappen 375 PS«, entgegnete Kai trocken und deutete durch das Fenster auf den Parkplatz. Herr Lautenschläger bewegte den Kopf und entdeckte den Lamborghini. Für einen Moment hörte er auf zu lächeln, fand aber schnell zur alten Souveränität zurück. »Schön, dann begleiten Sie mich doch in die Abteilung.«

Auf der Treppe erklärte Lautenschläger mit ruhiger Stimme, dass die Kollegen zwar von seiner Vergangenheit wüssten, dieser Umstand jedoch keine Rolle spiele. Man widme sich hier ausschließlich ernsten Themen. Er erwähnte die wichtigsten Absatzmärkte: China, USA, die arabische Welt. Kai zog es vor, zu schweigen, um seine fehlenden Fachkenntnisse zu verschleiern. Im Gänsemarsch schritten beide einen engen Flur entlang. An den Wänden entdeckte Kai Werbefotos, auf denen medizinische Geräte abgebildet waren. Lautenschläger öffnete geräuschvoll die Tür und schob Kai vor sich her. Spontaner Applaus setzte ein, der jedoch sofort verebbte, als Lautenschläger hinter Kai hervortrat.

»Das ist Herr Mertens, der neue Kollege. Er wird uns beim Projekt für Kuwait unterstützen.« Unverzüglich standen alle auf und wirkten wie starre Skulpturen aus Bronze. Lautenschläger schritt von einem zum anderen und stellte die Mitarbeiter vor, worauf diese Kai artig die Hand gaben. Der konnte sich keinen einzigen Namen merken. Ebenso wenig die ihnen entsprechenden Tätigkeiten, die im Schnelldurchlauf runtergespult wurden. Als sie mit dem Händeschütteln fertig waren, wies Lautenschläger Kai einen Platz zu und versicherte, dass man sich um ihn kümmern werde. Dann verschwand er, ohne sich noch einmal umzusehen.

Schweigsam zogen sich die Händeschüttler hinter ihren Bildschirmen zurück und beachteten Kai nicht weiter. Er seufzte und setzte sich schließlich auf den ihm zugewiesenen Schreibtischstuhl. Das Design der Sitzgelegenheit wirkte modern, fast wie ein Pilotensessel, mit allerlei Hebel unter der Sitzfläche. Alles an dem Stuhl war beweglich. Kai wäre es lieber gewesen, einen festen Halt zu haben und auf einem ganz einfachen Holzstuhl zu sitzen. Ergonomie-Experten aber hatten offensichtlich festgestellt, dass instabile Sitzmöbel gesünder für die Belegschaft waren. Die Bewegungsfreiheit ließ allerdings zu wünschen übrig. Sobald er mit dem Pilotensessel einige Zentimeter zurückfuhr, stieß er gegen einen Büroschrank. Auf dem Schreibtisch sah es recht aufgeräumt aus: ein Telefon, ein Laptop, ein zweites Display und ein Namensschild.

Kai blickte sich um, im Büro war es still und alle schienen zu arbeiten. Trotzdem hatte er das Gefühl, über die Monitore hinweg beobachtet zu werden. Als Kai einem Kollegen direkt in die Augen sah, erntete er nur ein scheues Lächeln, und der Mann vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Die Abteilung bestand aus zehn Mitarbeitern, die anscheinend schwer beschäftigt waren.

Kai wartete. Auf was, wusste er nicht. Was sollte er auch anderes tun, als untätig herumzusitzen? Nirgends bot sich ihm eine Zerstreuung, die zur Überbrückung der Wartezeit taugte. Schließlich drückte Kai die »On«-Taste des Laptops. Sofort wurde der Mann neben ihm aktiv und belehrte ihn, dass die IT im Laufe des Vormittags vorbeikäme und die Zugangsdaten zur Verfügung stellen würde. Kai nickte und musterte den Login-Bildschirm. Er zeigte das Firmenlogo vor blauem Hintergrund. Der Versuch, sich mit dem Rechner zu beschäftigen, erwies sich als Sackgasse, sodass Kai den Laptop wieder herunterfuhr und wartete. Irgendwann entdeckte er, dass der Schreibtisch höhenverstellbar war. Auf der rechten Seite gab es zwei Knöpfe, mit Pfeil nach oben und Pfeil nach unten. Kai drückte auf einen der Knöpfe. Sanft schnurrend bewegte sich der Schreibtisch aufwärts.

»Das ist ja ein Ding!«, rief Kai. Er sah in die Runde. Emsiges Arbeiten, hier und da ein Lächeln. »Den Schreibtisch meine ich.« Mit einem leisen Summen beförderte Kai die Schreibtischfläche wieder an ihren Ausgangspunkt und blickte die anderen erwartungsvoll an. Schließlich fragte er, ohne jemanden direkt anzusprechen: »Und was machen wir jetzt mit dem Rest des Tages?« Es sollte jovial klingen.

»Ich werde Sie in Ihr zukünftiges Arbeitsgebiet einweisen«, erklärte der Mann neben ihm. »Lassen Sie sich ruhig Zeit. Ich bin gleich für Sie da.«

Kai zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, wofür er sich Zeit lassen sollte. Aber wenn es Nichtstun war, womit er hier sein Geld verdiente, wollte er nicht widersprechen. Gelangweilt inspizierte Kai die Schubladen des kniehohen Schranks unter seinem Schreibtisch. Es ließ sich immer nur jeweils eine Schublade herausziehen. Die Schubladen waren leer.

»Ihr Büromaterial werden wir morgen holen. Heute ist die Büromaterialausgabe bereits geschlossen.« Der Herr neben ihm wusste über alles Bescheid. Er redete sehr gestelzt. Seltsamer Typ!

»Und was passiert in der Zwischenzeit?« Kai fühlte eine gewisse Unterforderung.

Da schaltete sich die ältere Frau ein, die ihm gegenübersaß: »Vielleicht denken Sie schon einmal über Ihren Einstand nach, das wäre sicher ein guter Anfang.« Kai registrierte Kichern im Hintergrund.

»Einstand? Was ist ein Einstand?«

»Wenn jemand neu in die Abteilung kommt, ist es üblich, dass derjenige eine Kleinigkeit ausgibt. Brezeln und Weißwürste etwa. Ein kleiner Umtrunk für die Kollegen.«

Kai war verwundert über solche Gepflogenheiten. Trotzdem tat er, wie ihm geheißen, und suchte in seinem Handy nach der Telefonnummer eines Catering-Services. Er wählte die angezeigte Nummer.

»Ich brauch was für fünfundzwanzig Personen – Genau – Ja, kalt – Ach, und noch ein paar Brötchen dazu – Fleisch und Fisch – Auch ein paar Flaschen Sekt? Shrimps sowieso – Ausgezeichnet – Geschirr? Bringen Sie mit – Hervorragend. In zwei Stunden – Das ist in Ordnung – Vielen Dank. Bis später.«

Als Kai das Gespräch beendet hatte, holte der Herr, der sich gleich um ihn kümmern wollte, hörbar Luft und setzte zu einer Bemerkung an, Kai kam ihm jedoch zuvor: »Der Einstand geht klar. Es wird etwa zwei Stunden dauern. Ich kenne die Burschen, sie sind wirklich fix. Tolles Catering.« Kai lächelte zufrieden. Der Einstand war sicherlich eine gute Investition. Der Herr atmete geräuschvoll aus und runzelte die Stirn.

Da der überarbeitete Typ nach einer Stunde noch immer darauf wartete, dass sich Kai an seinem Schreibtisch zurechtfand, gab Kai die Hoffnung auf, dem ersten Tag mit einer vernünftigen Beschäftigung Sinn zu verleihen. Stumpfsinnig sah er vor sich hin, verschiedene Gedanken geisterten ihm durch den Kopf. Die Italienreise stand bevor. Alexandra ließ nicht locker, er musste sie begleiten, auch wenn er damit den neuen Job riskierte. Kai fiel die bevorstehende Stippvisite bei Tommaso ein. War es klug, wieder intensiveren Kontakt zum Manager von einst zu pflegen? Der hatte sich in der Vergangenheit nicht immer loyal verhalten. Auf die gemeinsame Zeit mit Alex in Venedig freute er sich aber. Am zweiten Tag würde sie sich zwar auf ihrem Kongress befinden, den ersten Tag jedoch hätten beide zur freien Verfügung. Dann konnten sie zusammen durch die Lagunenstadt streifen. Er schloss die Augen und träumte von der Reise. Fast döste er ein, als plötzlich sein Handy klingelte.

»Ich komme. Vielen Dank.« Kai sprang auf, eilte durch den Flur und die Treppen hinunter. Im Foyer standen zwei junge Leute in Uniform.

»Ach, da sind Sie ja. Holen Sie doch den Krempel und folgen mir nach oben.« Die Männer nickten und entfernten sich durch die Glastür. Aus ihrem Lieferauto hoben sie riesige Silbertabletts.

»Eine Treppe hinauf. Folgen Sie mir!«

Im Büro angelangt, blickte sich Kai suchend um. An der Seite befanden sich Besprechungstische, sie mussten nur noch etwas zusammengerückt werden. Kai forderte den mutmaßlich Jüngsten aus der Belegschaft auf: »Helfen Sie doch bitte, damit wir die Tische in die Mitte schieben können.«

Der Kollege gehorchte, ohne einen Ton von sich zu geben, anschließend verschwand er schnell wieder hinter seinem Bildschirm. Die Lieferanten platzierten die Silbertabletts auf den Büromöbeln und entfernten die Frischhaltefolie.

»Für den Rest finden wir den Weg alleine.«

Bald landeten auf den Tischen immer weitere Köstlichkeiten, kleine Gläschen, die Fleisch- und Fischcremes enthielten, aufwendig garniert mit allerlei Obst, dazu Hühnchen, Lachs, Käse. Auch Sekt stand bereit. Ein Duft von kaltem Braten kitzelte in der Nase.

»Darf ich die Damen und Herren bitten?« Fröhlich winkte Kai alle herbei. Dann drückte er einem Caterer drei Hunderter in die Hand. Der zückte sein Portemonnaie, Kai winkte ab, der junge Mann dankte und die beiden Burschen verschwanden. »Guten Appetit. Greifen Sie zu!« Kai postierte sich grinsend in der Mitte des Raums.

Zwar nahmen die Angesprochenen die Hände von den Tastaturen, starrten jedoch weiter auf ihre Bildschirme. Niemand konnte sich entschließen, Kais Aufforderung Folge zu leisten. Endlich erhob sich der Herr, der seinen Arbeitsplatz direkt neben Kai hatte, und trat lächelnd an ihn heran.

»Schön, dass Sie sich solche Mühe geben. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, eine Kleinigkeit hätte durchaus genügt.« Allmählich kamen auch die restlichen Kollegen und stellten sich schweigend um den Tisch.

Kai verteilte die Sektgläser. Zunächst hatten sie den Sekt noch halbherzig abgewiesen, schließlich hielt aber doch jeder ein Glas in der Hand. »Prost! Auf gute Zusammenarbeit. Das Buffet ist eröffnet.«

Die Gläser klirrten. Nach ein paar Schlückchen Sekt begannen die ersten Kollegen redseliger zu werden: »Und Sie sind tatsächlich der Sänger der weltberühmten Rockband?«, wollte eine Frau um die fünfzig wissen.

»Ja, klar«, erwiderte der Jüngste. »Das hat Lautenschläger doch gesagt.«

Kai atmete tief ein. »Die großen Erfolge liegen weit zurück. In den letzten zehn Jahren ist wenig passiert.«

»Vermissen Sie denn nicht das Leben als Rockmusiker?« Die Frau nahm sich einen Spieß mit Früchten.

»Nein, überhaupt nicht.« Kai bediente sich beim Lachs.

»Völlig ohne Musik?« Langsam rückten sie näher heran.

»Ich mache noch immer Musik. Allerdings nur für mich selbst oder meine Freunde. Im Keller habe ich ein kleines Tonstudio eingerichtet. Manchmal lade ich Musiker aus der Nachbarschaft ein, und wir jammen die ganze Nacht. Das ist ne coole Sache.«

»Und die Aufnahmen werden nicht veröffentlicht?«

»Nein, es ist nur zum Vergnügen.«

»Dann singen Sie doch auch jetzt ein wenig für uns.«

»Ohne Begleitung, das ist wirklich nicht meine Stärke. Da müsstet ihr schon die ganze Band engagieren.« Kai lachte.

»Singen, singen, singen!«, brüllten die neuen Kollegen im Chor. Jemand zückte sein Handy und suchte einen Brandmal-Song, worauf bald einer der alten Titel durch den Raum tönte, etwas dünn und der Klang eher blechern, die Musik war jedoch gut zu hören. Kai tat ihnen den Gefallen und sang ein paar Takte mit. Die Anwesenden machten große Augen. Jetzt trauten sich auch die übrigen Arbeitskollegen und durchkämmten ihre Smartphones nach passenden Titeln. Kai spielte den Musikautomaten, zahllose Hits musste er mitträllern. Zwischendurch gab es kräftigen Applaus.

Angelockt von den Klängen erschienen mehr und mehr abteilungsfremde Mitarbeiter.

»Was ist los? Warum wird hier Musik gespielt?«

»Das ist doch der berühmte Sänger von Brandmal.«

»Und warum singt der im Büro?«

»Das ist heute sein Einstand.«

»Der arbeitet hier? Krass! Echt?« Die Neuankömmlinge bedienten sich unaufgefordert beim Sekt und prosteten Kai in Feierlaune zu, dieser versuchte, mit den üblichen Tricks der Massenanimation, die Leute bei Laune zu halten. Bald kam es zu brüderlichen Umarmungen und ausgelassenem Gelächter, Menschen grölten im Chor, einen Halbkreis um das plärrende Handy bildend. Alle redeten durcheinander und lachten.

Mit einem Mal stand Herr Lautenschläger neben Kai und klatschte dreimal in die Hände. Schlagartig verstummte die ganze Abteilung, nur das Handy plärrte unbeirrt weiter. Der Besitzer fummelte an dem Gerät herum, bis endlich Ruhe eintrat.

»Was ist hier los?« Herr Lautenschläger sah streng in die Runde.

»Es ist der Einstand von Herrn Mertens«, raunte ein älterer Herr.

Der Chef rümpfte die Nase. »Ist das nicht ein bisschen übertrieben? Gleich am ersten Tag so ein Durcheinander? Wir sind doch kein Wirtshaus.«

Die Mitarbeiter schwiegen.

»Es sollte jedem bewusst sein, dass unsere Projekte in Verzug sind.« Der Abteilungsleiter ließ die Blicke vorwurfsvoll von einem zum andern wandern. »Die Pause ist vorbei! Zurück an die Plätze!« Er klatschte erneut dreimal in die Hände. Flugs verschwanden die Angesprochenen hinter ihren Bildschirmen und die alte Ordnung war wiederhergestellt.

In diesem Moment empfand Kai eine tiefe Verachtung für seine neuen Kollegen. »Spaßverderber«, maulte er. »Herrscht hier immer so ein strenges Regiment? Ein Feldwebel ist nichts dagegen.«

Herr Lautenschläger rückte bedrohlich nahe an Kai heran. »Ihr Verhalten erscheint mir reichlich unangemessen. Und das bereits am ersten Arbeitstag.«

Kai äffte ihn nach: »Ihr Verhalten erscheint mir reichlich unangemessen.« Er verdrehte die Augen und legte die Hand auf Lautenschlägers Schulter. »Bleib locker, Bursche, und trink einen Schluck!« Zu den Arbeitskollegen gewandt: »Und ihr kommt alle wieder raus aus eurem Versteck. Lasst euch von dem Vogel nicht einschüchtern.«

»Es genügt, Herr Mertens.« Lautenschläger wischte Kais Hand von der Schulter.

»Despot.«

»Wie bitte?«

»Es wäre Zeit für deinen Abgang.«

Eisiges Schweigen.

»Ich möchte, dass spätestens in einer halben Stunde alles wieder in Ordnung ist. Herr Maierhöfer, kommen Sie um vierzehn Uhr mit Herrn Mertens in mein Büro.«

Lautenschläger sah seine Untergebenen missbilligend an, dann verschwand er durch die offene Tür. Die Leute aus der Nachbarabteilung, denen es nicht gelungen war, sich aus dem Zimmer zu schleichen, standen da wie Internatsschüler, die gerade ihren Anschiss kassiert hatten. Allmählich machten sie sich auf leisen Sohlen davon. Kai befand sich noch als Einziger am Buffet und griff nach einem Happen.

»Wisst ihr«, fragte er kauend, »was mich von eurem Vogel unterscheidet?«

Die Hälfte der Kollegen starrte ihn an, die andere arbeitete unbeirrt weiter.

»Ich kann …«, Kai kam ins Stocken und schluckte den letzten Bissen hinunter. Dann stellte er sich auf ein Bein, wedelte mit seinem schwarzen Jackett und betonte jedes Wort: »Ich … kann … fliegen.« Er ahmte eine flatternde Krähe nach und fühlte sich dabei wie ein Schauspieler auf großer Bühne. Theatralisch hüpfte er zur Tür und sah sich noch einmal spöttisch um, doch niemand reagierte. Mit kleinen Schritten flatterte er durch den Flur, die Treppe hinab. Im Freien angekommen, stieg Kai in den Wagen und ließ den Lamborghini zum Abschied laut aufheulen. Es war sein letzter Gruß an die Abteilung.

Der einstige Star hatte die Nase voll von der Firma, die offensichtlich nur Arschkriecher beschäftigte. Um das Desaster zu vergessen, brauste er mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die Straßen der Stadt. Jetzt fiel ihm auch ein, an wen ihn dieser Lautenschläger erinnerte. An Baschar al-Assad, den kultivierten Diktator aus Syrien. Kai war froh, bereits am ersten Tag einen Schlussstrich unter das merkwürdige Arbeitsverhältnis gezogen zu haben. Klar hatte er bei seinem Abgang mächtig übertrieben. In der Firma brauchte er sich jedenfalls nicht mehr blicken zu lassen, eine schriftliche Kündigung würde sich vermutlich erübrigen.

Auf einem Stück Stadtautobahn entfesselte Kai die 375 PS des Wagens und fühlte sich frei, als hätte er sich selbst Richtung Erdumlaufbahn katapultiert. Während er das Fahrzeug in einen Randbezirk der Stadt lenkte, beobachtete er im Rückspiegel, wie ihm zahllose Menschen hinterhersahen. Kai fuhr den Lamborghini in die Zielstraße und blieb vor einem schweren Eisentor stehen. Nach dreimaligem Hupen öffnete sich das Tor. Er röhrte die Einfahrt hoch. Oben stellte Kai das Auto ab und sprintete die wenigen Treppen hinauf. Tommaso wartete am Eingang seines Zweitdomizils auf ihn.

»Na? Hast du Eindruck auf sie gemacht?« Der Italiener grinste über das ganze Gesicht.

»Klar! Dem Boss sind fast die Augen aus dem Kopf gefallen.«

Tommaso lachte aus voller Kehle und bat Kai ins Haus. »Gut. Dann bist du also endlich weg von der Straße?«

Kai murrte und überreichte Tommaso die Autoschlüssel. »Nein. Die Straße hat mich wieder.«

»Wie das?«

»In der Firma war mir alles zu öde. Die Leute dort sind langweilig.« Kai schüttelte sich. »Danke jedenfalls für den Lamborghini. Hat Spaß gemacht, die Karre zu fahren.«

»Ich liebe diese Höllenmaschine aus Blech.«

»Wo hast du sie eigentlich aufgetrieben?«

»Beziehungen. Ich habe exzellente Beziehungen. Der Wagen gehört einem Freund aus Italien mit viel Geld.« Tommaso boxte Kai freundschaftlich auf den Arm.

»Beziehungen? Vermutlich zur Mafia«, scherzte Kai. »Tommasos exklusive Kontakte in die italienische Unterwelt.«

»Geschäfte machen bedeutet nicht, auf eine Spazierweg zu gehen.«

»Im Gegensatz zu dir möchte ich mein Geld mit ehrlicher Arbeit verdienen.«

»Ein erstklassiger Plan. Glücklicherweise habe ich auch bereits eine Idee, wie du das am besten anstellen wirst. Wir unterhalten uns darüber bei eurem Besuch in Italia.«

»Du hast einen Plan? In welche Richtung geht das?«

»Kann ich noch nicht genau sagen, in ein paar Tagen weiß ich mehr.«

»Dir schwebt aber nicht die Neuauflage von Brandmal vor?«

»Nein, äh, etwas völlig anderes. Es wird dir gefallen. Du musst nur …« Tommaso schwieg geheimnisvoll. »Warte, bald werde ich dir mehr verraten.«

»Auf alle Fälle keine krummen Geschäfte.«

»Es wartet nur ein bisschen Arbeit auf dich. So, wie du es möchtest. Das Beste dabei ist, dass hauptsächlich andere die Arbeit für dich machen, du aber kassierst das Geld. Hört sich das nicht gut an?«

Kai war zwar gespannt, welche Idee der Manager ausbrütete, er wusste jedoch, dass er nicht mit der Sprache herausrücken würde, solange sein Plan noch in der Schwebe war.

»Dann alles Weitere in zwei Wochen, wenn wir in Italien sind. Danke für deine Mühe und die Einladung.«

»Ich freue mich auf euch! Natürlich lasse ich einen alten Freund nicht im Stich. Bis dann, lieber Kai.«

Kai winkte und schritt die Einfahrt hinunter. Am Straßenrand parkte sein BMW, er stieg ein und fuhr los. Der Hauch eines schlechten Gefühls erfasste ihn. Wieder einmal legte er seine Zukunft in Tommasos Hände.

Venedig

 

»Benvenuti in Italia, il paese piú bello del mondo.« Tommaso stand vom Tisch auf und hob feierlich das Glas. Mit strahlenden Augen prostete er seinen Gästen zu. »Auf das Leben und die Musik.«

Alex und Kai genossen den Moment, der Weißwein war vorzüglich.

»Ich freue mich so, dass wir heute zusammen sind.« Tommasos Frau Enrica lächelte wie eine Filmgröße auf dem Titelbild eines Lifestyle-Magazins.

»Zur Feier des Tages werde ich die besten Weine aus meine Keller holen«, verkündete Tommaso überschwänglich.

Die beiden Gäste nickten. Der Tisch war festlich gedeckt, zum Wein gab es Pasta Primavera.

»Greift zu!« Enrica hatte gekocht. »Ihr werdet sicherlich Hunger haben nach der langen Fahrt.«

»Mächtigen Hunger«, versicherte Kai. »In den Bergen lag Schnee, und die Straßenverhältnisse waren ausgesprochen schlecht. Wir haben fast zwei Stunden länger gebraucht als geplant.«

»Jetzt seid ihr aber endlich hier.« Tommaso schien sich wirklich zu freuen, dass sie seiner Einladung gefolgt waren.

Alex spießte eine Nudel mit Zuckerschoten auf. »Vielen Dank, dass wir bei euch übernachten können.« Sie probierte die Pasta und nickte anerkennend. Nach einer Pause fuhr sie fort: »Morgen früh geht es dann weiter nach Venedig, dann bleibt uns der ganze Sonntag für die wunderbare Stadt.« Alex stützte ihr Kinn auf den Handrücken und sah Kai in freudiger Erwartung an. Er lächelte zurück.

»Ihr seid zu beneiden, ich muss morgen wieder nach Deutschland zurückfliegen.« Tommaso schnitt eine betrübte Grimasse. »Meine Woche startet mit Terminen. Zu gerne hätte ich euch begleitet.« Sagte Tommaso das nur aus Höflichkeit?

Alex begann, Einzelheiten von ihrem Kongress zu erzählen, der übermorgen stattfinden würde. Dass drängende Fragen des Tourismus mit den Stadtverantwortlichen erörtert werden würden, bekam Kai noch mit, bevor seine Gedanken allmählich abdrifteten und er den Blick durch Tommasos Luxustempel wandern ließ. Der Raum böte genug Platz für ausgelassene Weinfeste altrömischer Art, mit Sklaven und Tänzerinnen. Kai entdeckte ein Poster, auf dem Visconti in Schwarz-Weiß abgebildet war. Das karge Plakat bildete einen auffallenden Kontrast zu der ansonsten kostspieligen Inneneinrichtung. Nachdenklich, fast misstrauisch beäugte der dunkelhaarige Mann im Anzug den Betrachter, auf einem fragilen Gartenstuhl aus Metall sitzend. Dahinter eine verkommene Hauswand mit einem riesigen Fenster. Das Bild strahlte Bedürfnislosigkeit aus. Was mochte Tommaso an der nüchternen Darstellung finden? Die Abbildung spiegelte so gar nichts von der italienischen Lebensfreude wieder, die überall in der Luft lag.

Kais Blick wanderte zurück zu Enrica, die sich emsig am Gespräch über Venedig beteiligte. Es war ein Erlebnis, sie in Aktion zu sehen, Kai hätte sie stundenlang betrachten können. »Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen«, meldete er sich schließlich zu Wort, als er den Eindruck hatte, nicht außerhalb des Zusammenhangs zu sprechen. »Schade, dass wir uns nicht bereits früher begegnet sind.«

Enrica nickte.

»Meine Frau ist nicht oft zu Hause«, ergänzte Tommaso. »Und noch weniger in Deutschland. Immer ist sie unterwegs, auch jetzt macht sie nur eine Stippvisite hier in Padua, am Montag geht es schon wieder nach New York.«

»Ich besuche meine beste Freundin, die ich ein halbes Jahr nicht mehr gesehen habe.«

»Ihr müsst wissen, Enrica jettet um die Welt, während der arme Tommaso arbeiten muss und in Deutschland das Geld dafür verdienen.«

»Wenn du nicht arbeitest, bist du nicht froh«, entgegnete Enrica.

Tommaso nickte beflissen.

»Gehe ich mit meiner Freundin in New York shoppen, muss Tommaso eben Überstunden machen.«

Tommaso schnitt eine gespielt hilflose Grimasse.

»Das Geld würde ja doch nur nutzlos auf der Bank herumliegen«, pflichtete Kai ihr bei und lachte.

Tommaso zuckte mit den Schultern. »Enrica kennt die Metropolen dieser Welt wie eine Westentasche. Sagt man das so? Ab und zu besucht sie ihren armen Mann in Deutschland und stört ihn bei der Arbeit.«

Enrica lächelte. »Wenn ich nicht manchmal nachsehe, kommt er nur auf dumme Gedanken. Non è vero, mio caro?« Dabei wedelte sie mit dem Zeigefinger wie zu einem unartigen Kind.

»Niemals, meine liebe Enrica! Du kennst mich doch. Ti amo solo.«

Die beiden fassten sich an den Händen und versicherten, dass ihnen die gemeinsamen Wochenenden in Italien heilig waren. Sie liebten es, die Zeit zusammen in ihrem Haus in Padua zu verbringen.

Seit dem ersten Moment fragte sich Kai, wie Tommaso seine sehr viel jüngere Frau wohl kennengelernt hatte. Im Laufe des Abends lüftete der Italiener das Geheimnis. Es sei während einer Modelshow für das italienische Fernsehen geschehen. Einige seiner Schützlinge seien in der Sendung als Zwischen-Act aufgetreten. Nach dem Dreh habe er sich kurzerhand die Siegerin geschnappt und bald darauf zur Frau genommen.

»Wann habt ihr geheiratet?«, wollte Kai wissen.

»Vor etwa zwei Jahren. Es war eine wundervolle Hochzeit in Venedig«, antwortete Enrica.

»Oh wie zauberhaft!«, schwärmte Alexandra. »Du musst mir unbedingt die Hochzeitsbilder zeigen. Hast du sie hier?«

Die Frauen zogen sich mit ihren Weingläsern ins Wohnzimmer zurück und blätterten im Hochzeitsalbum. Tommaso räumte inzwischen die Teller in die Küche. Kai folgte ihm.

»Du bist mir noch eine Antwort schuldig.«

Der Manager grinste und stapelte das Geschirr. »Du hast recht. Ich habe dir etwas versprochen und bin deswegen auch bereits aktiv geworden.«

»Möchtest du mir nicht endlich verraten, was dabei herausgekommen ist?«

»Eine passende Arbeit für dich, wenn man das überhaupt Arbeit nennen kann. Besser wäre, es Bezahlung für ein Vergnügen zu nennen. Ich wäre froh, wenn ich an deiner Stelle so einfach mein Geld verdienen könnte.«

»Ich bin jetzt vierzig und bereit, noch einmal anzupacken.« Der Satz klang, als hätte Alex ihn diktiert.

»Da bin ich völlig deiner Meinung. Mit vierzig gehört man nicht zum alten Eisen.«

»Was also schlägst du vor?«

»Sehr einfach …!« Tommaso zögerte. »Ich kenne ein paar Typen von einem Verlag, die Lust haben, deine Geschichte während der Zeit mit Brandmal zu veröffentlichen. Die würden deine Story ganz groß rausbringen.«

»Was, ich soll ein Buch schreiben?« Kai spürte, wie sich alles in ihm gegen diesen Plan sträubte.

»Nein, nein! Das Buch schreiben andere für dich.«

Kai schüttelte den Kopf. »Und was habe ich dann damit zu tun?«

»Du sprichst nur die Biografie aufs Band und bist anschließend der Autor eines Bestsellers. Genial, nicht?«

Kai schmunzelte. »Nach so langer Zeit meine Lebensgeschichte veröffentlichen? Brandmal gibt es seit zehn Jahren nicht mehr.«

»Du weißt nicht, wie oft Leute fragen, wann Brandmal endlich wieder auf der Bühne spielt. Ein Comeback würde im Moment alles in den Schatten stellen. Ich kenne Menschen mit einem großen Vermögen, die viel Geld dafür ausgeben wollen.«

Kai war verwirrt. Davon hatte er nichts mitbekommen.

Schnell fügte Tommaso hinzu: »Aber du musst ja nur ein Buch schreiben. Oder es zumindest in das Mikrofon sprechen, die Leute vom Verlag erledigen den Rest. Die können das ausgezeichnet, und wir beide sind zu einem Prozentsatz am Gewinn beteiligt, für ganz wenig Arbeit.«

»Wir beide sind beteiligt?«

»Ich bitte dich, Kai! Wer hat den Deal an Land gezogen und wer wird sich darum kümmern, dass das Buch ein Erfolg wird?«

»Das machst selbstverständlich du, genauso wie früher.« Er gab sich wenig Mühe, die Ironie zu überspielen und ergänzte: »Schön, dass wir wieder im Geschäft sind.«

»Bist du nicht immer erstklassig mit mir gefahren?«

Kai lachte: »Bis auf das Ende … ja!«

»Sprechen wir besser über den Anfang. Ich finde, das Buch ist ein hervorragender Anfang. Ich werde dir den Vertrag gleich mitgeben. Du liest die Vereinbarungen durch und schickst mir alles an meine deutsche Adresse.«

Nach harter Arbeit hört sich das wirklich nicht an, überlegte Kai, er konnte das Geld gerade gut gebrauchen. »Du denkst, dass man mit den alten Geschichten heute noch Bücher verkaufen kann?«

»Klar denke ich das. Sonst hätte ich die Sache nicht eingefädelt.«

»Gut. Ich lasse mir das Angebot durch den Kopf gehen.«

»Mach das, lieber Kai.« Tommaso startete die Spülmaschine. »Ich glaube, die Biografie wird einschlagen wie eine Bombe, dafür werde ich sorgen. Verlass dich ganz auf mich.«

Kai setzte einen skeptischen Blick auf. »Mit wem arbeitest du eigentlich im Moment zusammen? Hast du was Großes am Laufen?«

»Wie man’s nimmt. National erfolgreich, aber Brandmal war natürlich etwas völlig anderes. Trotzdem setze ich viele Hoffnungen auf die Jungs. Ich habe eine Videoaufnahme von ihnen; wenn es dich interessiert, schauen wir uns die mal an.«

Kai zögerte. »Mach dir keine Umstände wegen mir.«

Tommaso legte eine Hand auf Kais Schulter. »Komm mit in den Keller! Mein Privatkino musst du unbedingt sehen, dort kann ich dir den Film vorführen.«

Sie warfen noch einmal einen Blick ins Wohnzimmer, wo die beiden Frauen die Köpfe zusammensteckten. »Dürfen wir euch eine Weile alleine lassen?«, wollte Tommaso wissen. »Kai ist neugierig auf mein Filmequipment im Keller.«

»Wir unterhalten uns gerade über New York. Wenn ihr zu lange weg seid, kommen wir zu euch.«

Kai folgte Tommaso die Treppen hinunter. Andächtig wie in einer Kathedrale stellte sich der Hausbesitzer mitten in den Raum und dozierte vor sich hin. War seine Stimme nicht auch gedämpfter als sonst? Kai erfuhr, dass die Wand mit hochwertiger Spezialfarbe gestrichen sei, die Ledersessel original Kinosesseln aus dem alten Hollywood nachempfunden. Jovial bot Tommaso Kai einen Platz in der ersten Reihe an, holte zwei Bier aus dem Kühlschrank, reichte ihm eins und sie stießen an.

»Jetzt staunst du, was?« Tommaso wies mit einer weit ausholenden Bewegung auf den Projektor und die Soundanlage, als ob ein Heimkino neben all dem anderen Luxus, den er besaß, noch etwas Besonderes wäre. Kai wollte sich nicht anmerken lassen, wie wenig ihn der Tand beeindruckte, derweil Tommaso im Wandregal nach einer DVD suchte. Nachdem er sie gefunden hatte, legte er sie in den Player. Kai machte es sich bequem und wartete geduldig. Mit einem Lächeln auf den Lippen nahm Tommaso an seiner Seite Platz und startete die DVD.

Kai traute seinen Augen kaum. Tommaso präsentierte ihm vier blasse Musiker, die in einer Fernsehshow auftraten. Die jungen Sänger waren in hochwertige Maßanzüge gesteckt und imitierten erfolgreiche Geschäftsleute. Metropolitan Fashion Style. Alles an ihnen schien perfekt zu sein, natürlich trugen sie Dreitagebärte, besaßen fitnessgestählte Körper und legten jede Menge gespieltes, männliches Dominanzverhalten an den Tag. Dazu gab es Mainstreampop aus der Konserve.

»Mit diesen Leuten verdienst du dein Geld?« Kai rümpfte die Nase.

»Der Stil ist im Moment angesagt«, verteidigte sich der Italiener. Die Jungs im Video spulten stur ihren einstudierten Bewegungsablauf ab. Der mehrstimmige Gesang war ordentlich, der Titel allerdings Dutzendware.

Tommaso erwartete offensichtlich einen wohlmeinenden Kommentar, weshalb Kai zögerlich erklärte: »Wenn die Truppe halbwegs erfolgreich ist, hast du ja alles richtig gemacht.«

»Wir sind auf einem guten Weg. Das ist übrigens die Fernsehsendung, in der ich Enrica kennengelernt habe.« Er drückte auf die Fernbedienung und spulte ein paar Szenen vor. Enrica tauchte auf, eingerahmt von anderen jungen Frauen, die albern in die Kamera winkten. Wie viele Jahre der Altersabstand zwischen Tommaso und Enrica wohl betrug? Kai wagte nicht, danach zu fragen. Im Video übertönte ein Moderator aufgeregt plappernd die Abspannmusik. Kai verstand kein einziges Wort, weswegen Tommaso ihm das Nötigste übersetzte. Enrica sei als Siegerin aus der Staffel hervorgegangen. In ihrem eng geschnittenen Trikot machte sie in der Tat eine erstklassige Figur.

»Eine hinreißende Frau hast du dir da geangelt, die Beste aus dem Sortiment.« Kai nahm einen Schluck Bier.

Tommaso registrierte offensichtlich den ironischen Unterton nicht und bestätigte Kais Urteil durch heftiges Kopfnicken. »Das finde ich auch. Nach der Sendung kamen wir zusammen. Uns ist sofort klar gewesen, dass wir füreinander bestimmt waren. Und heute sind wir ein glückliches Paar.« Der Manager bekam glänzende Augen und strahlte über das ganze Gesicht. Einen Moment später sagte er: »Die Jungs sind auf der Bühne lebendiger als in der Show. Guck mal!« Er legte nach einigem Stöbern die DVD eines Konzertmitschnitts auf. »Für die hab ich das Tourmanagement übernommen.«

Im Film waren die Männer zwar immer noch in Designeranzügen zu sehen, jetzt wirkten sie aber viel natürlicher. Sie wurden von Gitarristen begleitet und sangen ihre Stücke live. Es sah nicht mehr so perfekt aus wie im Fernsehstudio, dafür eher solide und authentisch.

»Ja, recht ordentlich.« Kai suchte nach Worten. »Ein bisschen kommerziell vielleicht.«

»Wir alle wollen Geld verdienen.« Tommaso war bei seinem Lieblingsthema angelangt.

»Sicher!« Kai fiel ein, dass dieser Aspekt im Moment auch für ihn eine nicht unwesentliche Rolle spielte, trotzdem erwiderte er: »Komm mir bloß nicht mit Kommerzmusik, das sind doch alles nur leere Titel ohne Seele.«

»Dann habe ich noch etwas anderes für dich.« Tommaso machte ein geheimnisvolles Gesicht. Er stöberte erneut im DVD-Schrank und legte eine Scheibe ein.

Wieder handelte es sich um ein Konzertvideo. Der Kameraschwenk zeigte jubelndes Publikum. Ein beeindruckender Bühnenaufbau mit mehreren Ebenen kam zum Vorschein. Lichteffekte erhellten das Geschehen.

»Ist das der letzte Auftritt von Brandmal in Paris?«, fragte Kai ungläubig.

»Ja, richtig erkannt. Es ist das sagenhafte Pariser Konzert.«

»Ich wusste gar nicht, dass davon ein Mitschnitt existiert.«

»Es war sogar ein Fernsehteam anwesend, aber du hast dich zu diesem Zeitpunkt ja bereits für nichts mehr interessiert.«

Kai winkte ab, verfolgte jedoch gebannt den Film. Sechs Männer erschienen im Bild, an Füßen mit Ketten aneinandergebunden. Kai kannte das Ritual, das nun folgte. Mit einem ohrenbetäubenden Geräusch, das an ein mächtiges Erdbeben erinnerte, sprengten die Musiker ihre Fesseln. In Zeitlupe waren Details der Kettenglieder zu erkennen, die nach allen Seiten flogen. Dann erlosch das Licht für einen kurzen Moment. Wenige Sekunden später standen die Männer an ihren Mikrofonen, hatten ihre Gitarren umgeschnallt und legten los. Der Drummer drosch auf sein Schlagzeug ein und holte heraus, was das Instrument an Lautstärke zu bieten hatte. Warriors Gesang ging selbst ihm durch Mark und Bein. Das Publikum tobte.

»Na, habe ich zu viel versprochen?«

Kai blickte fasziniert auf die Projektionswand. Die Dramaturgie der Bühnenshow war ausgezeichnet, Slave, Soldier, Naked, Lion, Tom-Tom und Kai selbst als Warrior in Bestform. Der Sound passte perfekt, ebenso die Bildqualität. War das damals etwa bereits Blu-Ray gewesen? Auch die Filmcrew hatte hervorragende Arbeit geleistet. Kai liefen Schauder über den Rücken, er hätte nicht damit gerechnet, dass ihn die alten Aufnahmen so sehr berührten.

Adrenalin schoss ihm in den Kopf. Das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, war stets wie ein Rausch gewesen. Die Begeisterung des Publikums, die im Film gut dokumentiert war, brachte Kai dazu, mit den Händen krampfartig die Lehne des Kinosessels zu umklammern. Ein Meer an Zuschauerarmen war ihm in Paris von der Bühne aus entgegengeschlagen. Langsam atmete er aus, seine Hände lockerten sich und er versuchte, sich zu entspannen. Kai fühlte sich wie kurz nach einer überstandenen Achterbahnfahrt. Ihm gefiel der Warrior im Film: zehn Jahre jünger, top durchtrainiert, ein Kraftpaket und voller Energie. Sein Aussehen hatte zu dieser Zeit cool und maskulin gewirkt, dazu hatten die Folterspuren, die bei Konzerten ihre muskulösen Körper kennzeichneten, eindrucksvoll ausgesehen.

Beim Song Gefangen begann Kai, andächtig die Lippen mitzubewegen. Am Ende der Karriere war der Titel ihr größter Erfolg gewesen. Er bekam mit, dass Tommaso ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. »Wenn du möchtest, schenke ich dir die DVD. Ich habe ein gutes Dutzend davon.«

Kai nickte gedankenverloren, er war noch immer in das Gefühl versunken, dort oben auf dieser riesigen Bühne zu stehen.

»Das ist …«, murmelte Kai. Ihm fiel kein passendes Wort ein, um seine Empfindungen angemessen beschreiben zu können.

»Ein großartiges Konzert gewesen. Es war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Die Presse hat überwältigende Kritiken geschrieben.« Tommaso drehte die Musik lauter.

Die Gitarren von Soldier und Lion donnerten in Drop-D-Stimmung aus Tommasos Dolby-Surround-Boxen, Naked, der beste Bassist aller Zeiten, dröhnte aus den Subwoofern. Warrior machte große Posen. Feuer loderte auf der Bühne.

»Perfekt! Einfach nur perfekt!« Kai kam völlig ins Schwärmen.

»Diesen außergewöhnlichen Erfolg hat nach euch in Europa niemand mehr geschafft!«, schrie Tommaso über die Musik. »Ihr wart gigantisch!«

»Achtung! Jetzt kommt gleich die Brandeisenszene«, rief Kai in freudiger Erwartung. »Die Stelle im Programm, an der Slave immer die Hosen runtergelassen hat.«

Tommaso grinste: »Der ästhetische Höhepunkt der Show.«

Im Film war zunächst Warrior zu sehen, der ein riesiges Brandeisen mit einem fein geschwungenen B über einem Feuer erhitzte. Jede Menge Qualm stieg auf. Slave war an zwei Pfählen festgebunden, jeweils an den Fuß- und Handgelenken befanden sich Stricke. Er war dem Publikum abgewandt, die Hose bis auf die Knöchel heruntergezogen. Warrior rückte bedrohlich näher mit dem mächtigen Brandeisen, um anschließend laut zischend auf Slaves nacktem Hintern ein Brandzeichen zu hinterlassen. Kai und Tommaso lachten los, als Slave sich mit zappelnden Bewegungen zu wehren versuchte, soweit die Fesseln dies zuließen. Aber das Brandmal prangte schließlich tiefschwarz auf seinem Gesäß. Die Fans johlten, die Szene sah einfach zu komisch aus. Der Manager drehte die Musik wieder leiser.

»Was für eine Symbolik.« Kai war amüsiert über die theatralischen Bilder.

»Der arme Slave hat so leiden müssen.«

»Wenn du dich erinnerst, ist das alles nur schwarze Paste gewesen, die sich in der Hitze auf dem Brandeisen verflüssigt hat«, winkte Kai ab.

»Richtig. Aber war das Eisen nicht trotzdem höllisch heiß?«

»Gerade so, dass Slave keine Brandblasen bekommen hat.«

»Der Arme.« Tommaso wischte sich zum Schein eine Träne aus dem Auge.

»Du hättest sehen sollen, wie er sich bei den Proben angestellt hat. Ständig war ihm das Eisen zu heiß. Wir mussten erst mühevoll herausfinden, wie lange ich das Eisen ins Feuer halten durfte, damit es für ihn noch auszuhalten war. Slave hatte zu dieser Zeit eigentlich immer einen roten Hintern. Wie ein Pavian.«

»Aber im Konzert hat alles hervorragend geklappt.«

»Wie am Schnürchen. Zu seiner Lieblingsstelle ist die Einlage auf der Tour allerdings nicht geworden. Ich hatte da die weitaus angenehmere Rolle, denn ich konnte die Hosen anbehalten.«

»Deine Rolle war ja nicht die eines Sklaven, du warst der siegreiche Krieger.«

»Richtig, so ist die Rollenverteilung gewesen. Das haben wir uns damals alle gemeinsam ausgedacht. Wer hätte die Brandeisenszene auch sonst spielen sollen? Naked ist immer nur cool herumgestanden, während er den Bass gezupft hat. Den hat man für solche Spielchen ohnehin nicht gewinnen können. Die Gitarristen sind in Aktion gewesen. Auf das Schlagzeug hat man ebenso wenig verzichten können. So sind nur Slave und ich für die Zwischeneinlagen übrig geblieben. Das Keyboard hat schließlich häufiger mal Pause.«

»Jonas hat das sehr gut hingekriegt.«

»Klar! Er hatte ja auch den vorzeigbarsten Hintern von uns allen.« Die Männer lachten und tranken ihr Bier aus.

Im Film wurde es kurz finster und Slave von seiner Folter erlöst. Kai wusste, dass ihn, unsichtbar für die Zuschauer, zwei Bühnenarbeiter losgebunden hatten, sodass er in wenigen Sekunden vollständig bekleidet am Keyboard stehen konnte. Brandmal stimmte den nächsten Song an, da stoppte Tommaso das Video.

»Du kannst dir das Konzert gerne zu Hause ansehen. Ich denke, wir dürfen die Frauen nicht zu lange alleine lassen.«

Allmählich tauchte Kai wieder in die Wirklichkeit ein. Der Film hatte ihn unmittelbar in das wundervolle Brandmal-Feeling von damals zurückversetzt. Er schwelgte im Glück. Gedankenversunken trottete er hinter Tommaso die Treppe hinauf.

»Was ist los?« Enrica blickte erst Kai, dann ihren Mann an. »Ist was passiert?«

Kai war noch immer überwältigt von der Erinnerung, weshalb Tommaso mit einer großspurigen Geste antwortete: »Ich fürchte, Kai will zurück auf die Bühne.«

Ungläubig schüttelte Alexandra den Kopf. »Wie ist es denn zu diesem plötzlichen Sinneswandel gekommen?«

Er habe das nie behauptet, stotterte Kai, als Tommaso bereits die Erklärung nachlieferte. »Wir haben uns einen Ausschnitt aus dem letzten Brandmal-Konzert in Paris angesehen. Die großen Gefühle waren immer noch da.« An Kai gerichtet: »Was könnte man heute noch drauflegen: Spezialeffekte, Videos, Elemente von eine Theater.«

Kai flüsterte: »Ich hatte nicht mehr im Gedächtnis, wie verdammt gut wir gewesen sind.«

»Brandmal muss wieder zurückkommen.« Tommaso streckte beide Daumen in die Höhe. »Es wäre die Sensation.«

»Ich würde es mir wunderbar vorstellen«, rief Enrica entzückt.

Kai schüttelte den Kopf. Wie stellte Tommaso sich das vor? Einfach auf die Bühne zurückkehren? »Gewiss haben alle inzwischen andere Verpflichtungen.«

Tommaso umfasste Kais Arm. »Tom-Tom hält sich als Lastwagenfahrer über Wasser. Den Job lässt er sofort sausen, wenn er hört, dass Brandmal wieder auf Tour geht.«

»Moment. Davon war nie die Rede.« Kai fühlte sich in die Ecke gedrängt, trotzdem konnte er sich von dem Gedanken nicht lösen, mit den alten Leuten noch einmal Musik zu machen. »Und was ist mit Soldier? Hätte er überhaupt Bock?«

»Soldier ist Studiomusiker und verdient sich das Geld mit Gelegenheitsaufträgen.« Enrica fuhr sich durchs Haar. »Vor ein paar Wochen habe ich ihn getroffen in Berlin.«

»Lion hat jede Menge Kinder und braucht munter das Ersparte auf.« Tommaso lächelte listig. »Er ist bis jetzt ausgekommen mit dem Geld von früher. Was ist er nur für ein bescheidener Mensch.«

Ein Comeback würde viel Staub aufwirbeln. Doch sollten sie sich die Knochenarbeit wirklich noch einmal antun? Kai hatte keinen klaren Kopf, um sich zu einer eindeutigen Meinung durchzuringen. Die beiden Männer setzten sich zu ihren Frauen aufs Sofa. Eine seltsame Aufregung erfasste die kleine Gesellschaft. Aufbruch lag in der Luft. Möglicherweise war es dem Alkohol geschuldet, dass jedem im Moment alles so simpel und machbar erschien.

 

Am nächsten Tag waren Alex und Kai bereits frühmorgens in der berühmten Lagunenstadt angekommen. Nach dem Einchecken im Hotel ging es sofort zum Markusplatz. Die Fahrt auf dem Canal Grande mit einem Vaporetto, dem schwimmenden Verkehrsmittel der Stadt, war schon ein besonderes Erlebnis. Glanzvolle Adelspaläste zogen an ihnen vorbei. Alex schwärmte vom fantastischen Licht, das die Prachtbauten in leuchtende Schmuckkästchen verwandelte, und schoss ein Foto nach dem anderen. Kai lächelte routiniert in die Kamera, freute sich über Alexandras großen Tatendrang. »Was für ein herrlicher Tag.« Kai umarmte Alex sanft, während sie die vorbeiziehenden Häuser fotografierte. Es fühlte sich gut an, sie zu berühren und ihren Körper zu spüren. An der Riva degli Schiavoni verließen sie das Boot und schlenderten Hand in Hand die Promenadenstraße entlang. Vom wolkenlosen Himmel wärmte die milde Märzsonne; den leichten, vom Meer herüberwehenden Wind bemerkten sie kaum.

Auf dem Platz herrschte weniger Gedränge als in den Sommermonaten üblich. Alexandra war als Tourismusmanagerin bereits häufig Gast der »Serenissima« gewesen und jedes Mal mit einem Strahlen auf dem Gesicht heimgekehrt. Kai betrachtete seine Frau. Er war glücklich, diese Veränderung nun hautnah miterleben zu können.

Auch Kai war Venedig bestens vertraut. Vor fünfzehn Jahren hatte er die Stadt mit seiner damaligen Freundin Hannah bereist. Ein Gefühl des Zurückkehrens stellte sich bei ihm ein. Alles erschien wohlbekannt: die fein schattierte Fassade des Palazzo Ducale, die einzigartige Piazza San Marco, der imposante Torre dell’Orologio mit der blauen Sternenuhr. Jedes Detail war noch genauso reizvoll wie in der Erinnerung. Kai hatte ein wohliges Gefühl, als Alexandra ausrief: »Was für ein fantastischer Blick auf den Palast und das Meer! Sagenhaft!«

Die Wärme, die er plötzlich spürte, rührte nicht von den großartigen Baudenkmälern her. Er drehte Alexandra zu sich herum und küsste sie.

»Ist Venedig nicht die schönste Stadt der Welt?«, schwärmte Alex.