Tonstörungen - Wilhelm Koch-Bode - E-Book

Tonstörungen E-Book

Wilhelm Koch-Bode

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Beschreibung

In der Novelle wird - quasi im Zeitraffer - das Leben eines in die Jahre gekommenen Malers aufgerollt. Der Autor spürt den sozialen Einflüssen nach, durch die der Künstler geprägt wurde und die darin gipfelten, dass sich bei ihm eine Redestörung entwickelte. Dieses Manko begleitete seinen Lebensweg von Kindheit an und ließ ihn einerseits schmerzlich an Grenzen stoßen und mit seinem Selbstbild hadern, andererseits aber zu Ausdrucksformen gelangen, die ihm öffentliche Anerkennung brachten. Die Beziehungen des Malers und seine verpassten Chancen werden beleuchtet, wobei der Erzählstrang nicht im Privaten haften bleibt, sondern in Exkursen Einblicke in sein künstlerisches Schaffen bietet. Im Alter muss er sich noch einmal mit dem Phänomen mangelnder sprachlicher Präsenz befassen, weil eine ihm verbundene Person vergleichbare Probleme hat. Er fühlt sich verantwortlich, dem jungen Menschen zu helfen, wobei ihm aufgrund seiner Lebenserfahrung Strategien einfallen, die ausprobiert werden. Örtlich wird ein Bogen zwischen Hamburg und Paris, zeitlich zwischen den spießigen 1950er-Jahren und dem leichtfertigen Jetzt geschlagen. Personen und Handlung sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit wären zufällig.

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Seitenzahl: 260

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Wilhelm Koch-Bode

Tonstörungen

Malernovelle

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Begleitperson

Schwacher Sender

Schwarzer Peter

Einführungskurs

Schleichwege

Motivjagd

Flashback

Besuchssituation

Harter Tobak

Flinke Hände

Geheimfach

Lange Finger

Alte Kamellen

Ordnungsliebe

Honigmond

Abbruchkante

Kopfkino

Restemarkt

Epilog

Anmerkungen:

Impressum neobooks

Begleitperson

Am Gänsemarkt würden sie aussteigen. Endlich. Steif, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Knie eng zusammengepresst, hockt er neben der jungen Frau. Bewacht sie aus den Augenwinkeln. ‚Das Schlimme‛ denkt er, ‚kommt nicht! Es fängt gar nicht erst an. Heute bleibt alles gut. Gefahr vorbei‛. - Tatsächlich, manchmal bleibt alles gut, aber oft wird es schlimm, richtig schlimm. Noch drei Stationen bis Gänsemarkt. ‚Halte durch! Bitte!‘ kommt es lautlos von seinen Lippen.

Verdammt … hat nicht geklappt … geht los, der Mist. Die Vorboten sind immer gleich: Angewinkelte Arme. Geballte Hände. Scharrende Füße. Pendelnder Kopf. Flache Atmung. Spätestens jetzt fängt sein Herz an zu rasen. Das Gesicht der Frau läuft rot an, auf Nase und Stirn perlt Schweiß. Ihr magerer Körper wird von einem Stakkato trockener Hustenstöße geschüttelt. Hört sich an wie das aufgeregte Gekläff eines kleinen Hundes - eines Spitzes oder so ähnlich. Mit lautem Quietschen - wie bei einer Schranktür, die hektisch hin und her schwenkt - schnappt sie nach Luft. Der Mund weit offen, die Hände an die Ohren gelegt - etwa so, wie der Mensch auf einem Gemälde, das Der Schrei heißt und das ihm der Großvater in einem Buch gezeigt hat. Mit dem Oberkörper schaukelt sie vor und zurück, fasst sich an die Kehle, rudert wild mit den Armen, stampft mit den Füßen auf, zieht die Beine an die Brust. Nach zwei, drei Minuten ebbt das Keuchen ab. Schlapp, mit noch schweren, aber langsameren Atemzügen, sitzt sie da. An der nächsten Haltestelle steigen Mutter und Kind aus und gehen zu Fuß weiter.

Während vier, fünf Minuten hat der Junge sich wie im freien Fall gefühlt: voller Angst, wo und wie er lande, die Mutter sich überlassend, während sie ums Überleben kämpft. Dass es hier um etwas ganz Bedrohliches ging, um etwas, das einen ganz schlimmen Ausgang nehmen könnte, hatte er schon beim ersten Mal gespürt. Den gehetzten Blick der Mutter, ihr Ringen um Luft, auch das Aufsehen, das sie hervorrief, erlebte er wohl noch zwölf-, dreizehnmal - nicht nur in der Straßenbahn, ebenso in Wartezimmern bei Ärzten. ‚Heute bleibt sie still‛, ‚nichts passiert‛, ‚sie kriegt gut Luft‛. Sein stummes Flehen beendete der Junge erst, wenn die Mutter im Sprechzimmer verschwand. Leider hatte er nicht immer Erfolg, aber dann kam wenigstens eine von den weiß angezogenen Frauen und brachte sie ganz schnell raus. Mit rotem Kopf hockte er da, bis sie endlich abgefertigt war. Manchmal biss er sich ein paar Nägel ab. Wenn er es nicht hinkriegte, beim Abendessen die Fingerkuppen so nach innen zu biegen, dass die Stellen nicht gleich ins Auge fielen, musste er eine Schimpfkanonade des Vaters - willensschwach, undiszipliniert, liederlich, einer mit schlechten Angewohnten, die auf die Eltern zurückfallen, sei er - über sich ergehen lassen.

Der Junge bekam mit, dass die Mutter nicht nur in der Tram, sondern auch anderswo diese schrecklichen Anfälle kriegte. So gingen die Schuberts, den Jungen allein lassend, abends eigentlich gern mal ins Kino. Sie besaßen auch ein Abo fürs Theater. Nach ein paar Monaten gaben sie die Besuche aber ganz auf, denn - so hatte er es aufgeschnappt - die Mutter überkam es auch dort. Deshalb hatte das Paar wohl schon einige Male überstürzt den Saal verlassen müssen.

Oft hielten den Jungen Phantasien fest - von einem qualvollen Erstickungstod, seinem eigenen wie dem der Mutter. Unterwegs mit ihr, fieberte er in größter Anspannung - auf den nächsten Ausbruch wartend. Obwohl er den Verlauf dieser seltsamen Anfälle mittlerweile kannte, wurde er jedes Mal neu von Entsetzen gepackt. Wenn es dann vorbei war, atmete er erleichtert auf, fühlte sich aber nur für den Moment frei, denn die Not der Mutter war ja nicht vorbei. Die Angst um sie blieb sitzen, gleichzeitig schämte er sich für sie. Schließlich entgingen ihm nicht die Reaktionen der Leute - wie sie seine Mutter anstarrten, extra zur Seite guckten, sich woanders hinsetzten. Oder fragten: Haben Sie was verschluckt? Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Brauchen Sie einen Arzt? Soll ich Ihnen auf den Rücken klopfen? Oder sich murmelnd austauschten: Unverantwortlich, so in die Straßenbahn zu steigen! Ja, ’ne wandelnde Bazillenschleuder! Man steckt sich bei der noch an! Die scheint wohl mit galoppierender Schwindsucht unterwegs zu sein!

Mitten in einem Spektakel zu sein, obwohl er nur stiller Begleiter der Hauptfigur war - das war für den Jungen alltägliches peinliches Erleben. Und ihn beschäftigten Fragen, die er den Eltern nicht zu stellen wagte: Was ist denn eine Bazillenschleuder? Was bedeutet galoppierende Schwindsucht? Schleudern war, wenn der Großvater ihn an den ausgestreckten Armen hielt und sich mit ihm im Kreise drehte. Zwar hatte er keine Ahnung, was Bazillen sind, aber das Wort hörte sich nicht gut an. Klang irgendwie nach Stechen, Beißen, Kratzen, Kribbeln oder so. Jedenfalls hatte die Mutter nur dagesessen und nichts geschleudert. Und galoppieren? Das taten Pferde. Wieso nahmen die Leute an, sie hätte etwas mit einem Pferd zu tun, dessen Namen er nicht verstanden hatte … Geschwind so, Schwimmsucht oder so ähnlich? Geschwind hatte was mit Schnellsein zu tun … aha, schnelles Husten war wohl gemeint, aber zum Schwimmen ging die Mutter gar nicht. Wieso konnten die fremden Leute ihr irgendwas Geheimnisvolles wie Schwimmsucht ansehen?

Was nun genau mit seiner Mutter los war, konnte Rudi sich nicht erklären. Oft war sie traurig. Weinte, ohne dass er irgendeinen Grund sah. Einmal hatte er im Treppenhaus des Mietshauses, in dem er wohnte, Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Die Pohlsche und die Sauerkraut - so nannte die Mutter Frau Pohl und Frau Sauer - hielten im Schwatzen inne und grienten ihn an, als er die Treppe heraufkam, aber er hatte gerade noch gehört, dass sie die Schubertfür schwermütig und hüsterisch hielten. Verlegen drückte er sich an den fülligen Matronen vorbei. Nun ja, hüsterig kam hin und schwermüdig hörte sich irgendwie nach einer Last an, die sie trug, und nach Müdigkeit. Wurde sie etwa nur schwer müde? Das war ihm noch nicht aufgefallen. Die Pohlsche und die Sauerkraut so über seine Mutter tratschen zu hören, hatte ihn doch sehr geärgert.

Die seltsamen Anfälle, die Frau Schubert bekam, überhaupt ihre Gesundheit, besser: ihr Kränkeln, schienen eine Herausforderung für Spezialisten zu sein. Jedenfalls verbrachte Rudi im Schlepptau der Mutter viel Zeit in Wartezimmern verschiedener Arztpraxen. Sie konnte ihn ja noch nicht sich selbst überlassen. Und im Kindergarten war er nicht, was in den 1950er-Jahren normal war, denn Frauen, die nicht arbeiten gingen, behielten die Kinder meistens zu Hause. Einmal bekam er mit, wie sie dem Vater vom letzten Arztbesuch erzählte. Das Nervenkostüm istzu dünn,habe der Doktor gesagt und Fege dat tiefe Düster nie. Klar, dass vegetative Dystonie damals noch nicht zu Rudis Sprachschatz gehörte. DatDüster - war damit das Düstere gemeint? Eigentlich sprach sie nicht so - also dat für das, wie manche Leute. Düster war ja so ähnlich wie dunkel. Konnte man Düsteres wegfegen? Klar - mit Licht. Aber warum sollte man das nicht tun? Und ein Nervenkostüm? Nerven hatten irgendwie mit dem Kopf zu tun. Ein Kostüm zog sie manchmal auch an - blau, dicker Stoff. Hieß das, dass ein Hut ein Nervenkostüm ist? Ach so, dann brauchte sie einfach nur etwas Wärmeres zum Aufsetzen.

Irgendwas machte Frau Schubert zu schaffen. Rudi kriegte manchmal Krach mit … nein, so schlimm war es nicht … lautes Reden vielleicht … wie Katzen jaulen und Hunde bellen. Warum dann so schlechte Laune war, kapierte er nicht. Erst als Jungendlicher, als er genug gelesen und im Kino gesehen hatte, reimte er sich die eine oder andere Erklärung zusammen. Natürlich spekulierte er nur herum, aber konnte es nicht sein, dass sie sich irgendwie eingepfercht fühlte? Dass das übereilt zustande gekommene Ehebündnis sich als Joch erwies? Dass sie bereute, dem Drängen Schuberts, der zwischen fünfzig und fünfundsiebzig Prozent mit dem Kriegstod rechnete und deshalb Lebensziele wie Ehe, Kinder und sowas unbedingt noch schnell abgehakt haben wollte, nachgegeben hatte? Ohne das Gegenüber wenigstens ein bisschen mit seinen Ecken und Kanten kennengelernt zu haben? Na ja, jedenfalls fühlte sie sich wohl nicht wie auf Rosen gebettet. Freude hatte sie an gar nichts und außerhalb des Hauses traute sie sich so gut wie nichts zu. Und dann auch noch auf jemanden angewiesen, der selber unzufrieden war und für Spaß nicht viel übrig hatte?

Herr Schubert wirkte selten gut gelaunt. Eigentlich war er ja noch jung, schien aber verbittert wie ein um Haus und Hof gebrachter Gutsherr. Ein Verlierer, der allerdings sorgsam darauf bedacht war, körperlich in Bestform zu bleiben. Stundenschwimmen - er hatte das Totenkopfabzeichen in Gold für zwei Stunden -, 10.000-Meter-Lauf, Riegenturnen gehörten selbstverständlich zum Wochenprogramm. Aber er haderte wohl heftig mit seinem Los als subalterner Büromensch, dem bräsige Amtsschimmel ohne Fronterfahrung Weisungen erteilen konnten. Rudi hatte einmal ein Gespräch zwischen Großmutter und Großvater, denen von Mutters Seite, mitgekriegt. „Die Ehe unserer Kleinen“, seufzte der Opa, „steht nicht unter einem guten Stern. Sie - so ‘ne zarte Elfe - verbandelt sich ausgerechnet mit so ‘nem kantigen Zinnsoldaten“. „Ja“, pflichtete die Oma ihm bei, „wäre sie bloß nicht zum Maitanz in Jork gegangen oder hätte wenigstens Schubert seinen Fronturlaub anders genutzt, statt sich zur selben Zeit da rumzutreiben - dann wär‘ sie jetzt mit Oskar Oostermann, dem guten Jungen, zusammen. Säße auf ’nem schönen, großen Obsthof. Und wenn wir sie dann besuchten, gingen wir durch die prächtige Prunkpforte!“ Ja, Oskar hätte sie geheiratet, auch wenn das den alten Oostermanns enorm gegen den Strich ging, für die nur die Tochter eines Obsthofes mit ordentlicher Mitgift als Bäuerin in Frage kam. Um das Gezeter der Alten ein für allemal abzuwürgen, hatte der junge Oostermann schließlich klare Kante gezeigt und seine Mutter daran erinnert, dass sie aus einer Elbfischerkate stammte, der Opa ein Stintfänger mit drei Reusen und die Oma Obstpflückerin, und dass sie als Dienstmagd auf dem Oostermann-Hof angefangen hatte. Aber dagegen sei damals ja wohl nichts einzuwenden gewesen, oder? Woraus habe denn ihr Brautschatz bestanden, bitte? Oskar hatte sowieso Oberwasser; ohne ihn lief auf dem Hof nichts. Er musste nicht einmal mehr in den Krieg, denn schon 1941 war er als Invalide aus Russland zurückgekehrt. An Kopf und Rumpf Bombensplitter abbekommen, die Fleischwunden vernarbt, das rechte Auge aus Glas, was für ihn, der einen scharfen Blick auf sein Obst brauchte, ziemlich fatal war.

Nun, die Rechnung, dass die als Jungbäuerin in Betracht gezogene Elfe ihn demnächst beim Beäugen des Reifezustands von Äpfeln und Birnen unterstützen würde, ging nicht auf. Herr Schubert kam ins Spiel. Ein forscher Typ mit geschliffenen Manieren, dazu von schnellem Entschluss: Feldpostbriefe - im nächsten Urlaub Verlobung - im übernächsten Hochzeit. Die junge Frau folgte ihm aus der Idylle des Alten Landes in die Steinwüste Hamburgs, wo er eine Wohnung genommen hatte. Nach ein paar Tagen fuhr er zurück an die Westfront; Frau Schubert arbeitete, wie es sich gehörte, in einer Munitionsfabrik. Jedenfalls solange, bis Rudolf auf die Welt kam. Nachdem Herr Schubert aus diesem Anlass eine Woche Heimaturlaub bei Mutter und Kind verbracht hatte, entschwand er wieder - Mutter und Kind waren allein. Manchmal sonntags, wenn auf dem Hof die Arbeit ruhte, setzte Oskar Oostermann sich in den Zug nach Hamburg, um die Soldatenfrau mit Obst, Trockenfrüchten, Marmelade und selbst gekeltertem Most im Gepäck zu besuchen. Deren Entscheidung für das zackige Mannsbild hatte ihn zwar gekränkt und, ja, traurig gemacht, klar, aber seine Zuneigung nicht gelöscht. Kann sein, dass er insgeheim damit rechnete, dass Schubert aus dem Krieg nicht zurückkäme - so, wie es ihm ja beinahe ergangen wäre. Auf jeden Fall setzte er alles daran, ihr freundschaftlich verbunden zu bleiben. Und so brach der Kontakt auch nicht ab, als der Krieg längst vorbei war und Oskar die von seinen Eltern gut gelittene Tochter vom Hof drei Häuser weiter geheiratet hatte. Natürlich gab es später nicht mehr viele Begegnungen, jedenfalls keine geplanten, - nein, das wäre unschicklich gewesen, aber wenn Frau Schubert mal mit Rudi bei ihren Eltern im Alten Land war, kam es über die Jahre doch zu einigen Zufallstreffen auf der Straße oder in irgendeinem Laden. Später wagte er sogar, sie ab und zu mal anzurufen und zu hören, wie es im Leben so läuft. Und weil er bei ihrem Vater ab und zu etwas nähen, ändern oder ausbessern ließ, wurde die Schneiderstube zur Relaisstation für den Hin-und Her-Transport von Grüßen und Infos über Erwähnenswertes aus dem Alltag hüben wie drüben.

Von ihren neuen Verwandten wurde die junge Mutter nicht sehr geschätzt, denn sie kam, wie die alten Schuberts stichelten, aus einfachen Verhältnissen - in Stade Büro gelernt und sich als Stenotypistin verdingt. Der alter Herr Schubert war immerhin Hauptsekretär bei der Bahn und amtierte auf einem Haltepunkt in der Lüneburger Heide als Stationsvorsteher. Auf diese Stellung bildete sich die alte Frau Schubert eine Menge ein. Sie kam aus einer Altonaer Schusterfamilie mit sieben Kindern und war Verkäuferin in einem Hamburger Juweliergeschäft gewesen. Nun ja, zumindest stellte sie ihre frühere Stellung so dar und erwähnte gern nebenbei, dass der eine oder andere wohlhabende Kunde ihr seinerzeit den Hof gemacht habe. Okay, in Wahrheit war sie in dem Juwelierhaushalt Dienstmädchen gewesen und hatte neidisch das Ladenmädchen beäugt. Das stand adrett angezogen im Geschäft und gaffte durchs Schaufenster, wenn sie Hundedreck vom Trottoir kratzte oder Schnee in die Gosse schob. Da kam ihr der aufstrebende Jungeisenbahner natürlich gerade recht. Der erwies sich ja auch als gute Partie - das Bahnwärterhaus in der Heide, das er ihr bot, quasi ein eigenes Reich; später die Vorsteherwohnung im Bahnhof, in dem die Familie residierte, fast eine herrschaftliche Bleibe. Und dann auch noch Beamtengattin … fast eine Gnä‘ Frau … wie die Gnädigste, die in der Etage über dem Schmuckladen thronte.

Stolz trug sie auf dem Mantel einen Fuchskragen und gab mit ihren Gläsern aus Bleikristall an. Sowas kannte sie aus dem Juwelierhaushalt. Schuberts Schwester Mechthild, Mecki genannt, hatte eine Banklehre gemacht und einen Eiermann geheiratet. Okay, zugegebenermaßen war der nicht als fliegender Händler mit Eierkartons hausieren gegangen, sondern hatte einen Großhandel betrieben und andere für sich laufen lassen. In den letzten Kriegstagen war er gefallen; nach einer kurzen Anstandsfrist verheiratete Mecki sich mit dessen bestem Freund, einem Molkereibesitzer. Sie besaß ein Tafelservice aus Meissener Porzellan und silbernes Besteck. Jeweils 24-teilig. Die alte Schubert und Mecki kriegten auch, wie es sich in ihren Kreisen gehörte, einen Persianermantel, grau die eine, schwarz die andere. Ach, und einen Brillantring und eine Krokotasche dazu. Die junge Frau Schubert machte sich aus solchen Sachen nichts, weshalb sie in Gegenwart des Mutter-Tochter-Gespanns meist auch nur wenig zum Gespräch beitragen konnte.

Zur Schwägerin Mecki zu sagen, ging schon mal gar nicht; das Weibsbild war und blieb ’ne Mechthild für sie. Punktum! Der Igel von der Hör Zu! war viel zu drollig, um als Namenspatron für solch eine Zicke herhalten zu müssen. Sie hatte auch vermieden, die Schwiegereltern mit Vater und Mutter anzusprechen, wie es in vielen Familien üblich war. Das Beim-Vornamen-nennen, wie ihr Mann sich das bei ihren Eltern herausnahm, wurde erst später modern. Um wenigstens etwas Distanz zu bekunden, kam Frau Schubert auf eine eigenwillige Variante des Hamburger Sie - Guten Tag, Schwiegermutter, ist Ihnen nicht zu warm im Pelz? Guten Tag, Schwiegervater, geht’s mit Ihrer Blase ein wenig besser? So angeredet zu werden, hatte die Alten zwar zuerst befremdet, aber beim zweiten Hinhören fanden sie es eigentlich ganz schick, denn es klang irgendwie vornehm - wie in besseren Kreisen. Selbstverständlich duzten sie das Frauenzimmer und konnten damit wenigstens, was ihnen sehr gelegen kam, ein gewisses Ungleichgewicht im Verhältnis betonen.

Allein mit Frau Schubert, konnten die alte Frau Schubert und Mechthild es manchmal nicht lassen zu betonen, wie hoch angesehen sie doch seien im Vergleich zu ihren Leuten in der Elbmarsch, und zu sticheln, dass dort ja eigentlich nur jemand etwas gilt, der aus der Obstbauernschaft stammt. Im Bekanntenkreis ließen sie sich auch gern darüber aus, dass sich dem Sohn und Bruder - bekanntlich Ritterkreuzträger, Hauptmann außer Dienst, höhere Schulbildung, gute Familie, blendende Erscheinung - eigentlich ganz andere Heiratschancen eröffnet hätten, als sich mit ‘ner Landpomeranze ohne nennenswerte Aussteuer, der Vater Schneider mit ‘ner Nähmaschine in der Wohnstube, abzugeben. Nicht mal ‘ne Altländer Hochzeitstracht oder wenigstens ’n anständiges weißes Brautkleid mit Schleier und Schleppe habe sie angehabt, sondern nur ’n billiges zitronengelbes Flatterkleid aus Kunstseide. Na ja, unter seinem Stand, ’ne kleine Tippse. Dabei habe er die Tochter vom Ziegelwerk kriegen können. Wär‘ längst Fabrikdirektor, höhere Gesellschaft, Villa, Mercedes mit Chauffeur und alles. Und stattdessen? Unbemittelte Schwiegereltern mit ’nem ärmlichen Siedlungshäuschen. Alles andere als vornehm! Sie müsse arbeiten gehen, weil er geschäftlich nichts auf die Reihe brächte. Säße bei der Raiffeisen-Genossenschaft im Kontor, während der mickrige Schneider in der Wohnküche Tee tränke, - na ja, ’n zugezogener Ostfriese.

Allerdings waren die Eltern der jungen Frau Schubert zufrieden mit ihren Tätigkeiten und fühlten sich in der Gemeinde überall wohlgelitten. Die Schrankenwärter, wie sie die alten Schuberts, und die Milchkuh, wie sie Mechthild in Anspielung auf den Beruf ihres Mannes nannten, konnten sie allerdings auf den Tod nicht ausstehen. „Eigentlich“, hatte der Schneidermeister einmal verlauten lassen, „ist es für jede der braven Schwarzbunten auf unseren norddeutschen Weiden ja eine Beleidigung, mit dieser grässlichen Mechthild verglichen zu werden“. „Ja, was für eine aufgeplusterte Gans und was für eine aufgeblasene Sippschaft“, lautete das Urteil der Kontoristin. „Die reinste Zumutung!“ war sich das Ehepaar jedes Mal aufs Neue einig, wenn es wegen Geburtstagen bei den jungen Schuberts auf die Schrankenwärter und die Milchkuh samt Ehegespons, untereinander Dat Botterfatt genannt, und Gudi - eigentlich Gudrun - ihr Kind aus erster Ehe, trafen. Für die einzige Tochter hatten sie sich eigentlich jemanden gewünscht, der etwas herzlicher rüberkam und einer weniger peinlichen Mischpoke entstammte. Die Applikationen auf Schuberts Uniform beeindruckten die Brauteltern überhaupt nicht, als sie auf der Hochzeit silbern schimmerten. „Lametta“, murmelte der Brautvater, Veteran beider Kriege, allerdings nur Unteroffizier, „kommt daher wie ‘n Tannenbaum. Oh, warum musste das Kind ausgerechnet an so ‘nen steifen Kommisskopp geraten?“

Schubert war Berufssoldat - bei Kriegsbeginn Leutnant und am Ende, mit 29, Hauptmann bei der Flak-Artillerie. Kommandos an Ost- und Westfront. Granatensplitter ins Bein gekriegt, beim Gehen kaum zu sehen. Immerhin - ein richtiger Kriegsinvalide mit bleibender Blessur und kleiner Rente als Zubrot. Nachdem er sich ein paar Monate bei den Engländern als Hilfsdolmetscher betätigt hatte, kam er bei der Post unter. Magere Bezüge als Beamtenanwärter, aber eigentlich keine schlechte Perspektive - gehobener Dienst, immerhin. Trotzdem fand er sich schwer mit seinem Los ab: kein Batteriechef mehr, Flakstellung hopsgegangen, Ritterkreuz in der Schublade, beste Kameraden draufgegangen, Gang zur Uni wegen Familie verbaut - Maschinenbau oder Physik, das wäre es gewesen, davon hatte er als Artillerist was mitgekriegt -, kränkelnde Frau, schlichte Behausung - drei Zimmer in einem schäbigen Mietshaus in Eimsbüttel, Hadern mit dem Nazismus. Niemals sprach er über den Krieg und das ‚Dritte Reich‛. Und nun? Listen in einer Amtsstube abhaken, zum Sterben langweilig. Eine Ochsentour vor sich. Selbst im Reden war er gestutzt worden, - keine Kommandos mehr an der Acht-Acht. Dazu kam noch, dass er mit der Art seines Sohnes nicht zufrieden war. Wie verlegen der immer war, wenn er irgendwas gefragt wurde. Bei anderen Leuten so gehemmt. Wieso war der eigentlich so verschüchtert, fast menschenscheu? Der hatte wohl mehr von der Mutter abgekriegt. Keinen Schneid - leider. Dabei, im Prinzip, war der Junge gar nicht so lahm - jedenfalls körperlich nicht. Keine Krücke - nein, beileibe nicht! Da kam er ganz nach ihm. Aber sonst? Wie ’n Reh, das sich vom Waldrand nicht auf die Lichtung wagt … wie ’ne Piepmaus, die sich unterm Sofa verkriecht … wie ’n Hase, der sich totstellt. Flinke, aber furchtsame Wesen, die nicht bemerkt werden wollen.

Ein einsilbiger Mensch gilt schnell als langweilig und dumm. Und so fand auch Rudi unter Seinesgleichen wenig Anerkennung. Zwar stieß er nicht direkt auf Ablehnung - dazu trat er zu wenig in Erscheinung -, aber um seine Freundschaft bemühte sich auch niemand. Er nahm mit denen vorlieb, auf die auch herabgesehen wurde: Jutta aus dem Keller des Trümmerhauses von gegenüber, die - wie seine Mutter meckerte, wenn sie nach dem Weggang des Mädchens die Wohnung lüftete - schmuddelig aussah, schlampig angezogen war und nach Bratkartoffeln und Urin stank. Reinhard, der in der Schule das Wasser aus Blumenvasen trank und, weil er nicht lesen und schreiben lernte, bald auf die Hilfsschule nebenan abgeschoben wurde. Ungefähr vierzig Jahre später sprach ihn auf einer Vernissage in Hamburg eine Klassenkameradin von damals an. Sie unterhielten sich eine ganze Weile über früher. Die Frau wusste, dass Reinhard Nervenarzt mit eigener Praxis war und Jutta einen schicken Friseursalon in der City hatte.

Schwacher Sender

1948 - oder war es schon 49? - war Rudis Einschulung. Er kam sich vor wie allein in einem Käfig. Vor dem Gitter die Gaffer. Vom Gefühl her fast wie in der Tram, wenn alle guckten, diesmal nur noch schlimmer. Nie zuvor hat er sich so falsch an einem Ort gefunden wie an diesem. Mit der Straßenbahn kommt man ja wenigstens weg, kommt irgendwo an, aus dem Käfig aber nicht raus. Zu fühlen, wie der Körper obenrum steif ist, die Hände eiskalt sind, während der Kopf glüht und kurz vorm Zerplatzen scheint - das hat es so noch nicht gegeben. Tram hin, Tram her - die Fahrten waren entsetzlich, aber so grauenvoll wie die Anwesenheit an diesem Ort dann doch nicht.

Vierzig Kinder sitzen im Kreis und müssen ihren Namen sagen. Am liebsten würde er in einem Mauseloch verschwinden. Als die Reihe an ihm ist, alle gucken ihn an, bringt er kein Wort heraus. Die Kraft, die nun für die Beschulung dieser Herde zuständig ist, ein Fräulein Hartmann, verzieht das Gesicht, schüttelt den Kopf und befiehlt: „Nun sag schon, wie du heißt!“ - vergebens. Er hält er den Blick gesenkt. Für einen Augenblick ist ihm speiübel. Frühstücksei und Kakao schäumen auf. Oh nein, nicht sowas. - Vorbei. Zwei, drei Kinder kommen angelaufen, beugen sich zu ihm herunter, reden auf ihn ein: „Nun sag schon, wie heißt du denn?“ Schließlich murmelt er leise seinen halb richtigen Vornamen ‚Rudi‛. Außer in Papieren ist Rudolf automatisch ein Rudi - was ja noch angehen mag. Jedenfalls eher als Dolfi. „Rudi! Rudi! Rudi!“ posaunt es laut, „Ja, und wie weiter? Sag uns deinen Nachnamen!“ Aber das ‚Schubert‛ kommt ihm einfach nicht über die Lippen. Im Norden sagt man eher nicht ‚Schuhbärt‛, sondern ‚Schuhbort‛. Auf der Straße rufen ihm manchmal Kinder hinterher: „Schuhbord, kann ich meine Schuhe bei dir reinstellen?“ Und sie skandieren: „Schuhbort, lauf doch fort! Schuhbort, weg von dort!“ Oder: „Schuhbord, Meuchelmord!“ und „Schuhbord fällt von Bord.“ Sogar so dummes Zeug muss er sich anhören wie: „Schuh-Schuh-Bott, sitzt auf 'm Pott. Schuh-Schuh-Bott, runter vom Pott!“ Oder es krakeelt hinter ihm her: „Schuh-Bott ist bankrott. Schuh-Bott ist bankrott. Schuh-Bott ist bankrott.“ Sollte das hier nun gleich so weitergehen? Sollte er lieber Pohl oder Sauer sagen? Er murmelt „Marten“ - so heißen die Flurnachbarn gegenüber. Der Name hört sich nicht so peinlich an wie Schuhbord. Vielleicht bleiben ihm damit doofe Neckereien erspart? Oh nee … nicht das auch noch: Niemand hat ihn verstanden, und jetzt muss er den falschen Namen sogar wiederholen! Einer der forschen Jungen, der das Wort erfasst hat, kräht die Lüge, Rudi Marten … Maarten … Maarten … Rudi Maaarten, laut in den Raum.

In den nächsten Tagen lastete die Angst, als Lügner entlarvt zu werden, schwer auf Rudi. Und das schlechte Gewissen über den falschen Namen machte ihm schwer zu schaffen. Wenn das rauskam - würde er dann bestraft? Womit? Von wem? Hatte er nicht geleugnet, dass es die Schuberts gibt - seine Eltern? Käme dafür als Strafe, dass sie nun auch in Wirklichkeit verschwänden? Dass er ein Waisenkind würde und zu den Großeltern müsste? Oh nein, bloß nicht in die Heide! Dann lieber ins Alte Land. Nun, die Lüge ging im Trubel des ersten Schultages unter; niemand nagelte ihn später auf den Namen Rudi Marten fest. Und entgegen seiner Erwartung regte er als Rudi Schubert auch niemanden zu Wortspielen an. Trotzdem war ihm dieser Ort, wo Gewusel und Gekreisch ihn binnen kurzem fertigmachten, vom ersten Moment an verleidet. Die Angst, ausgelacht zu werden, hatte sofort Wurzeln getrieben und er blieb in Habachtstellung, ob man sich aus irgendeinem Grund über ihn lustig machen könnte.

Jahre später, auf dem Gymnasium, trat dieser Fall ein, - als er nämlich aufgerufen wurde, einen Text aus Latein zu übersetzen. Die Sätze im Buch sagten ihm nicht viel, folglich konnte die Translation auch nicht wirklich gelingen. Dennoch, irgendetwas musste er ja von sich geben. Hektisch begann er, Satzfetzen aneinanderzureihen, die mehr auf Raten als auf Wissen beruhten. Ihm war klar, dass das Ergebnis nicht allzu viel mit dem Inhalt zu tun hatte. Rudis Radebrechen schien aber den Stundenhalter, einen Herrn Seidel - jemand, der von sich selbst gern als Magister Seidelius sprach -, derart zu belustigen, dass er erst zu kichern, dann lauthals zu lachen anfing - ein hämisch meckerndes Gelächter, das noch anhielt, als es längst geklingelt hatte und er am Stock aus dem Klassenraum humpelte - auch ein Kriegsinvalide. Rudi schämte sich enorm. Nun ja, selber schuld. - Viel, viel mehr nagte an ihm, es so weit gekommen lassen zu haben, dass sich jemand derart lustig über ihn machen konnte. Von so einem Fiesling … Widerling … Mistkerl ausgelacht zu werden - richtig gemein, richtig höhnisch -, dass alle es mitkriegten, fand er schlimm, ganz schlimm.

Ein paar Tage später, in einer Deutschstunde, soll mit verteilten Rollen Der zerbrochne Krug rezitiert werden. Das heißt, man sitzt auf seinem Platz und liest den zugeteilten Part aus dem Lektüreheft ab. Rudolf ist Licht, Schreiber. Sein Auftritt. Er hat den Satz erfasst … Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam! Er öffnet den Mund, des Gerichtsschreibers Worte müssen raus, ein kurzes a knackt in Rudolfs Hals, sein Atem stockt. Um den Kehlkopf legt sich ein Gurt, wird stramm zugezurrt. Um den Brustkorb legt sich ein Korsett, wird fest zugeschnürt. Die Luft ist knapp. Reicht nicht, um die Brocken, die Kleist dem Schreiber in den Mund legte, durch den Schlund zu treiben. Ein Schnapper … noch ein Schnapper … endlich - der Motor kommt in Gang … ahi … haucht es aus ihm … wasshum henka, sacht, hevatta hadam! Der Satz ist raus, die Luft aus, der Motor abgestorben. Soll er aufgeben? Den Apparat nicht weiter strapazieren? Schreiber Licht einfach verstummen lassen? Nur - wie soll er die Panne erklären? Noch ein Versuch. Hauchzart springt der Motor an, nimmt langsam Fahrt auf, fängt an rundzulaufen, bleibt aber ohne Ton. Kein Klang, sondern nur ein Flüstern, das Rudolf nun - zwar gehetzt, aber flüssig - von sich gibt: Was ist mit Euch geschehen? Wie seht Ihr aus? Kurze Verschnaufpause. Adam, der Dorfrichter, spricht. Jetzt geht es weiter: Nein, sagt mir,Freund! Den Stein trüg jeglicher -? „Stopp, Schubert“, unterbricht der Schulmeister, „Kleist hat bestimmt nicht gewollt, dass Licht flüstert. Was denkst du dir bei dieser eigenwilligen Interpretation, Schubert?“ „Äh, eigentlich nichts - kann grad nicht anders?“ antwortet Rudolf, diesmal mit Stimme. „Wieso, versteh‘ ich nicht. Nimmst du das hier etwa nicht ernst? Mündlich sechs!“ erregt sich der Mann. „Neumann, du übernimmst den Schreiber.“

Von dem Moment an konnte Rudolf in der Schule nur noch flüstern. Jedenfalls dann, wenn das zu Sagende länger als ein Satz war, der sich mit einem einzigen Atemstoß zu Ende bringen lässt. Ging es nicht ohne neues Einatmen weiter, weil etwas zu schildern, zu kommentieren oder vorzutragen war, sprach er nach dem ersten Luftschnappen zwar weiter, aber nicht laut, sondern wie mit abgedrehtem Ton. Nur noch Geflüstertes kam aus seinem Mund, was beim Publikum anfangs zu lautem Gelächter geführt hatte, später dann zu Kichern, Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Tuscheln und Vogel zeigen. Anfangs forderte die eine oder andere Lehrkraft ihn noch auf, normal zu reden. Je nach Temperament oder Laune tat sie dies mit barschen Worten, gereiztem Meckern oder freundlichem Zuspruch. Versuchte er dann, das in Worte zu Kleidende mit Klang hervorzubringen, wurde der Kehlkopf steif, die Atembewegungen erstarrten. Je mehr er dagegen anpresste, desto stärker wurde der Widerstand. Ja, wenn dabei wenigstens ein Raunen zustande gekommen wäre, mit immerhin einem Hauch von Resonanz! Es gab ja Leute, die ständig so sprachen. Auch im Kino hörte man solche Stimmen, sogar von kernigen Cowboys, gefährlichen Gangstern oder von plaudernden Personen in einer Bar. Aber anstatt des lässigen Raunens kam aus seinem Schlund dann nur ein gequältes Krächzen - so, als bewirkte die Anstrengung genau das Gegenteil von kräftigem, sattem Sprachklang. Schon nach ein paar Augenblicken fiel er wieder in den Flüstermodus zurück; das war quasi der Schongang, der ihm Laufruhe und genug Puste gab, um die anstehenden Wortketten wenigstens ohne Ton von sich geben zu können. Na ja, wohl immer noch besser als gar nicht.

Es spielte sich nun ein, dass Rudolf bei allem, was irgendwie einen Hauch von Darbietung hatte, auch wenn es um ganz Banales ging, von vornherein flüsterte. Die Lehrkräfte gewöhnten sich daran, dass einer dazwischen saß, bei dem es irgendwie mit dem Sprechen haperte. Putzige Störung, dachten sie wohl - einer, der seine Stimme nicht im Griff hat. Rudolf, Ton an! Schubert, ein bisschen mehr Druck auf die Tube! Fortissimo, bitte! So oder mit ähnlichen Worten wurde er manchmal zurechtgewiesen. Zum Glück ließen ihn die meisten bald ganz in Ruhe. Warum sollten sie sich den Unterrichtsfluss durch solch einen akustischen Blödsinn stören lassen? So jemand gehört doch dahin, wo Behinderte sind, oder? Ein Sprachkranker halt. Na ja, mündlich fünf oder - gerechterweise - gleich sechs, schriftlich zwei oder drei; das macht vier. Solch einen kann man mitlaufen lassen oder - noch besser - jemand macht ihm klar, dass er hier fehl am Platz ist.

Ganz schlimm fand Rudi, wenn Fräulein Hartmann singen ließ. Danach, fröhlich Volkslieder von sich zu geben, war ihm nun wirklich nie zumute. Auf Kommando aufzuspringen und lauthals das Wandern, die Berge und den Mond preisen zu müssen, waren furchtbare Momente. Wegen Zensuren musste jedes Kind manchmal ein Lied allein vorsingen, was für ihn eine Hürde war, die er von vornherein gar nicht erst zu nehmen versuchte. Nein, vor Publikum zu singen - sowas war noch ein paar Nummern größer als Sprechen. Zwar verweigerte Rudi sich dem Ansinnen Fräulein Hartmanns nicht - nein, dazu war er zu folgsam. Aber er half sich, indem er den Text einfach aufsagte, so wie ein Gedicht. Die anderen fanden das immer lustig, Fräulein Hartmann schüttelte jedes Mal ärgerlich den Kopf und schrieb eine Vier auf. Schlechtere Noten wurden in Musik eigentlich nicht gegeben. Einmal hatte sie sich wohl mit einem musikbewanderten Kollegen beraten, denn der ließ Rudi und drei andere Jungen, die raue Stimmen hatten, eine Mundharmonika anschaffen. Damit werde wunderbar ihr Empfinden für die richtigen Töne geweckt, später kämen sie dann für die Singenden als instrumentale Begleitung zum Einsatz, erklärte er den Eltern. Parallel zu Fräulein Hartmanns Singstunden bekämen diese unmusikalischen Vier von ihm qualifizierten Instrumentalunterricht. Nach seiner Erfahrung sei dieser Ansatz durchaus vielversprechend. Nun, die Melodien blieben kläglich. Nach kurzer Zeit stellte der Mann seine Anstrengungen wieder ein. Mit denen habe es keinen Zweck, hieß es.