Total verschossen – immer Ärger mit dem Liebesgott - Nicola Mostyn - E-Book
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Total verschossen – immer Ärger mit dem Liebesgott E-Book

Nicola Mostyn

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Beschreibung

»Muss nur noch kurz die Welt retten.« Als ein scheinbar durchgeknallter Mann namens Dan in das Büro der Anwältin Frida platzt und ihr eröffnet, sie sei dazu ausersehen, die Welt zu retten, setzt sie ihn ruckzuck vor die Tür. Aber dann passieren mysteriöse Dinge − und sie muss der Wahrheit ins Auge blicken: Der attraktive Dan ist tatsächlich das Orakel von Delphi, die griechischen Götter sitzen immer noch munter im Olymp. Und sie ist auserwählt, einen finsteren Plan von Eros' diabolischem Bruder Anteros zu vereiteln und die Welt sowie die Liebe zu retten. Seufzend legt sie die High Heels zur Seite und macht sich ans Werk.  

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Seitenzahl: 372

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Über das Buch

Die Anwältin Frida ist neunundzwanzig, etwas chaotisch und ein bisschen zynisch, und Montagmorgen ist nicht ihre beste Zeit. Als ein offenbar unzurechnungsfähiger Mann namens Dan in ihr Büro platzt und ihr eröffnet, sie sei dazu ausersehen, die Welt zu retten, setzt sie ihn ruckzuck vor die Tür. Aber es dauert nicht lange, bis sie der unangenehmen Wahrheit ins Auge sehen muss: Der durchgeknallte Dan ist tatsächlich das aktuelle Orakel von Delphi, Frida selbst ist eine Nachfahrin der griechischen Götter, besagte Götter gibt es immer noch, und Eros' diabolischer Bruder Anteros hat einen finsteren Plan geschmiedet, der die Welt ins Verderben stürzen soll und den nur Frida höchstpersönlich vereiteln kann. Indem sie eine uralte Prophezeiung erfüllt und Eros' verschollenen magischen Pfeil findet …

 

 

 

 

Für Nick

1

Also, als Scheidungsanwältin hat man es ja nicht unbedingt mit den besten Seiten der menschlichen Natur zu tun. Egal wie positiv man denkt – nachdem man die hundertste Ehefrau getroffen hat, deren Mann mit seiner fünfundzwanzigjährigen Kollegin in die Kiste steigt, treibt einen nicht nur der Wankelmut des Menschen zur Verzweiflung, sondern vor allem seine Fantasielosigkeit.

Deshalb sitzt meine neueste Klientin Oona Simpson kaum fünf Minuten in meiner Kanzlei, da weiß ich schon, dass sich ihr Mann hinter ihrem Rücken noch weit mehr geleistet hat als die paar Vergehen gegen die eheliche Treue, die sie mir in Tränen aufgelöst auflistet. (Was man als Scheidungsanwältin auch haben sollte: viele Schachteln Taschentücher auf Vorrat.)

Während ich mit ihr durchgehe, was sie mir erzählt hat – dreißig Jahre Ehe, zwei wunderbare Kinder, die eigene Karriere aufgegeben, um ihn in seiner zu unterstützen und so weiter und so fort –, sehe ich, wie sie schon wieder überzufließen droht, also schnappe ich mir schnell eine Handvoll Papiertücher mit Aloe Vera und halte sie ihr hin.

»Es tut mir wahnsinnig leid«, sagt Oona. »Wirklich. So bin ich normalerweise nicht. Es ist nur – so ein Schock. So ein furchtbarer Schock. Ich hätte nie, nie gedacht, dass mir das einmal passieren würde.« Sie wischt mit den Zeigefingern unter ihren Wimpern entlang, um die Mascarafluten einzudämmen (zu spät) und schaut mich aus großen blauen Augen an. Oona ist fünfundfünfzig, sieht aber dank einer großen Portion Botox der Spitzenklasse, einem Vermögen an sanierten Zähnen und einer Frisur, die wahrscheinlich teurer war als mein Sofa, für ihr Alter phänomenal aus. Und was hat sie davon? Rein gar nichts. Weil ihr Gatte, übergewichtig, mit Mundgeruch behaftet und zufällig einer der Obermuftis des größten Architekturbüros der Stadt, mit irgendeinem ehrgeizigen jungen Ding den typischen Deal gemacht hat: dein taufrischer, straffer Körper gegen meine Macht und meine Kontakte.

Das alte, alte Lied.

Das sage ich natürlich nicht laut. Ich nicke mitfühlend, biete ihr frische Taschentücher an und verleihe ihr noch einen Punkt in meinem privaten Scheidungsphrasen-Bingo. »Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren würde« steht ganz oben auf meiner Liste. Genau wie »Wie konnte er/sie mir das antun?«, »Was für ein Ehevertrag?« und »Dafür soll er/sie bluten!« Der letzte Satz ist mir mit Abstand am liebsten; dafür kriegen sie Bonuspunkte.

Aber so weit ist Oona noch nicht. Momentan ist sie noch geschockt von der Hinterhältigkeit ihres Mannes, und ihr graut vor dem Alleinsein. Sie muss die Erkenntnis, was er getan hat, erst sacken lassen. Dann wird die Wut kommen. Und mit Wut kann ich Wunder wirken. Wehe, wenn sie losgelassen, sag ich nur!

»Lassen Sie sich Zeit«, sage ich. (Natürlich sage ich das – ich rechne schließlich nach Stunden ab.) »Überlegen Sie in Ruhe; Sie möchten ja, dass alles zivilisiert und ordentlich abläuft und wir das tun, was für Sie und die Kinder am Ende das Beste ist.«

Voller Dankbarkeit lächelt sie mich an. Ich mustere sie gründlich. Mit ihrer Fitnessstudiofigur, den sanften Pastelltönen ihrer Kleidung, der zarten Haut und dem dezenten Make-up sieht sie fragil und gewichtslos aus, wie ein menschliches Baiser. Gut möglich, dass manche sie für schwach halten. Aber ich kenne Frauen wie Oona – ich habe täglich mit ihnen zu tun. Sie ist zu mir gekommen, weil sie gehört hat, dass ich die Beste bin. Ich bin die jüngste Familienanwältin mit eigener Kanzlei in der Stadt, und ich hole bei den Verfahren deutlich mehr für meine Klienten heraus als alle meine Konkurrenten. Tja, was soll ich sagen? Ich bin halt gut.

Wir machen Schluss – es hat keinen Sinn, sie schon beim ersten Termin zu überfordern. Ich bitte sie, mit Penny, meiner Assistentin, einen zweiten Termin auszumachen (kann gut sein, dass Oona bis dahin ihrem Mann schon wieder verziehen hat; diesen Tanz können Paare jahrelang aufführen, bevor endgültig eine Grenze erreicht ist). Dann schließt sie die Tür hinter sich, tapfer lächelnd und bereit für ein paar Stunden Anti-Schock-Shopping-Therapie und einen Gin mit Diät-Tonic. Auch die Ehefrauen haben ihre Klischees.

Sobald sie weg ist, setze ich mich an den Laptop und schaue in meine Mails. Zuerst wird der übliche Spam eliminiert: 50% Rabatt auf Schönheits-OPs, ein Monat kostenloser Zugang zu einem Sex-Datingportal, eine Mail mit dem Betreff: Warum bist du immer noch Single? (die könnte auch von meiner Mutter stammen, wenn sie eine Ahnung hätte, wie man einen Computer bedient). Ich lösche noch ein paar Mails; dabei fällt mir immer wieder eine Werbung ins Auge, die stumm in der Sidebar abläuft. Neugierig ziehe ich den Mauszeiger auf das Kästchen und klicke es an.

Ein, zwei Sekunden lang bleibt der Bildschirm schwarz. Dann durchbohrt ein goldener Lichtstrahl die Dunkelheit, begleitet von Chorgesang, als käme gleich eine göttliche Erscheinung. Darüber eine raunende Frauenstimme: »Wird dir das Eine bestimmt sein?«, und langsam tritt aus dem goldenen Glanz ein erkennbarer Gegenstand hervor. Ein Smartphone. Ein goldenes Smartphone.

»Das NeoONE«, haucht die Frauenstimme. »Nur EINES wurde erschaffen. Nur EIN MENSCH wird auserwählt.« Dann wird der Bildschirm wieder schwarz bis auf eine Reihe goldener Zahlen:

14/02 @19:00

Ich muss laut lachen. Natürlich, das ist NeoStar – wer sonst? Das Symbol dieses Unternehmens, der nach oben zeigende Pfeil, ist heutzutage so bekannt und mächtig wie das Hollywood-Zeichen – und es ist überall: auf dem Laptop, mit dem ich diese Werbung anschaue, dem Telefon auf meinem Schreibtisch, meinem Tablet zu Hause, in meiner Standard-Suchmaschine und auf den Navis in den Taxis, die ich nehme. NeoStar ist der größte und einflussreichste Tech-Konzern der westlichen Welt. Und – bei dem Gedanken beginnen mir Schmetterlinge der Vorfreude im Bauch zu flattern – ich, Frida McKenzie, habe dort morgen einen Termin in der Chefetage.

Ich lehne mich zurück und schaue mir zum dritten Mal an, wie, begleitet von der verführerischen Frauenstimme, das goldene Handy aus dem Dunkel aufsteigt, als wäre es die Erfüllung jedes menschlichen Wunsches. Ich schüttle den Kopf. Was für eine genialer Coup, die neue Generation des NeoPhone mit einer limitierten Edition von genau einem Exemplar zu bewerben. Das Ding wird in aller Munde sein. Wieder kommt die Werbung zum Ende, und Datum und Uhrzeit werden eingeblendet: Valentinstag, sieben Uhr abends. Perfekt. Diese Leute arbeiten auf einem völlig neuen Level. Eine unaufhaltsame Macht.

Und sie wollen wahrhaftig mich.

Oder sagen wir: vielleicht. Falls ich ihnen zeigen kann, wie gut ich bin.

Ich schaue auf die Uhr und schließe den Browser. Zeit, Schluss zu machen. Morgen muss ich ausgeschlafen und in Bestform sein.

Der Rechner fährt gerade herunter, da entsteht vor der Tür Unruhe.

»Entschuldigen Sie! Sie können da nicht einfach ohne Termin reingehen!« Penny klingt entgeistert. Anders als ich besitzt sie diese typische Oberschicht-Gelassenheit und wird grundsätzlich nicht aufgeregt, wütend oder irgendwas, was einem Gefühl auch nur nahekommt. Daher ist meine Wachsamkeit geweckt. In meinem Job muss man auf alles gefasst sein. Über das letzte Jahr habe ich so einige wutentbrannte Ehepartner erlebt. Von einigen wurde ich bedroht. Von anderen bekam ich unanständige Anträge. Manchmal beides beim selben Termin. Daher erwarte ich das, was da gleich durch die Tür kommen wird, mit dem Handy in der einen und einer Dose Pfefferspray (das wegen des Anstiegs gewalttätigen Stalkings vor Kurzem legalisiert wurde) in der anderen Hand.

Wie schon erwähnt, ich habe keine so wahnsinnig hohe Meinung von der menschlichen Natur.

Die Tür öffnet sich, und herein kommt ein Mann, gefolgt von Penny, an deren momentan zartrosa angehauchtem Elfenbeinteint ich erkenne, dass sie fuchsteufelswild ist.

»Frida McKenzie«, sagt der Mann. Nicht als Frage, eher wie einen Gruß – als wäre er ein lange verschollener Freund oder so, nur dass ich den Typen noch nie im Leben gesehen habe.

»Sie können hier nicht einfach ohne Termin hereinspazieren«, gebe ich ruhig zurück. Ich mustere ihn und überlege dabei, ob er zu meiner Liste potenzieller Problemkandidaten gehören könnte. Er ist mittelgroß, hat dunkelbraunes Haar, grüne Augen und einen sexy Dreitagebart. Mein Gesichtsgedächtnis ist gut, daher weiß ich, dass ich ihm noch nie begegnet bin; aber hey, ich bin Anwältin, das heißt, auch mir Unbekannte glauben vielleicht, sie hätten ein Hühnchen mit mir zu rupfen.

»Es dauert nur fünf Minuten«, sagt er. »Es ist wichtig.« Er sieht mich eindringlich an. Der intensive Blick dieser grünen Augen bringt mich etwas durcheinander. Ich werfe einen Blick auf Penny. Sie legt kaum merklich den Kopf schräg: Soll ich die Security rufen? Ich schüttle meinen ebenso leicht. Unnötigen Aufruhr vermeide ich gern. Schlecht fürs Geschäft.

»Ich verstehe, dass Ihr Anliegen Ihnen wichtig erscheinen mag«, sage ich, »aber ich bin im Begriff, das Büro zu verlassen. Wenn Sie mich sprechen wollen, lassen Sie sich von Penny einen Termin geben.«

»Ja«, sagt er. »Ja, würde ich normalerweise, aber ich fürchte, das hier kann nicht warten.«

»Leider bin ich für meine Klienten nur nach vorheriger Anmeldung zu sprechen, Mr., äh …?«

»Dan. Ich bin Dan.« Er lächelt entwaffnend. »Ich weiß, es ist unverschämt von mir, einfach so reinzuplatzen, aber ich habe sehr lange nach Ihnen gesucht, Frida. Sehr, sehr lange. Ich muss Ihnen etwas sagen.«

Ich zögere. Vielleicht liegt es daran, dass er nicht aussieht wie die Leute, die üblicherweise hier landen, oder an seinen rätsel- und schmeichelhaften Worten, jedenfalls bin ich fast versucht, ihn anzuhören.

Er merkt, dass ich schwanke. »Fünf Minuten«, wiederholt er.

Ich bilde mir ein, dass meine Menschenkenntnis ganz gut ist, und auf mich wirkt er aufrichtig. Außerdem hat er wirklich tolle Augen. »Okay. Fünf Minuten.« Ich nicke Penny zu. Sie hebt die Augenbrauen einen halben Millimeter und zieht sich zögernd ins Vorzimmer zurück, lässt aber vernünftigerweise die Tür einen Spalt offen. Ich setze mich wieder hinter meinen Schreibtisch, lege das Pfefferspray in die Schublade zurück und deute auf den lederbezogenen Besucherstuhl. »Also, was kann ich für Sie tun?«

Da passiert etwas Merkwürdiges. Der Mann wirkt plötzlich … verlegen? Nein, nicht richtig verlegen, aber nahe dran. Widerstrebend. Wie seltsam. Ich meine, wer verschafft sich beinahe gewaltsam Zutritt zu jemandem, um ihm etwas Dringendes zu sagen, und will dann nicht damit rausrücken?

»Ms. McKenzie«, fängt er an. Er schaut mir in die Augen, seufzt, senkt den Blick, scheint zu einem Entschluss zu kommen und sagt endlich: »Also, ich habe sozusagen eine Begabung. Eine Gabe.«

Begabung, denke ich. Hm. Will er einen Job? Ich sage nichts. Besser, ich höre mir sein Anliegen erst zu Ende an.

»Ich sehe Dinge«, fährt er fort. »Dinge, die … passieren werden.«

Schlagartig bin ich ernüchtert. Ich habe die Situation komplett falsch eingeschätzt. Er ist doch ein Spinner. »Aha«, sage ich, um Zeit zu schinden, während ich mich frage, wie ich ihn ohne größeres Drama wieder loswerde. »Und was sehen Sie da so?«

»Sie.«

Ich schaue ihn erstaunt an. »Mich? Und was mache ich?« Kaum habe ich die Frage gestellt, bereue ich es schon. Wahrscheinlich werde ich gleich das dringende Bedürfnis nach einer ausgiebigen Dusche haben, um jede Erinnerung an dieses Gespräch wegzuspülen. Vorsichtig schiebe ich mich in Richtung Alarmknopf.

»Es gibt da … jemanden«, sagt Dan. »Er ist sehr gefährlich. Er wird etwas Schreckliches tun. Und nur Sie können ihn aufhalten.«

»Aha. Verstehe. Okay«, sage ich in freundlichem Ton und lasse eine Hand unter den Tisch gleiten. »Also, danke, dass Sie mir das gesagt haben, Mr. – Dan. Vielen Dank, Dan.«

Zu meiner Überraschung fängt er an zu lachen. »Sie glauben mir nicht. Sie denken, ich spinne.«

»Ich glaube, dass Sie glauben, was Sie sagen«, sage ich ganz ruhig.

Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Plötzlich sieht er erschöpft aus. Mir fallen die Schatten unter seinen Augen auf. Die heruntergekauten Nägel. »Es macht auch nichts. Ich hab’s zuerst auch nicht glauben wollen. Aber das spielt keine Rolle. Prophezeiungen lügen nicht. Sie müssen den Pfeil finden, Frida. Nur Sie können uns retten.«

Perplex starre ich ihn an. Ich werde nicht schlau aus diesem Kerl. Er macht eigentlich einen ziemlich normalen Eindruck, aber was er sagt, ist hochgradig irre. Ich mustere ihn genauer, als ließe sich an seinen Klamotten etwas über seinen Wahn erraten. Ein T-Shirt mit dem Logo einer Band, von der ich noch nie gehört habe, eine Lederjacke, abgetragene Jeans, schwarze Desert Boots. Keine Batik, keine Kette mit Eso-Kristall, nicht mal ein Hauch Räucherstäbchen-Aroma. Er wirkt ganz normal. Vielleicht ein bisschen wie ein Künstler – ein Maler oder Musiker.

»Wer sind Sie?«

Da lächelt er mich an, ein warmes, freundliches Lächeln. Verdammt, er ist wirklich attraktiv. »Ein Freund«, sagt er. »Sie wissen es nur noch nicht.«

Oh nein.

Ich betätige den kleinen Knopf, der den Wachmann des Bürogebäudes alarmiert. Im selben Moment steht Dan auf. Instinktiv zucke ich zurück und greife – hätte ich bloß das Pfefferspray noch zur Hand – nach dem nächstbesten spitzen Gegenstand.

Er lächelt wieder. »Wollen Sie mir jetzt einen strengen Brief schreiben?«

Ich schaue auf den Füllfederhalter in meiner Hand. Meine Güte. Durchgeknallt, aber witzig. Besser, ich schmeiße ihn raus, bevor ich womöglich noch mit ihm essen gehe.

»Sie sollten jetzt gehen«, sage ich, bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr er mich durcheinandergebracht hat. »Ich habe den Sicherheitsdienst alarmiert. Wenn Sie nicht freiwillig gehen, werden Sie festgenommen.«

»Okay«, sagt er unbeeindruckt – und steckt die Hand in die Tasche. Ich trete noch einen Schritt zurück. Was hat er da drin? Ein Messer? Eine Kristallkugel? Aber er zieht nur einen kleinen Packen Klebezettel heraus, löst den obersten ab, auf den eine Telefonnummer gekritzelt ist, und klebt ihn auf meinen Schreibtisch. »Rufen Sie mich an, sobald Sie erkannt haben, dass es stimmt, was ich sage.« Sein Blick ist so intensiv, dass mich ein Schauder überläuft. »Aber bis dahin seien Sie bitte sehr, sehr vorsichtig, Frida. Wenn ich weiß, dass Sie diejenige sind, wird er es sicher bald auch erfahren.«

»Er?«

»Anteros.« Er spricht es aus, als müsste der Name mir etwas sagen. Da höre ich, dass Donald, der Sicherheitsmann, im Anmarsch ist. Seine schweren Schritte sind unverkennbar – er ist etwa zwei Meter groß und auch ungefähr so breit.

Dan der Spinner redet unbeirrt weiter. »Steigen Sie nicht zu irgendwem ins Auto, den Sie nicht kennen. Lassen Sie niemanden zu sich ins Haus. Essen oder trinken Sie nichts, was Sie nicht selbst zubereitet haben. Und, vor allem, gehen Sie bloß nicht in die Nähe von NeoStar.«

Ich runzle die Stirn. NeoStar. Ist das nur Zufall? Ich hoffe es, denn wenn nicht, bedeutet es, dass der Kerl sich mit meinem Terminkalender befasst hat.

Jetzt lehnt er sich über den Tisch, ganz nah zu mir. Ich bilde mir ein, etwas wie einen winzigen Stromstoß zu spüren, als berührten sich einen Sekundenbruchteil lang zwei Drähte und lösten sich dann wieder voneinander.

»Ich dachte, vielleicht wüssten Sie, was Sie sind, aber dem ist nicht so, oder?« Und jetzt sind es nicht seine Worte, die mir Angst einjagen. Sondern sein Gesichtsausdruck. Er ist voller Mitleid. Ich kann mir nicht vorstellen, warum dieser Verrückte mich bemitleiden sollte.

»Bitte, seien Sie vorsichtig, Frida«, wiederholt er. »Sie sind etwas ganz Besonderes.«

Die Tür öffnet sich. Donald schaut von mir zu Dan und wieder zurück. Sein Blick verharrt kurz auf dem Füller in meiner immer noch erhobenen Hand. »Alles okay hier?«, fragt er mit der unbeirrbar finsteren Miene, die er standardmäßig zur Schau trägt.

Der durchgeknallte Dan dreht sich zu ihm um und hebt die Hände, um seine Harmlosigkeit zu demonstrieren. »Ich wollte gerade gehen.«

»Begleiten Sie diesen Herrn nach draußen, Donald, bitte?«, frage ich.

Donald grunzt, enttäuscht, dass er nicht handgreiflich werden muss. Wenn ich Alarm auslöse, gibt es normalerweise etwas mehr Action. Aus Prinzip packt er Dan grob am Arm und steuert ihn in Richtung Tür. Ehe Dan hinausgeschoben wird, ruft er mir noch etwas zu, so völlig ohne jeden Zusammenhang, dass mir der Kopf schwirrt.

»Sie sollten dringend Ihre Kenntnisse in griechischer Mythologie auffrischen!«

Als der Typ verschwunden ist, stoße ich einen erleichterten Seufzer aus. Was zum Henker sollte das? Total skurril. Ein paar Minuten lang sitze ich einfach nur da. Penny bringt mir einen Kaffee und zieht sich dann schweigend zurück, was herrlich ist und genau der Grund, warum ich sie eingestellt habe. Meiner Meinung nach reden die meisten Leute zu viel. Ich schätze all diejenigen sehr, die kapieren, wann es geboten ist, den Mund zu halten.

Ich nehme ein paar Schlucke, um wieder ins Lot zu kommen. Nicht, dass ich wirklich Angst vor dem Typen hatte. Mich ärgert nur maßlos, dass ich ihn reingelassen habe. Eigentlich kann ich mich auf meine Intuition verlassen, umso mehr wurmt es mich, dass ich mich so spektakulär getäuscht habe. Wenn er nun gewalttätig gewesen wäre? Schnell schüttle ich den Gedanken ab. Ist ja nichts passiert. Er war nicht gefährlich. Nur ein bisschen verwirrt.

Ich seufze noch einmal. Warum bin ich überrascht? Ich ziehe seit jeher nur komische Typen an. Als hätte ich ein Schild auf der Stirn kleben. Deshalb war ich auch schon monatelang mit keinem mehr verabredet. Ich starre aus dem Fenster in die frühe Abenddämmerung hinaus, folge mit dem Blick den Scheinwerfern der Autos und Busse, die sich durch den Schneematsch auf den Straßen schieben.

Dann zwinge ich mich, an andere Dinge zu denken. Für Komplikationen habe ich keine Zeit. Im Januar ist bei mir immer viel los. Die sowieso schon historisch hohe Scheidungsrate steigt dann noch mal ein Stück an. Unter dem Erwartungsdruck der Feiertage zerbrechen Ehen, die das Jahr über nur noch mit Mühe gehalten haben, endgültig. Angesichts all der kuschelig-warmen Fernsehwerbungen fragen sich die Leute, was eigentlich aus ihrer großen, unsterblichen Liebe geworden ist, und wenn dann noch nervtötende Schwiegereltern, überdrehte Kinder und alkoholenthemmte Betriebsweihnachtsfeiern hinzukommen, sind bei mir schnell vierzig Prozent mehr Umsatz drin. Schlecht für die Liebe, gut für mich.

Der Kaffee ist stark und aromatisch; langsam bin ich wieder ich selbst. Ich habe ja nicht viele Laster, aber ohne mindestens acht Tassen Kaffee am Tag werde ich zur Neandertalerin. Ich trinke aus und frage ins Vorzimmer durch: »Was steht morgen auf dem Plan, Pen?«

»Neun Uhr dreißig der Termin bei NeoStar«, flötet Penny effizient. »Dann um zwölf das nächste Gespräch mit Mrs. Bartholomew, gemeinsam mit ihrem Mann und dessen Anwalt. Da bin ich schon weg, Sie wissen ja. Morgen Nachmittag fängt mein Urlaub an. Die Vertretung kommt erst am Montag.«

NeoStar. Ich muss doch wieder an den Verrückten denken. Woher wusste er, dass ich dorthin will? Ich frage mich, ob er ein Konkurrent sein könnte. Bisher hat NeoStar noch kaum jemals externe Anwälte engagiert, aber angesichts der eskalierenden Scheidungsraten leuchtet es ein, dass der Konzern einen Anwalt damit beauftragen will, der Belegschaft bei Stress in der Ehe zur Seite zu stehen – schließlich sind langwierige, komplizierte Scheidungsgeschichten der Produktivität extrem abträglich, während ein lukrativer Sieg vor Gericht gegen den oder die verhasste Ex die Arbeitsmoral vermutlich in höchste Höhen schießen lässt. Ein solcher Job wäre ein absoluter Hauptgewinn, und sicherlich würden viele meiner Konkurrenten vor nichts zurückschrecken, um ihn zu ergattern. Sich deshalb als Hellseher auszugeben ist schon ziemlich gaga, aber überraschen kann mich da gar nichts mehr. So ist die moderne Welt: sei um jeden Preis der oder die Beste, oder du bist ein Nichts.

»Frida?«

»Sorry, Penny. Ich war in Gedanken. Ja, natürlich, kein Problem. Erholen Sie sich gut. Und schreiben Sie mir eine Karte.«

Für den Abend nehme ich mir ein bisschen Arbeit mit. Zu Hause mache ich eine Flasche Wein auf und schalte einen beruhigenden Klassiksender im Radio ein. Dann schneide ich Paprika, Zucchini, Knoblauch und Tomaten in Scheiben, gebe sie in eine Auflaufform, beträufle sie mit Öl und Balsamico und schiebe sie in den Ofen. Auf einem Barhocker an meinem Küchentresen schenke ich mir ein zweites Glas Wein ein.

Da summt mein Handy. Es ist eine Nachricht von Chris.

Hi Frida, lange nicht gesehen. Mal wieder Lust auf einen Kaffee?

Ich überlege. Chris ist ein Anwalt für Wirtschaftsrecht, mit dem ich vor ein paar Jahren mal was laufen hatte. Wir sind immer noch Freunde, aber er hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich mehr wünschen würde. Innerlich zucke ich mit den Schultern. Warum nicht mit ihm Kaffee trinken gehen? Schaden kann es nicht.

Mit meinem Glas gehe ich zu meinem leuchtend türkisen Sofa und lasse mich mit einem Seufzer der Befriedigung auf die prallen Kissen mit Fuchsmuster fallen. Ich liebe diese Wohnung und überhaupt mein Leben. In den letzten Jahren als Single wurde mir klar, dass ich eigentlich der ideale Partner für mich selbst bin. Ich kann ganz gut kochen. Ich halte die Wohnung blitzsauber. Ich mache mir nach langen Arbeitstagen duftende Schaumbäder. Ich kaufe mir Pralinen. Ich gehe mit mir essen, ins Kino, zu Partys. Was will man mehr?

Die Arbeit hat mir sowieso schon immer mehr gegeben als jede Beziehung. Arbeit ist logisch: Investiert man in seine Karriere, dann kommt dabei normalerweise auch was heraus. Die Liebe dagegen? Total unberechenbar. Jeder Fall, den ich je bearbeitet habe – und jede meiner Beziehungen! –, hat mir gezeigt, dass eine Partnerschaft jederzeit in die Brüche gehen kann, ohne vernünftigen Grund, egal wie viel einem daran liegt oder wie viel man in sie investiert. Vor allem, wenn man viel investiert. Und wohin führt das dann? Ich lasse den Wein im Glas kreisen und starre in die blutroten Tiefen. Es führt dorthin, wo jetzt zum Beispiel Oona ist. Und so viele andere Leute. Aufs Abstellgleis. Wo man zu spät erkennt, dass man seine besten Jahre einem Menschen geopfert hat, der das gar nicht verdient.

Warum bist du immer noch Single? Aus freier Entscheidung, deshalb. Aus Selbsterhaltungstrieb.

Ehe ich den Gedankengang weiterverfolgen kann, klingelt es. Ich stehe auf und gehe zur Sprechanlage. Unten steht Bryony und lacht in die Kamera. »Hab was für dich«, sagt sie. Ich schüttle grinsend den Kopf. Bryony ist der einzige Mensch, den ich kenne, der einfach unangemeldet bei den Leuten hereinschneit – als wäre das Handy noch nicht erfunden.

Als sie in die Wohnung kommt, sehe ich, dass sie einen großen Karton trägt.

Ich umarme sie um den Karton herum. »Hallo, Süße. Wie komme ich zu der Ehre? Und was ist da drin?«

Sie folgt mir in die Küche, stellt den Karton auf dem Tresen ab und seufzt glücklich. »Ach, ist das schön hier. So sauber und ordentlich. Nirgends Buntstifte oder Spielzeugautos!«

Ich muss lachen. Ihre Zwillinge Jake und Joe sind jetzt zwei, und seit ihrer Geburt besteht Bryonys Leben aus einem Mahlstrom von Spielzeug, Krabbelgruppen und Essensflecken an allen möglichen Stellen.

»Was macht das Duo infernale?«

»Ist höllisch gut drauf. Aber sie sind trotzdem meine Engelchen.«

Ich grinse sie an. Wir kennen uns seit der Schule, aber wer uns heute sieht, käme nie darauf, dass wir befreundet sind. Bei mir haben Klamotten und Schuhe höchste Priorität, ich würde nie auch nur den Müll rausbringen, ohne mich vorher ordentlich zu schminken. Bryony trägt Leggings und lose Oberteile, steckt ihr wunderschönes rotblondes Haar immer zu einem schlampigen Knoten auf und schminkt sich höchstens zu Weihnachten oder wenn sie Geburtstag hat.

»Auch ein Glas Wein?«, frage ich.

Sie betrachtet etwas sehnsüchtig die offene Flasche und schüttelt den Kopf. »Lieber einen Tee. Du weißt ja, nach einem Glas bin ich momentan schon nicht mehr zu gebrauchen.« Sie klopft auf den Karton. »Eigentlich wollte ich dir wirklich nur das da vorbeibringen.«

Ich fülle den Wasserkocher und hole mir mein Weinglas vom Couchtisch. Neugierig mustere ich den Karton. »Du weißt aber, dass mein Geburtstag erst im Juli ist?«

Bryony verdreht die Augen. »Pass auf. Justin und ich haben doch meinen Eltern beim Umzug geholfen.«

Ich nicke.

»Also, dabei entdeckten wir, dass in ihrer Garage noch tonnenweise altes Zeug von mir lagert, von damals, als ich zu Hause auszog. Sachen, die ich zwar nie wieder gebraucht hätte, aber irgendwie nicht wegwerfen wollte. Du kennst das ja sicher.«

Ich nicke, obwohl das nicht stimmt. Als ich an die Uni ging, beseitigte meine Mum zu Hause jede Spur von mir. Wenn ich heute auch nur eine Haarbürste bei ihr ließe, sie würde sie sofort in den Müll werfen.

»Und da hab ich diesen Karton gefunden«, fährt Bryony fort. »Ich dachte, das Zeug kenne ich ja gar nicht. Dann sah ich das hier.« Sie holt einen Notizblock heraus, dessen Umschlag mit kleinen Pierrots bedruckt ist. In mir regt sich eine Erinnerung. »Da steht dein Name drin«, sagt sie. »Die Sachen gehören dir! Du musst sie mal bei mir deponiert haben, als wir noch Kinder waren.« Sie grinst. »Witzig, oder?«

Ich spähe in den Karton und krame in den obersten Sachen. »Wow. Wahnsinn. Ha! Erinnerst du dich noch daran?« Ich hole die Sammlung von ausgefallenen Radiergummis heraus, für die Bryony und ich eine Weile all unser Taschengeld opferten.

»Und das da!«, ruft sie und greift mit spitzen Fingern nach einem klebrigen Glibberkraken, den wir immer an die Wand warfen, um dann zuzusehen, wie er nach unten kletterte.

Ich erwidere ihr Lächeln. »Wie eine Zeitkapsel. Danke! Übers Wochenende schaue ich mir mal alles in Ruhe durch.«

Wehmütig blickt Bryony in den Karton. »Das hätten wir uns damals auch nicht träumen lassen, wie unser Leben mal aussehen würde, was?«

Der Wasserkocher klickt. Ich gieße heißes Wasser über einen Teebeutel, drücke ihn mit einem Teelöffel mehrmals aus, bis die Flüssigkeit tiefbraun ist, und gebe viel Milch dazu. Eine der Nebenwirkungen langjähriger Freundschaft ist, dass man genau weiß, was die andere gern mag. Während ich einen halben Teelöffel Zucker hineinrühre, denke ich über Bryonys Bemerkung nach. So viele Erinnerungen habe ich gar nicht an meine Kindheit. Mein Dad ließ meine Mum sitzen, als ich neun war; ich glaube, einiges habe ich sicher verdrängt. Vielleicht tat es zu weh. Vielleicht gaben diese Erfahrung, und dass Mum danach so unglücklich war, ja letztendlich den Ausschlag für meine Berufswahl, weil ich betrogenen Ehefrauen und -männern zu ihrem Recht verhelfen wollte. Wer weiß? Da müsste man Dr. Freud fragen. Aber an eines erinnere mich sehr gut: wie Bryony und ich mit zehn Jahren eine gemeinsame Geburtstagsparty feierten und was wir uns damals für unser Leben wünschten.

»Doch, absolut!«, sage ich und drücke ihr die Teetasse in die Hand. »Wir wollten eine Zukunft, in der wir glücklich und hübsch sind und immer beste Freundinnen bleiben.«

»Ach, wir waren ja die reinsten Hellseherinnen.« Sie lacht und prostet mir mit ihrer Tasse zu.

»Total!«, sage ich, und da kommt mir wieder der Mann in meinem Büro in den Sinn.

Bryony bemerkt mein Stirnrunzeln. »Hey. Alles in Ordnung?«

»Ja, doch, alles gut.« Ich nehme einen Schluck Wein. »Ich hatte heute nur ein komisches Erlebnis. Du weißt ja, dass ich manchmal ein bisschen übergeschnappte Klienten habe? Heute kam einer, der mir erzählte, es gäbe eine Prophezeiung oder so, in der ich eine Rolle spiele.«

Bryonys Augen werden groß. »Sei bloß vorsichtig, Frida. In der Verzweiflung stellen manche Leute alles Mögliche an.«

Ich nicke, ohne mir die Mühe zu machen, sie darüber aufzuklären, dass es gar kein Klient war. So ganz kann Bryony meine Berufswahl nicht nachvollziehen, aber als praktische Ärztin hat sie durchaus eine Ahnung davon, was passieren kann, wenn das Leben eines Menschen aus der Spur gerät.

»Und bei dir?«, frage ich. »Alles okay bei der Arbeit?«

Sie seufzt. »Ja, aber es ist manchmal ganz schön hart. Ich wünschte einfach, ich könnte mehr tun, weißt du?« Sie schüttelt den Kopf. Ich weiß, worauf sie anspielt. Sie hat mir schon erzählt, dass immer mehr ihrer Patienten ihr anvertrauen, dass sie keinen Partner finden und sich fragen, ob mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie gibt sich alle Mühe, diese Leute davon zu überzeugen, dass sie völlig normal sind, und empfiehlt ihnen eine Therapie, wenn es ihr angebracht erscheint, aber sie kommen immer wieder, als gäbe es eine Medizin gegen die Einsamkeit.

»Du kümmerst dich um sie, Bry, mehr kannst du nicht machen.«

Ein bisschen traurig lächelt sie mich an. »Wahrscheinlich nicht.«

Wir quatschen noch ein bisschen über ihre und meine Arbeit, über die Kinder und Justin, über die Nachricht von Chris und ob ich mich mit ihm treffen soll oder nicht. Dann schaut Bryony auf die Uhr und kippt ihren Rest Tee hinunter. »Ich muss los. Hast du Lust, am Sonntag zum Mittagessen vorbeizukommen?«

Wir umarmen uns. »Klar, gern.«

Nachdem ich meine Kindheitsspielsachen zurück in den Karton gelegt habe, räume ich ihn in den Besenschrank. Dann stelle ich den Wasserkocher noch einmal an und schütte kochendes Wasser über die Nudeln. Als das Essen fertig ist, widerstehe ich dem Impuls, es mit aufs Sofa zu nehmen, und setze mich ganz gesittet mit meinem Teller und meinem Glas guten Rotweins an den Esstisch. Das ist mein Leben, so habe ich es mir eingerichtet, und es ist verdammt gut.

Später kuschle ich mich doch noch ins Wohnzimmer vor den Fernseher. Gerade geht ein Film zu Ende, der kürzlich im Kino lief, in dem ein gewalttätiger Ehemann sich durch die Liebe seiner Frau zum Besseren wandelt. Ich zappe weiter und sehe den Anfang einer beliebten Serie um eine shoppingsüchtige, unheilbar beziehungsunfähige Protagonistin. Zapp. Eine Werbung für Diätpillen, so lang wie ein Filmtrailer. Zapp. Eine Dokumentation über eine Frau, deren Leiche drei Jahre lang unentdeckt in ihrer Wohnung lag. Zapp. Eine Gameshow, deren Teilnehmer für jede Person, die sie ins Bett kriegen, ehe ihr Partner ihnen auf die Schliche kommt, zehntausend gewinnen. Zapp. Die Werbung für das NeoONE, das goldene Smartphone, das aus der Finsternis erscheint. Inzwischen ist sie in den sozialen Medien zum heiß diskutierten Thema avanciert.

Ich schaue die Werbung zu Ende, dann schalte ich den Fernseher aus und gehe ins Bett.

In dieser Nacht träume ich, dass ich einen dunkelhaarigen Mann durch eine Menschenmenge verfolge. Sein Kopf taucht immer wieder zwischen den Leuten auf, ganz knapp außer Reichweite. Als ich ihn endlich einhole, berühre ich ihn am Arm. Er dreht sich um. Es ist Dan, der Typ aus meinem Büro.

Er packt mich fest um die Schultern. »Weißt du, dass du etwas ganz Besonderes bist? Weißt du das? Weißt du das? Du bist die Eine. Weißt du das?« Seine Stimme wird immer lauter und verzweifelter, bis ich ruckartig mit wild klopfendem Herzen aufschrecke. Aber wie alle Träume zergeht auch dieser bald, verliert sich in Fragmenten, und am Morgen kann ich mich nicht mehr an ihn erinnern.

2

Als um sieben mein Wecker klingelt, springe ich sofort aus dem Bett, voll Energie und Tatendrang angesichts des anstehenden Termins.

In aller Ruhe mache ich mich fertig, um sicherzugehen, dass jedes Detail perfekt sitzt. Ich dusche, setze mich im Morgenmantel mit einem Kaffee hin und trage mein Make-up auf. Über meine beste Unterwäsche ziehe ich Nylonstrümpfe und ein tailliertes schwarzes Kleid an und steige in ein glänzendes Paar schwarzer High Heels. Noch einmal korrigiere ich meine Frisur (mein Haar ist sorgsamst geglättet, strebt aber ständig danach, wieder in den natürlichen staubwedelartigen Lockenzustand überzugehen), ziehe den Lipgloss nach, tusche die Wimpern noch etwas stärker und betrachte mich im Spiegel.

Nicht übel. Die hohen Absätze brauche ich, weil ich nicht gerade mit physischer Größe gesegnet bin, aber wie ich festgestellt habe, kann das auch ein Vorteil sein. Ich bin klein, ich bin neunundzwanzig und sehe aus wie fünfundzwanzig. Von Leuten, die mich nicht wirklich kennen, wurde ich schon als niedlich bezeichnet. Sollen sie nur. Es ist gar nicht schlecht, unterschätzt zu werden. So wird man oft übersehen, bis es zu spät ist.

Zehn Minuten später sitze ich im Taxi. Auf den Straßen liegt eine dicke Schicht griesigen grauen Schnees, und es geht nur langsam voran, aber das stört mich nicht. So habe ich Zeit, um mich zu konzentrieren. Bei diesem Meeting muss ich einen guten Eindruck machen. Ich bin zwar schon ein mittelgroßer Fisch in einem kleinen Teich, aber mein Ehrgeiz geht weiter. Als ich vor zwei Jahren meine eigene Kanzlei eröffnete, hielten mich alle für verrückt, in diesem Alter schon so hoch hinaus zu wollen. Insgeheim (oder auch weniger insgeheim) hofften viele meiner Altersgenossen, ich würde binnen Kurzem pleite gehen. Aber ich habe mich gehalten, genau wie geplant.

Weil ich es liebe, mein eigener Herr zu sein – und nicht nur das: Ich liebe das Scheidungsrecht. Ja, wirklich. Ich weiß, wie die Leute ticken. Wenn ich eine Person einmal getroffen habe, erkenne ich schnell, wie sie denkt, warum sie sich so verhält, wie sie es tut, und was sie vermutlich als Nächstes tun wird. Das hilft mir, ihre Achillesferse zu finden und zu erkennen, wo ich ansetzen kann, um meinen Klientinnen zum Vorteil zu verhelfen.

Und die haben meinen kühlen, objektiven Blick bitter nötig, weil sie oft völlig in Details verstrickt sind, so in ihrer Gefühlswelt gefangen, dass sie das große Ganze gar nicht wahrnehmen. Manchmal, wenn jemand mir die unüberbrückbaren Differenzen in seiner Ehe aufzählt und dabei Dinge nennt wie dass der Partner Marmeladengläser nicht richtig zuschraubt, zu laut niest oder zu viel Klopapier verbraucht, schaue ich mir die beiden fraglichen Ehegatten an und versuche mir vorzustellen, wie selig verliebt sie irgendwann mal gewesen sein müssen. Unmöglich. Die Ehe hat die Menschen, die sie einst waren, völlig ausgelöscht. Die Liebe, der große Zerstörer.

Der Himmel ist weiß und schneeschwer. Jetzt schiebt sich das NeoStar-Logo davor: der kühne schwarze Schriftzug mit dem nach oben strebenden Pfeil wie einem Versprechen unbedingten Erfolgs. In jeder großen Stadt gibt es inzwischen einen NeoStar-Tower. Dieser hier ist die Firmenzentrale und eines der Wahrzeichen unserer Stadt. Er ist das höchste Gebäude der Welt und hat 199 Stockwerke, vier Hotels und fünfzig Luxusappartements.

Während ich aus dem Taxi steige, schaue ich an dem Turm empor. Die Intention der Architekten war wohl, jeden in Ehrfurcht erstarren zu lassen, und das ist ihnen auch gelungen. Manche finden den Tower protzig, überflüssig und obszön, aber da kann ich nicht zustimmen. Die Leute schauen hier buchstäblich zu NeoStar auf – wie im übertragenen Sinn sowieso. Ein Unternehmen, das in den Siebzigerjahren ganz klein mit dem Bau von Computern und Telefonen anfing, sich aber, indem es jede technologische Neuerung sofort aufgriff – und oft sogar selbst hervorbrachte – zum weltweit marktführenden Technologiekonzern der Gegenwart entwickelte. Der Inbegriff großer Ambitionen.

Eilig, um dem nächsten Schneeschauer zuvorzukommen, gehe ich auf das enorme Glasportal zu. Die blankpolierte Glasdrehtür spuckt mich vor einem Rezeptionstresen aus, der wie die Kommandobrücke der Enterprise aussieht. Die Frau dahinter, eine makellose blonde Schönheit, erwartet mich mit einem perfekten Lächeln.

»Herzlich willkommen bei NeoStar«, sagt sie. »Ich bin Mandy. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Frida McKenzie. Ich habe einen Termin bei Clive Bailey, Personalabteilung.«

»Ich gebe ihm Bescheid, dass Sie da sind.«

Sie tippt einen Knopf auf ihrem Telefon an. »Hallo, hier ist Frida McKenzie für Mr. Bailey … Ist gut, ich sage es ihr.« Lächelnd legt sie den Hörer auf. »Wenn Sie auf dem Sofa Platz nehmen würden, Ms. McKenzie? Mr. Bailey wird gleich zu Ihnen herunterkommen.«

Ah, denke ich. Die persönliche Note. Nett.

Wie alles andere hier ist das Sofa etwa siebenmal so groß wie nötig. Ich sinke in die weichen lederbezogenen Kissen und betrachte den riesigen Bildschirm an der Wand gegenüber, auf dem die Werbung für das NeoONE läuft. In dieser Größe ist sie sogar noch faszinierender. Ich male mir gerade aus, wie es wäre, dieses Handy zu gewinnen, wie unwahrscheinlich bekannt ich dadurch werden würde, was für positive Auswirkungen das auf mein Geschäft hätte. Da höre ich meinen Namen.

»Hallo. Frida, nicht wahr?«

Ich schaue auf. Auf mich zu kommt ein Mann mit einer schwarzen hochgegelten Stachelfrisur und einem beträchtlichen Bauch über langen dürren Beinen. Das muss Clive Bailey sein. Auf seinem ballonartigen Gesicht erscheint ein freundliches Lächeln, während ich versuche, mich so graziös wie möglich aus der Lücke zwischen zwei Riesenlederkissen zu befreien.

»Ja. Clive, nehme ich an? Ich bin Frida McKenzie von McKenzie Familienrecht. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.«

»Wunderbar!«, sagt er. Seine runden Augen werden vor Begeisterung noch runder. »Wie schön, dass Sie gekommen sind! Wenn Sie mir folgen würden? Ich bringe Sie nach oben in einen Konferenzraum.«

Das ist gut. Jeder weiß: je höher die Etage bei NeoStar, desto wichtiger. Ich folge Clive zu einer Sicherheitsschranke mit einem großen, stämmigen Mann in schwarzer Security-Kluft daneben, der mit dem Kinn auf meine Handtasche deutet. »Tasche bitte auf das Band legen«, sagt er mit tiefer, gleichgültiger Stimme.

Ich werfe Clive einen fragenden Blick zu.

»Wir nehmen es mit der Sicherheit hier sehr genau«, sagt er mit breitem Grinsen, anscheinend findet er die ganze Situation höchst amüsant.

»Verstehe.« Ich lege die Tasche auf das Band. Während sie durch einen kleinen Tunnel fährt, gehe ich durch die Schranke und warte, bis sie wieder zum Vorschein kommt.

Im Lift schaue ich zu, wie Clive mit dem knochigen Zeigefinger mehrere Nummern auf dem Tastenfeld drückt: 1,2,0, den Stern. Dann stellt er sich mit verschränkten Armen hin und schweigt.

Ja, normalerweise mag ich es, wenn Leute den Mund halten können, aber Schweigen im Aufzug ist selbst mir unangenehm. »Hm, Clive«, sage ich schließlich. »Als ich mit Ihrer Assistentin den Termin ausgemacht habe, hat sie mir nicht viel darüber erzählt, worum genau es geht. Können Sie mir vielleicht sagen, wie das jetzt ablaufen wird? Und wer dabei sein wird?«

Clive schaut mich an, als hätte er schon vergessen, dass ich da bin. »Ah, ja. Nun, bei der Besprechung werden Sie alles erfahren.«

»Verstehe. Aber Ziel der Besprechung ist …?«

»Diese Frage zu beantworten. Genau!«

Aha. Klar wie Kloßbrühe. Ich gebe auf. Der Aufzug steigt und steigt, Etage um Etage, und kommt sanft auf der 120. zum Halten.

»Da wären wir«, sagt Clive. »Folgen Sie mir!«

In zügigem Schritt eilt er mir voraus einen sehr langen Flur entlang. Ich habe Mühe, mitzuhalten, meine Absätze sinken bei jedem Schritt in den dicken weichen Teppich ein. Clive wirkt ja schon etwas seltsam, andererseits sind bei vielen erfolgreichen Unternehmen wichtige Positionen mit Exzentrikern besetzt. Man kommt nicht auf neue Ideen, wenn man nicht sozusagen außerhalb der Schablonen malt. Wobei … wenn ich ihm so zuschaue, wie er mit zappelnden Schritten den Flur entlanghampelt, weiß ich nicht, ob ich ihm in meinem Büro auch nur die Buntstifte anvertrauen würde.

Vor einer soliden Eichentür, die exakt so aussieht wie alle anderen, an denen wir vorbeigekommen sind, kommt Clive abrupt zum Stehen. »Da wären wir.«

Kaum habe ich den Konferenzraum betreten, vergesse ich Clives merkwürdiges Verhalten komplett – stattdessen bekomme ich einen akuten Anfall von Arbeitsplatzneid. Das Erste, was ich bemerke, ist die Aussicht, die im Prinzip die ganze Stadt umfasst. Und dann die Einrichtung. Mein Gott, die Einrichtung! Unglaublich. Schon beim ersten Blick durch den Raum sehe ich etwas, das eine Ming-Vase sein muss, zwei Chippendale-Stühle und einen Schreibtisch aus dem achtzehnten Jahrhundert. Auf jeder freien Oberfläche stehen dekorative Stücke und Kunstwerke, bei denen mir schier die Augen aus dem Kopf fallen. An den Wänden hängen Dutzende Gemälde in Goldrahmen.

Unfähig, meine Begeisterung zurückzuhalten, drehe ich mich zu Clive um, der seltsamerweise im Türrahmen stehengeblieben ist. »Das ist ja unglaublich! Kommen Sie nicht mit rein?«

Er grinst wieder so komisch. »Nein, nein! Warten Sie einfach hier. Die anderen kommen sofort. Dort ist Kaffee, bedienen Sie sich.«

Ich nicke. Als sich die Tür vor seinem grimassierenden Gesicht schließt, bin ich erleichtert. Also war er nur der Lakai, der mich abholen sollte, Gott sei Dank. Während ich warte, kann ich mir auch einen Kaffee gönnen. Ich gehe zu dem Sideboard, auf dem eine Kanne verheißungsvoll vor sich hin dampft. Doch als ich mir eine Tasse einschenken will, rutscht mir die Kanne irgendwie aus der Hand und fällt krachend auf das Sideboard. Entsetzt muss ich zuschauen, wie sich eine Woge aus Kaffee über die polierte Oberfläche ergießt, in Bächen über die Kante strömt und auf den zweifellos unbezahlbaren Teppich pladdert. »Oh Scheiße.« Ich zerre eine Handvoll Kleenex aus der Tasche und wische so viel wie möglich davon auf. Ängstlich begutachte ich das Sideboard. Dem scheint die Kaffeedusche nicht viel ausgemacht zu haben; wahrscheinlich hat es eine wasserabweisende Beschichtung. Aber die Kaffeekanne ist gesprungen und – noch schlimmer – leer.

Toller Anfang, Frida.

Um nicht noch mehr Schaden anzurichten und mich etwas zu beruhigen, trete ich ans Fenster. Der Blick ist umwerfend. Das Rathaus, die Kathedrale, die Kirchen und Bürogebäude und Wohnhäuser, alles sieht winzig aus neben der Macht von NeoStar. Während ich hinausschaue, entladen die Wolken endlich ihre Fracht, und in dichten Schwaden beginnen weiße Flocken zu fallen. Es ist, als läge die Stadt in einer gigantischen Schneekugel. Plötzlich erfüllt mich eine immense Sehnsucht. Ich will all das hier: dieses Geld, dieses Prestige, dieses Leben, diese Aussicht. Ich schwöre mir, ich werde sie alle umhauen bei dem Meeting und mir diese Zukunft erstreiten.

Das heißt, falls hier mal jemand auftaucht. Wo sind die bloß?

Ich schaue auf mein Handy. Zehn Minuten sind vergangen, und niemand hat sich blicken lassen. Ob das ein Machtspielchen ist, ein Test, um zu sehen, wie ich reagiere? In der Geschäftswelt hat man ja schon merkwürdigere Dinge gehört. Ich beschließe, dass ich für dieses Treffen, wie lange es auch dauern wird, den doppelten Stundensatz berechnen werde. Sehnsüchtig blicke ich zur Kaffeekanne. Ich brauche dringend Koffein. Wo in aller Welt bleiben die? Hat mich Clive in den falschen Raum geführt?

Von dem einen seltsamen Kerl komme ich unweigerlich auf den nächsten. Ungebeten wandern meine Gedanken zu Dan. Zu dem, was er sagte. Prophezeiungen. Ein Pfeil. Nur ich kann helfen. Wie etwas aus einem Märchen.

Immer noch ist weit und breit niemand zu sehen oder zu hören. Ich reiße mich von der grandiosen Aussicht los und inspiziere den Raum genauer. Ich versinke in den Anblick zweier mit grüner Craquelé-Glasur überzogener Vasen, für die ich meine rechte Hand und wahrscheinlich sogar den linken Arm gegeben hätte. Dann bewundere ich ein Duo bronzener Pferdestatuetten, einen Art-déco-Spiegel und einen Wandteppich, der original mittelalterlich aussieht. Ich war ja schon vorher beeindruckt von NeoStar, aber das plättet mich völlig. Wie viel Geld haben diese Leute eigentlich? Dann schaue ich wieder auf die Uhr. Zwanzig Minuten jetzt, und immer noch niemand im Anmarsch. Allmählich ärgert mich das. Noch bin ich für die vielleicht ein kleines Licht, aber meine Zeit hat trotzdem ihren Wert.

Ich überlege, ob ich Clive anrufen und ihn fragen soll, was da los ist, dann fällt mir ein, dass ich seine Nummer gar nicht habe. Nur die seiner Sekretärin. Ich wähle sie an und nehme mir vor, auch gleich um mehr Kaffee zu bitten. Aber statt des Klingeltons kommt ein durchdringendes, in den Ohren schmerzendes Piepen. Besetzt. Frustriert beende ich den Anruf. Dann versuche ich es eben in fünf Minuten noch einmal.

Jetzt setze ich mich an den großen Konferenztisch, auf dessen blanker Fläche nichts als ein Stapel Notizblöcke in der Mitte liegt – natürlich mit dem Logo von NeoStar, samt dem Pfeil, der den nicht enden wollenden steilen Aufstieg des Unternehmens symbolisiert. Wobei man sich schon fragt, wie sie das eigentlich geschafft haben, wenn sie nicht mal einen verabredeten Termin pünktlich einhalten können. Oder vielleicht ist genau das der Punkt: Wenn man so mächtig ist, kann man machen, was man will, ohne noch auf irgendwas Rücksicht zu nehmen.

Mich zu entspannen bin ich nicht fähig, deshalb stehe ich wieder auf und erkunde weiter den Raum. Er ist zehnmal so groß wie mein Büro. Wieder denke ich daran, dass ich hier ernstzunehmendes Geld machen könnte, wenn diese Besprechung endlich mal anfangen würde.

Eine der Wände ist komplett mit Gemälden gepflastert. Ich betrachte das erste. Eine schlangenhaarige Medusa starrt mich an, mit wildem Blick, aus ihrem abgeschlagenen Hals tropft Blut, der Mund ist zu einem letzten Kreischen aufgerissen. Ich krause die Nase – komische Wahl für einen Konferenzraum. Dann zucke ich mit den Schultern. Vielleicht ein weiteres Machtspielchen. Ein Insider-Witz über Halsabschneider-Geschäftsmethoden.

Haha.

Weiter zum nächsten Gemälde. Es zeigt einen bleichen, pummeligen schlafenden Cherub, einen Cupido im Spiel von Licht und Schatten. Eigentlich ein unschuldiges Motiv, aber tatsächlich finde ich es vage bedrohlich. Hastig gehe ich weiter in der Hoffnung, dass das nächste Bild zum Beispiel eine hübsche, beruhigende Landschaft zeigt. Doch es ist sogar noch schlimmer. Es ist mir schon mal irgendwo in einer Zeitschrift begegnet, aber es hier in all seiner grausigen Pracht zu sehen ist von Neuem ein Schock. Bestimmt kann es nicht das Original sein. Es ist ein Goya, das monströse Bild, auf dem der Gott Saturn seinen Sohn verschlingt.

Ich schüttle den Kopf. Mir ist leicht übel. Sehr, sehr merkwürdig, das muss ich schon sagen. Rasch lasse ich den Blick über die restlichen Gemälde schweifen: eine nackte an einen Felsen gefesselte Frau; ein Mann in Ketten, der von einem riesigen Adler angegriffen wird; zwei weitere unbekleidete Frauen, die von zwei Reitern belästigt werden. Durch die Bank verstörendes Zeug. Ich bin entsetzt. In was für einen Konferenzraum passt solche Kunst? Dann fällt mir etwas auf: All diese Gemälde haben Motive aus der klassischen Mythologie.