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Was haben Kommissar Frank Fröhligs Exfrau, ein ausgewachsener Orkan und ein Bündel Schrumpfköpfe gemeinsam? Alle drei versauen ihm den Tag. Als Kommissar Fröhlig zu einem Tatort gerufen wird, ahnt er nicht, welches Ausmaß das Ganze einnehmen wird. Die fünf abgetrennten Köpfe sind nur der Auftakt einer Reihe perfider Ritualmorde, die gerade erst begonnen hat. Und als wäre das nicht alles belastend genug, mischt sich auch noch das LKA in seine Ermittlungen ein. Auf der Suche nach dem Mörder, dessen blutige Spur sich in den Tiefen des Duisburger Stadtwalds verliert, beginnt ein erbarmungsloses Wettrennen gegen die Zeit. Denn schnell wird klar: Der Killer hat ein weiteres unschuldiges Opfer in seiner Gewalt. Fröhlig muss es gelingen, in den Verstand des Serienmörders vorzudringen, ohne dass er Gefahr läuft, selbst zum Opfer zu werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
„Am Ende wird alles gut.Und wenn es das nicht ist, ist es noch nicht das Ende“Für Doris
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe Stock eISBN 978-3-8271-9784-9
Bernhard KlaffkeTotemwald
Das Böse ist ein verdorbener Ort,tief in unseren Köpfen.
Sie erlebte einen Moment der Klarheit, in welchem sie spürte, wie sich der Geist weigerte, ihren Körper zu verlassen.
Die junge Chinesin fühlte sich so unendlich müde. Sie war kaum noch imstande, die Augen weiter offen zu halten.
Xiangmei konnte die Wärme ihres eigenen Atems spüren, als sie den Kopf erschöpft auf der Matratze ablegte. Mit weit aufgerissenen Augen lag sie da und stierte apathisch in die Schwärze.
Seit Tagen hatte sie nichts mehr zu essen bekommen, und nun war es so weit. Der Zeitpunkt, den sie so schmerzhaft herbeigesehnt hatte, war gekommen. Der Gedanke ließ eine einzelne Träne über die schmutzige Wange laufen, hinterließ flüchtig das Gefühl von Wärme. Mit einem kurzen Ruck zog sie den Rotz zurück in die Nase. Unfreiwillig fing sie in der Finsternis an zu lächeln, und ein Gefühl der Dankbarkeit überkam sie. Dankbarkeit darüber, seiner kranken Fantasie nicht länger ausgeliefert zu sein. Dankbarkeit über den nahenden Tod. Nach alldem, was er ihr angetan hatte, und alldem, was er … Unfähig, dem Gedanken ein gutes Ende zu geben, drehte sich die junge Frau stöhnend vor Schmerz auf den Rücken, woraufhin die durchgelegene Matratze ein knatschendes Geräusch von sich gab. Noch im gleichen Augenblick bereute sie die unbedachte Bewegung. Reißend drang das spitze Ende der Feder tief in ihr Fleisch ein. Ruckartig krümmte sich ihr Rücken zu einem Bogen. Heiser keuchte sie auf, und klebrig warme Flüssigkeit quoll aus der entzündeten Wunde. Sie wollte schreien, aber sie besaß einfach nicht genügend Kraft. Der Schmerz brachte sie an den Rand dessen, was sie ertragen konnte.
Die Infektion war wie das Gift des Taipan durch ihre Adern gekrochen. Bis zu dem Punkt, wo der Wundbrand Halluzinationen hervorrief. So stark, dass sie zwischen Realität und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden wusste.
Für Stunden lag sie dann da, am ganzen Körper zitternd, gefangen in der selbst entworfenen Hölle.
Nervös fuhr die junge Frau auf und lauschte. Da war es wieder. Nur dieses Mal nicht ganz so laut. Angestrengt versuchte sie, sich auf die Richtung zu konzentrieren, aus der die Geräusche kamen. Xiangmeis Puls begann zu rasen, und Angst stieg in ihr auf. Wenn sie kamen, dann über das Wasser. Meist in kleinen Gruppen, zu dritt oder zu viert. Schützend zog sie das gesunde Bein näher zu sich heran. Während das infizierte zu pochen anfing und ein fürchterliches Reißen einsetzte. Mehr aus Angst als vor Schmerz biss sie in den stinkenden Stoff. Sie durfte keine Schwäche zeigen. Dem Gegner nicht zeigen, wie verwundbar sie geworden war. Rotz lief ihr aus der Nase, den sie mit dem Handrücken achtlos wegwischte.
„All das hier ist nicht real“, säuselte eine verführerische Frauenstimme an ihr Ohr.
„Hallo, ist da wer?“, hörte sie sich selbst wie durch Watte.
„Für all das hier gibt es eine ganz einfache Erklärung.“
Sie kannte die Stimme. „Oma Xiyué, bist du das?“
Ohne darauf einzugehen, sprach die Stimme im ruhigen Tonfall. „Kleine Xiangmei. Alles, was du tun musst, ist aufzuwachen.“ Raus aus diesem wahr gewordenen Albtraum. Wie oft hatte sie sich das gewünscht. „Tu es!“, feuerte die Stimme sie an.
Mit fiebrig zitternder Hand suchte sie nach der Naht ihrer Jeans. Folgte ihr bis hinunter zu der aufgerissenen Stelle, da, wo der süßlich-faulige Geruch seinen Ursprung nahm. Aus dem Reißen im Fleisch wurde schnell ein glühender Schmerz, je mehr Druck sie auf die entzündete Wunde ausübte. Trotz der Grabeskälte, die sie umgab, fühlte sie deutlich die eitrige Hitze. Xiangmei holte hörbar tief Luft. Unter dem steigenden Druck der Kiefer fingen ihre Zähne an zu knirschen. „Nur ein Traum“, flüsterte sie sich selbst zu. „Alles, was du tun musst, ist aufwachen.“ Wie in Trance fing sie mit brüchiger Stimme an zu zählen. „Drei, zwei“, nur so würde sie ihr Leben zurückbekommen, „eins!“ Wie der Stachel einer Hornisse bohrte sich der Finger tief in das nasse Fleisch. Während ein Farbenmeer aus Rot- und Gelbtönen auf ihrer Netzhaut explodierte, gellte ein markerschütternder Schrei durch die Schwärze des Raums. Noch nie hatte sie einen solch alles verzehrenden Schmerz erfahren. Das Gefühl, bei lebendigem Leib in Flammen zu stehen, brachte die Frau an den Rand der Ohnmacht.
Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange sie so dagelegen hatte, kurzatmig und mit einem Schweiß durchtränkten T-Shirt auf der Haut, das sich bei jedem Atemzug anfühlte wie ein seifiges Leichentuch. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Die Erkenntnis, in diesem Albtraum noch immer gefangen zu sein, oder die Gewissheit, dass es für sie kein Entkommen gab. Wieder gellte ein Schrei durch die Dunkelheit. Die junge Frau schrie so laut sie nur konnte. Schrie aus Verzweiflung und gegen die Angst. Angst, immer noch da zu sein, wenn er zurückkam.
Schluchzend lag sie zusammengekrümmt da. Schaute mit wässrigen Augen anklagend in das Nichts. Was hatte sie ihm nur getan, dass er sie so sehr hasste? Rotz lief ihr aus der Nase, tropfte leidenschaftslos auf ihre Hand. Dass er sie mit Verachtung und Ignoranz strafte, während dieses Monster sich an ihr immer und immer wieder verg…? Sie schluchzte. „Warum tust du mir das an? Was habe ich dir nur getan, dass du mich so bestrafst?“ In der Stille kam ihr jedes gesprochene Wort wie ein Schrei vor. „Lass mich doch gehen, bitte. Ich kann nicht mehr! Hörst du?“ Weinerlich flehte sie um Erlösung, schmeckte, wie das salzige Wasser ihrer Tränen die spröden Lippen benetzte. Das Martyrium hatte sie inzwischen an den Rand der vollkommenen Erschöpfung gebracht.
Abrupt ließ sie ein Chor aus hochfrequentem Fiepen hochschrecken. Die Ratten schienen zu spüren, dass von ihr keine Gefahr mehr ausging. Schon seit Tagen hatte der verführerische Duft von reifem Fleisch die Nager mutiger werden lassen. Bisher konnte Xiangmei die Brut noch auf Abstand halten, aber auch das war nur noch eine Frage der Zeit.
Geschwächt schob sie ihren geschundenen Körper zum Kopfende. Obwohl sie es besser wusste, hoffte sie, so den scharfen Zähnen der Nager zu entkommen. Das Fiepen nahm an Erbarmungslosigkeit zu, steigerte sich bis zu einer animalischen Kakophonie aus Gier und Lust. Inbrünstig betete sie, dass der Teufel so viel Anstand besaß, zu warten, bis sie erlöst war. Mit letzter Kraft bäumte sie sich auf.
„Verschwindet, Teufelsbrut!“, brüllte sie in Todesangst den Nagern weinerlich entgegen. Und plötzlich spürte sie, wie etwas auf das gesunde Bein sprang. Ohne darüber nachzudenken, packte sie den pelzigen Körper und drückte erbarmungslos zu, hörte den gequälten Laut einer Kreatur, die Todesqualen litt. Unter dem leisen Knacken der Wirbelsäule verstummte das Tier. Mit einem Mal kehrte Ruhe ein. Der Todesschrei des Artgenossen schien das übrige Rudel nachdenklich gestimmt zu haben. „So einfach werde ich es euch nicht machen. Da, ihr verfluchten Kreaturen“, mit diesen Worten schleuderte sie den schlaffen Körper zurück in die Dunkelheit, aus der er gekommen war. „Noch lebe ich!“
Benommen und halb von Sinnen sackte die junge Frau in sich zusammen. Nicht weit von ihr hörte sie ein dünnes kratzendes Geräusch … wie Kreide auf einer Tafel.
Mit einem Mal spürte sie, wie ihre Augenlider schwer wurden. Zu Anfang war es mehr ein Flattern, das aber schnell in eine bleierne Müdigkeit überging. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen. „Ruh dich ein wenig aus“, flüsterte die Stimme auf die junge Frau ein. „Lass los.“ Die junge Frau glaubte zu spüren, wie sie ihr sanft über die Stirn streichelte, fühlte die wohltuende Wärme der alten Hand auf ihrer Haut.
Es war kein trauriges Schluchzen, das sie von sich gab, vielmehr überwältigten sie ihre Gefühle. Vor ihr tauchte aus dem Nebel der Erinnerungen das Haus ihrer Familie auf.
„Xiyué?“ In diesem Moment konnte Xiangmei ihr Glück kaum fassen, und sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde vor Glück zerspringen. Die ganze Zeit über war sie nicht von ihrer Seite gewichen. „Oma Xiyué! Ich habe dich so sehr vermisst.“
„Ach, Kindchen. Was machst du nur für Sachen?“ Dann lachte die alte Frau gütig auf.
Auch Lăo war da. Der kleine tollpatschige Lăo. Der einzige Hund auf der großen weiten Welt, dessen Ohren gefühlt genauso lang waren wie seine tollpatschigen Pfoten. Gerade einmal so groß, dass er mühelos in einer Reisschale Platz fand. Jedoch mit einem Herzen, größer als das Reich der Mitte selbst. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie er an ihr hochgesprungen war. Wie aus dem Nichts saß er plötzlich da, der kleine Racker. Er kippte den pelzigen Kopf unmerklich zur Seite und schaute sie mit seinen Knopfaugen fragend an. So, als versuchte er zu verstehen. Xiangmei fühlte die kleinen tapsigen Pfoten, wie sie unsicher auf dem nassen T-Shirt nach Halt suchten. Spürte, wie sein kleiner dünner Schwanz aufgeregt umherpeitschte.
„Lass das, das kitzelt“, lachte sie laut auf. Lăo stupste auffordernd mit seiner feucht-warmen Schnauze gegen ihre Brust. „Gott, bist du dünn geworden. Ich spüre dich ja kaum noch.“ Gierig schnüffelnd tapste der kleine Vierbeiner flink über sie hinweg. Sie hätte schwören können, dass es auf einmal mehr als nur vier Pfoten waren, die da auf ihr Halt suchten.
Sie roch mit einem Mal den Duft von frisch geschlagenem Bambus. Zikaden zirpten in der aufgehenden Morgensonne. Die Frauen des Dorfes waren damit beschäftigt, junge Reisstecklinge in den Feldern auszubringen. Sie atmete tief ein, spürte, wie sich ihr Brustkorb wohltuend spannte. Als sie ausatmete, war sie endlich zu Hause.
Wie auf Kommando stürzten sich die Nager auf das bewegungslose Buffet, bissen mit ihren kleinen scharfen Zähnen ganze Stücke aus dem noch warmen Fleisch, zerrten missgünstig an den Brocken der anderen, bis die Gier sie zu einem quirligen, pelzigen Knäuel verwachsen ließ.
Sonntag
Mit Blick auf das, was sich da draußen abspielte, fiel ihm die Entscheidung nicht sonderlich schwer. Morgen früh würde er zu seinem Hausarzt gehen und sich für die restliche Woche krankschreiben lassen. Problem erkannt, Problem gebannt. Fröhlig lümmelte sich bei dem Gedanken daran tiefer in die Kissen der Couch. Er lauschte dem Regen, wie er in Böen gegen die Fensterscheiben prasselte, und schloss die Augen. Eigentlich war das Zentrum des Sturms erst für die Abendstunden angekündigt.
Dem Gedanken noch am hinterherhinken, explodierte plötzlich ein lavendelfarbenes Licht auf seiner Netzhaut. Gefolgt von einem markerschütternden Donnerschlag. Der Blitz musste in unmittelbarer Nähe zum Haus eingeschlagen sein und ließ die Fensterscheiben bedrohlich vibrieren. Frank Fröhlig zog die Schultern an und ließ den Kopf dazwischen knirschend kreisen. Das Sixpack Bier auf dem Balkon stand in Sicherheit, und im Kühlschrank warteten die Reste einer Pizza vom Vortag.
In der Nacht rechneten die Meteorologen mit Windgeschwindigkeiten von bis zu hundertachzig Stundenkilometern, was aus dem anfänglichen Sturm einen ausgewachsenen Orkan machte. Allein bei dem Gedanken schauderte es ihm. Einem peruanischen Hochlandbauer gleich warf er sich die Tagesdecke über.
Ein weiterer Blitz zuckte grell auf und tauchte das Wohnzimmer in eine gespenstische Kulisse.
Mit einem Wisch zog er sich die Tagesdecke ein wenig höher über die Schultern. Keine zehn Pferde brachten ihn bei diesem Unwetter vor die Tür.
Bei dem Versuch, die Fernbedienung mit den Füßen zu erwischen, spürte er eine kaum wahrnehmbare Vibration auf Höhe der Hüfte. Nicht stark, aber gerade doch so intensiv, dass er sie nicht ignorieren konnte. Genervt nestelte er das Smartphone aus der Tasche seines Morgenmantels. Das konnte doch unmöglich jetzt ihr Ernst sein? Diese Frau ließ wirklich keine Gelegenheit aus, ihm das Leben zur Hölle zu machen.
BIST DU NOCH NÜCHTERN? S.
Mahnend prangten die Großbuchstaben auf dem blassen Display, wobei das S für Sabine stand. Exfrau und direkte Dienstvorgesetzte beim KK 11 – zuständiges Kommissariat bei Ermittlungen in Todes-, Brand-, Waffen- und Sprengstoffdelikten jeder Art. Und seit ihrer Scheidung seine ganz persönliche Nemesis. Sie konnte doch angesichts des Sturms unmöglich von ihm verlangen, dass er jetzt da raus ging?
Erneut brummte das Gerät kurz hintereinander. Missmutig warf er einen weiteren Blick auf das Display.
HAUS HARTENFELS IN DREIßIG MINUTEN!
Kurz überlegte er, dann tippte er die Antwort nicht weniger laut in die Maske ein.
VERGISS ES!!!
Allerdings mit nicht weniger als drei expressiven Ausrufezeichen. Nur um seiner Ex zu verdeutlichen, wie er die Sache sah. Fröhlig drückte auf Senden und warf das Gerät lieblos ans andere Ende der Couch. Argwöhnisch betrachtete er das Smartphone, welches nach gut einer Minute noch immer stumm dalag.
Ein ungutes Gefühl überkam ihn, dass sich die Angelegenheit irgendwie noch nicht erledigt hatte. So schnell würde sie nicht aufgeben. Gleichgültig setzte er die Flasche an die Lippen. Das Bier war wärmer geworden, schmeckte aber noch immer gut. Bis durch das bräunliche Glas schwach ein Licht schimmerte. Fröhlig setzte die Flasche ab und warf einen sauertöpfischen Blick auf das andere Ende der Couch. Seine Ex war wirklich hartnäckig.
KTU IST VOR ORT, M. IST AUF DEM WEG!!!!
Was für ein durchtriebenes Miststück sie doch immer noch war. Nur ein einziger Buchstabe und vier Ausrufezeichen. Bloß keinen Druck aufbauen, geisterte es ihm durch den Kopf.
„M.“ konnte für ihre beste Freundin und Polizeipräsidentin stehen, ebenso gut aber auch für Melanie Kramer, die Gerichtsmedizinerin.
Auf Erstere konnte er gut und gerne verzichten, denn wenn es nach Frau Polizeipräsidentin ginge, würde er schon längst im Duisburger Norden auf Streife gehen, müsste im Wechseldienst knechten, und an Urlaub wäre gar nicht zu denken. Abgesehen von dem Berg an Überstunden, den er bis zu seiner Pensionierung aufgebaut hätte. Er hasste sich für das, was er als Nächstes tat.
Nur widerwillig tippte er die beiden Wörter in das Smartphone.
BIN UNTERWEGS.
Dann drückte er auf Senden. Keine Viertelstunde später stand er im Hauseingang und schlug den Jackenkragen nach oben. Der Wind war eisig und dicke Regentropfen pladderten senkrecht auf die überspülte Straße. Sein Blick fiel auf die Plakatwand von gegenüber. Darauf rannte eine Horde rüstiger Rentner gut gelaunt vom Strand herüber ins karibikblaue Wasser. Und als wäre das angesichts der herrschenden Umstände nicht schon frustrierend genug, stand in sonniger Schrift darüber: Wir kennen keinen Winter. Er wollte gar nicht erst anfangen, sich auszurechnen, wann er in den Sonnenuntergang reiten konnte. Sofern er es überhaupt bis dahin schaffte.
Mit jeder Windböe neigte sich die Plakatwand tiefer, bis die Verankerung der Naturgewalt nichts mehr entgegenzusetzen hatte und sie krachend zu Boden ging. Wie ein havariertes Schiff trieb der Sturm die Wand weiter vor sich her. Ein Blitz, gefolgt von einem Donner, untermalte die dystopische Szenerie für den Bruchteil einer Sekunde.
Als das Taxi endlich um die Ecke bog, stand die halbe Straße schon knöcheltief unter Wasser. Die Bugwelle, die das Taxi auslöste, trieb Blätter und Äste vor sich her. Im Scheinwerferlicht bemerkte Fröhlig kleine Geysire, die aus Kanaldeckeln emporstiegen. Angesichts der anströmenden Wassermassen musste die Kanalisation maßlos überfordert sein.
Misstrauisch blickte er nach oben. Helle Lichtblitze durchzogen die pechschwarze Wolkendecke, die augenscheinlich an Fahrt zugenommen hatte. Inzwischen hing sie so tief, dass er glaubte, sie mit den bloßen Händen berühren zu können.
Die wenigen Meter bis zum Wagen würde er niemals trockenen Fußes schaffen. So viel war schon mal klar.
Als er die Tür zum Taxi aufriss, erwartete ihn ein knochiger Alter, der problemlos als die väterliche Version von Doktor Schiwago durchgegangen wäre.
„Söhnchen, was in drei Gottes Namen treibt dich bei diesem Bärenwetter auf die Straße?“
Aufgrund des Akzentes musste es sich bei dem Mann um einen Osteuropäer handeln.
„Bärenwetter?“, erkundigte sich Fröhlig fragend, während er das Wasser von Hose und Jacke strich.
„Ist gut für Pelz von totem Bär, aber beschissen für Mensch.“ Dabei lachte der Alte trocken auf. „Sag, Söhnchen, wohin möchtest du, dass ich dich bringe?“
„Stadtgrenze Mülheim Ruhr, Haus Hartenfels“, kam die Antwort kurzgehalten.
„Ah, großes Haus von Kriegsprofiteur und kapitalistischer Feind von Väterchen Russland.“ So unrecht hatte der Alte nicht. Das Gebäude war damals Klöckners Antwort auf die Villa Hügel in Essen-Bredeney.
Erst als das Taxi nach gut zehn Minuten den Parkplatz des Zoos passierte, fiel Fröhlig auf, wie wenig Menschen tatsächlich noch unterwegs waren. Selbst hier, wo sich Prostituierte zu jeder Stunde und bei jedem Wetter anboten, herrschte eine merkwürdige Friedhofsatmosphäre. Keine vierhundert Meter weiter bog der Wagen rechts ab, verringerte die Geschwindigkeit und kam zum Stehen.
Fröhlig schwante nichts Gutes. „Was ist los? Warum halten wir?“
„Ist zu gefährlich. Bäume brechen wie Streichhölzer bei diesem fürchterlichen Sturm.“ Fröhlig schaute den Fahrer entgeistert an. „Teufel noch eins, da draußen tobt ein Sturm.“ Entrüstet klopfte er gegen die nasse Scheibe.
„Was ist los mit dir, Söhnchen, reicht es etwa nicht, wenn du alleine draufgehst?“ Nur widerwillig zahlte Fröhlig den angezeigten Betrag, verlangte aber zum Missfallen des Alten einen Beleg.
Mit weit hochgeschlagenem Kragen öffnete er die Beifahrertür und spürte umgehend den beißenden Wind. Der Weg war zwar asphaltiert, dafür aber zu beiden Seiten von hohen Nadelbäumen flankiert. Sprich, nichts was einem ausgewachsenen Sturm auch nur das Geringste entgegenzusetzen hatte. Skeptisch warf er einen Blick auf das Trümmerfeld vor sich. Überall lagen entwurzelte Bäume und armdicke Stämme, deren Geäst ihm den Weg weitestgehend versperrte. Es war einfach unverantwortlich, ihn bei diesem Sturm hierherzuzitieren.
Kurz überlegte er, morgen früh als Erstes mit seinem Gewerkschaftsvertreter zu sprechen, schließlich hatte auch er Rechte. Und plötzlich hörte er das Geräusch von berstendem Holz. Noch im gleichen Augenblick vergaß er all seine Vergeltungsabsichten. Gerade noch rechtzeitig sprintete er wie von der Tarantel gestochen los. Krachend schlug hinter ihm ein mannsdicker Ast auf den Asphalt und hinterließ ein wahres Trümmerfeld. Fröhlig kam erst wieder zum Stehen, als er das schwere Eisengitter der Villa erreicht hatte. Keuchend und nach Luft schnappend stemmte er die Arme in die Hüfte. Nahm ein paar tiefe Atemzüge, bevor er einen Blick zurück über die Schulter warf. Erst als ein Blitz die Szenerie matt erhellte, begriff er sein tatsächliches Glück. „Wie heißt es so schön bei den Bestattern? Die Arbeit kommt, wenn einer geht.“ Dem Anschein nach war seine Zeit noch nicht gekommen. Der Regen kroch kalt in seinen Nacken und es fröstelte ihn. Am liebsten hätte er sich jetzt eine angezündet, doch dieses Laster hatte er sich auf Anraten des Polizeiarztes schon so gut wie abgewöhnt.
Die Flutscheinwerfer von THW und KTU warfen von der Rückseite ein gespenstisch wirkendes Licht auf Haus Hartenfels. Alfred Hitchcock hätte das Gemäuer nicht besser in Szene setzen können. Still betrachtete er die architektonische Scheußlichkeit. Die Bezeichnung Monstrosität wurde diesem Haus nicht einmal im Ansatz gerecht. Das Burgschloss war nicht nur riesig, so etwas konnte sich wirklich nur leisten, wer Kriegsprofiteur im ganz großen Stil gewesen war.
Das THW hatte mit seinen blauen Lkw Amtshilfe geleistet und seine imposanten Scheinwerfer erhellten die nächtliche Szenerie. Überall liefen Gestalten in weißen Overalls aufgeregt umher. Zwischendurch blieb die eine oder andere stehen und warf einen ängstlichen Blick in den pechschwarzen Nachthimmel. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an Teletubbies, deren Dopaminspiegel entschieden zu hoch war. Ab und zu bückte sich mal ein Tinky Winky, eine Laa-Laa – oder hieß das Ding Po? – nach vorne, um anschließend etwas in ein Asservatentütchen zu stecken, machte Fotos oder steckte Fähnchen in den vom Regen durchweichten Boden. Abseits geparkt standen die Streifenwagen der Trachtengruppe sowie die beiden schneeweißen Transporter der KTU. Fröhlig kniff die Augen zusammen und hielt die Hand abschirmend gegen das grelle Licht der Flutscheinwerfer.
Wo, verdammt, stand der Dienstwagen von M.? Wie ein Indianer suchte er die nähere Umgebung ab. Innerlich ärgerte er sich über seine Naivität. Nach all den Jahren sollte er es eigentlich besser wissen.
„Frank!“ Ihr Tonfall war unmissverständlich.
„Wenn man vom Teufel spricht.“ So etwas nannte man dann wohl eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Er steuerte auf das Zelt zu, unter dem seine Ex Schutz gesucht hatte. „Kannst du mir vielleicht sagen, wo du die ganze Zeit über gesteckt hast?“ Sie klang vorwurfsvoll mit einem Hauch von Autorität. Eine Mischung, die er nur allzu gut kannte. Ganz offensichtlich hatte jemand sie verärgert, aber das war nicht sein Problem.
„Im Ernst? Die Straßen sind komplett überflutet. Auf den Straßen herrscht das absolute Chaos. Mich hat eben fast ein Blitz gegrillt, und der Taxifahrer wollte nicht weiter als bis zur Monning fahren.“ Dabei setzte er das „fast“ in sarkastische Anführungszeichen.
„Frank, dein Unterton ist hier fehl am Platz.“ Dabei rümpfte sie leicht die Nase. „Hast du etwa getrunken?“
„Hast du mich nur hierherzitiert, um mich einem spontanen Alkoholtest zu unterziehen? Verdammt, Sabine, es ist Sonntag, und ja, ich hatte ein Bier oder vielleicht auch zwei. Ist das etwa verboten? Millionen von glücklich geschiedenen Männern machen so etwas, weißt du? Das nennt sich Freizeit, solltest du auch mal probieren!“ Ein aufkommendes süffisantes Grinsen konnte er gerade noch rechtzeitig unterdrücken.
„Schön, dass du deine Bestimmung gefunden hast, aber eine Frage habe ich da noch, Frank.“ Sie wusste sehr wohl um die Wirkung einer wohlplatzierten Pause. „Bisher war ich der Auffassung, dass Alkohol während einer Rufbereitschaft ein absolutes No-Go ist. Sollte sich diesbezüglich in den Dienstvorschriften was geändert haben, lass es mich wissen.“ Ihr Blick war so frostig wie der einer Schneekönigin.
Verdammt, Rufbereitschaft! Innerlich schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. Das war der Grund dafür gewesen, warum sein Handy eingeschaltet war. „Okay, und was haben wir hier?“, versuchte er den Fauxpas mit Gleichmut zu überspielen.
„Oh, das wird dir gefallen.“
Fröhligs Laune verbesserte sich schlagartig, als er die dunkle Stimme der Gerichtsmedizinerin erkannte. Melanie Kramer hatte einen dieser weißen Einwegoveralls an, aber selbst darin machte sie eine umwerfende Figur.
„Herrje, Mel, wie schaust du denn wieder aus, haben dich deine Eltern früher nie im Dreck spielen lassen?“ Fröhlig griente bei ihrem Anblick wie ein Honigkuchenpferd.
„Das musst gerade du sagen. Siehst selbst aus wie eine abgesoffene Kanalratte. Bist du etwa den ganzen Weg hierher zu Fuß gelaufen?“ Beinahe schon mitleidig musterte sie sein Äußeres.
„Du weißt doch, dass ich ein harter Hund bin. Nur weil es angefangen hat zu regnen, hält es mich doch nicht davon ab, meinen Job zu machen. Ich weiß, das siehst du ein klein wenig anders.“
„Hahaha!“, lachte die Mittvierzigerin übertrieben laut auf. „Das sagt mir der Richtige. Wessen Büro steckt denn im Blinddarm der Behörde, damit ihn bloß alle in Ruhe lassen?“
„Touché!“, sagte er selbstironisch. Der Punkt ging an sie.
„Ach, komm her, Entlein, lass dich umarmen.“ Er hasste es, wenn sie ihn in der Öffentlichkeit so nannte. In Amsterdam waren sie allesamt sturzbetrunken in ein Tätowierstudio gefallen. Nur leider war der Inhaber nicht weniger stoned gewesen als sie selbst. Erst am darauffolgenden Morgen wurde ihnen das gesamte Ausmaß ihres Saufgelages bewusst. Der stolze Adler vom Vorabend entpuppte sich im Morgengrauen als gerupfte Ente.
Er spürte die Wärme ihres Körpers und wie sich ihre Becken kurz berührten. Wie ein durchnässter Pudel stand er da und genoss die menschliche Wärme ihrer Zuneigung.
„Okay, das reicht jetzt. Ihr könnt euch später immer noch ein Zimmer nehmen.“ Der Blick, den Sabine Mel zuwarf, war eine Mischung aus Vorwurf und weiblichem Unverständnis. Beinahe so, als hätte sie von ihr einen besseren Geschmack erwartet.
„Ist es das da, warum du mich hierherzitiert hast?“ Auf einem Asservatentisch lagen vier mit Schlamm überzogene kugelartige Gebilde. Alle nicht größer als eine Kokosnuss und penibel in Reihe abgelegt.
„Ja, Frank, und sobald deine Hände wieder da sind, wo sie hingehören, kann ich es dir auch zeigen.“
„Nur ungern, Frau Doktor, aber wenn du unbedingt darauf bestehst.“ Seine Hand löste sich von ihrer Hüfte und streifte mit sanftem Druck die Wirbelsäule empor, was der Gerichtsmedizinerin einen wohligen Schauer bescherte.
„So, Schluss jetzt. Konzentrieren wir uns doch bitte alle wieder auf unsere Arbeit.“ Sabine wechselte von einem Bein auf das andere.
„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, Frau Polizeirätin Fröhlig?“, grinste Mel spitzbübisch.
Sabine kannte Melanie Kramer gut genug, um zu wissen, dass sie mit ihrem Ex nur spielte.
„Mel, ich bitte dich! Nicht einmal, wenn du ihn mit Nutella bestreichst.“
„Bist du da sicher, vielleicht entgeht dir ja was?“
„Danke, aber wie du dich sicherlich erinnerst, hatte ich schon das Vergnügen. Den faden Beigeschmack habe ich bis heute nicht vergessen.“
Mit nach oben gezogenen Mundwinkeln griff die Gerichtsmedizinerin zielsicher nach einer von drei milchigen Spritzflaschen. Da, wo der feine Wasserstrahl die modrige Masse traf, löste sich der Dreck und spritzte zu allen Seiten. Winzige Ästchen und Reste von verrottetem Material lösten sich von der schlammigen Kugel. Mit jedem Spritzer legte der dünne Strahl mehr Details frei. Fröhlig glaubte eine Art Ballen zu erkennen. Ähnlich einem Sellerie. Erneut traf ein gezielter Strahl die amorphe Kugel. Mehr und mehr trat eine glatte, glänzende Oberfläche zum Vorschein. Mel neigte das unförmige Gebilde im Licht der Lampen in verschiedene Richtungen. An den Stellen, wo noch Verunreinigungen anhafteten, drückte sie erneut die Plastikflasche zusammen.
Fröhlig glaubte zu erkennen, was Mel da in Händen hielt.
Das war der Kopf eines Menschen, nicht viel größer als ein herkömmlicher Handball. Schweigend ergriff er ihre Hand und zog den Kopf so näher zu sich heran.
Mund und Augen waren mit grobem Garn vernäht. Die Frage, ob post mortem, würde Mel später klären. Beinahe schon zärtlich strich Fröhlig mit dem Rücken seines Fingers über den Schädel. Die Haut war ledrig und auf unnatürliche Weise glatt, was für Leichenteile im Allgemeinen eher ungewöhnlich war. Und der Umstand, dass der Kopf über längere Zeit der Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen sein musste, widersprach der Textur der Epidermis grundlegend. Ebenso wie der Umstand, dass Menschen, die erst kurz zuvor ertrunken waren, einen Schaumpilz vor dem Mund ausbildeten. Er bog Mels Hand entgegen dem Uhrzeigersinn. Doch angesichts des Wundrandes an der Amputation und dem groben Garn, mit dem Lippen und Augen vernäht waren, erübrigte sich die Frage nach der Todesursache. Stillschweigend drehte er den Kopf in seine ursprüngliche Position zurück. Auch gab es keine Venenzeichnungen auf der schwarzen Haut. Danach war die Liegezeit von mehreren Wochen entweder noch nicht erreicht oder weit überschritten. Ferner fehlte von der Leichenlipidbildung, die sich nach ein bis zwei Monaten ausbildete, jede Spur.
„Was hast du vor?“ Inständig hoffte Mel, dass er als Nächstes nicht an dem Kopf leckte. Bei Frank wusste man nie.
Fröhlig zog Mels Hand so weit zu sich heran, dass er dem Schädel direkt in die eingefallenen Augenhöhlen blickte. Dann schnupperte er zaghaft an ihm. Wäre er länger als sechs Monate tot, sollte das pastenartige Leichenlipid zu riechen sein. Doch weder an den vernähten Körperöffnungen noch am Hals roch er irgendwie ranzig.
„Wie lange, sagtest du noch gleich, hat das Kerlchen hier im Schlamm gelegen?“
„Diesbezüglich habe ich mich noch gar nicht geäußert, Frank. Mit absoluter Gewissheit kann ich erst dann was dazu sagen, wenn sie bei mir auf dem Tisch liegen. Und im eigentlichen Sinn lagen die Köpfe auch nicht im Schlamm. Vielmehr haben wir sie aus dem Swimmingpool gefischt.“ Dabei nickte sie in die Richtung, aus der er gekommen war. „Der Schlamm stammt aus dem Naturfaserbeutel, in dem sie lagen. Ich vermute, dass das organische Material sich nach und nach darin abgelagert hat. Was auch die starken Anhaftungen erklärt.“
„Also lagen sie im Wasser?“, sagte er mehr zu sich selbst.
„Wie vorhin erwähnt, Entlein, alles Weitere nach der Obduktion.“
Mel reichte ihm kommentarlos ein Paar Nitril-Handschuhe. „So wie ich dich kenne, willst du dir bestimmt ein eigenes Bild machen?“
Seine nasskalte Haut erschwerte das Überstreifen der blauen Einweghandschuhe. Also blies er sie wie ein Kondom auf.
Die schwarze Haut wirkte zäh und spannte sich an der Stelle, wo sich der Wangenknochen befand. Sie war keinesfalls dick wie Papier und schon gar nicht so dünn wie bei mumifizierten Leichnamen. Merkwürdig war auch, dass die kompletten Konturen des Gesichts wie aus der Perspektive gerückt erschienen. Sämtliche Proportionen stimmten nicht mehr überein. Die Mundpartie war extrem geschwollen und trat auf unnatürlich Weise hervor. Ähnlich wie bei einer missglückten Schönheits-OP. Augen und Lippen waren grob vernäht, wobei ihm erst jetzt auffiel, dass sich die Technik der Stiche voneinander unterschied. Die Lippen des Opfers hatten Überkreuz-Stiche. Hingegen waren die Augenlider parallel vernäht.
„Kannst du schon sagen, ob das Garn industriell ist?“, sagte er, ohne Mel dabei anzuschauen.
„Nicht mit Bestimmtheit. Wenn du mich allerdings als Privatperson fragen würdest, würde ich aufgrund der grob zerfaserten Struktur des Materials auf ein pflanzlich hergestelltes Garn tippen. Vielleicht Sisal oder Hanf.“
Beide Ohrläppchen wiesen ausgefranste Löcher auf. Entweder waren sie postmortal geweitet worden oder der oder die Tote trug zu Lebzeiten Ringe in den Ohren. Solche, die das Loch extrem spreizen sollten.
Für Irritation sorgte weiterhin die Haut des Toten. Sie war viel zu glatt und ledrig, als dass sie über einen längeren Zeitraum dem Wasser hätte ausgesetzt sein können. Selbst wenn es sich dabei nur um wenige Stunden handelte, musste eine Waschhaut vorhanden sein. Vergleichbar mit einem ausgiebigen Bad in der Wanne. Hier aber besaß sie die Textur eines Kinderpopos und obendrein die abnorme Farbe von Ebenholz. Also das absolute Gegenteil von dem klassischen Grau einer Wasserleiche. Er hatte schon Bilder von Moorleichen gesehen und die bekannteste war der Mann von Toll aus Dänemark. Der Unglückliche lag achttausend Jahre im Moor. Farbe und Oberflächenstruktur waren nahezu identisch. Nur besaß Duisburg keine Moore, zumindest keines, von dem er wusste. In Fröhligs Kopf wirbelten die Jahrhunderte umher. Das einzige Ritual, das ihm bekannt war, bei dem die Gesichtsöffnungen verschlossen wurden, entstammte dem Aberglauben des Vampirismus. Fröhlig fingerte blindlings in dem Werkzeugkoffer der Gerichtsmedizinerin. Bekam die Darmschere zu fassen und drückte mit dem kugelartigen Auslauf in die ledrige Haut.
„Hm?“ Sie war widerstandfähiger als vermutet. „Wie lange, sagtest du noch gleich, lag der Schädel im Wasser?“
„Hörst du mir eigentlich zu, wenn ich mit dir rede?“
„Männlich oder weiblich?" Dabei schaute er Mel fragend an.
„Zur Geschlechtsbestimmung eignen sich das Becken, ein Oberschenkelknochen oder idealerweise der Schädel. Nur leider liegt uns dergleichen nicht vor. Siehst du hier die erhobenen Säume um die Augenhöhlen? Bei Männern sind sie eher rechteckig mit abgerundeten Rändern. Oder hier, die Stelle, wo sich das Jochbein befinden sollte.“ Mel deutete mit der Spitze des Kugelschreibers auf knapp unterhalb der Augenhöhle. „Man kann deutlich die ausgeprägten Vorsprünge erkennen. Selbst ohne vorhandenes Knochenmaterial. All dies sind Indizien dafür, dass der Kopf einer männlichen Person zuzuordnen ist.“
„Was heißt, ohne Knochenmaterial?“ Irritiert schaute er sie an. „Ist das jetzt ein Schädel, ja oder nein?“
„Lass es mich so formulieren, Frank: Wenn unser Täter sich an die originale Rezeptur gehalten und er den Schrumpfkopf nach den Gebräuchen und Riten der Indigenen fertigte, muss der Schädelknochen zuerst entfernt werden. Denn anders ist eine Reduktion um ein Drittel des ursprünglichen Umfangs kaum möglich.“
„Was genau meinst du mit Riten, Schrumpfkopf und Rezeptur?“ Fröhlig runzelte bei seiner Frage die Augenbrauen.
„Nach den Röntgenaufnahmen und der DNA-Analyse weiß ich mehr. Oder wie ich mehrfach schon erwähnt habe, nachdem sie bei mir auf dem Tisch lagen.“ Dabei griente sie spöttisch.
Fröhlig spürte, wie Zweifel in ihm aufkeimten. Klar, nichts, was es nicht gibt. Zu oft hatte er schon in den Abgrund menschlicher Existenzen geblickt. Sexualdelikte mit abnormen Folterspuren. Zerstückelungen, Verbrennungen, während die Opfer vor Schmerz den Verstand verloren. Kinder, denen man nichts mehr zu essen brachte, bis aus den Betten das Gejammer für immer verstummte. Kinder waren sowieso das Schlimmste. Manchmal brauchte es Wochen, bis das Erlebte verarbeitet war. Einiges hatte sich aber auch für immer in sein Gedächtnis gebrannt. So erging es vielen seiner Kollegen. Und jetzt lief da draußen auch noch einer herum, der Schrumpfköpfe herstellte. Unmerklich legte sich seine Stirn in kurze Falten.
„Ihr beide wollt mich doch verarschen, oder?“ Dabei zeigte er mit der Fingerpistole auf Mel. „Wollt ihr mir wirklich weismachen, dass es sich hierbei um einen real existierenden Schrumpfkopf handelt? Ich meine, selbst wenn und wirklich nur dann, sollte er nicht wenigstens hundert bis hundertfünfzig Jahre alt sein? Frühes Zwanzigstes Jahrhundert, viktorianische Epoche oder so? Die Zeit der Gruselkabinette und makabren Sammlerstücke.“ Kurz überlegte er, dann fuhr er sichtlich amüsiert fort: „Jetzt einmal ganz im Ernst, Mel. Ich habe wirklich den höchsten Respekt vor deiner Arbeit, aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gruselsouvenir tatsächlich von den Schultern eines Mannes stammt? Vermutlich ist das Ding von der Cranger Kirmes, und irgendein Besoffski sitzt dahinten im Busch und lacht sich halb schlapp über uns. Hast du das auch schon in Betracht gezogen?“
„Wenn ich dich kurz in deinen induktiven Ermittlungsansätzen unterbrechen darf?“, ging Sabine dazwischen. „Das ist nicht alles. Mel ist bei einem der anderen Schädel ein weiteres Detail aufgefallen.“
Er lachte kurz auf. „Wie viel von diesen Schießbudentrophäen Made in China gibt es denn insgesamt?“
„Sie sollten das hier besser ernst nehmen, Herr Fröhlig.“ Am liebsten hätte sie ihrem Exmann dafür eine geklebt, denn genau diese Art von Verhalten hatte über die Jahre dazu geführt, dass er als das galt, was er war: nicht teamfähig und ein reaktionäres Arschloch, das unberechenbar blieb. Und eine Gefahr für jeden Kollegen, der in der Abteilung noch an Karriere dachte. Manchmal fragte sie sich, warum sie immer noch die schützende Hand über ihn hielt. Mit Romantik im klassischen Sinn konnte es auf jeden Fall nichts zu tun haben. Selbst M. forderte seit Jahren seinen Skalp. Doch aus irgendeinem Grund brachte sie es einfach nicht fertig, ihn ans Messer zu liefern. Vielleicht war es Nostalgie, vielleicht aber auch etwas, das sie noch immer nicht bereit war, sich einzugestehen.
„Mit dem hier ...“, Mel drehte den Arm hinter dem Rücken hervor und präsentierte einen weiteren Schädel. Noch etwas unförmiger und gänzlich ohne Haare. „ ... sind es bisher fünf!“
„Bisher?“
„Bisher haben wir zwei solcher Beutel im Swimmingpool gefunden. Einer der beiden war zerrissen, ich vermute, durch Tierfraß. Weshalb ich weiter vermute, dass wir auf dem Grund des Pools weitere menschliche Überreste finden werden, was wiederum erst dann zur absoluten Gewissheit wird, wenn die Taucherstaffel irgendwann ihre Arbeit aufgenommen hat.“ Mel klang irgendwie leicht angefressen.
„Die kommt allerdings erst dann raus, wenn sich der Sturm gelegt hat“, ergänzte Sabine ihre Ausführungen.
„Was für Weicheier“, raunte Fröhlig abschätzig.
Mel hielt ihm immer noch den Schädel entgegen. Die Geste erinnerte ihn stark an Goethes Faust. Dabei fiel ihm etwas ins Auge: Dieser hier war rundherum kahl. Mel musste ihn kurz zuvor gereinigt haben, denn die glatte Haut war gut zu erkennen. Auch dass das Kerlchen hässlich wie die Nacht war und er sich fragte, ob durch den Schrumpfungsprozess oder ob es diesen Makel schon zur Lebzeiten besessen hatte.
„Ich bin zwar kein ausgeschriebener Experte für Schrumpfköpfe, aber selbst ich sehe, dass dieses Exemplar keinerlei Haare mehr besitzt.“
„Gut erkannt, Herr Kommissar.“ Fast schon gelangweilt klatschte Sabine ihm Beifall.
„Sehr gut, Frank.“ Mel hingegen strahlte förmlich. „Und genau das ist es, was mich stutzig macht. Wie gut kennst du dich eigentlich mit dem Alten Testament aus?“
„Lass es mich so formulieren: Bisher gab es Wichtigeres in meinem Leben.“
„Und was soll das gewesen sein?“, erkundigte sich seine Ex bissig.
„Eine der bekanntesten Geschichten des Alten Testaments ist die von Dalila und Samson. Dalila schnitt, der Überlieferung nach, für hundert Silberlinge Samsons langes Haar ab und beraubte ihn so seiner Kraft. Bei den Navajos, das sind Native Americans, die …“
„Danke, Mel, aber ich weiß, was ein Indianer ist!“
„Die Navajos“, fuhr sie geduldig fort, „deren Stammesgebiet größtenteils Arizona zuzuordnen ist, sind die Pedanten unter den Abergläubischen. Sie achten peinlichst genau darauf, dass nicht ein einziges Haar achtlos auf dem Boden liegt. Ihrem Glauben nach kann das Böse sich dadurch ihrer Stärke bemächtigen. Oder nehmen wir die Lakota. Deren Spiritualität bezieht sich ebenfalls zu einem großen Teil auf ihre Haare.“
„Komm zum Punkt, Mel, worauf willst du eigentlich hinaus?“
„Der Punkt ist, in dem Aberglauben vieler Menschen nimmt das Haar seit Jahrtausenden eine große Machtposition ein. Deswegen ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass dieser hier kein einziges Haar mehr besitzt, eher ungewöhnlich. Kein Haupthaar oder Augenbraue, selbst die Wimpern fehlen ihm. Beinah ist es so, als wären sie ihm allesamt ausgefallen.“
„Schon einmal an Chemo gedacht?“, fragte er ungerührt.
„Darauf komme ich gleich noch mal zurück. Was ich dir aber ursprünglich zeigen wollte“, sie deutete mit der Spitze des Kugelschreibers auf die Stelle, wo der Hals glatt vom Rumpf getrennt war.
„Schau genau hin, was fällt dir auf?“
„Die Klinge hat den Kopf unterhalb des Schildknorpels und der beiden Wirbel C3 und C4 glatt durchtrennt. Die äußeren Wundränder sind, abgesehen von Verwesungsspuren, glattrandig. Knochen und Knorpel verfügen über keine Sägeschnitte.“ Er drehte den Schädel um die eigene Achse. „Der Schnitt erfolgte mit einem einzigen Hieb. Die Splitter sind alle gleich tief und weisen in dieselbe Richtung. Vielleicht ein Schwert oder was Vergleichbares?“ Etwas zu selbstverliebt gab er der Gerichtsmedizinerin den Kopf zurück.
„Nicht schlecht, Herr Kommissar, aber das Wesentliche hast du übersehen. Da, unterhalb des Hinterhaupts- und Schläfenbeins.“ Mel drehte den Schädel jetzt so, dass dieser gegen das Zeltdach starrte.
„Ich sehe vier rechteckige Balken, die jeweils einen rechten Winkel ergeben. Ist das eine Tätowierung, Mel? Ein Stammesabzeichen oder etwas Vergleichbares?“ Fröhlig schaute sie fragend an.
„Tätowierung ja, Stammesabzeichen könnte man eventuell sogar gelten lassen.“ Dabei kippelten Daumen und kleine Finger zu beiden Seiten. „Das, was du da siehst, ist nur die Hälfte eines Symbols, das bis heute seinen Schrecken nicht verloren hat."
„Aha“, Fröhlig zuckte unbeeindruckt mit den Schultern, „und muss ich es kennen?“
„Solltest du. Diese Barbaren haben dafür Sorge getragen, dass Millionen von Menschen ins Unglück gestürzt worden sind. Will sagen, Frank, was du da siehst, ist meines Erachtens nach die Hälfte eines Hakenkreuzes.“
„Okay, also haben wir einen Nazi, der vor ca. fünfundsiebzig Jahren in irgendeinem moskitoverseuchten Dschungel Mikronesiens ’nen Kopf kürzer gemacht wurde? Herzlichen Glückwunsch, wenn auch verspätet. Mel, schau dich doch mal um.“ Er machte eine ausladende Geste in Richtung des Haupthauses. „Es würde mich nicht wundern, wenn der Führer in persona hier verscharrt liegt. Findest du nicht auch, dass das hier eher ein Fall für Indiana Jones als für das KK 11 ist?“ Dabei schlug er den Jackenkragen hoch.
„Die ältesten uns bekannten Tätowierungen“, holte die Gerichtsmedizinerin aus, „sind um die fünfzehntausend Jahre alt. Diese Art zu stechen aber erst vierzig. Das Design dieser Tätowierung ist im neotraditionellen Stil gehalten. Was wiederum bedeutet, dass der Schädel frühestens in den Anfängen der Achtziger abgeschlagen wurde. Comprende, el Sr. Jones?“
„Hm“, Fröhlig kratzte sich den nassklammen Nacken, „was ist mit den anderen? Gibt es vergleichbare Merkmale?“
„Du meinst, ob sie auch tätowiert sind? Die Frage kann ich dir nicht beantworten, zumindest noch nicht. Glatze hier habe ich mir als Erstes angeschaut, da er auf der Oberfläche des Pools dümpelte.“
Fröhlig musste grinsen, Luft war bekanntermaßen leichter als Wasser. „Wer hat die Schädel gefunden, Sabine?“
„Ein Mitarbeiter der Security, der im Auftrag der Immobilienfirma das Gelände bewacht.“
„Und wo treibt sich der Zeuge im Augenblick herum?“, spöttelte er leicht ironisch.
„Die Kollegen von der Streife haben ihn nach Hause gefahren. Mir erschien es angesichts des Unwetters zu gefährlich, ihn hier draußen unnötig einer Gefahr auszusetzen“, sagte Sabine mit jovialem Unterton.
„Ich verstehe!“ Innerlich hätte er sie am liebsten gewürgt.
„Mel, ihr beide braucht mich doch nicht mehr, oder?“, schnurrte seine Ex, wobei sie demonstrativ zu gähnen anfing.
„Nein, wir kommen auch ohne dich klar, Süße. Geh du nur schlafen“, sagte Mel mit verständnisvoller Miene.
„Du bist die Ärztin.“ Seine Ex machte auf dem Absatz kehrt und winkte zum Abschied ein letztes Mal.
Fröhlig hasste es, wenn zwischen den beiden kein Blatt mehr passte.
„Wenn du möchtest, Entlein, kannst du auch nach Hause fahren.“
„Im Ernst, Mel?“, erkundigte er sich ungläubig.
„Im Moment stehst du mehr im Weg herum, als dass du von Nutzen bist. Die wenigen verwertbaren Spuren, die der Sturm übrig gelassen hat, musst du nicht auch noch kaputt trampeln.“
„Du bist die Allerallerbeste, Mel.“
„Los, mach, dass du ins Warme kommst, bevor du dir noch eine Lungenentzündung einfängst.“
Er drückte sie so fest an sich, dass ihre Füße den Bodenkontakt verloren. „Hör auf, du Spinner, bevor ich es mir noch anders überlege.“
Montag
Der Weg zur Polizeiinspektion Mitte glich einem Hindernislauf. In der Nacht hatte der Sturm seine ganze Zerstörungskraft entfacht. An den Orten, an denen THW und Feuerwehr noch nicht gewesen waren, säumten abgerissene Äste und entwurzelte Bäume die Straßen. Überall lagen umgeworfene Mülltonnen herum und verteilten ihren stinkenden Inhalt über das gesamte Stadtgebiet.
Dächer waren abgedeckt und Autos durch umherfliegende Dachziegel in wertlosen Schrott verwandelt. Seit gestern Abend war das Sirenengeheul ununterbrochen allgegenwärtig.
Als die Sicherheitsschleuse zur Polizeiinspektion Mitte sich öffnete, begrüßte Fröhlig einen völlig übernächtigten Kollegen. Er kannte den Mann, verspürte aber keinerlei Ambitionen, sich vor dem zweiten Kaffee überhaupt mit einem lebenden Wesen zu unterhalten. Sein Büro lag abseits der regulären Gänge, weswegen ihm auch der unschöne Beinamen Wurmfortsatz der Behörde anhaftete. Die mit braunem d-c-fix beklebte Tür versprühte den Charme einer längst vergangenen Epoche. Fröhlig steckte den Schlüssel ins Schloss und gab ihr einen unterstützenden Tritt. Zielsicher warf er die Jacke über den Garderobenständer und schaltete das Licht ein. Schon aus dem Augenwinkel sah er das rote Lämpchen des Anrufbeantworters nervös blinken. Jemand hatte versucht, ihn zu erreichen, und war penetrant genug gewesen, beharrlich zu warten, bis die Maschine ansprang.
In der Mitte des Büros stehend, versuchte er, eine Entscheidung zu treffen. Kaffeemaschine oder Anrufbeantworter? Just in dem Moment, in dem sich die Kaffeemaschine zum Sieger erklärte, revidierte das Telefon die Entscheidung.
Diese Situationen waren es, die er so oft schon versucht hatte, ihr zu erklären. Gerade erst zur Tür herein, und schon ging sie ihm auf die Nerven. Sabine konnte erzählen, was sie wollte; aus seiner Sicht war das reine Schikane!
Also gut, sie war eine erwachsene Frau, und es war ihre Entscheidung. Außerdem, warum sollte er aus seiner aufkommenden schlechten Laune eine Mördergrube machen? Sie waren beide ja nicht mehr miteinander liiert.
„Was?“, giftete er in den Hörer.
„Kannst du mir verraten, wo du die Nacht über gesteckt hast?“, kam es ihm keinen Deut weniger genervt entgegen. „Und warum war dein verdammtes Handy schon wieder ausgeschaltet?“
„Das Erste geht dich bekanntermaßen nichts mehr an und zum zweiten Teil deiner Frage: Ich habe geschlafen.“ Fröhlig stellte das Telefon auf Lautsprecher und schritt zur Kaffeemaschine herüber.
„Frau Doktor Kramer und ich haben versucht, dich zu erreichen.“ Sabine nannte Mel nur dann Frau Doktor, wenn es offiziell wurde. Was bedeutete, dass sie sich nicht alleine im Büro aufhielt.
„Was ist denn so außergewöhnlich wichtig, dass ihr ohne mich nicht zurechtkommt, hm?“
„Frank, provozier’ mich lieber nicht.“ Das Beben in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Ich bin heute Morgen für deinen infantilen Humor nicht sonderlich zu haben. Ist das bei dir angekommen, Herr Kriminalkommissar?“
„Jawohl, Frau Kriminalrätin.“ Und schlug die Hacken zackig zusammen.
„Ich gebe dir fünf Minuten.“
Zu seiner großen Überraschung ging von Sabines Büro nicht, wie sonst üblich in solchen Situationen, ein tumultartiger Lärm aus. Entweder war die Show gelaufen oder das Ermittlungsteam machte brav Männchen und klebte an den Lippen seiner Ex.
Anders als die seinige besaß ihre Bürotür eine dunkle Mahagonifurnierung, die erst mit der polierten Edelstahlklinke perfekt in Szene gesetzt wurde. Im Gegensatz zu dem, was er als sein Büro bezeichnete, war ihres ein wahrer Vorzeigearbeitsplatz. Höhenverstellbarer Schreibtisch, ein Bürostuhl mit elektrisch verstellbarer Lordosenstütze, und selbst die Espressosiebträgermaschine glänzte, als wäre sie das Hochzeitsgeschenk eines Zylonen gewesen. Wie üblich verschwendete er auch jetzt keinen Gedanken daran, anzuklopfen.
Zu seiner großen Überraschung hielten sich nebst seiner Ex nur noch ein Mann und eine weitere Frau im Teenageralter in dem Raum auf. Der Mann war grob geschätzt keine ein Meter achzig groß und von untersetzter Statur. Besaß eine fliehende Stirn, deren geregelter Seitenscheitel seine Mischhautprobleme nur mangelhaft kaschierte. Auffällig waren hingegen das schmale Menjou-Bärtchen sowie die vergoldete John-Lennon-Brille, die, wie er vermutete, mit dem braunen Rollkragenpullover in Korrespondenz treten sollte. Der Effekt sollte wohl beim Betrachter das Gefühl von intellektueller Überlegenheit aufkommen lassen.
Was die junge Frau, die teilnahmslos aus dem Fenster starrte, anging, da tippte er auf die verwöhnte Göre eines höhergestellten Beamten. Vielleicht ein kurzfristig arrangierter Praktikumsplatz innerhalb der Behörde, den ihr Daddy durch Missbrauch seiner Position bei Sabine einforderte. Gott, wie er solche Seilschaften hasste!
„Frank, du erinnerst dich noch an Jørgen, den damaligen Leiter der KTU des Landeskriminalamts Düsseldorf?“
Der Mann drehte sich gemächlich zu ihm herum. Die kleinen Schweinsaugen wirkten wie Porzellankugeln hinter Fensterglas.
„Herr Fröhlig, wie schön, Sie einmal wiederzusehen. Wie ich sehe, ist es Ihnen gut ergangen.“ Dabei tätschelte er feist grinsend in Anspielung den eigenen Bauch.
Natürlich erinnerte er sich. Wie sollte er diesen gelackten Affen auch vergessen. Ein Aal war nicht weniger glitschig als er, nur weniger in sich selbst verliebt.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Jørgen. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie nach der Sache mit Berlin die Karriereleiter weiter nach oben gefallen sind?“ Und wenn es so war, dann hatte diese Made das ausschließlich ihm zu verdanken.
„Korrigieren Sie mich, Frank“, zwei seiner Finger spreizten sich und strichen über das Menjou-Bärtchen. „Haben wir damals nicht die gleiche Geheimhaltungsvereinbarung unterzeichnet? Ihrem Zögern entnehme ich, dass es so war.“ Neckisch fing sein ausgestreckter Zeigefinger in seine Richtung zu wackeln an. „Aber so viel will gesagt sein, das Resultat meiner überaus fruchtbaren Zusammenarbeit mit Ihnen hat eine ganz spezielle Klientel aufmerksam auf mich gemacht. Und ja, es gibt in der Tat Bemühungen von Seiten der Staatskanzlei, mich nach Düsseldorf zu holen.“ Dabei konnte sich diese kleine Schmeißfliege ein selbstgefälliges Grinsen kaum verkneifen.
„In dem Zusammenhang möchte ich dir auch gleich Frau Kriminalhauptkommissarin Julia Stern vorstellen. Frau Stern ist ebenfalls vom LKA Düsseldorf“, grätschte Sabine beschwichtigend dazwischen.
Fröhlig überlegte, von wo Jørgen sie möglicherweise rekrutiert haben konnte. Die Frau hätte gut und gerne seine antiautoritär erzogene Tochter sein können. Doch jetzt, wo er sie genauer betrachtete, schätzte er sie älter ein, vielleicht auf Anfang dreißig. Die grüne Bomberjacke, die durch einen grauen Kapuzenpulli akzentuiert wurde, korrespondierte übergangslos mit der Jogginghose, die den krönenden Abschluss ihres urbanen Outfits bildete. Wobei es eigentlich das raspelkurz geschnittene schwarze Haar war, das sie jünger aussehen ließ.
„Fröhlig, freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Kollegin.“ Und streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen.