5,49 €
Auch Auftragsmörder gehen irgendwann einmal in Rente. Und eigentlich wollte Siegfried Hausmann seinen wohlverdienten Ruhestand in der Senioren Residenz zur goldenen Krone in aller Ruhe verbringen. Kein Stress, keine Hektik. Nur er und ein außerordentlich gut gefülltes Bankkonto. Das Einzige was ihn daran hindert den Plan in die Tat umzusetzen, sind seine neuen Mitbewohner. Der russische Auslandsgeheimdienst, mehrere Tote, ein geplantes Attentat auf den deutschen Bundestag, sowie die zweite große Liebe seines Lebens. Mehr zu mir und meiner Person finden Sie unter https://www.bernhard-klaffke.de
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 461
Veröffentlichungsjahr: 2019
Place de Treize Coinsm,
Marseille
»Oh, là, là, mein lieber Munis, lass es langsam angehen.« Sich vor Lachen den Bauch haltend, liefen Frederick Bertrand Tränen der puren Lebensfreude übers Gesicht.
Trotz der vielen Jahre war sein russischer Akzent immer noch sehr stark zu spüren.
Docteur Munis Fanges versuchte nüchterner zu wirken, als er in Wirklichkeit war. Mit beiden Händen fest die Stuhllehnen umklammernd, drückte er sich aus der Enge des Bistrostuhls
empor.
»Contenance, mein Lieber, Contenance «, lachte sein Gegenüber laut auf. »So viel war es doch auch wieder nicht. Oder verträgst du in deinem biblischen Alter nichts mehr«?
Das tiefe Lachen des Russen hallte sonor durch die schmalen Gassen Marseilles. Es war ein guter Abend. Ein
heilender.Alte Geschichten wurden neu erfunden und
männliche Heldentaten mit voranschreitendem Alkoholpegel
immer fantastischer, je öfter die beiden alten Männer das Glas erhoben. Gelegentlich zerrten sie an dem kleinen Kranz sauren Weißbrots, das in einem Weidenkörbchen zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Stippten die Fetzen genüsslich in ein Schälchen mit Olivenöl und bestreuten es mit etwas Fleur de Sel.
Es war mittlerweile die zweite Flasche Weißwein, die sie gelehrt hatten. Munis verharrte kurz in der Bemühung sich aus dem Bistrostuhl zu erheben, als ein tiefer Seufzer seinen Lippen entwich. Dann gaben die Ellbogen nach und er sank breit grinsend zurück in die Ausgangsposition. Frederick kam nicht umhin, den kleinen Anflug von Schwäche zu bemerken und kommentierte diesen auch umgehend.
»L´araignée est vielle.«(Die Spinne ist alt geworden.)
Das herzhafte Lachen seines besten Freundes durchschnitt erneut die Stille auf dem kleinen Platz an der Rue du Petit Puits. Erst der zweite Versuch in die Senkrechte zu kommen brachte Munis den gewünschten Erfolg. Einen Arm tief in die Hüfte gestemmt streckte er seinem Gegenüber in Shakespeare-Manier die ausgestreckte Hand entgegen.
»Niemals!«, rief Munis theatralisch und etwas lallend
aus. »Der Mensch hat, neben dem Trieb der Fortpflanzung, dem Essen und dem Trinken, noch zwei weitere nur allzu
irdische Leidenschaften. Nämlich Krach zu machen u… und so lange nicht damit aufzuhören, bis … bis er es geschafft hat ...« Munis stieß leicht auf. »...betrunken aber glücklich den Heimweg anzutreten!«
Frederick Bertrand neigte den Kopf leicht zur Seite und rieb sich nachdenklich den Hinterkopf. »Kasper Hauser?«
»Nein, mein Guter,« lallte Frederick zurück. »Tucholsky. Der gute alte Kurt und ... ein ganz klein wenig ich.«
Albern kichernd wie zwei pubertierende Schuljungen hielten sich die beiden Männer die Hände vor den Mund. Die Bar de 13 Coinsim Panier war nicht ihr bevorzugter Treffpunkt. Um aber der einen oder anderen lokalen Schönheit hinterherschauen zu können, war sie ein willkommener und abwechslungsreicher Ort. Älteren Männern unterstellte man ja gerne eine gewisse Lüsternheit.
Marseille hatte in den letzten Jahren eine massive
Veränderung durchlebt. Die historischen Häuser waren für viel Geld an Spekulanten gegangen, die diese anschließend zu Luxuseinheiten umbauten und als Spekulationsobjekte auf den Immobilienmarkt zurückwarfen. Das aufkommende Innviertel mit Nähe zum Hafen sprengte danach für jeden Eingeborenen den
Rahmen des Erschwinglichen.
Zielsicher griff Munis nach dem Gehstock, den ihm Frederick lächelnd reichte.
»Mein alter, lieber Freund«, flüsterte Munis
verschwörerisch. »Das werden wir beide nicht mehr erleben, dass ich die Haltung verliere.« Elegant machte er einen Ausfallschritt zur Seite und drehte eine virtuose Pirouette. Mit viel Fantasie und gutem Willen erinnerte das Ganze an Gene Kelly, in Singin in the rain. Wobei sein Stock den
Laternenpfahl ersetzte undnur der Regen schon seit Wochen auf sich warten ließ. Auch an der Côte d’Azurwar der Klimawandel mittlerweile angekommen.
Frederick klatschte begeistert in die Hände. »He can’t act, he can’t sing and he can’t dance!« Und verfiel abermals
seiner russischen Seele.
Munis bedankte sich angemessen mit zwei angedeuteten Verbeugungen bei seinem ein Mann-Publikum. Die in die Jahre gekommene Umhängetasche vor der Brust und den Stetson Strohhut tief ins Gesicht geschoben, schaute er zu Frederick. »Es war ein sehr schöner Abend, mein alter Freund.« Mit einem schnellen Blick auf die Armbanduhr korrigierte er die Aussage. »Morgen, ein sehr schöner Morgen!Und ziehst du noch weiter, Frederick?«
»Haha, bist du des Wahnsinns? Nikolett dreht mir jetzt schon den Hals um.«
»Na dann.« Breit grinsend drehte sich Munis auf dem Absatz herum, lüftete kurz den Hut und tänzelte leicht beschwingt davon.
»Mein lieber Monsieur Docteur, das ist der falsche Weg!« Frederick deute mit der Hand in die entgegengesetzte Richtung.
»Aaalles in Ordnung Frederick, ich muss noch eben einen Brief einwerfen. Das hatte ich eigentlich schon heute Mittag vor«, antwortete Munis über die Schulter hinweg und verschwand ins schummerige Licht der Rue du Petit Puits.
Zwei Uhr dreißig! Er verfluchte jetzt schon den kommenden Morgen. Nicht, dass jemand oder etwas zu Hause auf ihn warten würde. Doch zu dieser nachtschlafenden Zeit sollten definitiv nur noch nachtaktive Nager und Katzen unterwegs sein. Und keine alten Männer. Andererseits, wen interessierte es, wenn er sich die Nächte bei Pastisund Wein um die Ohren schlug? Die Rechnung bezahlte er ohnehin ganz alleine und spätestens beim Sonnenaufgang. An solchen Abenden sollte man nicht auf die Uhr schauen, sondern ausschließlich das Leben genießen.
Gut gelaunt ging er beschwingt die kleine Straße entlang. Sie war eine dieser typischen Gassen im Quartier. Leicht gedrungen, die Fassaden der Häuser im Schein der Laternen ins Ockergelb getaucht, was bei ihm immer ein Gefühl wohnlicher Wärme verursachte. Auf Höhe der Rue Ballard stoppte er, öffnete die Umhängetasche und zog einen braunen Papierumschlag aus einem der Fächer. Ein Teil der Tasche bestand aus grobem, altem Bauernleinen. Seine Frau hatte ihn immer wegen der Tasche aufgezogen, er wirke mit ihr wie einer dieser distinguierten Herren aus einem schlecht verfilmten Hemingway-Roman. Er öffnete die Klappe mit dem Schriftzug, Autres département étranger,und ließ den Umschlag in den Briefkasten gleiten. Keine zehn Meter weiter, an der Rue du Petit Puits,Ecke Rue Rodillat,hielt er kurz inne. Seit dem Motorausfall in Österreich, am 11. Oktober 2008 machte ihm das linke Bein immer mal wieder zu schaffen. Während er versuchte das schmerzende Bein zu massieren, richtete er zufällig den Blick in Richtung der Rue des Pistolesauf die gegenüberliegende Seite des kleinen Marktpatzes, wo sich die Eingangstür zu seiner Wohnung befand.
Die zwei finsteren Typen hatten es sich in den Stühlen des kleinen Restaurants La Terrasse Du Panierbequem gemacht. Trotz der Entfernung und dem Licht der wenigen, noch funktionierenden Straßenlaternen waren ihre bulligen Gestalten gut zu erkennen. Mit einem ganz miesen Gefühl in der Bauchgegend ging Munis instinktiv in die Hocke. Der darauffolgende stechende Schmerz im linken Bein löste bunte Explosionen auf seiner Netzhaut aus.
»Merde, nicht jetzt!« Und lockerte seinen Oberschenkel mit zwei gezielten Schlägen auf den seitlichen Oberschenkelmuskel. So gut es ging schlich er in gebückter Haltung zu der flachen Steinwand gegenüber. Der Platz vor ihm lag etwas erhöht und war von einer Mauer eingefasst. Eine gute Position, um sich in Stellung zu bringen. Er griff in die äußere Jackettasche und zog vorsichtig sein Smartphone hervor. Zu einem Spiegel zweckentfremdet, schob er es langsam über den Rand der Mauer. Sein mieses Bauchgefühl verringerte sich bei dem Anblick der beiden Neandertaler kein Stück, eher das Gegenteil war der Fall. So weit von einander entfernt saß definitiv kein Liebespärchen, nicht einmal dann, wenn einer der beiden Gorillas ihren Hochzeitstag vergessen hatte. Wer waren diese Typen, und was wollten sie von ihm? Behutsam schwenkte er das Smartphone in einem Halbkreis hin und her und versuchte, im spiegelnden Display die Umgebung zu scannen. Munis lehnte sich mit dem Rücken zur Mauer und ließ das Gerät zurück in seine Jackentasche gleiten. Nur um es den Bruchteil einer Sekunde später wieder in seiner Hand zu halten. »Gott Du wirst wirklich alt, mein Lieber.«
Hektisch drückte er auf eine der seitlichen Tasten und stellte den Regler auf lautlos.
»Pffff, genau das hätte jetzt noch gefehlt.« Diese Rappelkisten hatten schon einige Kollegen in die Bredouille gebracht. Leise huschte er weiter in geduckter Haltung an der flachen Mauer entlang bis zur Mitte des Platzes. Wenn sie es wirklich auf ihn abgesehen hatten, dann waren die beiden Turteltäubchen aller Voraussicht nach nicht allein. Andererseits für wirkliche Profis hielt er sie nicht. Dafür erschien ihm das hier alles zu amateurhaft in Szene gesetzt. Zu plakativ. Oder hielten ihn die Auftraggeber mittlerweile etwa für senil und unachtsam? Dass er eine solch stümperhafte Inszenierung nicht mehr zu interpretieren wusste? Erneut mit dem Rücken zur Mauer hockend bemerkte er erst jetzt die Glasscherben wenige Meter vor ihm. Sein Blick schoss die Häuserwand empor. Anstelle einer Glasabdeckung inclusive des Leuchtmittel baumelte da nur noch eine leere Lampenfassung lieblos im Gehäuse. Sehr wahrscheinlich waren die Laternen mithilfe von Schalldämpfern ausgeknipst worden, um die Nachbarschaft nicht zu wecken.
»Wie rücksichtsvoll«, schmunzelte Munis in sich hinein.
Erneut schob er das Smartphone zur Mauerkante und erkundete die nähere Umgebung. Auf Höhe der Ecke Rue du Panierund Rue du Refugebemerkte er ein pulsierendes, hellrotes Leuchten. Nachts, auf freier Fläche, konnte man einen Raucher auf bis zu fünfhundert Meter ausmachen.
Das war dann wohl Nummer drei! Dieser sollte definitiv den Nebeneingang zu seiner Wohnung im Auge behalten. Weitere Gestalten konnte er von seiner jetzigen Position nicht ausmachen. Weder an den Dachkanten noch in anderen Winkeln der Umgebung waren verräterische Silhouetten zu entdecken.
Er war sich jetzt ziemlich sicher was diese Typen anging: Das waren grobschlächtige Schläger, bestenfalls arbeitslose Geheimdienstler, die für Geld so ziemlich alles taten. Aber mit Sicherheit waren sie keine Spezialisten. Dilettanten, denen jemand eine Waffe finanziert hatte und dann aus sicherer Entfernung den Befehl zum Töten gab. Gebückt schlich er einige Meter rückwärts – bis zu einem Punkt, von dem aus der Raucher ihn nicht erspähen konnte, er hingegen die zwei Gorillas ohne Problem ins Visier bekam. Geräuschlos stellte er den Stock an die Mauer und öffnete seine Umhängetasche. Nur drei Sekunden später hielt er in Händen, wonach er gesucht hatte. Eine VP9, 28cm Lang und schwarz wie die Nacht. Ein sogenannter Silencer. Die Pistole war zwar etwas umständlich in ihrer Handhabung, dafür aber extrem geräuscharm. Sanft stellte er die Umhängetasche zu seinen Füßen ab und legte den Hut daneben. Dann brachte er sich hinter einem Pfeiler des über ihm einzementierten Geländers in Stellung und fixierte sein Ziel. Auf etwa neun Meter schätzte er die Distanz zum ersten der beiden Männer ein. Es kam auf den passenden Moment an, und der wäre gekommen, wenn beide sich voneinander abwandten.
Zwei entscheidende Nachteile gab es bei der Waffe in seinen Händen. Zum Ersten war sie potthässlich, und zum anderen war sie eine sogenannte Single Action Pistole. Was bedeutete: Ein Schuss und der Verschluss am hinteren Ende musste gedreht werden. Nur so konnte die Pistole die nächste Patrone aus dem Griffmagazin nachladen. Da konnten wenige Sekunden bis zum nächsten Schuss zu einer verdammten Ewigkeit werden. Munis atmete bewusst durch die Nase ein und den Mund wieder aus und wartete. Dann trat genau die Konstellation ein, die er sich gewünscht hatte. Ein Geräusch wie das eines Kieselsteins, den man gegen eine Sandsteinmauer wirft, drang aus dem schwarzmatten Ende des Laufs. Schnell drehte er den Warzenverschluss der Pistole nach rechts und die heiße Messinghülse fiel aus dem Seitenauswurf punktgenau in den Strohhut.
Die Kugel hatte den ersten Kandidaten getroffen. Sie war von unten rechts ins Keilbein eingedrungen und hatte anschließend den Stirnlappen zerfetzt.
Munis neigte den Kopf leicht zur Seite. »Numero uno fatto!«
Erneut glitt die schwarze Hässlichkeit aus ihrer Deckung und gab einen tödlichen Schuss auf den zweiten Schlägertypen ab.
Klack! Das Projektil fand den Weg von unten links durch das Hinterhauptbein ins Kleinhirn, welches daraufhin das Mittelhirn in eine breiige Masse verwandelte.
Jetzt galt es sich zu sputen. Er musste, so schnell es die Situation zuließ, unbemerkt zur Rue du Panier wechseln, um eine direkte Schusslinie zum Raucher zu erhalten. Blitzschnell streifte er seine Lederschuhe ab und spürte wie bei jedem Schritt, den er machte, sich kleine spitze Steinchen durch die Socken bohrten. Mit vor der Brust angewinkelter Waffenhand rannte er so schnell er konnte hinüber zur anderen Straßenseite. Rasch schaute er sich um. und suchte die Horizonte der Dächer ab. Nichts! Von dem neu bezogenen Standpunkt aus konnte ihn der Raucher unmöglich ausmachen. Munis presste sich so dicht er konnte an die Häuserwand. Schritt für Schritt näherte er sich jetzt lautlos seinem Gegner. Nichts ahnend, was gleich über ihn hereinbrechen würde, stand dieser machomäßig an eine Hauswand gelehnt, leicht versetzt im Halbdunkeln der nächsten Seitengasse. Mittlerweile hatte der Raucher die Zigarette so gedreht, dass die Handfläche die Glut verdeckte. Das Ganze erinnerte stark an einen Film mit Jacques Brel, nur dass auch hier der Regen fehlte. Den linken Daumen hatte der Typ lässig in die vordere Hosentasche gesteckt, während der Griff eines überdimensionierten Colts rechts aus dem Hosenbund ragte. Er war eher von schmaler Statur und erinnerte Munis stark an ein Frettchen. Genau in dem Moment, als der Unbekannte die Zigarette wegwerfen wollte, schaute er in MunisʼRichtung.
Das Letzte, was der arme Teufel mit sichtlich verdutztem Gesicht sah, war ein alter Mann auf Socken, der mit einer Pistole auf sein Gesicht zielte.
Die dritte Kugel durchschlug das Stirnbein des Fremden und versenkte sich im Stirnlappen. Die Wucht des Projektils war so stark, dass der Kopf des Mannes gegen die Wand hinter ihm schlug. Oberkörper und Beine stellten augenblicklich ihren Dienst ein, und der Körper sackte an der Häuserwand langsam zu Boden. Unten angekommen rutschte allerdings das mobile Telefon aus der Jackentasche des Mannes und glitt laut scheppernd über das Kopfsteinpflaster.
»Merde!«,Munis zog die Schultern hoch und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das Gerät schlitterte weiter ungebremst weiter bis zur Straßenmitte, wo es dann endlich verstummte.
»Sorin?«hörte Munis plötzlich eine Stimme aus dem kleinen Apparat. »Sorin, răspunde, la naiba! Sorin, zi ceva, la naiba!«(Sorin, melde dich, verdammt!)
»Rumänisch?« Schoss es durch Munis Kopf. Er drehte den Verschluss seiner Waffe ein viertes Mal nach rechts, doch jetzt fiel die Hülse nicht gedämft, sondern ungebremst auf den Boden. Scheppernd durchschnitt das Geräusch der tänzelnden Messinghülse die Stille der Nacht. Munis zog den Kopf noch etwas tiefer zwischen die Schultern und entkrampfte sich erst, als die Hülse ihren Drehimpuls verloren hatte.
Eine Sekunde später öffnete jemand in nur wenigen Metern Entfernung vorsichtig eine Wagentür. Von seinem jetzigen Standort aus war die Gefahr einfach zu groß, entdeckt zu werden. Munis mußte eine Entscheidung treffen. Entweder hier bleiben und Gefahr laufen gesehen zu werden. Oder Deckung in der Nische eines verlassenen Ladenlokals auf der anderen Straßenseite zu suchen. Die Pistole im Anschlag sprintete er los. Auf Höhe der Straßenmitte verlangsamte er das Tempo und griff nach dem Telefon des toten Rumänen. Munis spürte, wie sich seine Pulsfrequenz erhöhte und sein Hals anfing zu pochen. Mit etwas Glück würde der andere ihn erst bemerken, wenn es für ihn zu spät war. Da hörte er, wie jemand sich der Nische näherte in der er Deckung gesucht hatte. Ein, zwei Sekunden war es Totenstille in der Straße. Dann flüsternd beinahe schon heioser. »Sorin, răspunde, la naiba!« (Sorin, melde dich!)
Munis kam nicht umher die leichte Vibration in seiner Stimme zu vernehmen.
»Verdammt hör mit dem Scheiß auf!« Die Unsicherheit schien bei dem Rumänen der Angst Platz gemacht zu haben. Munis zögerte, wartete ab, bis er die schwache Spitze seines Schatten deutlich sah. Ohne das der andere auch nur verstand was da gerade passierte, drehte er sich aus dem Hauseingang heraus und schoss ihm in den Hals. Ein perfekter Nervenschuss. Zwischen den Halswirbeln C4 und C5 trat das Projektil wieder aus, verfehlte um Haaresbreite ein Einbahnstraßenschild und schlug in einer Mörtelfuge einer Hauswand daneben ein. Die Augen des Rumänen schauten ungläubig in das Gesicht des Alten, bis sie ihren Glanz verloren und er nach hinten überfiel.
Munis blickte um sich. Außer einer Katze in einiger Entfernung schien sich niemand für das Geschehen zu interessieren. Plötzlich machte sich ein ungutes Gefühl breit, das er nur allzu gut kannte. Sein linker Fuß fühlte sich feucht, warm und klebrig an. Das war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte! Ohne den Blick von der Umgebung abzuwenden, tastete er behutsam sein Bein nach einer Wunde ab. Aber es klebte weder Blut an den Händen, noch fühlte er irgendeine Art von Schmerz. Dann neigte er den rechten Socken zur Körpermitte und vernahm den unverwechselbaren Geruch von Hundekot. Er hatte im Eifer des Gefechtes eine dieser Hundetretminen erwischt. Das hatte er bestimmt der kläffenden Klobürste von Madam Chevalier zu verdanken. Sie war die Einzige, die eine Töle dieser Art im Quartier besaß.
Sein Blick ging zurück zu dem am Boden liegenden Mann. Munis griff dem Toten unter die Achseln und schleifte ihn in den Schlagschatten der gegenüberliegenden Häuserwand. Es war schon komisch, was die Leute so alles in den Hosentaschen herumschleppten. Von Kaugummis über Feuerzeuge bis hin zu billig wirkenden Springmessern. Wenige Sekunden später fand Munis, wonach er gesucht hatte. In den Händen hielt er den Schlüssel eines Range Rover. Auf sein Gesicht legte sich der Anflug eines zufriedenen Lächelns. Er schlug die Richtung ein, aus die der Fahrer gekommen sein musste. In wenigen Metern Entfernung stand links von ihm ein nachtblauer V8 Land Rover. Die gelb-schwarzen Nummernschilder waren mit größter Wahrscheinlichkeit genauso geklaut wie das Fahrzeug selbst.
Lautlos öffnete er die Fahrertür und betätigte die Zündung. Leise blubberte der Motor auf und setzte den Wagen in Bewegung. Er bog rechts um die Ecke und kam neben den beiden am Boden liegenden Rumänen zum Stehen. Den Hebel des Automatikgetriebes stellte er auf P und stieg in aller Seelenruhe aus. Mit einem Rautek-Rettungsgriff zog er den toten Raucher etwas unsanft ums Auto herum und wuchtete ihn in den Ladebereich. Danach schnappte er sich den toten Fahrer und hievte ihn ebenfalls in den Rover. Das Verladen der beiden Romantiker vor seiner Wohnungstür gestaltete sich aufgrund ihrer Größe und Masse für einen Mann auf Socken und in seinem Alter schon ein wenig schwierig. Normalerweise gab es in der Firma dafür eine Sonderabteilung. Die allseits beliebten Cleaner! Rückenschonendes Arbeiten hatte er es auch immer genannt. Aber diese Schweinerei hier musste er aufgrund von Zeitmangel wohl oder übel selbst bereinigen. Und er hatte auch schon eine Plan wie und vor allen Dingen wo! Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es zwanzig nach Drei war. Er hatte also nicht mehr viel Zeit, bis Auri, der Besitzer des Le Bistro de Pistoles, seinen Laden betreten würde. Das morgendliche Hochzerren des Rollladenpanzers läutete unweigerlich den neuen Tag in der Rue du Panierein.
Nachdem alle Fahrgäste auf der hinteren Ladefläche Platz gefunden hatten, nahm sich Munis einen kurzen Moment zum Verschnaufen. Resigniert wand er den Kopf nach unten, von wo aus der unangenehme Geruch aufstieg. Nein, es nützte alles nichts, er musste erst in die Wohnung, um die Socken zu wechseln. Ansonsten riskierte er auf dem Weg ins La Castellane noch einen Unfall. Und das würde unweigerlich die Aufmerksamkeit der flicsauf ihn ziehen.
Er hatte nicht einmal fünf Minuten nach oben und wieder zurück gebraucht. Allerdings war der Geruch von seinem Fuß immer noch eindeutig im Wageninneren zu vernehmen. La Castellan war wie eine Festung, die von Banden und der korsischen Mafia gehalten wurde. Bei Tag traf man weit und breit nicht einen Polizisten an – und in der Nacht schon gar nicht. Dort konnte er den Leichnam hinten im Rover in aller Ruhe auf den Zahn fühlen. Ihre Taschen auf links drehen und wenn er Glück hatte auch etwas über ihre Auftraggeber in Erfahrung bringen.
Von der Rue Rodillat bog er rechts in die Rue du Petit Puitsein. Sein Weg führte von der Rue Loretteüber die Rue de la République in Richtung La Castellane. Nach etwa zehn Minuten bog er rechts in die Rue de Madagascar. Wie durch Zufall hatte er einige Tage zuvor im Viertel eine Baustelle entdeckt, die er jetzt geradewegs ansteuerte. Sie war ideal für sein Vorhaben. Von drei Seiten kaum bis gar nicht einsehbar und die vierte Seite wurde von einem zwanzig Fuß Baucontainer verdeckt.
Schon im darauffolgenden Tag las halb Marseille in dem Lokalteil der La Provencevon einem schiefgegangenen Drogendeal zwischen Osteuropäern und der ortsansässigen Mafia im La Castellane.
15 Uhr 20 Ecke Rue du Refuge, Rue du Panier.
Marseille, Frankreich
Das Taxi, das er vor einer halben Stunde über sein Prepaid-Handy bestellt hatte, wartete bereits auf ihn.
Die Taxifahrer in Marseille benahmen sich nicht viel anders als in anderen Teilen dieser Welt. Entweder sie gehörten zur schweigsamen Sorte und redeten nur das Nötigste, oder ihre Stimme versiegte nie. Was beide Gruppen verband war die Tatsache, dass sie durch die engen Gassen Marseille fuhren, als säße ihnen Satan persönlich im Nacken.
Fanges beugte sich nach vorne und schaute durch das halb heruntergelassene Beifahrerfenster. »Ist das das bestellte Taxi für Monsieur Fanges?« Ein kurzes Nicken des Fahrers bestätigte seine Frage. Von der Fahrerlizenz an der Frontscheibe konnte man ablesen, dass der Fahrer Abu Mustafa Al Omar hieß. Dem Namen nach ordnete Munis Fanges die Herkunft des Mannes dem Gebiet um den Irak zu. Ein sunnitisch klingender Name, wie er unter Saddam Hussein noch ohne Probleme getragen werden konnte.
Fanges öffnete die Tür des Wagens und nahm hinter dem Beifahrersitz platz. Das Taxi, ein Peugeot 607, roch nach den klassischen Ausdünstungen der neuen Kunststoffe. Abu, sein Fahrer, so schätzte er, musste wenigstens Mitte bis Ende fünfzig sein. Die Schläfen ergraut und über der Oberlippe ein schmales Bärtchen, Ton in Ton mit dem Haupthaar.
»Ca va!« Kam es mehr als gut gelaunt mit einem orientalischen Akzent aus dem Front-Bereich des Wagens.
Munis Fanges verharrte in der Bewegung und schaute durch den Rückspiegel reserviert in Abus Augen. Aus den vorderen Lautsprechern schallte ihm typisch orientalisch Musik unterlegt mit modernen Poptönen entgegen.
Abus tiefschwarze Augen starrten ihn durch den Rückspiegel fragend an.
»Ca va!«, grummelte Fanges in sich hinein. Er hasste diese Respektlosigkeiten ihm gegenüber. »Wer bin ich, sein Tee schlürfender Kumpan aus den nördlichen Vierteln?«
Fanges Augen verengten sich zu zwei engen Schlitzen. »Rue des braves 17 Hotels Le Petit…!« Noch während er im Begriff war, die Adresse zu vervollständigen, ertönte plötzlich von der Mittelkonsole aus die Marseillaise. Blindlings ergriff Abu das Handy und warf einen kurzen Blick auf das Display. Den linken Arm leger aus dem Fenster hängend, setzte Abu sein Vorhaben sich in den Straßenverkehr einzufädeln, in die Tat um. Das Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sprintete er mit durchgetretenem Gaspedal aus seiner Poleposition. Fanges Kopf wurde in die Kopfstütze des Peugeots gepresst, während sein Hut sich tief ins Gesicht grub. Das Hotel Le Petit Nice Passédatwar nur zehn Autominuten entfernt.
Abu, der lautstark auf Arabisch in das Telefon brüllte, drehte den Kopf lässig nach hinten. »Monsieur, wo genau darf ich Sie hinbringen«?
Fanges begann erneut dem Fahrer die Adresse mitzuteilen. »Rue des...?« Ohne Vorwarnung schrie er jedoch mitten im Satz auf. »Vorsicht!!!«
Abus Fuß trat so fest auf das Bremspedal, dass alles im Wageninneren nach vorne flog. Fanges Brustkorb zerrte an den Sicherheitsgurten und ließ die Luft aus den Lungenflügeln entweichen.
Rechts, aus der Rue des Muettes, raste mit hoher Geschwindigkeit ein Motorroller auf sie beide zu. Nur um Haaresbreite verfehlte der Rollerfahrer in einer perfekt gefahrenen Sinuskurve die Motorhaube des Taxis. Le Docteurfluchte lautstark auf.
»Ey to pesare yek kharsavar, mikhay hardoe maro bebari tu ghabr! Agar zendegie asafbaare to barayat hich mafhoomi nadarad, zendegie mano be bazi nagir!«(Du Sohn eines Eseltreibers, willst du uns beide ins Grab bringen! Wenn dir dein erbärmliches Leben nichts bedeutet, setz meines nicht aufs Spiel!)
Abus Lebenssaft, der sturzbachartig in die unteren Extremitäten abgesackt war, verursachte auf der sonst so karamellfarbenen Haut eine fahle Tönung. Sichtlich irritiert drehte er den leichenblassen Kopf zu seinem Fahrgast herum.
Er konnte es wohl nicht fassen, dass dieser schlecht gelaunte Kafir seine Muttersprache beherrschte. Den Beinahe-Unfall schon halb verdrängt, starrt er le Docteurmit kindlicher Neugierde an.
»Du sprichst Farsi? Woher kommst du, mein Bruder?«, kam es mit offener Herzlichkeit über seinen Lippen. Das darauffolgende überbreite Lächeln legte eine einzige Ruinenlandschaft offen.
Fanges musste bei diesem kariösen Anblick unweigerlich an die Ruinen von Uruk denken. »Zum einen wüsste ich nicht ... Bruder, dass ich Ihnen das Du angeboten habe!«, zischelte Fanges, sichtlich bemüht, nicht die Fassung zu verlieren. »Und zum anderen ... fahre mich Herr Gott noch mal zu diesem verdammten Hotel.«Den letzten Teilschrie er dem nun sichtlich eingeschüchterten Chauffeur lautstark ins Gesicht. »Hamaro lotfan bedune badalkari anjam bedid va enghad aaho nale nakonid va negh nazanid.«(Das Ganze bitte schön ohne weitere Standeinlagen, und machen Sie dieses verdammte Gejaule aus! Das ist auf Dauer nicht zu ertragen.)
Nach und nach bildete sich hinter dem Taxi der typische Stau von Menschen, die in Eile sind. Und ebenso typisch für Marseille war der aufkommende Unmut der Autofahrer, die hinter ihnen standen. Die weitere Fahrt verlief zu beider Zufriedenheit über den Bd Charles Livon, vorbei am Fort Saint-Nicolai. Das Mittelmeer zur rechten Seite signalisierte sein Fahrer ihm, dass es zur Rue des Braves noch wenige Minuten dauern würde.
Als das Taxi vor dem Hotel Le Petit Nice Passédatzum Stehen kam, war Abu immer noch sichtlich eingeschüchtert. Doch er fasste sich ein Herz und forderte forsch den Fahrpreis ein. »11 Euro und 70 Cent, Monsieur!« Zeitgleich streckte er dem knurrigen Alten die Handfläche über die Schulter entgegen.
Dem eisigen Blick im Rückspiegel hielt Abu allerdings dann doch nicht mehr Stand. Fanges zog, von den kleinen Machtspielchen gelangweilt, nur die linke Augenbraue nach oben. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, diesen Hassasinüberschwänglich zu entlohnen, gab er bis auf den letzten Cent passend heraus. Abus Augen verengten sich, als er merkte, dass er von diesem ungläubigen Nazarener kein Trinkgeld erhalten würde.
»Ma alla l karim tisharrit.« (Stelle keine Forderungen an einen großzügigen Mann.) Zitierte Fanges, während er aus dem Wagen ausstieg und die Tür mit Schwung ins Schloss warf. Abu streckte seinen Kopf aus dem Fahrerfenster. Mit seinem schönsten Uruk-Lächeln rief er Fanges hinterher. »Harkasi ke ba avaye musighi belarze dar nayada, ensan nist, balke yek khar ast!« (Wer nie beim Klang der Musik erbebte, ist kein Mensch, sondern ein Esel!)
Eigentlich mochte er die Araber und ihre Einstellung mit den Ungerechtigkeiten des Lebens fertigzuwerden. Gute Laune und ein freundliches Lächeln waren ihre Wunderwaffe gegen fast alles. Munis hatte zwar durch den ungewollten Zwischenstopp im Parnier einige Minuten eingebüßt, kam aber immer noch rechtzeitig, um seine Verabredung mit Frederick zu halten.
Eigentlich ging er mit der Entscheidung jetzt schon seit geraumer Zeit schwanger. Aber nach dem unangemeldeten Besuch der Rumänen, stand sein Entschluss nun endgültig fest. Er ging in Rente! Die Formalitäten mit dem Büro waren schnell erledigt und Nikolett hatte durch einen Zufall auch schon das passende Domizil für ihn ins Auge gefasst. Munis hatte das Hotel Le Petit Nice Passédatvorgeschlagen, um die letzten Formalitäten zu klären und um Frederick vielleicht für immer lebe wohl zu sagen.
Er hatte noch keinen ganzen Fuß in die Lobby gesetzt, da verspürte er schon eine unruhige Schwingung in der Vorhalle. Mathĕo, der Conciergehatte seine liebe Mühe, ein übergewichtiges Pärchen mit breitem Akzent auf Distanz zu halten. Mit seiner professionell stoischen Gelassenheit verwies Mathĕo auf ein aufgeschlagenes Buch, das zwischen den Parteien unrhythmisch hin und her geschoben wurde. In seiner Funktion als Conciergewar er ein Mann mit vielen Aufgaben. Er kümmerte sich nicht nur aufopfernd um die Wünsche und Nöte der Gäste, er versuchte auch, mit Charme und Raffinesse dem angeschlossenen Restaurant die Klasse zu verleihen, die es verdient hatte. Und da passte ein bestimmter Menschenschlag seiner Meinung nach einfach nicht ins Ambiente.
Das Restaurant zählte Fanges zu seinen Schwächen, für die er gerne Unannehmlichkeiten in Kauf nahm. Gewohnheiten wie diese waren nicht gesund in seinem Gewerbe, denn sie konnten zu ungewollten zwischenmenschlichen Situationen führen, die nicht selten in einem Blutbad endeten.
Er lüftete standesgemäß vor den Anwesenden seinen Trilby und setzte seinen Weg in Richtung der Terrasse fort. Abgesehen von dem vorzüglichen Essen und den ausgezeichneten Weinen liebte er einen Platz im Restaurant ganz besonders. An der flachen Natursteinmauer, mit Blick über das endlos blaue Meer und den niemals zur Ruhe kommenden Wellenkämmen.
»Bon Jour, Docteur Fanges. Es ist uns wie immer eine Ehre, Sie als Gast bei uns begrüßen zu dürfen.«
Fanges, der in der Tür zur Terrasse wartete, zuckte leicht zusammen, als Mathĕo ihn hinterrücks ansprach. Er hatte nicht bemerkt, wie er sich von hinten genähert hatte. Anscheinend hatte dieser die Auseinandersetzung mit den Amerikanern für sich entscheiden können. Mathĕo stellte sich mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf die Zehenspitzen und wippte kurz vor und zurück.
»Ahhh perfekt!La Table est prête, (Der Tisch ist bereit) Monsieur. Auf die Minute genau, c’est bon. Wenn Sie mir nun bitte folgen wollen«.
Gäste wie Docteur Fanges erhielten von Mathĕo stets einen etwas persönlicheren Service. Er dirigierte den Gast spielerisch zu dessen Tisch, zog lautlos den Stuhl nach hinten und verharrte, bis sein Gast Platz genommen hatte.
»Mathĕo, wären Sie so freundlich und spannen die Sonnenschirme auf? Meine Gäste wissen die mediterrane Sonne nicht so zu schätzen, wie wir beide.« Mit einem geheimen Zeichen signalisierte Mathĕo dem umherstehenden Kellner, den Wunsch augenblicklich in die Tat umzusetzen.
Mathĕo schenkte Docteur Fanges kühles Tafelwasser bis zu Hälfte in ein Kristallglas.
»Avant que je ne l’oublie«,(Bevor ich es vergesse) Monsieur Docteur, der Chef de Cuisineist heute leider nicht im Hause. Er musste wegen einer dringenden familiären Angelegenheit nach Dijon. Wir haben aber, Gott und Monsieur Mazzia sei es gedankt, heute einen nicht weniger talentierten Chef de Cuisine. Das AM Par Alexandre Mazziahat ihn uns freundlicherweise vorübergehend ausgeliehen.«
Fanges nickte immer noch bedeutungsschwanger, als Mathĕo den Tisch schon verlassen hatte. Der endlose Blick über das Meer hatte für ihn etwas Meditatives. Das Auf und Ab der Wellen konnte ihn stundenlang in den Bann ziehen, während sich das Universum in weißen Schwaden auflöste. Dieses Kleinod hatte alles, was er, nein, was sie damals gebraucht hatten. Seit dem Tod seiner Frau zehn Jahre zuvor suchte er das Petit Nice Passédatregelmäßig auf. Früher hatte er sie immer für ein Wochenende hierher entführt. Immer dann, wenn ihre Ehe kurz davorstand, Schiffbruch zu erleiden. Seine Arbeit beanspruchte viel ihrer gemeinsamen Zeit und noch mehr die Bereitschaft zu verzichten. Sie minderte nicht unbedingt ihre Liebe zueinander, machte es aber auch nicht einfacher. Es gab Jahre, in denen er die Hälfte des Jahres bei ihr war, und die anderen sechs Monate hatte sie keine Ahnung, was er trieb. Später dann meisterten sie gemeinsam den Spagat zwischen der Arztpraxis und dem eigentlichem Stammgeschäft. Seine verstorbene Frau war gebürtige Perserin gewesen – wunderschön und voller orientalischer Leidenschaft. Sie konnte ihm in dem einen Moment die Hölle auf Erden bereiten, um ihm im nächsten Augenblick, gleich einem Kolibri, der unbeschwert durch den Palast in Isfahan flattert, alles zu verzeihen! Ihre Intelligenz stand obendrein ihrer Schönheit in nichts nach. Thaminas Familie stammte aus Kaschan, einer Region im Iran, die dafür bekannt war, das beste Rosenwasser der Welt zu destillieren. Seine Frau hatte stets ihr wunderschönes, Ebenholz-schwarzes Haar damit gepflegt. Der Geruch von Rosenblättern verbreitete sich danach durchs ganze Haus und behaftete alles. Selbst in der neuen Wohnung, im Parnier, roch er ihren Rosenduft noch im Kopfkissen. Die ersten Jahre ohne sie waren die härtesten seines Lebens gewesen.
Am Ende, als seine Frau ihr rabenschwarzes Haare durch die Chemotherapie verloren hatte, wog sie nur noch 45 Kilo. Zum Schluss konnte sie dann nicht einmal mehr ihre geliebten Gedichte von Hafis lesen, ohne dass sie unter dem Einfluss des Morphiums wegdämmerte. Bis zuletzt hatte sie ihre Würde und ihren Stolz behalten. In der Nacht, als sie von ihm ging, schaute sie ihn mit dem gleichen liebevollen und gütigen Blick an, wie in dem Moment, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dann war sie weg!
Fanges bemerkte, wie er auf die offene See starrte, und er versuchte, sich langsam dem Sog der Weite zu entziehen. Es gab Tage, an denen er von seinem Platz aus neben Delphinen auch weiße Haie beobachten konnte. Wie ihre Rückenflossen die Schaumkronen der Wellen durchschnitten. Ähnlich wie ein scharfes Messer, das durch eine Buttercremetorte glitt.
Ein demonstrativ leises Hüsteln brachte Munis Fanges zurück in das Hier und Jetzt. Neben dem Tisch stand einer der Kellner.
»Peut-être aimeriez-vous un apéritif à l’Avance?« (Vielleicht möchten Sie einen Aperitif vorab?) »Oder«, er legte bewusst eine künstlerische Pause ein. »Wir haben eine Lieferung eines exklusiven Gourmet-Wassers aus dem südafrikanischem Paarl erhalten. Unter Kennern gilt es als die perfekte Ergänzung zu Wein und Speisen. Der neutrale Geschmack und der ausgeglichener TDSE-Wert übertrumpfen bei Weitem jedes andere Gourmetwasser. Einen passenderen Begleiter, Monsieur Docteur, werden Sie nicht finden.«
»Hmmm, wehe wenn nicht, mein Lieber«, antwortete Fanges leicht amüsiert über den etwas zu auswendig gelernten Text. »Und bringen Sie mir bitte ein Glas ihres 2009Cuvĕe Margueritr Domaine Matassa. Merci bien!«
Kurze Zeit später standen zwei beschlagene Gläser und eine gekühlte Flasche südafrikanischen Quellwassers auf dem Tisch. Fanges hatte indes Speise- und Weinkarte nebeneinander auf dem Tisch ausgebreitet. Abwechselnd blätterte er die Weinkarte vor und die Speisekarte zurück. Das ging so lange, bis er mit der Auswahl des heutigen Tages zufrieden war und die beiden Bücher zuschlug.
»Bouillabaisse...!«, hauchte er den Namen der berühmten Fischsuppe, während seine Mundhöhle mit Speichel volllief. »Hmmm ... und dazu eine Flasche 98 Mouton Cadet Philippe de Rothschild.« Der Wein würde einen interessanten Gegensatz zu den Speisen bieten. Ein Hauch von Amarenakirschen, vermischt mit der Note von dunkler Schokolade. Wenn seine Zunge sich richtig erinnerte, eine Nuance von eingelegten Rosinen.
Beinahe pünktlich auf die Minute betraten zwei durchtrainierte Männer in Designer-Jeans und Sakko die Außenanlage des Hotels. Munis konnte es förmlich spüren, wie sie ihn unter ihre Sonnenbrillen emotionslos abcheckten. Während einer der beiden Hünen den Eingang im Auge behielt, schritt der andere weiter die Terrasse ab. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass der Bereich safe war, hob einer der beiden den Unterarm an und sprach diskret ins Handgelenk. Wenig später betrat Frederick unter der Beobachtung von vier weiteren Personenschützern das Hotel. Taktisch gut verteilt, positionierten sich seine Angestellten an den noch freien Tischen auf der Terrasse.
Munis vermutete aufgrund ihres Aussehens, dass es sich um ehemalige Soldaten einer israelischen Einheit handelte. Sajeret Matkal oder Sajeret Maglan, irgendetwas in dieser Richtung. Frederick, das wusste er, legte bei seinen Männern großen Wert auf Loyalität, Intelligenz und gutes Benehmen. Und all das fand er von Hause aus bei den Israelis.
»Salut, mon cher ami.« (Hallo mein lieber Freund) Frederick Bertrand grinste breit wie ein Honigkuchenpferd, als er Munis mit einem Glas Rotwein in der Hand dort sitzen saß.
Bestes italienisches Schuhwerk, einen klassischen Panamahut auf dem Kopf, dazu eine braune Berluti-Dokumententasche rundete sein italienisches Outfit in Perfektion ab.
»Die Geschäfte scheinen ja doch recht gut zu laufen, wenn ich dich so ansehe.« Munis Fanges schob den Stuhl unter maximaler Lautstärke hinter sich weg. »Schicke Schuhe, schöner Bauch«! Zärtlich tätschelte er ihm die kleine Kugel. »Soll ja Glück bringen«! Munis grinste dreckig.
»Werde nicht frech, alter Mann, sonst dürfen die beiden dahinten gleich mit dir spielen gehen.« Frederick grinste nicht weniger dreckig zurück.
»Das traue ich dir zu, bei deinem Charakter. Einen alten, gebrechlichen Mann an diese Welpen zu verfüttern. Aber ich bin zäh, die werden sich ihre Milchzähne an mir ausbeißen!«
Die beiden alten Freunde lachten lauthals auf, als sie sich innig umarmten. Nachdem die beiden einige Minuten lang am Tisch sitzend Floskeln ausgetauscht hatten, winkte Fanges dem Conciergezu, um ihre Bestellung aufzugeben.
»Stimmt etwas nicht Munis?«
»Ah, ich bin mir nicht sicher.«
Frederick waren die Denkerfalten auf Munis Stirn aufgefallen.
Der bohrende Blick von Mathĕo, den wiederum Munis bemerkt hatte, verhieß in der Regel nichts Gutes. Der Concierge legte demonstrativ ein weißes Tuch über den Unterarm und kam sichtlich verstimmt zu ihrem Tisch herüber. Sein Blick sprach Bände, als er an den Bodyguards vorüber schritt.
»Que puis-je faire pour vous?« (Sie wünschen?)
»Monsieur Bertrand, darf ich Ihnen den wohl begnadetsten Connaisseurefür kulinarische Spezialitäten im Bereich Wein und der mediterranen Küche vorstellen? Monsieur Mathĕo Bonnet.«
Bertrand, der die Taktik durchschaute, erhob sich respektvoll aus seinem Stuhl. Der sichtlich überrumpelte Concierge schaute zögerlich auf die Hand, die ihm wohlwollend entgegengestreckt wurde.
»Es ist mir eine außerordentliche Ehre! Monsieur Fanges hat Sie mir gegenüber schon in den höchsten Tönen gelobt. Endlich darf ich Sie persönlich begrüßen. Mir ist nicht entgangen, dass Ihnen meine Mitarbeiter aufgefallen sind. Bitte verstehen Sie, in meiner beruflichen Situation ist es leider unumgänglich, sich vor dem Bösen dieser Welt zu schützen.«
Bei den letzten Worten neigte Frederick den Kopf eine Nuance zur Seite und blickte den Concierge fast verliebt an. Beinahe hätte selbst Munis, Frederick Avancen abgenommen.
Urplötzlich und unerwartet erhob Mathĕo den abgedeckten Arm und zeichnete einen imaginären Kreis in die Luft. Im Nu strömten die bereitstehenden Kellner aus, um die Bestellungen der anderen vier Tische aufzunehmen. Mathĕo Bonnet ordnete peinlich berührt sein Äußeres und atmete tief aus. »Wie kann ich diesen Fauxpas meinerseits bei Ihnen wiedergutmachen«?
Fanges schaute aufmunternd zu ihm hinauf. »Alles in bester Ordnung, Monsieur Mathĕo. Es gibt nichts, was Ihnen unangenehm sein müsste.«
Wieder zur Salzsäule erstarrt, erwartete der Concierge professionell die Bestellung seiner Gäste.
Fanges überreichte Mathĕo die beiden in Leder eingeschlagenen Speisekarten. Der Concierge machte einen kurzen Schritt rückwärts und drehte erst dann den beiden Männern den Rücken zu. Frederick inhalierte die kühlende Brise, die von Meer kam, tief in beide Lungenflügel.
»Das ist wirklich schön hier, warum kenne ich das noch nicht?«
»Es war früher«, kurz stockte Fanges, »unser kleines Liebesnest, wenn meine Frau und ich mal Zeit nur für uns brauchten.«
»Entschuldige, mein Freund, das wusste ich nicht!«
»Woher auch, Frederick. Was Geheimniskrämerei angeht, sind wir beide ja unschlagbar.«
»Mir fehlt sie auch!«
Für einen Moment lang starrten beide hinaus aufs Wasser.
»Frederick,« unterbrach Munis das Schweigen. »Hast Du dabei, worum ich deine Frau gebeten habe?«
»Ja, aber natürlich. Du kennst doch meine Frau.«
Frederick griff unter den Tisch und reichte ihm die Dokumententasche von Berluti seitlich am Tisch vorbei.
»Alle Gelder sind transferiert. Ausweispapiere, Urkunden sowie alle Zeugnisse sind im System eingepflegt. Bei den deutschen Behörden wirst du offiziell seit 1949 als Kriegswaisenkind geführt. Ein kleines Dossier zu Deiner Person findest Du wie gewohnt auf der ersten Seite. Zur Vorgehensweise muss ich dir ja nichts erklären. Und Du willst das jetzt wirklich durchziehen? Es wird dann kein Zurück mehr geben! Ach, wir habe uns übrigens erlaubt, einen kleineren Teil deines Geldes auf dem Geschäftskonto zu belassen. Du kannst selbstverständlich auch weiterhin jederzeit und von wo auch immer darauf zugreifen. Das versteht sich von selbst.«
Das sogenannte Geschäftskonto war ein Unterkonto auf bestimmten Banken, auf denen Organisationen wie auch die CIA oder andere ehrbare Unternehmen ihr Geld zwischenparkten. Die Eröffnung eines solchen Kontos war so einfach wie simpel. Aktuelle Bankleitzahlen und Kontonummern kaufte man ganz simple im deepweb. Das Büro kontaktierte anschließend das Geldinstitut und eröffnete unter einem Pseudonym ein digitales Konto. Da solchen Instituten keine Steuerprüfung drohen, war das Geld so sicher wie in Abrahams Schoss.
Frederick griff zu dem beschlagenem Glas Wasser vor sich und nahm einen tiefen Schluck. Sofort setzte er es erneut an und nahm einen zweiten, noch tieferen Schluck. »Gott, was ist das denn? Das schmeckt ja vorzüglich.«
»Kommt aus Afrika. Von irgendeinem Berg.« Munis zuckte gleichgültig mit den Schultern. Frederick tupfte sich mit der Serviette leicht die Lippen ab. »Nachdem Du Marseille verlassen hast, Munis, werden wir umgehend Deine Wohnung auflösen.«
»Und wie werde ich diesmal aus der Welt scheiden?« Etwas diabolisches legte sich auf sein Gesicht.
»Du wirst einen Abschiedsbrief hinterlassen und Dir anschließend eine Handgranate vor den Mund halten. Damit sollte das Problem von Fingerabdrücken und Zahnprofilen erledigt sein. Den Rest erledigen die Flammen, die durch einen abgerissenen Gasschlauch in der Küche auch die letzten DNA-Spuren vernichten. Hast Du im Übrigen das Tütchen mit den Utensilien dabei, um das Dich meine Frau gebeten hat?«
Fanges reichte ihm seine eigene, nicht mehr ganz neue Tasche ebenso verschwörerisch hinüber.
»Irgendwie fühle ich mich bei diesem Deal etwas übervorteilt.« Frederick betrachtete die in die Jahre gekommene Umhängetasche und kniff dabei leicht die Augen zusammen.
„Einen detaillierten Ablaufplan findest du wie schon erwähnt in den Unterlagen, in meiner nicht ganz so billigen Aktentasche, die jetzt dir gehört! Ach so, ja. Da war noch was. Ich soll dir von Nikolett ausrichten, dass sie dir eine kleine Aufmerksamkeit nach Hause hat liefern lassen. Und ich soll dir persönlich einen dicken, fetten Kuss von ihr geben. Sie scheint dich wirklich ein Stückweit zu vermissen, warum auch immer.«
Gerade als er Anstalten machte, sich aus dem Stuhl zu erheben, winkte Munis vehement ab.
»Untersteh Dich, faltiger, alter Mann. Deine Frau sitzt wahrscheinlich gerade im Büro und schüttelt sich vor Lachen über mich aus! Ich habe dir damals schon gesagt, dass sie das Büro in einen undisziplinierten Saustall verwandeln wird!«
»Aber immerhin ein recht lukrativer undisziplinierter Saustall, mein lieber Munis. Seitdem sie die Fäden in der Hand hält, sind unsere Umsätze stetig nach oben gegangen. Außerdem, das ist immer noch meine Frau und deine Chefin über die Du da gerade redest.«
»Ex Chefin ab heute.« Und hielt ihm das Gas zum zuprosten entgegen.
Als Munis gegen viertel vor Acht die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, war alles wie immer. Bis auf das kleine Paket, das auf dem Tisch vor seinem Fenster lag. Behutsam hob er es an und betrachtete es vorsichtig von allen Seiten. Mit äußerster Vorsicht hob er den Deckel des Kartons an.
Unter der Grußkarte mit besten Wünschen und einem persönlich aufgedrückten Kuss von Nikolett lagen zwei weitere Päckchen. Liebevoll legte er die Karte von Nikolett beiseite und zerriss die erste Umverpackung. Zum Vorschein kam ein Raskat. Das war ein kleiner, weißer Kasten, made in Russia. Ein bisschen erinnerte er ihn an einen Toaster. Man legte eine Festplatte oder ein Handy in das Fach und der ausgelöste elektromagnetische Impuls löschte unwiederbringlich alle Daten auf dem Gerät.
Mit dem zweiten Paket hatte sie schon eher seine Aufmerksamkeit geweckt. Er fragte sich, wie sie das immer wieder hinbekam! Dieses kleine verrückte Djevojka(Mädchen) hatte es doch tatsächlich geschafft, den Prototypen der Walther P99Q zu beschaffen. Plus einem passenden Schalldämpfer, abgerundet wurde das Ganze mit zwei vollen Zusatzmagazinen. Munis öffnete die Dokumententasche und begutachtete den neuen deutschen Personalausweis. Das Team um Nikolett hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Auf dem ersten Blick war es unmöglich eine Fälschung zu erkennen. Und wahrscheinlich war es nicht einmal eine. »Siegfried Hausmann. Siegfried Hausmann. Klingt gar nicht mal so schlecht.“
Gemütlich streifte Munis seine Schuhe von den Füßen und genehmigte sich vor dem Schlafengehen noch ein ordentliches Glas Rotwein.
Sonntag, Rue de Parnier,
Marseille Frankreich
Die Bewohner Marseilles warteten in ihren Wohnungen auf die erfrischende Abkühlung, die vom Meer her Linderung versprach. Allmählich erwachte die Stadt aus ihrem Mittagsschlaf und erfüllte die Wohn- und Geschäftsviertel mit Leben. Wie in einer urbanen Choreographie öffneten die Bewohner die ausgebleichten, hölzernen Fensterläden, um die stickige Luft im Inneren auszutauschen. Frauen bereiteten unter rhythmischen Klängen von Töpfen, Pfannen und Küchenhelfern die Speisen für ihre Liebsten vor. Radios plärrten in voller Lautstärke, und gut gelaunte Menschen schmetterten in allen Sprachen Babylons ihre Arien durch die offenen stehenden französischen Balkone. Die blauen Lamellentüren hatte er gerade so weit geöffnet, dass sich zwischen ihnen ein 4cm breiter Spalt bildete. Die Efeutute hatte er so über den Spalt drapiert, dass es unmöglich war, von draußen hereinzuschauen. Wie eine warme Welle drang von Zeit zu Zeit die stickige Stadtluft in die Kühle der Wohnung ein. Munis Fanges quittierte den Temperaturunterschied mit einem Anflug von Gänsehaut unterhalb der Kniescheibe. Auf dem Tisch neben ihm lag eine halb aufgegessene Packung, Walkers Shortbread Butterkekse. Ein Opernfernglas mit Perlmuttapplikationen, eine Walther P 99Q mit aufge-schraubtem Impuls-Schalldämpfer. Sowie ein Weltempfänger und ein baumarktüblicher Laserentfernungsmesser bis 50 Meter. Unter dem Bistrotisch stand griffbereit eine halbvolle PET Mineralwasserflasche, gefüllt mit seinem Urin. Er hatte den Lesesessel näher an den kleinen Tisch heran geschoben, sodass er besser durch das Blätterwerk schauen konnte. Akrobatisch klemmte er den Blumenkübel der Efeutute zwischen seinen Füßen ein und zog ihn näher zu sich heran. Das Verhältnis von Sitzposition zum Spazierstock, der im Blumenkübel steckte, war perfekt. Der Schalldämpfer bildete eine gerade Linie vom Auge über den Mündungsaustritt und dem Objekt schräg gegenüber. Das schwarze Rohr des Silencers hatte die letzten 25 Minuten bewegungslos in der Mulde des Griffstücks gelegen. Fanges bemerkte, wie sich im Haus gegenüber in der ersten Etage etwas bewegte. Die zwei Fensterläden der Küchenfenster wurden aus ihrer Arretierung gelöst und in einem flachen Winkel zueinander aufgeklappt. Als Nächstes würde sie die großen Türen zum Balkon weit öffnen.
Munis nahm den Butterkeks, der zur Hälfte noch in seinem Mund steckte, heraus und legte ihn zurück in die Verpackung. Seine linke Hand suchte nach der schwarz-grauen Nylontasche mit dem Entfernungsmesser. Er legte das elektronische Gerät flach auf den Tisch und drückte den roten Knopf in der Mitte. Photonen rasten mit Lichtgeschwindigkeit auf Madame Chevaliers Balustrade zu, von der sie auf Höhe des Wohnzimmers reflektiert wurden. Ein dünner, roter Wollfaden an seinem Außengeländer wehte lustlos im Wind hin und her. Das Piepsen vor ihm auf dem Tisch bedeutete, dass die Entfernungsmessung abgeschlossen war. Er neigte das Gerät, um die errechneten Werte vom Display abzulesen.
»Ich hätte wetten sollen«, schmunzelte er sichtlich amüsiert. 11 Meter und ein paar zerquetsche zeigte die Anzeige an. Langsam ließ er den Kasten zurück auf die Tischplatte gleiten. Die Pistole lag trotz des aufmontierten Silencer immer noch ausgewogen in der Hand. Die Konstrukteure hatten bewusst hierauf geachtet. Daumen und Zeigefinger der linken Hand umfassten den Schlitten der Pistole und zogen ihn ruckartig nach hinten. Das Geräusch zerschnitt die Stille der Wohnung, als die eingekreuzte Patrone in den Lauf sprang. Im gegenüberliegenden Haus regte sich nicht die kleinste Maus. Mit der Pistole auf dem Schoß drehte er an dem seitlichen Rad des Weltempfängers, bis er ein leises Klacken hörte. Das Gerät brauchte nur Sekunden, bis der eingestellte Sender ertönte. Nach und nach regulierte er die Lautstärke der Musik, bis es passte. Kimme und Korn auf dem Schlitten der Walther waren deutlich zu erkennen. Den Zeigefinger seiner rechten Hand legte er mittig auf den Abzugshahn. Die linke Hand stützte den Pistolenrahmen, um die Waffe beim Abfeuern besser abfangen zu können. In Zeitlupe neigte sich der Schalldämpfer auf die Griffmulde des Gehstocks.
Perfekt, alles war so, wie er es sich vorgestellt hatte!
Nur zögerlich betrat das Zielobjekt die von der Mittagssonne aufgeheizten Terrakottafliesen des schmalen Balkons.
Genauso wie er es vorausgesehen hatte. Die Schultern rotierend lockerte er seine Nackenpartie und schmiegte den rechten Wangenknochen an seine Schulter.
»Nur noch etwas mehr nach links, komm... trau dich. Komm zu Papa!« Zeitgleich fing er an, seine Atmung zu regulieren.
»Ja, sooo ist es schön!«, Spukte es diabolisch in seinem Kopf umher. »Und jetzt genau da stehen bleiben.«
Noch einmal ließ er die Schultern kreisen und lockerte den Nackenmuskel. Zug um Zug flachte seine Atemfrequenz ab. Jetzt wartete er nur noch auf den idealen Eintrittswinkel, um die gewünschte Wirkung der Munition zu erreichen.
Langsam zählte er von fünf abwärts, hielt beim sechsten Atemzug kurz die Luft an und atmete tief durch die Nase wieder aus. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er die gelblich verfärbten Zähne aufblitzen. Dann verschwanden sie in einer roten Wolke aus feinsten Blutströpfchen.
Der orientalische Singsang des Weltempfängers überlagerte nur knapp das Geräusch der gedämpften Handfeuerwaffe.
»Das nennen die einen Schalldämpfer?«
Ungläubig schaute er auf die Rauchschwade am anderen Ende des mattschwarzen Rohrs. Er drückte sich aus seinem Sessel empor und warf durch die Blätter hindurch einen flüchtigen Blick auf die Straße. Niemand hatte von dem, was hier gerade geschehen war, etwas mitbekommen.
Das 9mm-Geschoss hatte den Lauf mit 372 m/s verlassen und traf den Schädel mit 554 Joule. Die Einkerbung im Projektil verstärkte die Wirkung der Kugel, sodass vom vorderen Teil nicht viel mehr als eine Aerosolwolke übrigblieb.
Hingegen schoss das Hinterteil von Madame Chevaliers`Liebling mit mehreren Metern pro Sekunde über das Parkett, geradewegs unter die englischen Breakfront-Vitrine von 1898.
»Du kleiner Scheißer verteilst keine Tretminen mehr in Marseille.« Er packte zusammen und verstaute alles feinsäuberlich in den kleinen Reise Trolley, der griffbereit auf dem Bett lag.
Hauptbahnhof
Duisburg Deutschland
Hausmann wischte sich mit beiden Händen den Schlaf aus den Augen. Nach geschlagenen 18 Stunden und insgesamt fünfmal Umsteigen war er endlich am Ziel seiner Reise. Knirschend drückte er den Rücken durch und machte kreisende Bewegungen mit der Hüfte. Der Zustand der Gleishalle hatte den Charme eines Nostalgiebahnhofs, wie er fand. Allerdings kurz nach einem Bombenangriff der Alliierten. Die Uhren auf dem Bahnsteig zeigten 15 Uhr 23 an. Also kein Grund für ihn zur Hektik.
Lässig kickte er gegen den unteren Teil seines Trolleys und folgte den Hinweisschildern Hauptausgang. Rhythmisch ratterten die Rollen des Koffers im gleichmäßigem Abstand hinter ihm her. Wie an allen größeren Bahnhöfen war der Vorplatz ein Sammelsurium von menschlichen Daseinsformen. Pendler, die aus der Vorhalle strömten, vermischten sich mit denjenigen, die herumlungerten oder ihren schnellen Vorteil suchten.
Ein Mercedes Benz W210, dessen weibliche Chauffeuse in ihr Modemagazin vertieft war, stand an erster Stelle einer langen Schlange von Taxis. Übertrieben freundlich lächelte er ins Wageninnere, als er an die Seitenscheiben des Taxis klopfte. Ohne dass sie zu ihm aufschaute, rollte sie ihr Hochglanzjournal zusammen und setzte sich aufrecht hin.
Siegfried Hausmann, wie er jetzt laut den Deutschen Behörden hieß, öffnete die hintere Wagentür und stellte den Koffer auf die Sitzbank neben sich. Er hatte die Wagentür kaum geschlossen, da drehte die Dame auch schon den Zündschlüssel herum. Ein Déjà-vu blitzte in ihm auf, als er hektisch den Anschnallgurt anzulegen versuchte. Das Taxi hatte gut und gerne 15 Jahre auf dem Buckel und dünstete noch den klassischen Zigarettengeruch einer längst vergangenen Epoche aus.
»Gjuten Tach, Herzelein.« Die wildgelockten Haare der Fahrerin wippten girlandengleich hin und her, als sie sich zu ihm herumdrehte. »Wo soll et denn hin jehen, hm«?
Etwas zu konspirativ schob er ein Kärtchen mit der Adresse nach vorne durch. Neckisch süffisant hauchte sie mit von Lipgloss glänzenden Lippen.
»Na, biste en Schüchterner wa, datte mit mir nich reden kannst?« Sie warf einen kurzen Blick auf das Pappkärtchen, während ihr Wagen immer noch führerlos voranrollte. »Wat will denn so ein Leckerschen wie du in so ´nem Mausoleum, hm?«
Siegfried Hausmann hatte Probleme, ihrem Akzent zu folgen und räusperte sich mit vorgehaltener Hand. »Mrmrremrm, Bon jour Madame, isch abe ün Termin, bitte fahren Sie misch zu der Adress auf dö Kart.«
»Ohhh!« Kam es verzückt von vorne. »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt, ein waschechter Franzmann. Isch liebe französiiiisch!«
Er wusste um die Wirkung des französischen Akzents bei der weiblichen Bevölkerung. Immer, wenn er Frankreich den Rücken zukehrte, ließ er den Romeo Spion heraus und umgarnte die Frauenwelt mit eben genau diesem Akzent.
»Oui, oui Madame, daas glaube isch Ihnen gern.« Ihre Augen trafen sich im Rückspiegel, und ein frivoles Lächeln huschte über ihre glänzenden Lippen.
»Na, du biss mir ja en Männeken!« Dabei wedelte sie frech mit dem rechten Zeigefinger herum.
Innerlich musste er grinsen. In all den Jahren, die er weggewesen war, hatte sich nichts Wesentliches verändert. Ein ursprünglicher Menschenschlag mit dem Herz am rechten Fleck verwebte seine unnachahmliche Sprachfaulheit mit dem grobschlächtigen Charme eines Metzgerhundes. Jeder ein Simplicissimus vor dem Herrn, der gerne zu allem und jedem sein Bestes dazugab. Und seine kostbare Zeit nicht damit verschwendete, lange Groll auf andere zu hegen. Im Revier waren die Menschen erfrischend ehrlich und aufrichtig bis zu ihrem Ableben.
Dienstag, 23 August
Philosophenweg Duisburg
»Dat macht Sex Euro Achtzisch, mein Leckerschen.« Hauchte sie mehr, als sie sprach.
Hausmann ergriff behutsam ihre Hand und legte einen 10-Euroschein darauf. Zärtlich rollte er die Finger zu einer Faust zusammen und küsste ihren Handrücken.
»Es waar mir ein Freud, disch kennen lern zu dürfen«, säuselte er ihr nicht weniger schwülstig entgegen. Während sie noch etwas auf seine Visitenkarte schrieb, hatte er schon seinen Koffer hinter dem Fahrersitz herausgezogen.
»Ruf misch an, wenn de mal einsam bis, oder ʼne Fahrt brauchs. Isch bin dat Gisela.«
»Daas werd isch, Gisel, absolument sûr!« (ganz bestimmt!)
Das Foyer der Senioren Residenz zur goldenen Krone wirkte verwaist, und auch am Empfang war niemand anzutreffen. Nur ein von Hand geschriebener Zettel, auf dem in Großbuchstaben geschrieben stand:
SIND GLEICH WIEDER FÜR SIE DA!
ließ auf menschliches Leben schließen.
Trotz des persönlichen Hinweises, oder gerade deswegen, haute er auf die kleine Messing-Glocke neben dem Zettel. Keine Reaktion, nichts!
Bis plötzlich aufkommende Ovationen vom gegenüberliegenden Ende des Eingangs an sein Ohr drangen. Hausmann kippte den Trolley und machte sich daran, die Quelle der Begeisterung ausfindig zu machen. Zwei geöffnete Flügeltüren am Ende des rechten Ganges wiesen ihm den Weg. Umso näher er dem Raum kam, umso deutlicher vernahm er eine Männerstimme, die energisch zur Ruhe aufforderte.
In dem Raum befanden sich Dutzende Stuhlreihen, die fast ausschließlich mit Heldenkränzen oder silberfarbenen Dauerwellen besetzt waren. Flankiert wurde das Ganze noch von Rollatoren deren Besitzer gerade eben noch selbstständig stehen konnten. Die meisten Zuhörer schauten wie hypnotisiert auf den graumelierten Herrn mit schütterem Haar, der sich vor einer Dialeinwand fieberhaft produzierte. Mit der einen Gehhilfe stabilisierte er seinen Stand, um mit der anderen auf die Videoprojektion der Ukraine ein zu schlagen!
»Und das, meine Lieben«, der Redner schlug erneut mit der Krücke gegen die Projektion, die jetzt einen größeren Ausschnitt der Europakarte zeigte. »Das ist der Grund, warum Wladimir Wladimirowitsch Putin keinerlei Interesse daran gehabt haben kann, Scharfschützen auf den Majdan zu schicken.« Er legte eine Pause ein, um nach Luft zu schnappen. »Diese Fakten sprechen für sich und sind nicht wegzudiskutieren!« Fast hysterisch haute er mit der flachen Hand auf das Podest, sodass das Schwanenhalsmikrofone den Kopf hängen ließ. »Es war entweder eine von langer Hand vorbereitete Aktion, von einer der nicht existenten NATO Geheimdienste, oder aber und jetzt kommt es - Surprise, Surprise – von unseren Freunden aus Übersee, die die Entfernung zu Moskau auf 300 Kilometer illegal verkürzt haben.«
Diejenigen der Zuhörer, die noch auf den Beinen halten konnten, applaudierten dem Dozenten frenetisch im Stehen. Der Rest honorierte lautstark das Ende des Vortrags unter Zuhilfenahme ihrer Stöcke, Krücken und Rollatoren.
»Vergesst nicht«, schallte es mahnend aus den zwei Lautsprecherboxen des Podiums, »für das Thema der kommenden Woche abzustimmen. Die Zettel liegen wie immer an der Pforte und sollten bitte zeitnah ausgefüllt werden. Die Themen, die ich zur Auswahl gestellt habe ... Könntet Ihr mich bitte zu Ende reden lassen!«
Seine Stimme donnerte über die Anwesenden hinweg, sodass augenblicklich eine Grabesstille einkehrte. »Die beiden Vorträge behandeln folgende Themen. Warum die hydrologische Interdependenz im Jordanbecken Parallelen zu der nie wiederkehrenden Unabhängigkeit von Tibet aufweist. Und ...«
Er hatte den Satz noch nicht beendet, da ertönten zaghafte Zwischenrufe, und eine Hand wurden zur Decke gestreckt.
»Franz?« Eine Frau mit langem Pferdeschwanz erhob sich aus der vordersten Reihe. »Franz, ich weiß, Du hasst unqualifizierte Zwischenrufe über alles, aber könntest du bitte kurz den Begriff Inderdebe... Inder...«
Der graumelierte Redner schaute resigniert in die Stuhlreihen zu seinen Füßen. »Interdependenz, Karin, bedeutet nichts anderes, als wechselseitige Abhängigkeit von Wirkungen. Möchte mir noch jemand von euch ins Wort fallen?«
Erneut sank die Stimmung auf Friedhofsniveau.
»Das zweite Thema dreht sich um die sogenannte 3. Industrielle Revolution und die daraus resultierende Biosphärenpolitik. Ich für meinen Teil halte das letztere Thema meiner Vortragsreihe für das interessantere, da es für unsere gemeinsame Zukunft ...«
Ohne ersichtlichen Grund verharrte er plötzlich in der Bewegung, und sein eisiger Blick durchschnitt Reihe für Reihe. Ein asymmetrisches Grinsen verformte Franz Lieberknechts Gesicht zu einer Fratze. »Vergesst, was ich gerade gesagt habe. Es wird für euch nicht mehr von Relevanz sein!«
Prof. Franz Lieberknecht knickte das Schwanenhalsmikrofone verächtlich zur Seite und verließ unter erneut aufkommenden Applaus das Rednerpult. Ein jüngerer südländisch wirkender Mann huschte von links auf das Rednerpult zu. Eilig stöpselte er Stecker aus, rollte Kabel auf und war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
Die grauhaarige Frau mit Pferdeschwanz kam dem Redner mit einem Rollstuhl entgegen. Eine Gruppe von sechs Personen bildeten eine Gasse, alle klopften ihm anerkennend auf Schulter und Rücken. Erst jetzt bemerkte eine Frau, die sich durch ihr jüngeres Aussehen von der Gruppe absetzte, die Person im Türrahmen. Ohne soziale Interaktion mit den Umherstehende kam sie stechschrittartig auf ihn zu.
Und umso mehr die Distanz zwischen ihnen schmolz, desto intensiver spürte er ihren stechenden Blick.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ihre Stimme passte so gar nicht zu der Person, die sich vor ihm in Position gebracht hatte. Eher hoch und schrill, so gar nicht weich und rund, wie ihre Proportionen vermuten ließen.
»Bon Jour Madame, isch bin auf der such, nach ün Frau ...« Auf Hüfthöhe meldete sich eine Männerstimme zu Wort.
»Da sind Sie bei der an der völlig falschen Adresse!« Der Redner vom Podium zog in weiser Voraussicht die Schultern schützend nach oben. Trotzdem traf der Schlag auf den Hinterkopf punktgenau.
»Das tat weh, Frau Schwark«, kommentierte der Rollstuhlfahrer die körperliche Züchtigung.
»Oh, Entschuldigung Franz, das war natürlich nicht beabsichtigt.« Und streichelte demonstrativ sein Haupthaar.
Die kleine, untersetzte Mittvierzigerin, schob sich zwischen das Terzett und beendete damit abrupt die kleine Plauderei. Hausmann versuchte es ein weiteres Mal.
»Isch such ün Madame ...« Er legte eine kurze künstlerische Pause ein, um sich den Namen ins Gedächtnis zu rufen. »Exkusez moi, ün Madame Quasinauwsky?«
»Quasinowsky, Qua si nowsky, nicht Quasinausky oder sonst wie! Und Sie sind Herr...?«
»Ausmann, Docteur Siegfried Ausmann.«
»Ah, Herr Hausmann. Ich habe Sie schon erwartet.«
»Docteur Ausmann, isch eiße Docteur Ausmann.«
»Das mit Ihrem Namen können wir später immer noch klären.« Ihre kleine, schwitzige Hand mit den wurstartigen Tentakeln am Ende schob sich feuchtwarm seinen Rücken empor. Mit mehr Druck, als ihm angenehm war, dirigierte sie ihn zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
»Bitte, geleiten Sie mich doch zur Lobby, dort werden wir die letzte Formalität erledigen müssen, bevor unser Hausmeister, Herr Beirut, Sie zu ihrem Apartment bringt. Im Moment habe ich persönlich leider keine Zeit für Sie, aber dafür haben Sie bestimmt Verständnis.«
Noch ehe er darüber seine Enttäuschung kundtun konnte, erreichten sie die sonnendurchflutete Empfangshalle.
Neben der gläsernen Eingangsschiebetür befand sich eine weitere Möglichkeit, die Lobby zu betreten. Eine Tür, die durch ein Chipkartensystem zu öffnen war. Überdimensionierte Pflanzkübel standen an den äußeren Ecken der Empfangshalle und markierten für jedermann gut sichtbar die transparenten Grenzen der Halle. Die einzige Sitzecke befand sich, wie bestellt und nicht abgeholt, gegenüber dem Counter. Der Personenaufzug war eine einzige Monstrosität aus hochglanzpoliertem Edelstahl und schwarzem, mondänem Marmor.
Zwei Treppenaufgänge flankierten jeweils links und rechts gegenüber dem Aufzug die Lobby.
Kaum eine Frau widerstand der Verführung des frankophilen Akzents in Kombination mit seinen stahlblauen Augen.
»Le Docteur Ausmann, s‘il vous plait!«, merkte er an, als er seinen falsch ausgefüllten Personalbogen überflog. »Odär, für so hübsch Demoiselle, bit Dokteur!« Er wusste genau, wie er solche Eisberge erfolgreich zum Schmelzen brachte.
»Gut, Herr Hausmann, damit heiße ich Sie offiziell in der Residenz zur goldenen Krone willkommen.«
Damit schien ihre Kennenlernphase beendet zu sein. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, tippte sie mit ihren künstlichen Fingernägeln zielsicher eine vierstellige Nummer in das Tableau des Empfangstelefons. Nach dem dritten Freizeichen bemerkte er, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. Nach weiteren Sekunden des Wartens wechselte sie von einem Bein auf das andere. Es dauerte weitere dreißig Sekunden, bis vom anderen Ende ein Lebenszeichen zu hören war.
»Herr Beirut, wenn es ihre kostbare Zeit zulässt, dann kommen Sie zum Empfang und bringen Sie das Gepäck unseres Neuzugangs in seine Wohnung!«
Hausmann vernahm sehr wohl den wohldosierten Beinahe-Versprecher. Ebenso entging ihm nicht ihre asynchrone Mimik bei Weglassen seines Doktortitels und zu guter Letzt auch noch den seines Namens.
»Na endlich, Herr Beirut, schön dass Sie den Weg doch noch zu uns gefunden haben.« Ihre fleischbehangenen Waden spannten sich unter dem herrischen Abrollen vom Mittelfuß auf die Zehen.
»Können Sie mir verraten, was Sie angeblich wieder aufgehalten hat?«
»Ich heiße Berat, Berat Güzel«! Der junge Mann in dem Arbeiterkittel haute mit der flachen Hand auf den Counter. »Wann merken Sie sich das endlich. Das ist purer Rassismus, und ich werde mir das von Ihnen nicht ...«
»Ja ja, wie auch immer. Die Wenigsten werden hier fürs Reden bezahlt, und Sie gehören definitiv nicht dazu, Herr Beir...«
»Berat Güzel!« Fiel er ihr ins Wort.
Ohne den beiden noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen, ließ sie die Männer stehen. Ungläubig schauten beide dem Abgang der Heimleiterin hinterher.