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Katharina Peters

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Beschreibung

Vermisst und ermordet.

Hannah Jakob übernimmt einen Fall, der eigentlich keiner ist. Valerie Frieth wird von ihrem Mann als vermisst gemeldet. Doch da auch ihre geliebte Katze verschwunden ist, glaubt man, die Frau sei aus eigenem Entschluss gegangen. Dann jedoch wird Valeries Leiche auf dem zugefrorenen Ziestsee gefunden. Sie wurde stranguliert und dann versenkt. Hannah erkennt, dass sie Valerie schon einmal begegnet ist. Da war sie die Exfrau eines hohen Polizeibeamten, von dem sich herausstellte, dass er früher beim rumänischen Geheimdienst war. Dieser Exmann sitzt im Gefängnis - aber könnte er den Mord in Auftrag gegeben haben, weil Valerie zu viele Dinge über ihn wusste?

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Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.Aus der Reihe mit Romy Beccare sind lieferbar: »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord« und »Leuchtturmmord«. Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakobs als Hauptfigur: »Herztod«, Wachkoma«, »Vergeltung« und »Abrechnung«. Aus der Wismar-Serie ist »Todesstrand« bei atb erschienen.

Informationen zum Buch

Vermisst und ermordet.

Hannah Jakob übernimmt einen Fall, der eigentlich keiner ist. Valerie Frieth wird von ihrem Mann als vermisst gemeldet. Doch da auch ihre geliebte Katze verschwunden ist, glaubt man, die Frau sei aus eigenem Entschluss gegangen. Dann jedoch wird Valeries Leiche auf dem zugefrorenen Ziestsee gefunden. Sie wurde stranguliert und dann versenkt. Hannah erkennt, dass sie Valerie schon einmal begegnet ist. Da war sie die Exfrau eines hohen Polizeibeamten, von dem sich herausstellte, dass er früher beim rumänischen Geheimdienst war. Dieser Exmann sitzt im Gefängnis, aber könnte er den Mord in Auftrag gegeben haben, weil Valerie zu viele Dinge über ihn wusste?

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Katharina Peters

Toteneis

Thriller

Inhaltsübersicht

Über Katharina Peters

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Impressum

Prolog

Bei der Zimmerreservierung war irgendetwas schiefgegangen, und das Hotel, in das sie kurzfristig umgebucht worden war, hatte nicht unbedingt Premiumqualität, aber das störte sie nicht im Geringsten. Sie hatte eine Wochenendreise in die Hauptstadt gewonnen, ohne irgendetwas dafür tun zu müssen – bis heute wusste sie nicht, wer aus der Familie oder von ihren Freunden unter ihrem Namen an dieser Lotterie teilgenommen und ihr dieses wunderbare Geschenk gemacht hatte. Aber auch das war unwichtig, nebensächlich. Sie war in Berlin, sie würde eine Besichtigungstour buchen, in einem dieser großen Busse durch die Stadt fahren, im KaDeWe shoppen gehen, durchs Brandenburger Tor flanieren, die Hackeschen Höfe inspizieren und was sonst noch so alles auf dem Programm von Besuchern stand, die nicht die Gelegenheit fanden, zweimal im Jahr die Stadt zu erkunden und Party zu machen, wie es so schön hieß.

Margot liebte ihr beschauliches Wismar und die Ostsee, aber hin und wieder blickte sie ganz gerne über den eigenen Tellerrand hinaus. Als sie in ihrem Hotelzimmer angekommen war, rief sie wie vereinbart zu Hause an, erwähnte nach kurzem Überlegen die Hotelpanne jedoch nicht. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und packte ihren kleinen Koffer aus. Der Straßenmusikant, der bei ihrer Ankunft trotz der empfindlichen Kälte am Hoteleingang ein Ständchen gegeben hatte, war offensichtlich weitergezogen oder wärmte sich irgendwo auf.

Als sie aus der Dusche kam, klopfte es dezent.

»Moment bitte.« Sie warf sich ihren Bademantel über und ging dann zur Tür. »Ja?«

»Wir möchten Ihnen einen Begrüßungstrunk servieren«, ertönte eine leise, angenehme Stimme.

Sie öffnete die Tür. Eine große schlanke Frau blickte ihr freundlich entgegen. Sie trug ein Tablett mit einer Piccolo-Flasche Sekt und einem Schälchen Pralinen.

Margot lächelte. »Was für eine schöne Überraschung.«

»Nicht wahr? Darf ich hereinkommen und einschenken?«

»Auch wenn Sie mich gerade im Bademantel antreffen?«

Feines Lächeln. »Aber natürlich. Im Übrigen steht Ihnen der Bademantel ausgezeichnet.«

Margot freute sich über das Kompliment, obwohl sie wusste, dass die Hotelangestellte lediglich freundlich sein wollte. Sie ließ sie herein. Die Frau trug einen schwarzen Rock und eine Weste über einer weißen gestärkten Bluse und wirkte im Gesamtambiente des Hotels deutlich overdressed, aber vielleicht war diese bevorzugte Behandlung ein Bestandteil des gewonnenen Preises.

Margot sah zu, wie sie die Flasche öffnete und einschenkte. Die Frau hatte kräftige Hände. Sportlerin? Volleyball? Margot schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie konnte es sich partout nicht abgewöhnen, selbst wenn sie freihatte, körperliche Besonderheiten an ihren Mitmenschen festzustellen oder zu hinterfragen. Einmal Krankenschwester, immer Krankenschwester. Sie seufzte unterdrückt und nahm das Glas entgegen. Die Hotelangestellte lächelte. »Auf Ihr ganz besonderes Wohl. Einen schönen Aufenthalt im Namen des Hotels.«

»Danke.«

Sie trank einen großen Schluck. Die Kohlensäure prickelte in der Nase.

Die Frau mit den kräftigen Händen goss den Rest nach und schraubte die Flasche wieder zu. Margot prostete ihr zu und setzte sich an den kleinen Tisch neben dem Bett.

»Ich weiß übrigens sehr genau, was Sie heute noch vorhaben«, sagte die Frau plötzlich mit dunkler Stimme und trat langsam näher.

»Wirklich?«

»Ja.« Die Frau griff unter die Weste und zog mit raschem Griff eine bunte Kordel hervor.

Margot schüttelte verdutzt den Kopf. »Ist das eine weitere Überraschung?« Ein seltsames Gefühl machte sich plötzlich in ihr breit. Ein unangenehmes Wispern ähnlich der Empfindung, die sie manchmal beschlich, kurz bevor es einem Patienten akut schlechter ging.

»Oh ja.« Die Frau wickelte ein Ende um ihre rechte Hand, hielt einen Moment lächelnd inne und schleuderte das Seil dann wie ein Lasso um Margots Hals. Nur den Bruchteil einer Sekunde später trat sie mit einer geschmeidigen Bewegung hinter sie und fing das Kordelende mit der linken Hand auf.

Erst als das Seil sich straffte, begriff Margot, was geschah.

»Hast du jetzt verstanden, was du heute noch vorhast?«, wisperte die Frau an ihrem Ohr. »Du wirst sterben.«

Warum, schrie Margot wortlos. Doch ihr letzter Gedanke galt den kräftigen Händen.

1

Kotti schnaufte leise, während Hannah fröstelnd in den trübkalten Morgen blickte und die Entscheidung für die frühe Joggingrunde durch den Treptower Park bereute. Aber nun war es zu spät. Ihr vierbeiniger Begleiter sah mit aufgeregt zitternden Flanken zu ihr hoch und wartete nur darauf, dass sie endlich die Haustür öffnete und mit ihm gemeinsam in den neuen Tag startete.

Sie zog den Reißverschluss bis unters Kinn hoch, dehnte sich zwei Minuten und zog schließlich die Tür auf. Kotti wischte jaulend um die Ecke, und Hannah folgte ihm leise seufzend in die bleigraue nebelgetränkte Novemberluft. Der Regen setzte nach wenigen Metern ein, was Kottis Begeisterung keinerlei Abbruch tat, ganz im Gegenteil. Er wetzte durchs Gebüsch und begrüßte jeden Zweig, jeden Grashalm und Baum, als wäre er zum ersten Mal hier. Hund müsste man sein, dachte Hannah und beschleunigte ihr Tempo. Unabänderliches nicht in Frage stellen, Alltägliches immer wieder neu erfahren.

Am sowjetischen Ehrenmal blieb sie stehen und band ihre Schnürsenkel neu. Kotti hatte einen Hundekumpel entdeckt, der zum Spielen aufgelegt war, während der Regenschauer immer dichter wurde. Hannah zog die Schultern hoch und schüttelte sich. Schnee wäre toll, dachte sie. Wenigstens das.

Das Jahr taumelte müde und abgekämpft dem Ende entgegen. Das war nach den jüngsten aufreibenden Ermittlungen in und um Berlin nicht weiter verwunderlich. Der letzte Fall war in einem fulminanten Finale gelöst worden, und endlich – nach zweiundzwanzig Jahren – hatte sich auch das Rätsel um Livs Verschwinden aufgeklärt. War das Familiendrama damit beendet? Man fiel sich weinend in die Arme, jeder verzieh jedem, und alles war gut? Keineswegs. An die Stelle der zehrenden Ungewissheit war die unabänderliche Tatsache getreten, dass Liv einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Aber immerhin konnte zwischen Hannah und ihren Eltern so etwas wie Besänftigung einkehren, wenn sich alle Beteiligten darum bemühten. Ein Quäntchen Zuversicht, dass sich die Wogen glätteten und es nun zumindest die Chance gab, einen großen Schritt aufeinander zuzugehen. Die alte Wunde würde sich nie vollständig schließen, und die Jahrzehnte währende Distanz zwischen Hannah und ihren Eltern war womöglich ein lebenslanger Begleiter. Immerhin war bei den Ermittlungen auch herausgekommen, dass jener erbitterte Streit zwischen Hannah und ihrer Schwester mit den nachfolgenden Ereignissen nicht das Geringste zu tun gehabt hatte. Doch zweiundzwanzig Jahre Schuldgefühle waren ein hoher Berg, der nicht mal eben so abgetragen werden konnte, und die leisen Vorwürfe würden ihre Eltern wahrscheinlich mit ins Grab nehmen.

Hannah rief nach Kotti und lief am Spreeufer zurück. Was blieb in der Rückschau noch von diesem Sommer? Florian. Staatsanwalt Florian Schneider. Attraktiv, motiviert, leidenschaftlich und seit Beginn der Ermittlungen interessiert an ihr. Verheiratet, zwei Kinder, mit seinen vierzig Jahren etwas jünger als sie; eine stürmische Affäre, in die sie sich nach anfänglichen Bedenken dann doch Hals über Kopf gestürzt hatte. Nach einigen Wochen hatte er sich von seiner Familie getrennt und war in eine Dienstwohnung gezogen. Zeit, etwas Neues zu beginnen, hatte er vollmundig erklärt, und ihr Herz hatte tausend Sprünge gemacht vor Aufregung.

Doch die Trennung von seiner Familie schmerzte mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Sie sah es an seinem nachdenklichen Blick, dem Lächeln, das von Woche zu Woche abwesender wirkte, an seinen unruhigen Händen. Er verließ zum Telefonieren grundsätzlich das Zimmer, und er vertraute ihr nicht an, was ihn bedrückte; sie sprachen immer weniger über ihr Vorhaben, im späten Herbst gemeinsam in den Urlaub zu fahren, um dem grauen Berlin zu entfliehen und Zeit für sich zu haben.

Hannah spürte von Tag zu Tag deutlicher, dass ihre Beziehung keine Chance hatte, und das wiederum verletzte sie tiefer, als sie es sich eingestehen mochte. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die ab vierzig graue Haare und Falten zählten und atemlos dem Ticken irgendeiner Uhr lauschten oder mit dem Alleinsein haderten. Doch zweifellos wusste sie die Vorzüge einer festen Partnerschaft zu schätzen. Und Florian … Nun, sie hatte sich ernsthaft in ihn verliebt, und es tat weh, ihn zu verlieren, noch bevor sie einander so nahegekommen waren, dass auch er von ganzem Herzen einen Neubeginn wagen könnte. Vielleicht sollte ich die Initiative ergreifen, dachte sie, als sie wieder zu Hause ankam. Ein Gezerre um ihn kam für sie nicht in Frage. Klare Verhältnisse.

Sie rubbelte Kotti trocken und stieg unter die Dusche. Montagmorgen, acht Uhr, Berlin versank in grauer Herbstkühle. Der Winter stand mit starrem Blick vor der Tür. Hannah trank einen Kaffee und las die Nachrichten auf dem Smartphone. In Marienfelde wurde eine Frau vermisst. Polizei und Ehemann baten um Unterstützung. Hannah beschloss, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und einen Blick in die Akte zu werfen.

Valerie Frieth war von ihrem Mann Thomas, einem fünfzigjährigen Elektriker, als vermisst gemeldet worden. Sie war vor gut einer Woche am Samstagvormittag nicht vom Einkaufen zurückgekehrt. Nachfragen in der näheren Umgebung, bei Freunden und in dem Bistro, in dem sie regelmäßig als Aushilfe arbeitete, waren ergebnislos geblieben. Der Polizeibeamte, der die Meldung aufgenommen hatte, beschrieb den Ehemann als zutiefst verzweifelt. Er war davon überzeugt, dass seiner Frau etwas zugestoßen war. Dennoch meinte der Beamte, dass es keinen Ermittlungsansatz gebe, da auch Valeries Katze verschwunden sei.

Hannah stutzte einen Moment, dann rief sie in der zuständigen Dienststelle in Lankwitz an und ließ sich mit dem Kollegen Boris Schulz verbinden.

»BKA?«, fragte er sichtlich irritiert nach, als Hannah sich vorgestellt und den Fall angesprochen hatte. »Ist irgendwas Besonderes mit der Frau?«

»Nun, sie ist verschwunden. Ich bin Kriminalpsychologin und mein Spezialgebiet beim BKA ist die Vermisstensuche«, schob sie nach. Und manchmal gerate ich dabei in weitreichende Mordermittlungen, fügte sie stumm hinzu.

»Ach so … ja, ich hab davon gehört.«

Tatsächlich? Hannah räusperte sich. »Ich habe einen Blick in Ihre Meldung geworfen und …«

»Sie sehen sich jede Vermisstenmeldung an?«

»Viele, und zwar bundesweit.«

»Darum beneide ich Sie nicht.«

»Es gibt schlimmere Jobs bei der Polizei«, erwiderte sie. »Warum genau gehen Sie davon aus, dass kein polizeilicher Ermittlungsansatz beim Verschwinden von Valerie Frieth besteht?«

»Wegen der Katze, aber …«

»Weil Sie schlussfolgern, dass die Frau ihr Tier mitgenommen hat und aus freien Stücken gegangen ist, ohne ihren Mann in die Pläne einzuweihen?«, unterbrach Hannah ihn vergleichsweise forsch.

»So ist es. Kommt häufig genug vor.«

Wohl wahr, dachte Hannah. Die Wahrnehmung des Ehemannes könnte verzerrt sein und seine Verzweiflung womöglich die Reaktion auf einen Streit oder heftige Beziehungsprobleme darstellen. »Aber der Aufruf in der Presse passt nicht zu Ihrer Einschätzung.«

»Stimmt.« Leises Räuspern. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Es gibt nämlich Neuigkeiten. Der Ehemann hat die Katze am Wochenende gefunden und sich mit uns in Verbindung gesetzt.«

»Das Tier ist wieder aufgetaucht?«

»Könnte man so sagen«, erwiderte der Kollege zögernd. »Er hat sie im Wochenendhaus seiner Eltern gefunden, in Friedersdorf – das ist in der Nähe von Königs Wusterhausen. Die Eltern sind zurzeit verreist, und er wollte dort nach dem Rechten sehen. Dabei hat er die Katze entdeckt. Sie wurde getötet.«

Hannah hielt kurz die Luft an. »Etwas genauer bitte.«

»Sie wurde stranguliert und an einem Strick im Keller aufgehängt. Ein Kollege vor Ort hat sich das gestern sofort angesehen und das Tier in die Tierpathologie der FU bringen lassen – falls da noch was nachkommt, so dachten wir. Man kann ja nie wissen.«

»Gute Idee.«

»Der Kollege meint übrigens, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass sich Valerie Frieth nach ihrem Verschwinden in dem Haus aufgehalten hat, soweit sich das auf den ersten Blick feststellen ließ.«

Hannah überlegte nur kurz. »Würden Sie bitte alle Einzelheiten an mich weiterleiten?«

»Natürlich.«

Wie Hannah wenig später nachlas, hatte Valerie Frieth keinerlei Vorbereitungen getroffen, die belegten, dass sie ohne Abschiedsgruß verschwinden wollte. Sie hatte kaum Bargeld mitgenommen und war zu Fuß unterwegs gewesen. Abhebungen vom gemeinsamen Konto waren nicht festzustellen, ebenso wenig Überweisungen, und von einem anderen Konto wusste der Ehemann nichts; auf dem Handy war sie nicht erreichbar, und in Friedersdorf, wo sie sich regelmäßig um das Häuschen der Schwiegereltern gekümmert hatte, war sie niemandem aufgefallen.

Dennoch gab es auch solche Fälle, wie Hannah nur allzu gut wusste – jemand entschied spontan zu verschwinden, und der Entschluss hatte nicht das Geringste mit einem kriminellen Hintergrund zu tun. Oder der Entschluss wirkte lediglich spontan. Die getötete Katze könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Dinge ganz anders lagen. Vielleicht hatte Valerie sie selbst getötet, oder der Ehemann hatte etwas zu verbergen. Zum jetzigen Zeitpunkt war kein Szenario auszuschließen.

Hannah sah sich die Fotos der Frau ein weiteres Mal an. Schon bei der ersten Durchsicht hatte sie ein ungutes Gefühl beschlichen, das sie nicht erklären konnte. Sie hatte den Eindruck, der Frau schon einmal begegnet zu sein. Doch im Gegensatz zu ihrer Begabung, sich jedes Gespräch wortgetreu merken und wiedergeben zu können, war ihr Gedächtnis für Gesichter höchstens durchschnittlich.

Sie setzte sich kurzerhand mit dem Ehemann in Verbindung und kündigte ihren Besuch in Marienfelde an. Als sie das Büro gerade verlassen wollte, klingelte das Telefon. Florian.

»Gut in die Woche gekommen?«, fragte er. Seine Stimme klang geschäftsmäßig.

»Geht so. Und wie läuft es bei dir?«

»Viel zu tun und … mein Sohn hat morgen Geburtstag.«

Was soll ich dazu sagen?, überlegte sie. Was will er mir damit mitteilen? »Du wirst ihn natürlich besuchen.«

»Ja.«

Sie sah ihn plötzlich vor sich – wie er mit einer Hand sein Haar durchwühlte und kurz die Augen schloss.

»Hast du das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben?« Der Satz mühte sich aus ihrem Mund. Er schmeckte bitter, fast gallig, und sie hätte viel dafür gegeben, wenn sich die Frage als blanker Unsinn herausstellte oder Florian sie wegwischen würde – empört oder zumindest unmissverständlich, laut lachend.

»Ich weiß es nicht. Es ist … schwer.«

Ich weiß es nicht. Hannah drehte sich zum Fenster. Das war nicht das, was man als Geliebte hören wollte. »Könntest du nicht etwas offener mit mir reden?«

»Auch das ist schwer.«

»Du könntest es zumindest mal versuchen.«

»Ja.«

Schweigen.

»Ich muss los, Florian«, ergriff sie schließlich das Wort.

Ein ungewohntes Gefühl stieg in ihr hoch, ein Gemisch aus bodenloser Enttäuschung und bitterer Wut. Wie hatte er sich das vorgestellt? Er trennte sich von seiner Familie, und alles war Friede, Freude, Eierkuchen? Und kein einziger Stein, der ihm in den Weg gelegt wurde? Naiver Kindskopf. Es war anders gekommen, natürlich. Es kam meistens anders als in irgendwelchen albernen Wunschträumen. Seine Frau wehrte sich, sie kämpfte, und die Kinder machten ihm Vorwürfe oder riefen einfach nur Erinnerungen wach, die ihn quälten, von denen er sich bereitwillig quälen ließ …

»Ein neuer Fall?«, ergriff er plötzlich das Wort.

»Das kann ich noch nicht sagen. Jedenfalls gibt es einen Vermisstenfall, den ich mir näher ansehe.«

Hannah verkniff sich die Frage, wann sie sich sehen würden, und natürlich stellte auch er sie nicht. Fünf Minuten später saß sie im Auto und starrte blicklos zum Seitenfenster hinaus. Kotti winselte leise.

»Schon gut, mein Kleiner«, flüsterte sie. »Darüber komme ich schon hinweg. Vielleicht sollten wir mal ein paar Tage Urlaub machen und Dagmar besuchen. Was hältst du davon?«

Kotti legte den Kopf schief. Soweit Hannah wusste, war ihr Hund der einzige, der in Dagmars Garten kacken durfte, wie die Kollegin aus Lübeck sich gerne rustikal ausdrückte. Hannah zwang sich zu einem Lächeln und fuhr los.

Thomas Frieth erwartete sie zu Hause. Er stand mit hochgezogenen Schultern in der offenen Tür des kleinen Reihenhauses und sah ihr entgegen. Im Vorgarten war bereits der Adventsschmuck angebracht – der Holzzaun war mit einer billigen Lichterkette umwickelt, Plastikfiguren drängten sich in einer schmalen Tanne, zwei Gartenzwerge mit Weihnachtsmannmützen und Glühweinnasen bewachten den Eingang.

Ein Traum von Weihnachtsidylle, dachte Hannah und unterdrückte ein Seufzen, während sie den Mann begrüßte. Frieth sah älter aus als fünfzig. Er war schmal und bleich, der Blaumann saß locker um seine Hüften, der letzte Haarschnitt lag schon eine Weile zurück. Auf den ersten Blick wirkte er verloren und kummervoll. Doch sein Händedruck war fest, die Stimme klang angenehm ruhig.

Er bat Hannah herein und ging voraus ins Wohnzimmer. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er höflich. »Einen Tee? Kaffee?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Vielen Dank.«

Sie nahmen am Esstisch Platz. Hannah warf einen Blick in die Runde. Auch hier wirkte das Ambiente bieder, das Mobiliar hätte eher zu Menschen gepasst, die zwanzig, dreißig Jahre älter waren.

Er war ihrem Blick gefolgt. »Meine Eltern haben hier gewohnt. Sie sind im Sommer in eine kleine seniorengerechte Wohnung gezogen und haben uns das Haus überlassen. Meine Eltern verbringen viel Zeit auf Reisen und in ihrem Wochenendhaus in Friedersdorf. Wir wollten im neuen Jahr anfangen, es herzurichten …«

Er brach ab und rieb sich die Nase. Plötzlich hob er den Blick. »Haben Sie einen Verdacht? Eine Spur? Warum sonst sollten Sie sich die Mühe machen und mich persönlich aufsuchen?«

»Wir müssen mehr zu Valerie und ihrem Umfeld wissen«, erwiderte Hannah. »Falls tatsächlich eine Straftat vorliegt …«

»Was denn sonst?«, unterbrach er sie ruhig, aber bestimmt. »Glauben Sie wirklich, sie hat sich aus dem Staub gemacht – einfach so? Während sie den Samstageinkauf erledigt? Ohne ein einziges Wort der Erklärung oder auch nur eine Andeutung? Ohne irgendetwas mitzunehmen? Das ist doch absurd.«

»Stimmt. Aber Menschen sind manchmal ziemlich absurd. Sie würden staunen, wie oft es tatsächlich passiert, dass jemand – scheinbar aus dem Nichts heraus – geht und sich nie wieder meldet. In solchen Fällen hat die Polizei keinerlei Handhabe. Es sei denn, es geht um Kinder und Jugendliche.«

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Hannah wartete einen Moment, dann beugte sie sich vor. »Die getötete Katze wirft allerdings im Fall Ihrer Frau einige Fragen auf, denen ich nachgehen möchte. Wann genau haben Sie festgestellt, dass das Tier auch verschwunden ist?«

Er zwinkerte verlegen, kratzte sich im Nacken. »Ich weiß es nicht. Sie darf raus und ist manchmal stundenlang unterwegs, auch über Nacht. Und als Valerie nicht nach Haus kam, hatte ich andere Sorgen.«

»Ich verstehe.«

»Außerdem war es Valeries Katze. Ich hatte keinen so engen Draht zu dem Tier.«

»Rein theoretisch wäre es demnach möglich, dass das Tier bereits vor Valerie verschwunden war oder auch später, ohne dass Sie davon etwas mitbekommen haben?«

»Tja … Ausschließen kann ich das nicht. Aber selbst wenn es so war, was hätte das zu bedeuten?«

Hannah hob kurz die Hände. »Ich weiß es nicht. Im Moment sammle ich Informationen, so viele Hinweise wie möglich. Gab es eigentlich Einbruchsspuren in dem Wochenendhaus Ihrer Eltern?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Allerdings ist es auch nicht besonders gut gesichert. Es dürfte nicht allzu schwer sein, ein Fenster aufzuhebeln.«

Oder eine Tür war nicht verschlossen. Oder Valerie war doch dort gewesen, und niemand hatte es bemerkt.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Frau«, bat Hannah Frieth. »Was ist sie für ein Mensch? Neigt sie zu impulsiven Entscheidungen? Hatte sie in letzter Zeit Probleme?«

Frieth legte die Hände auf den Tisch und starrte einen Moment ins Leere. »Wir sind erst seit einigen Monaten verheiratet und kennen uns kaum ein Jahr.« Er zögerte. »Sie ist viel herumgekommen, aber sie redet nicht gerne über ihre Vergangenheit, das akzeptiere ich.« Er nickte langsam. »Sie hatte früher eine Menge Stress, glaube ich. Das hier mit uns war ein Neubeginn – für uns beide. Und es ging ihr gut, denke ich zumindest. Ich weiß nichts von Problemen.«

»Was ist mit ihrer Familie?«

»Sie hat noch einen Vater, aber es besteht kein Kontakt zu ihm. Wie gesagt: Es war ein kompletter Neubeginn.«

»Würden Sie mir Fotos von Valerie zeigen?«

»Ich habe ein paar Hochzeitsbilder und Aufnahmen aus dem Urlaub. Wenn Ihnen das reicht?«

Hannah nickte. Er stand auf und holte ein Album aus dem Wandschrank. Ein paar Dutzend Schnappschüsse von einem nicht mehr ganz jungen Paar, das ausgesprochen gelöst und zufrieden wirkte. Und wieder hatte Hannah das Gefühl, der Frau schon einmal begegnet zu sein. Sie sah hoch.

»Meine Eltern mochten sie auch sofort«, erzählte Frieth. »Und umgekehrt. Es spielt keine Rolle, was vorher war – das ist vorbei. Wir verstehen uns gut und führen hier ein friedliches Leben. Es war nicht die große, stürmische Liebe zwischen uns, aber eine zuverlässige Partnerschaft. Respekt und so.«

»Ich verstehe.«

Er hielt ihren Blick fest. »Wirklich?«

»Ich bilde es mir zumindest ein.«

»Aber?«

»Valeries Vorleben könnte etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben.«

Frieth runzelte die Stirn. »Das wissen Sie, oder das vermuten Sie?«

»Das gebe ich zu bedenken.«

Er sah sie ruhig an. »Ich weiß nicht viel über sie. Wir haben uns in dem Bistro kennengelernt, in dem sie arbeitet, und uns sofort gut verstanden. Daraus ist dann mehr geworden, und wir haben beschlossen, uns zusammenzutun. Ich war schon mal verheiratet, sie auch, aber darüber spricht sie nicht. Wir lassen das ruhen. Man muss nicht ständig über alles reden.«

Über manches schon, dachte Hannah.

»Und was werden Sie jetzt unternehmen?«

»Ich werde mich mit der Vergangenheit Ihrer Frau beschäftigen. Und dann sehen wir weiter.«

Als Hannah das Haus kurze Zeit später verließ, setzte ein dichter Graupelschauer ein. Sie setzte sich ins Auto und suchte die Adresse des Bistros heraus. Dann rief sie ihren Chef an und bat um grünes Licht für weitergehende Recherchen zu Valerie und Thomas Frieth. Abteilungsleiter Bernd Krüger hörte sich ihren Kurzbericht ohne Unterbrechungen an.

»Meinst du wirklich, dass mehr dahintersteckt?«, fragte er schließlich in behutsamem Ton.

»Ja.«

»Okay.«

»Du stimmst ohne Wenn und Aber zu?«, wunderte sich Hannah.

»Ich stimme deiner Einschätzung zu. Dein Riecher hat sich ja schon oft genug als richtig erwiesen.«

»Das werte ich als Kompliment.«

»Tu das.«

»Falls ich Unterstützung brauche, würde ich gerne beim LKA anklopfen.«

»Das werde ich berücksichtigen.«

»Lone Geising und Mark Springer.«

»Wäre ich nie draufgekommen. Gut, dass du es erwähnst.«

Mit beiden Kollegen in einem Team erfahrener Sokobeamter hatte Hannah innerhalb von gut einem Jahr zwei langwierige und aufreibende Ermittlungen bewältigt. Die schweigsame Lone saß nach einer Zwölf-Stunden-Nachtschicht am nächsten Morgen stets als Erste wieder am PC, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Sie verfügte neben den üblichen IT-Finessen über ein hervorragendes Bildgedächtnis. Mark gab gerne den Bad Cop, den Rüpel, der sich nur zähneknirschend unterordnete und nicht gerade als idealer Teamplayer galt. Aber er hatte verdammt gute Ideen, abseits aller Routinen und eingefahrenen Gleise und manchmal auch abseits von Vorschriften.

Das Bistro war ein kleines, beliebtes Kiezlokal am Oberhofer Platz in Lichterfelde-Ost. An Markttagen war es besonders gut besucht. Im Sommer wurden Tische auf die Straße gestellt, ab Ende November roch es nach Glühwein und Gans mit Rotkohl. Die Gäste drängten sich am Tresen, als Hannah eintrat. Sie hatte Kotti an ihrer Seite und steuerte einen kleinen Tisch neben der Garderobe an. Zwei ältere Männer musterten sie mit abschätzenden Blicken, der Wirt nickte ihr kurz zu. Die Kellnerin brauchte fast zehn Minuten, bis sie Zeit für Hannah fand.

»Wollen Se wat essen? Ick hab noch Gänsekeule mit Rotkraut, dazu Klöße – verdammt lecker, kann ick nur sagen.«

»Ein Kaffee genügt vorerst und …«

Die Frau, eine mollige, rotblonde Endfünfzigerin, verdrehte die Augen. »Angst um die schlanke Linie, wah? Keene Sorge, die Pfunde kommen von janz alleene, dit kannste globen.«

»Wie tröstlich.« Hannah lächelte. »Aber ich bin dienstlich hier, und Gänsekeule kann ich nicht abrechnen.«

»Dienstlich? Wie jetzt?«

Hannah zückte ihren Ausweis. »Es geht um Valerie. Ich möchte mit jemandem sprechen, der sie näher kannte.«

Die Rotblonde nickte. »Ach so, verstehe. Ist jetzt allerdings ungünstig – Sie sehen ja, wat los ist.« Sie wies in die Runde und warf dem Wirt einen Blick zu.

»Ich muss auch mit ihm sprechen. Es dauert nicht lange.«

»Na, ick red mal mit ihm.«

»Danke.«

Die Kellnerin schob sich fröhlich fluchend nach vorne durch zum Tresen und kehrte wenig später mit Hannahs Kaffee zurück. »Allet klärchen. Er kommt gleich.«

Das war durchaus übertrieben. Der Wirt brauchte eine gute Viertelstunde, bis er sich schließlich zu ihr setzte. »Ich hab nicht viel Zeit«, sagte er und strich sich mehrfach mit schaufelgroßen Pranken über den blanken Schädel.

»Ich auch nicht. Erzählen Sie einfach, was Sie über Valerie wissen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen in letzter Zeit? War sie anders als sonst?«

»Sie ist nach wie vor verschwunden?«

»Ja. Sonst wäre ich kaum hier und würde Ihnen auch nicht die Zeit stehlen.«

»Mannomann.« Er schüttelte den Kopf. »Anders als sonst? Nein. Valerie hat drei-, viermal die Woche ausgeholfen, manchmal auch häufiger – an Tagen wie heute zum Beispiel oder im Sommer, wenn es hier richtig abgeht. Es muss nicht immer Friedrichshain oder Mitte sein, das jedenfalls ist mein Motto.« Er zwinkerte »Na ja, das nur so nebenbei. Ich war zufrieden mit ihr. Sie war freundlich und zuverlässig, ein bisschen still vielleicht, aber gequatscht wird ohnehin zu viel dummes Zeug.« Der Wirt warf einen prüfenden Blick durchs Lokal. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Hannah fing seinen Blick wieder ein. »Streit mit Gästen?«

»Nein, wie gesagt, sie war still und freundlich, packte an, ohne groß zu reden. Das heißt …«

»Ja?«

»Einige Male war ein Typ hier, der wohl mit ihr anbandeln wollte. Sie hat ihn abblitzen lassen, und das war es dann.«

»Einen Namen haben Sie nicht zufälligerweise?«

»Nö. Das war kein Stammgast.« Kopfschütteln. »Aber der war ziemlich sauer, auf eine stille Art, wenn Sie verstehen, was ich meine. Nicht auszuschließen, dass die sich schon länger kannten, aber das ist nur eine Vermutung.«

Die Rotblonde konnte sich auch an keinen Namen erinnern, noch nicht mal an einen Streit, und beschreiben konnten beide den Mann nicht.

Als Hannah das Lokal verließ, raubte ihr die kalte Luft für einen Moment den Atem. Kotti gähnte und pinkelte an die nächste Hauswand. Hannah wandte sich gerade zur Straße, als die Lokaltür aufschwang und der Wirt heraustrat. »Warten Sie – mir ist doch noch etwas eingefallen. Keine Ahnung, ob Ihnen das weiterhilft, aber … Also, der Typ faselte was davon, dass sie sich aus dem Staub gemacht hätte – und Hochmut kommt vor dem Fall. So was in der Art, glaube ich.«

Hannah atmete tief ein.

»Können Sie was damit anfangen?«

»Möglich«, antwortete sie langsam. »Danke.«

Valerie Frieth war seit zehn Tagen verschwunden. Die einzigen Hinweise auf einen kriminellen Hintergrund bestanden in ihrer toten Katze, dem Streit mit einem Mann, der möglicherweise aus ihrem früheren Leben aufgetaucht war und ein paar dumme Sprüche abgelassen hatte, und Hannahs seltsamem Bauchgefühl. Das klang alles andere als nach einem spektakulären Fall. Hätte sie bei Krüger nicht den einen oder anderen Stein im Brett, würde er sich weigern, diese Vermisstensache überhaupt als Fall zu bezeichnen. Und Hannah hätte ihm recht geben müssen.

2

Lone Geising versorgte zurzeit zwei Teams mit internen Recherchen – die »Gruppe Görli«, die sich mal wieder mit dem Drogenhandel im Görlitzer Park beschäftigte, sowie die »Bike-Leute«, die einen professionell aufgezogenen Handel mit gestohlenen Fahrrädern untersuchten. Viel würde ihrer Ansicht nach ohnehin nicht dabei herauskommen. Die Räder wurden an jeder Straßenecke bei Tag und Nacht geklaut und schneller gen Osten verschoben, als die Beamten reagieren konnten, und Drogen im Görli waren ohnehin ein alter Hut, ein uralter Hut.

Als Hannahs Anfrage hereinkam, war sie nicht unglücklich über die Abwechslung, und nach einer knappen halben Stunde Recherche lag auf der Hand, dass Valerie Frieth ihren Lebenslauf verschleiert oder dies zumindest versucht hatte. Besonders geschickt oder gar professionell war sie dabei allerdings nicht vorgegangen. Aber immerhin hatte die Maskerade unkritischen und oberflächlichen Blicken bislang standgehalten.

Vor ungefähr einem Jahr war sie unter ihrem Geburtsnamen Boch in Berlin aufgetaucht, hatte gejobbt und wenige Monate später Thomas Frieth geheiratet. Zumindest zwei alte Meldeadressen waren schlicht erfunden, ebenso die Steuer-ID, und im Netz fand sich wenig bis gar nichts zu ihr. Das war ein ziemlich wackliges Gerüst für eine neue Identität, das wahrscheinlich im Zuge der nächsten Steuererklärung zusammengekracht wäre – oder auch nicht, solange niemand genauer nachforschte.

Die meisten Berliner Behörden arbeiteten bekanntermaßen zäh und langsam, Personalmangel, wohin man auch blickte, und so mancher Antrag, so manche Akte wurde schlicht durchgewunken, um für Platz auf dem Schreibtisch zu sorgen. Insofern war die Idee, in der Hauptstadt einen neuen Anfang zu wagen, nicht die schlechteste gewesen, zumal an der Seite eines Mannes, der an Unauffälligkeit schwerlich zu überbieten war: Schule, Lehre, gerade mal drei Arbeitsstellen, immer im Berliner Süden gemeldet, kein polizeilicher Hintergrund, eine Scheidung, kinderlos.

Zwei Kollegen gingen grüßend an Lones Schreibtisch vorbei. Sie sah kaum hoch, auch nicht, als ein dritter schließlich vor ihr stehen blieb und mit leisem Schlürfen an seinem Kaffee nippte, wie sie dem Geruch nach feststellte.

»Ich verstehe immer besser, warum du keine Probleme mit dem Arbeiten im Großraumbüro hast. Du hast echt die Ruhe weg«, sagte der Kollege. »Bewundernswert.«

Sie blickte langsam auf.

Mark grinste. »Aber das ist ja nichts Neues.«

»Stimmt.«

»Hast du schon was gefunden?«

»Sie wollte sich verstecken.«

»Mehr weißt du noch nicht?«

»Nein. Dazu brauche ich …«

»Schon klar.« Mark griff nach seinem summenden Handy und setzte sich ungefragt auf die Kante von Lones Schreibtisch. »Hannah? Ja, Lone sitzt schon dran. Die Frau wollte abtauchen. Wir brauchen einen Beschluss für weitergehende Ermittlungen.« Er nickte. »Okay, bis gleich.«

Er steckte das Handy wieder ein und warf Lone einen Blick zu. »Alles auf dem Weg.«

»Gut.«

»Soll ich dir einen Kaffee besorgen?«

»Nein.«

»Tee?«

Sie sah ihn so lange schweigend an, bis er die Hände hob. »Schon gut, ich quatsche dich nicht länger voll.«

Wie schön.

Das entscheidende Stichwort fiel ihr auf, als Lone die Kontobewegungen prüfte und die Ergebnisse an Hannah weiterleitete. Valerie hatte an einen Hausbesitzer in Lübeck eine Betriebskostennachforderung überwiesen – für ein Haus in Hohwacht.

Hannah ließ sich in die Lehne zurücksinken. Sie hatte bereits mit der Vermissten zu tun gehabt. Sie war die Exfrau von Peter Kayn, einem ehemaligen hohen Beamten an der Polizeiakademie in Lübeck, der über viele Jahre hinweg eine eindrucksvolle Karriere als leitender Ermittler in verschiedenen Dienststellen quer durch die Republik hingelegt hatte. Seine wahre Identität als Roman Radu, Führungsoffizier des rumänischen Geheimdienstes Securitate, war im Zusammenhang mit Hannahs anderthalb Jahre zurückliegenden Ermittlungen nach dem Mord an einer Journalistin aufgedeckt worden. Valerie hatte sich eine Weile zuvor von ihrem Mann getrennt, und im Laufe eines kurzen Gesprächs, zu dem Hannah sie damals nur mühsam hatte überreden können, war deutlich geworden, dass sie große Angst vor ihm und seinen Leuten hatte. Mit Recht.

Valerie hatte einiges von den Machenschaften ihres Mannes geahnt oder sogar mitbekommen, und ihr war klar gewesen, dass die Journalistin bei ihren Recherchen im rumänischen Hermannstadt dem weitreichenden Netzwerk und der Vergangenheit ihres Mannes immer näher gekommen war. Außerdem hatte sie das Mordopfer kennen- und schätzen gelernt.

»Was ist los?«, unterbrach Mark ihre Gedanken. »Sag nur, du kennst sie?«

»Ja, ein Fall in Lübeck. Ich habe sie damals nur ganz kurz zu Gesicht bekommen und lediglich einige Minuten mit ihr telefoniert.«

Hannah wandte sich an Lone. »Recherchier mal die Namen Valerie Kayn, Peter Kayn und Roman Radu und verschafft euch einen Überblick.« Sie stand auf. »Ich muss erst mal in Ruhe telefonieren.«

Sie blieb einen Moment im Flur stehen. Die Geschichte hatte sie seinerzeit zutiefst aufgewühlt. Kayn beziehungsweise Radu war 1989 nach dem Aufstand in Bukarest und dem staatlich verordneten Massaker an der Bevölkerung, an dem er nachweislich beteiligt gewesen war, aus Rumänien geflohen und untergetaucht. Mit Hilfe alter und neuer Seilschaften und gut klingender Identität war er in den deutschen Polizeiapparat geschleust worden, wo er vierundzwanzig Jahre bundesweit Karriere gemacht hatte, während er gleichzeitig ein Netzwerk aus Geheimdienst- und OK-Leuten aufgebaut hatte, und war schließlich in der Polizeiakademie gelandet. Als sein Vater zum Pflegefall wurde, hatte er ihn nach Deutschland geholt und in einer Senioreneinrichtung in Wismar untergebracht. Auch Radu Senior war seinerzeit ein treuer Securitate-Gefolgsmann gewesen, berüchtigt für seine Regimetreue und Grausamkeit. Sehr wahrscheinlich wäre niemand je den Radus auf die Spur gekommen, wenn die Journalistin nicht ihre Fühler ausgestreckt hätte. Das hatte sie mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Einer von Radus Leuten hatte damals Kotti entführt, um Druck auf Hannah auszuüben. Ihr wurde immer noch übel, wenn sie an die bangen Stunden zurückdachte, die sie in Dagmars Haus verbracht hatte, und es gab immer wieder Momente, in denen sie sich fragte, warum der Typ Kotti nicht einfach getötet hatte.

Sie wählte Krügers Nummer. »Es handelt sich um Valerie Kayn«, erklärte sie ohne lange Vorreden.

Ihr Vorgesetzter schwieg einen Moment. Hannah war sicher, dass er sich sofort erinnerte. Nach der weitgehenden Mordaufklärung waren die weiteren Ermittlungen damals kurzerhand von anderen Dienststellen übernommen worden, worüber Hannah alles andere als erfreut gewesen war. Aber das hatte niemanden interessiert.

»Roman Radu«, sagte Krüger schließlich. »Interessant. Der Mann sitzt inzwischen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in Karlsruhe ein, zusammen mit einigen seiner engsten Gefolgsleute. Der Prozess ist in Vorbereitung. Die Generalbundesanwaltschaft hat ihre besten Juristen aufgeboten. Was daraus wird, werden wir sehen – wann auch immer. Die Geschichte wird sicher noch einige Zeit beanspruchen, Jahre womöglich.«

»Und irgendwann im Sande verlaufen?«

»Nein«, entgegnete Krüger energisch. »Das nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass Radu einige Asse im Ärmel hat.«

»Das ist zu befürchten«, seufzte Hannah. »Wer über so viele Jahre unbehelligt die Karriereleiter hinaufgeklettert ist, dürfte überall Freunde sitzen haben.«

»Du sagst es. Da dürfte so manch einem Beamten gerade der Arsch auf Grundeis gehen, wenn ich das mal so direkt sagen darf.«

»Nur zu.« Hannah grübelte einen Moment. »Es dürfte ihm auch im Knast keine allzu großen Umstände bereiten, die Entführung und Ermordung seiner Exfrau in Auftrag zu geben«, fuhr sie schließlich fort. »Oder siehst du das anders?«

»Hm. Späte Rache?«

»Ja. Halte ich für denkbar.«

»Und warum gerade jetzt?«, fragte Krüger.

»Sie hat versucht, ihre Spuren zu verwischen, sich aber nicht sonderlich geschickt angestellt. Vielleicht hat sich schon vor längerer Zeit jemand an ihre Fersen geheftet.«

»Man hat ihr damals angeboten, ins Zeugenschutzprogramm zu gehen. Das wollte sie nicht.«

»Sie hat niemandem vertraut, schon gar nicht der Polizei. Hätte ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch nicht«, erwiderte Hannah. »Ich denke, dass die Kollegen vom Staatsschutz und dem BND auf jeden Fall informiert werden sollten.«

»Ich kümmere mich darum. Habt ihr mit der Handyortung etwas erreicht?«

»Nein. Es ist ausgestellt, und vom Provider liegen noch keine Daten vor.«

»Okay. Ansonsten vergiss bitte nicht, dass wir es im Moment noch mit einer stinknormalen Vermisstensache zu tun haben. Es könnte alles Mögliche dahinterstecken, ohne jeglichen Bezug zu Radu und alten Geschichten.«

Hannah glaubte nicht einen Moment daran, und Krüger tat das auch nicht. Aber als ihr Vorgesetzter musste er sie darauf hinweisen. Sie unterbrach die Verbindung und rief Dagmar an. Die reagierte ziemlich perplex und drückte das gewohnt rustikal aus.

»Ach du Scheiße.«

»Könnte man so sagen.«

»Wie hieß eigentlich dieser Typ, der damals Kotti entführte und …«

»Mirko Sehler.«

»Richtig. Was für ein abgebrühtes Früchtchen – macht einen auf Schmuckdesigner und ist als Killer für Radu unterwegs. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Der ist spurlos abgetaucht.«

»Vielleicht treibt er sich inzwischen in Berlin herum«, gab Hannah zu bedenken.

»Den Gedanken würde ich im Hinterkopf behalten.«

Nicht nur dort. »Kannst du dich in Hohwacht mal ein bisschen umsehen und mit dem Lübecker Vermieter sprechen?«, schob Hannah nach. »Noch ist das ja kein offizieller Fall, aber …«

»Schon klar. Ich kümmere mich darum.«

»Danke dir.«

»Keine Ursache. Wie geht es dir sonst so?«

Beschissen. »Mittelprächtig. Ein andermal mehr dazu.«

»Okay. Halt die Ohren steif.«

Hannah fuhr nach einer abschließenden Besprechung mit Lone und Mark nach Hause. Die Temperatur war deutlich unter den Gefrierpunkt gesunken; es war glatt auf den Straßen, ein eisiger Wind fegte um die Häuser. Sie drehte die Heizung hoch und füllte Kottis Napf. Nach kurzem Überlegen schloss sie die Haustür zweimal ab und legte das Kettenschloss vor.

Ihr Appetit war alles andere als üppig, aber sie kochte Nudeln und taute die Reste einer eingefrorenen Tomatensoße auf. Später schlief sie vor dem Fernseher ein – und wachte vom Telefonklingeln auf. Sie tastete nach dem Smartphone. Florian lächelte ihr vom Display entgegen.

»Ja?«, fragte sie schlaftrunken.

»Ich habe dich geweckt. Tut mir leid.«

»Muss es nicht. Schon okay, ich bin mal wieder auf dem Sofa eingeschlafen.« Willst du noch vorbeikommen?, schoss es ihr durch den Kopf. Bitte, komm doch noch vorbei. Ich warte auf dich. Wir gehen ins Bett, und alles wird irgendwie gut.

Es blieb still am anderen Ende.

»Was ist? Alles in Ordnung?«

»Nein.«

Sie setzte sich auf und strich eine Haarsträhne zurück. Ihre Hand zitterte, und plötzlich war sie hellwach.

»Ich kann das nicht«, flüsterte er. »Ich schaffe es nicht. Es tut mir leid, es tut mir so furchtbar leid.«

»Was genau schaffst du nicht?« Die Frage war so überflüssig wie ein Kropf. Sie klang nach dem Versuch, Zeit zu schinden, nach Bittstellerin, nach der Geliebten, die sich nicht damit abfinden wollte, dass es vorbei war – oder noch nicht einmal richtig begonnen hatte.

»Ich kann sie nicht im Stich lassen – sie und die Kinder …«

Hannah ließ das Handy sinken. Aber mich kannst du im Stich lassen. Ich bin alleine, mein Sohn ist erwachsen und führt ein eigenes Leben. Es gibt nur mich und Kotti und meine Leidenschaft für dich. Wage es nicht, in vier Wochen mit Blumen vor meiner Tür zu stehen, oder wie Dagmar sagen würde: Wer nicht will, der hat schon. Leck mich.

Sie unterbrach die Verbindung, ohne etwas zu erwidern. Minuten später erhob sie sich und starrte über die Dächer, auf denen das Eis glitzerte. Minus zehn Grad, meldete die Wetter-App. Dauerfrost war angesagt.

Er liebte die Herausforderung dieses eisigen Wetters, den scharfen Frostwind, der die Lippen innerhalb von Momenten verschloss und in den Augen stach, die rauchige Atemluft vor seinem Mund und die frühe dunkle Stunde, zu der er all das für sich ganz allein zu haben schien. Die Morgendämmerung hatte ein zartes violettes Band ausgeworfen, als er sich auf den Weg zum See machte. Die Eisfläche glitzerte unter einem runden Mond.

Er setzte sich an den Uferrand und schlüpfte in die Schlittschuhe. Vor dem Betreten der Eisflächen wurde nach wie vor gewarnt, aber das hatte ihn noch nie gestört. Die Kufen waren geschliffen und würden ihn übers Eis tanzen lassen, begleitet von dem Singsang der eingeschlossenen Luftblasen in der Tiefe des Sees. Er prüfte das Eis, wie er es jedes Jahr prüfte, lauschte dem Knarzen und drehte dann eine erste vorsichtige Runde am Uferrand. Es trug ihn, wie es ihn immer trug. Er war nicht besonders groß und sehr leicht, und in Ufernähe war der See flach. Der bitterkalte Wintermond stand schweigend über ihm.

Nach wenigen Minuten wagte er sich ein Stück weiter hinaus. Das Eis sang, die Dämmerung färbte sich mittlerweile blutrot. Er lächelte – soweit sein Gesicht ein Lächeln zuließ. Auf der östlichen Seite des Ziestsees stand der Wald wie eine dunkle Wand vor dem Himmel, still und stumm. Er fuhr nach kurzem Überlegen darauf zu, sein Herz schlug schnell und kraftvoll, und er erreichte binnen kurzer Zeit die Mitte des Sees. Dort blieb er stehen. Einen Moment lang war er davon überzeugt, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Das fühlte sich großartig an.

Er breitete die Arme aus und wollte sich gerade kraftvoll abstoßen und weitertanzen, als er unter seinem rechten Schuh eine merkwürdige Verfärbung im Eis entdeckte. Er kniete sich hin und rieb die Oberfläche glatt. Direkt unter dem Eis verbarg sich ein Gegenstand, aber es war zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen. Eine Jacke, dachte er, oder ein Paddel, Teile einer Luftmatratze. Er richtete sich wieder auf, zögerte und holte schließlich sein Smartphone aus der Innentasche. Er aktivierte die Taschenlampenfunktion und richtete den Lichtstrahl aufs Eis.

Er brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, was er sah. Ein bleiches Gesicht presste sich an die Eisschicht, und zwei aufgerissene Augen starrten ihn an.

3

Mark fing sie am Eingang ab und verstaute sein Handy. »Gut, dass du da bist. Wir müssen los. In einem See in der Nähe von Friedersdorf ist eine Frauenleiche gefunden worden.«

Hannah starrte ihn abwartend an.

»Feuerwehr und Technik sind bereits unterwegs.«

Sie schüttelte den letzten Rest Morgenträgheit ab und stieg zu Mark in den Wagen, nachdem Kotti auf den Rücksitz gehüpft war. »Wofür brauchen wir die Feuerwehr?«

Mark startete den Motor. »Wir haben seit einigen Tagen strengen Dauerfrost. Die Leiche ist unterm Eis.«

Hannah schloss kurz die Augen.

»Der Kollege vom Revier Heidesee, der Valeries tote Katze inspizierte, hat sofort geschaltet, als die Meldung reinkam, und uns gleich informiert.«

Hannah sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. »Das ist alles heute Morgen passiert? Wir haben gerade mal …«

»Ein junger Typ ist dort regelmäßig im Winter mit Schlittschuhen auf dem See unterwegs, in aller Herrgottsfrühe. Ist ein Hobby von ihm«, fiel Mark ihr ins Wort.

»Soll das ein Scherz ein?«

»Nein. Er hat das Eis geprüft und ist losgelaufen. Ich würde allerdings nicht ausschließen, dass ihm der Spaß für alle Zeiten vergangen ist. Die Tote hat ihn mit offenen Augen direkt unter der Eisoberfläche angestarrt. So ein Bild wirst du wohl nicht wieder los.« Mark schüttelte sich. »Er ist übrigens fest davon überzeugt, dass es sich um eine Frauenleiche handelt.«

Hannah schwieg betroffen.

»Demnach dürfte Valerie seit etlichen Tagen tot sein – der Mörder hat sie im See entsorgt.«

Hannah nickte kaum merklich. »Falls es sich um Valerie handelt.«

»Zweifelst du daran?«

»Nein.«

Die Katze, dachte Hannah. Warum lässt der Mörder die Katze zurück? Es dürfte ihm klar gewesen sein, dass sie gefunden wird. Das war möglicherweise der Plan. Die strangulierte Katze und eine Frau unter Eis.

Sie brauchten eine knappe Stunde bis zum Ziestsee, der ungefähr zwölf Kilometer südöstlich von Königs Wusterhausen inmitten eines idyllischen Seengebietes lag. Während der gesamten Fahrt gelang es Hannah nicht, das Bild der toten Augen unter dem Eis loszuwerden, und absurderweise war sie sauer auf Mark.

Das Gebiet war weiträumig abgesperrt, und es herrschte reges Treiben. Ein Spezialteam der Feuerwehr hatte in Zusammenarbeit mit Kriminaltechnikern mit der Bergung der Leiche begonnen.

Trotz der frühen Stunde und der frostigen Temperaturen hatten sich längst Schaulustige eingefunden, die mit langen Hälsen einen Blick zu erhaschen suchten und Handys mit ausgestreckten Armen über ihre Köpfe hielten. Immer wieder das gleiche öde Theater.

Hannah blieb am Ufer stehen und blickte über den See, während Mark mit dem Kollegen aus Heidesee und dem Schlittschuhläufer sprach. Leichenschau war noch nie ihre Spezialität gewesen. Als die ermordete Journalistin gefunden worden war, hatte sie ihr Abendessen wieder ausgespuckt, und Dagmar hatte sie getröstet. Glücklicherweise war ihr Frühstück eher dürftig gewesen. Sie schlief schlecht – daran hatte auch der gestrige arbeitsreiche Recherchetag im LKA nichts geändert.

Mark trat neben sie. »Sie haben ein Loch ins Eis geschnitten und ziehen sie jetzt raus«, erklärte er leise.

So genau wollte sie das gar nicht wissen.

»Die Rechtsmedizin ist informiert. Sie wird so schnell wie möglich untersucht. Wenn wir Glück haben, übernimmt es die Steinfeld.«

Hannah nickte. Karola Steinfeld arbeitete souverän, schnell und gründlich. Sie konzentrierte sich zunächst auf die Untersuchungen, die die Ermittler brauchten, um weiterzukommen, und scheute sich nicht, auch mal eine Vermutung zu äußern, für die noch keine eindeutigen Beweise vorlagen. Das war durchaus ungewöhnlich für eine Rechtsmedizinerin.

Die Spurenlage am See wird nichts hergeben, dachte Hannah. Die Frau ist seit Tagen tot, und wer immer sich hier draußen herumgetrieben hat und sie im Wasser entsorgte, dürfte zu dieser Jahreszeit kaum aufgefallen sein. Dennoch …

»Wir müssen die Leute hier in der Gegend befragen«, sagte sie leise. »Vielleicht hat ja doch jemand was mitgekriegt.«

Mark stopfte die Hände in die Hosentaschen »Wir werden die Kollegen aus Königs Wusterhausen einbinden.«

Hannah wandte den Kopf. Die Leiche wurde in einen Sack gebettet und langsam auf einem flachen Schlitten über eine Seilwinde ans Ufer gezogen. Sie fasste kurz nach Marks Arm. »Die Schaulustigen«, sagte sie leise.

»Verstehe. Ich lasse Fotos machen. Wer weiß …«

»Genau.«

Wenig später hievten zwei Techniker den Schlitten an Land. Hannah atmete tief durch und ging an Marks Seite hinunter. Ihre Hände waren eiskalt. Einer der Techniker zog den Reißverschluss des Leichensacks auf; es knarzte leise, und Hannah wappnete sich innerlich, als ein blau-bleiches Gesicht mit blicklosen Augen und ein schlanker, bekleideter Körper zum Vorschein kamen.

Der Anblick eines gewaltsam getöteten Menschen war jedes Mal wieder erschütternd. Da half keine Routine oder Souveränität, kein noch so emsiges Beschwören eines inneren Schutzschildes, zumindest hatte Hannah noch keines gefunden, das ihr half. Es war und blieb schrecklich, und so tat sie das, was sie immer tat: Sie stellte sich der Situation und registrierte, was sie sah. Der Hals wies Strangulierungsmale auf. Die Frau trug ihren Ehering. Die Übereinstimmung mit den Fotos und der Beschreibung des Ehemannes war zwingend. Es bestand kein Zweifel, dass es sich bei der Leiche um Valerie handelte.

Hannah bekam aus den Augenwinkeln mit, dass Mark eilig ein paar Fotos schoss. Das leise Klicken hinterließ einen seltsam endgültigen Eindruck. Sie sah Valerie direkt ins Gesicht und bemühte sich, den Anblick zu ertragen, das Flattern in ihrem Magen zu unterdrücken, die Übelkeit zu ignorieren. Was hat man dir angetan? Warum? Wie sehr hast du Radu verärgert? Hannah stellte sich einen Moment lang vor, dass Valerie mitbekommen könnte, wer als Ermittlerin in ihrem Fall tätig war. Würde sie das trösten? Sie schob die absurden Gedanken beiseite.

Minuten später machten sie sich auf den Weg zu Thomas Frieth.

Hannah erledigte während der Fahrt einige Telefonate und schrieb Dagmar eine kurze Nachricht. Als sie vor dem Reihenhaus anhielten, wurde ihr elend zumute.

»Der Mann wusste nichts von ihr«, sagte sie leise. »Und es war ihm egal. Er hat sie akzeptiert, wie sie war. ›Es spielt keine Rolle, was vorher war– das ist vorbei. Wir verstehen uns und leben hier ein friedliches gutes Leben. Es war nicht die große, stürmische Liebe zwischen uns, aber eine zuverlässige Partnerschaft. Respekt und so‹«, gab Hannah seine Worte wieder.

»Klingt gut – wenn es stimmt.«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu.

»Sorry, dass ich darauf hinweise, aber es kommt ja nicht gerade selten vor, dass der Ehemann der Täter ist«, verteidigte Mark seinen Einwand.

»Dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis.«

»Bislang wurde ja auch noch nicht ermittelt«, gab Mark zurück. »Oder hattest du etwa Thomas Frieth im Visier und hast Infos nach entsprechenden Kriterien gefiltert?«

»Nein, habe ich bislang nicht, aber wir werden natürlich keinen Aspekt außer Acht lassen und jeden Hinweis entsprechend würdigen. Gut, dass du das erwähnst.«

»Nicht wahr?« Er zog den Schlüssel mit einer ruckartigen Bewegung ab und schüttelte den Kopf. »Übrigens, du bist irgendwie scheiße drauf.«

»Echt? Eisleichen am frühen Morgen machen mir irgendwie schlechte Laune. Merkwürdig, was?«

»Das ist es nicht.«

»Nein?«

»Nein. Und du weißt genau, was ich meine.«

»Lass gut sein, Mark.«

Sie stieg aus. Fast hatte sie vergessen, dass die Zusammenarbeit mit Mark nicht immer die reinste Freude war. Er war ziemlich gut darin, wunde Punkte auf seine schnoddrige Art zielsicher zu treffen.

Frieth öffnete die Haustür, als Hannah den Vorgarten betrat. Sein Blick tastete ihr Gesicht ab, und er begann zu weinen, bevor sie auch nur einen Ton gesagt hatte. Dann wandte er sich um und ging langsam ins Haus. Hannah folgte ihm einen Moment später, Mark bildete den Schluss.

Frieth brauchte fast zehn Minuten, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er zu einem Gespräch fähig war.

»Was ist passiert?«, flüsterte er. Seine Augen waren rot, die Stimme klang brüchig.

»Sie wurde ermordet.«

»Wie?«

»Das wissen wir noch nicht genau. Sie wird zurzeit rechtsmedizinisch untersucht.

Er hob das Kinn. »Ich will sie sehen.«

Hannah nickte erleichtert. Damit war das Thema Identifizierung geklärt. »Wir können gleich gemeinsam ins Institut fahren.«

»Ja.« Er nickte, zerknüllte ein Taschentuch und schniefte leise. »Wo haben Sie sie entdeckt?«

»Im Ziestsee …«

Einen Augenblick sah es so aus, als würde Frieth erneut zusammenbrechen. Er schlug die Hände vor sein Gesicht und ließ sie dann langsam sinken. »Haben Sie schon eine Ahnung, wer dahintersteckt?«

»Es gibt bislang nur Verdachtsmomente. Es wäre unfair …«

»Lassen wir das mit der Fairness, Frau Kommissarin, meine Frau wurde ermordet.«

»Ja.« Hannah atmete tief ein. »Wir vermuten, dass der Mörder etwas mit ihrer Vergangenheit zu tun hat.«

Er blinzelte verwirrt.

»Valerie war schon einmal verheiratet – mit einem sehr gefährlichen Mann, gegen den seit über einem Jahr wegen schwerwiegender Kapitalverbrechen ermittelt wird. Sie hat sich seinerzeit von ihm getrennt und ist untergetaucht. Sie wusste einiges von seinen Machenschaften, womöglich zu viel. Der Mann sitzt zwar im Gefängnis, aber sein Einfluss reicht sehr weit.«

Frieth schwieg immer noch. Er strich sich übers Kinn. »Sie reden wirklich von Valerie? Das kann ich kaum glauben.«

Mark räusperte sich und tauschte einen schnellen Blick mit Hannah. Sie hob eine Braue und nickte dann.

»Ist Ihnen wirklich nichts merkwürdig vorgekommen oder aufgefallen, jetzt, da Sie wissen, dass Valerie einen langen Weg hinter sich hatte, bevor sie in Berlin landete?«, ergriff er das Wort.

Er gibt sich ja richtig Mühe und wählt behutsame Worte, dachte Hannah. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Frieth überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich dachte, sie hätte mit einigen Beziehungen böse Schiffbruch erlitten und wäre auch mal auf der schiefen Bahn gelandet, wie es immer so heißt … So was in der Art. Es hat mich alles nie länger als einen Wimpernschlag beschäftigt. Und in den letzten Wochen vor ihrem Verschwinden war alles wie immer. Glauben Sie mir, da war nichts.«

»Hat sie mal von einem aufdringlichen Gast gesprochen oder Ärger im Bistro erwähnt?«, fragte Hannah.

»Nein. Ich meine, Ärger oder auch Streit gibt es ja überall mal. Aber da war nichts Besonderes, was sie länger beschäftigte. Das hätte ich gemerkt.«

»Sicher?«

»Ja.«

Vielleicht hatte das eine mit dem anderen nichts zu tun, denn falls Hannah mit ihrer Theorie richtiglag, dass jemand aus Radus Kreis aufgetaucht war, hätte der sich wahrscheinlich unauffälliger verhalten und sicherlich keinen Streit im Bistro gesucht, noch dazu vor Zeugen. Der Täter hatte sie eine Zeitlang unauffällig beobachtet, war ihr auf ihren üblichen Wegen gefolgt, unter anderem nach Friedersdorf, und hatte einen günstigen Zeitpunkt für eine Entführung abgepasst. Und die Katze hatte er auch gleich mitgenommen? Warum? Musste sie zuschauen, als er das Tier tötete?

»Hatte Ihre Frau einen PC oder Laptop?«, fragte Mark.

»Wir haben gemeinsam einen Laptop benutzt, für das Nötigste.« Er schüttelte den Kopf. »Computer waren nicht unsere Welt.«

»Wir müssten ihn trotzdem mitnehmen. Vielleicht entdecken unsere Spezialisten wichtige Hinweise.«

Er zuckte mit den Achseln. »Glaube ich nicht, aber machen Sie nur …« Er brach ab, dann sah er Hannah an. »Ich kann jetzt nicht mehr reden. Können wir losfahren?«

»Das tun wir. Nur noch eine Frage, Herr Frieth: Wie wichtig war Ihrer Frau die Katze?«

»Sie hat die kleine Streunerin geliebt«, flüsterte er. »Das Tier ist uns zugelaufen. Valerie wollte sie eigentlich ins Tierheim bringen, hat aber dann entschieden, dass sie bleibt. Die beiden waren … ein Herz und eine Seele.«

Hannah atmete tief aus.

Frieth hielt den Anblick seiner Frau nur wenige Momente aus. »Ja«, sagte er und noch einmal. »Ja.« Dann verließ er den Raum.

Hannah hatte dafür gesorgt, dass draußen ein Polizeipsychologe auf ihn wartete. Sie glaubte nicht, dass er das Gesprächsangebot annehmen würde.

»Hannah? Können wir?« Karola Steinfeld suchte ihren Blick und nickte Mark zu.

»Ja.«

»Die Bestimmung des Todeszeitpunktes ist ausgesprochen schwierig, erst recht so kurz nach der Bergung«, erläuterte die Rechtsmedizinerin gewohnt ruhig und sachlich. »Solange ich noch keine Feinanalysen vorliegen habe, ist sozusagen alles möglich: drei Tage oder auch eine Woche, zehn Tage, irgendwas dazwischen. Tut mir leid.« Sie zuckte mit den Achseln.

»Das habe ich befürchtet.« Hannah seufzte leise. Immerhin stand fest, dass Valerie vor Beginn des starken Frostes ermordet worden war. Der Täter entführte sie, wahrscheinlich brachte er sie zunächst nach Friedersdorf, tötete sie wenig später und versenkte ihre Leiche im See. Kurz darauf fror der See zu.

»Die Todesursache scheint mir relativ eindeutig, obwohl natürlich auch diesbezüglich noch keine Gewissheit vorliegt. Sie wurde stranguliert.«

»Folter?«, fragte Mark.

»Einige Schlagverletzungen würde ich nicht ausschließen, außerdem war sie gefesselt, aber Foltermaßnahmen in größerem Umfang lassen sich so nicht feststellen.« Sie schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht auf der körperliche Ebene. Aber vielleicht hat man ihr etwas Fieses gespritzt oder sie psychisch unter Druck gesetzt. Möglicherweise werden die Blutwerte mehr Aufschluss geben, aber darauf hoffen würde ich nicht.«

»Vergewaltigung?«

Steinfeld schüttelte den Kopf. »Auf den ersten und zweiten Blick weist nichts darauf hin.«

»Nach Fremd-DNA traue ich mich ja kaum zu fragen«, warf Mark ein.

Steinfeld hob die Brauen. »Weise Entscheidung. Nichts Verwertbares, das dürfte die Technik gerne bestätigen.«

»Danke für die schnelle Einschätzung«, sagte Hannah.

»Gerne. Ich melde mich, sobald Ergebnisse vorliegen.«

Sie verließen das Gebäude durch einen Nebenausgang. Mark telefonierte bereits mit dem LKA.

»Wir fahren zur Lagebesprechung ins LKA. Der Staatsanwalt wartet bereits auf uns«, erklärte er, als sie ins Auto stiegen.

Wie schön. »Übernimmt Schneider?«

»Na klar, wer sonst? Dürfte dir doch recht sein, oder?«

Darauf antwortete sie nicht. Sie wählte Krügers Nummer, während Mark einen Moment abwartete und dann achselzuckend vom Parkplatz fuhr.

»Haben sich die Kollegen vom Staatsschutz irgendwie geäußert?«, fragte sie, kaum dass Krüger sich gemeldet hatte.

»Sie warten erst mal ab, bis hundertprozentige Gewissheit herrscht, dass es sich um Valerie Kayn handelt …«

»Sie ist gerade von ihrem Mann identifiziert worden.«

»… und darüber hinaus ein Zusammenhang mit Radu und seinen Machenschaften festgestellt wird«, fuhr Krüger unbeirrt fort. »So lange ermitteln wir mit dem LKA und reichen unsere Ergebnisse weiter.«

»Das ist sehr bequem für die Kollegen.«

»Was erwartest du?«

»Zum Beispiel Hinweise, die wir für die Mordermittlung nutzen können.«

»Fangt erst mal an. Sollte sich die These verdichten, werden die Karten womöglich neu gemischt, und wir kriegen Unterstützung.«

»Na schön.«

»Und die Presse sollte von den Hintergrundgeschichten keinen Wind bekommen.«

»Wir werden uns bemühen.«

»Davon gehe ich aus.«

Hannah steckte das Handy ein und sah zum Fenster hinaus.

Mark fluchte über einen Taxifahrer, der auf der rechten Spur scharf an ihnen vorbeischoss und ihm auf sein Hupen den ausgestreckten Mittelfinger zeigte. »So ein Wichser!«

Kotti bellte zustimmend.

Florian wartete bereits mit Lone im Besprechungsraum. Hannah spürte einen heftigen Stich, als sich ihre Blicke trafen, und überließ es Mark, die Ereignisse des Morgens darzustellen. Lone hatte die bisherigen Rechercheergebnisse zwischenzeitlich in einem ausführlichen Bericht zusammengefasst. Die weitere Vorgehensweise lag auf der Hand: so viel wie möglich über das Umfeld herausfinden, Querverbindungen suchen und die Nachforschungen anhand eingehender Auswertungen von Technik und Forensik ständig aktualisieren. Mark wollte sich eingehender mit Thomas Frieth beschäftigen. Hannah entschied, den Vorstoß unkommentiert stehenzulassen, obwohl sie der Meinung war, dass der Mann nicht das Geringste mit dem Fall zu tun hatte.

»Haben wir etwas vergessen?«, fragte Florian schließlich.

Hannah hob den Blick. »Meine Kollegin in Lübeck streckt gerade die Fühler aus. Womöglich hat Valerie die Stadt überstürzt verlassen, und irgendjemand erinnert sich an einen Zwischenfall.«

»Gute Idee.«

»Ansonsten möchte ich wissen, wann die Katze gestorben ist. Das könnte uns hinsichtlich der Einordnung des Tatgeschehens konkretere Aufschlüsse geben.«

»Und woran denkst du dabei?«, fragte Mark. Sein skeptischer Unterton war deutlich herauszuhören. »Die Steinfeld zweifelt daran, dass bei Valerie eine genaue Datierung überhaupt möglich ist.«

»Richtig – zurzeit. Aber vielleicht verfügen wir in einigen Tagen doch über ein Zeitfenster.«

»Und? Was spielt es für eine Rolle, falls sich herausstellt, dass der Stubentiger dort nicht hineinpasst?«

»Es spielt zum Beispiel in dem Moment eine Rolle, in dem feststeht, dass das Tier nach Valerie getötet wurde.«

Mark kratzte sich im Nacken und grübelte einen Moment. Dann nickte er. »Okay, die Vorgehensweise des Mörders wäre dann etwas merkwürdig und würde einige Fragen aufwerfen, das muss ich zugeben.«

Hannah nickte.

Florian verschränkte die Hände ineinander. »Ich kümmere mich darum, dass der Vorgang beschleunigt wird.«

Mark und Lone verließen wenig später gemeinsam den Raum.

Hannah blieb sitzen und sah Florian an. Plötzlich war es still. Vielleicht sollte ich den Fall abgeben, dachte sie. Das wäre nicht sonderlich professionell, aber musste sie immer hundertprozentig professionell sein?

»Es tut mir leid«, sagte er.

»Den Satz kenne ich schon von dir. Mehr hast du nicht zu sagen? Es tut dir leid, und es ist so schwer?« Sie hörte selbst, dass ihre Stimme bitter klang, und einen Augenblick wusste sie nicht, was sie mehr erschütterte – ihre eigene Verletztheit und Hilflosigkeit, Florians Verhalten oder die Tatsache, dass sie ihm ihre Kränkung zeigte.

»Ich dachte, dass wir das hinkriegen«, schob er schließlich nach.

Hannah erhob sich. Der Fehler liegt bei mir, dachte sie. Hände weg von verheirateten Männern, noch dazu mit Kindern und aus dem Kollegenkreis.

»Lass uns professionell damit umgehen«, sagte sie leise. Dann verließ sie das Zimmer. Kotti gähnte.

4

Sven hatte die Stadt im Sommer für gut drei Monate verlassen, war auf Umwegen durch Südosteuropa gereist, auf der Suche nach Abstand und Ruhe. Abstand zu Hannah und Kotti. Abstand zu Berlin und der seltsamen Aufgabe, der er sich seit dem Ende der Lübecker und Rostocker Tage voller Hingabe verschrieben hatte. Der Wunsch, alles richtig zu machen, seinem fast unfehlbaren inneren Sensor zu folgen, der stets die Lüge, die Falschheit entlarvte, und für Gerechtigkeit zu sorgen, auch wenn der Preis manchmal sehr hoch war.