Totengräbers Tagebuch - Volker Langenbein - E-Book

Totengräbers Tagebuch E-Book

Volker Langenbein

0,0

Beschreibung

"Ehre, wem Ehre gebührt – und das sind vor allem die Toten." Wie ist es, jeden Tag mit dem Tod umzugehen? Wie fühlt es sich an, die Trauer der Hinterbliebenen zu spüren? Was macht eigentlich ein Totengräber jeden Tag? "Totengräbers Tagebuch" ist die Geschichte eines Mannes, der viele Jahre als Totengräber arbeitete, der an dieser Aufgabe wuchs und fast scheiterte. Es sind Geschichten vom täglichen Leben und Sterben, erzählt von einem Mann, der all das selbst erlebte und spürte. Zu erzählen hat ein Totengräber auf jeden Fall genug ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 521

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.
Sortieren nach:
Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Rusty beginnt als Gärtnergehilfe auf dem Friedhof - nach wilden Jugendjahren mit diversem Ärger mit dem Recht seine Rückkehr zur Normalität. Da Rusty weder bürgerlich, noch in Kontakt zu Kirche oder Tradition zu finden ist, bietet das Buch den Insiderblick eines Außenseiters, der nichts kennt, nichts voraussetzt und sich gleichzeitig für nichts zu schade ist. Nach einem Jahr als Gärtnerhilfe wird er Totengräber und leitet später sogar eigenverantwortlich einen Friedhof. Das Buch beginnt mit Erfahrungen rund um die unterschiedlichsten Aufgbaen auf dem Friedhof wie auch bei der Abholung von Leichen und bietet im zweiten Teil diverse Anekdoten. Manches habe ich wieder erkannt, da ich als Prädikantin den Blick hinter die Kulissen auf Friedhöfen kenne. Sprachlich ist das Buch einfach, doch stimmig, mir hat die Lektüre gut gefallen. #TotengräbersTagebuch #NetGalleyDE #KathrinliebtLesen #Rezension #Bookstagram
00



Originalausgabe

© 2019 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin

[email protected]

www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juni 2019

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung

[email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout: Conny Agel

Lektorat: Klaus N. Frick

ISBN:

PRINT: 978-3-947380-93-0

PDF: 978-3-947380-91-6

EPUB: 978-3-947380-92-3

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren:

https://shop.hirnkost.de/

VOLKER LANGENBEIN

TOTENGRÄBERSTAGEBUCH

Der Autor

Volker Langenbein wurde 1969 in Karlsruhe-Durlach geboren. Nach dem Hauptschulabschluss erlernte er den Beruf des Forstwirts, zeitweise arbeitete er als Fabrik- und Bauarbeiter und war in einem Sicherheitsunternehmen als Hundeführer tätig. Ab 1993 war er Arbeiter auf dem Friedhof, zuerst ein Jahr als Gärtnergehilfe, danach jahrelang als eigenständiger Leiter von Stadtteilfriedhöfen. Eine kurze, doch sehr intensive Zeit im Rufdienst als Springer lag dazwischen, in der er Verstorbene am Sterbeort abzuholen hatte. Seit Mai 2018 ist er wieder als Arbeiter in der Abteilung Grünpflege des Hauptfriedhofs tätig.

INHALT

Einleitung

Noch eine Art Vorwort

Der Gärtner war der Coolste

Der erste Trauerzug in meinem Leben

Das erste Jahr

Frischling

Mars macht mobil …

Der Verwandelte in Uniform

Klappe auf, Klappe zu

Friedlich und verkrampft

Nicht nur die Toten …

Wenn der Hahn nicht mehr kräht

The Real Undertaker

Gezittert wie Espenlaub

Höllenritt mit Schubert

Eine kleine Predigt zwischendurch

Ein Abend in der Stadt

Zweite Tour mit Schubi

Eine neue Aufgabe

Abschied vom alten Friedhof

Mein eigener Friedhof

Mein Dasein als Bürohengst

Der Totengräber Ihres Vertrauens

Die erste Rufbereitschaft

Der Mann in Schwarz

Der Sensenmann zum zweiten Mal

Ein paar Zeilen für Peter

Mein Kollege Rogie

Mein Freund Renne

Der Tod ist eine Macht, aber …

Traurige Entscheidungen

Witzige Begegnungen

Meine Faustregel bei Toten

Mein Kollege Harry

Ein paar Gedanken zum Friedwald und zur Anonymität

»You’ll never walk alone …«

Vom Nachwuchs der Bestatterfamilien

Ein gerissener Strick

Heuchler, schlimmer als der Tod

Kollege Glocke

Quartalschristen

Eine Leiche im Winter

Highway to Hell

Im Regen stehen

Anspruch auf ein Grab

Etwas ganz Großes

Vom Winde vereint

Ein Hauch vom Tod entfernt

Klaus N. Frick: Nachwort des Ko-Autors

EINLEITUNG

Man muss wohl erst an einer Theke sitzen, ein kühles Blondes zischen und im Laufe des Abends auf die Toilette müssen. Dann schaust du beim Händewaschen in den Spiegel, siehst deine tiefen Lebensfalten unter den Augen, die du dir im Lauf deines Lebens selbst geschlitzt hast, und spätestens in dem Moment wird dir bewusst, was du alles erlebt hast. Du gehst zurück an die Theke und weißt: Du musst dieses Erlebte niederschreiben. Nicht jeder ist der, der du bist.

Aber wer bin ich eigentlich? Ein stinknormaler Typ, der 1969 irgendwo am Rande einer Großstadt als jüngstes von vier Geschwistern geboren wurde. Es war eine Gegend, in der man nicht überall spielen durfte, denn es konnte relativ schnell passieren, dass man eine Backpfeife sitzen hatte, wenn man in die »falsche Straße« kam. Dank meiner älteren Geschwister lernte ich das aber relativ schnell und blieb in unserem Viertel, so gut es ging.

Ich wuchs behütet auf, dank der Liebe und Hingabe meiner Mutter. Nach der Schule wurden die Hausaufgaben gemacht, und dann ging es mit dem Fußball unterm Arm hinaus zum Bolzen. Da lernte ich nun alles kennen: Spaß am Spiel, Freunde und Feinde in der umliegenden Nachbarschaft, dann die ersten kleinen Rangeleien, die mit zunehmendem Alter auch in Schlägereien ausarteten. Es war völlig normal und hatte keine größere Bedeutung.

Traf man weinend zu Hause ein, weil einem irgendwer den Ball weggenommen hatte oder man verdroschen worden war, bekam man gleich noch eine vom großen Bruder, der einen sowieso umgehend wieder auf die Straße schickte, um das Problem selbst zu lösen. Ich war ein richtiger Rotzlöffel, etwas mollig, jedoch flink genug, um frech zu sein und weglaufen zu können.

Nach der Hauptschule begann ich meine Lehre als Forstwirt. Zunehmend verschwand das Körperfett, und die Muskulatur nahm zu. Die Zeit kam, in der ich nicht nur frech war und dann wegrannte, sondern stehen blieb und Schwierigkeiten handfest klärte. Klar geriet ich immer wieder an einen, der besser mit den Fäusten umgehen konnte, jedoch schnitt ich statistisch gesehen gut ab.

Das aber brachte mir in den frühen Jahren des Heranwachsens viel Ärger ein. Nichts und niemand hatte mir ernsthaft etwas zu sagen. Ich hatte meinen eigenen Kopf und machte einfach, wozu ich Lust hatte.

Die Sandkastenfreunde trennten sich mit der Zeit, und jeder suchte seinen eigenen Weg. Manche lebten ihre Welt im heimischen Fußballstadion aus, andere kifften täglich um die Wette, und wieder andere drehten kleine krumme Sachen, die etwas Taschengeld einbrachten. Schließlich machte mir Justitia – ich war annähernd 21 Jahre alt – klar, dass die Dinge, die ich trieb, keine Kleine-Strolche-Straftaten mehr waren und ich jede Menge Strafe dafür zahlen musste. Sogar eine Haftstrafe stand im Raum.

Akkordarbeit im Wald zwang mich obendrein dazu, meinen Job sausen zu lassen, da ich mir schon in jungen Jahren die Bandscheiben verheizte. Das darauffolgende Jahr der Arbeitslosigkeit machte das Ganze nicht besser. Im Gegenteil: viel Freizeit für den vielen Mist, den ich baute.

Ich muss dazusagen, dass ich mir die Leiter nach unten selbst gebastelt hatte. Man kann es auch so sagen: Ich hatte die liebevolle Erziehung meiner mich alleinerziehenden Mutter schon fast mit Gewalt aus meinem Schädel und Herzen verbannt und sie mit Scheiße pur neu verfüllt.

Natürlich ist jeder seines Glückes Schmied. Jeder kann sein Leben lebenswert gestalten. Manche bleiben bedauerlicherweise auf dem Weg des Aufgebens und Nichts-mehr-dazulernen-Wollens. Einige jedoch erleben im Laufe ihres Lebens solch eine Hirnwandlung, dass diese sie zu spiegelverkehrten Menschen macht. Gott sei Dank bekam ich das Ruder noch herumgerissen.

Dank meiner nun zwei Dutzend Jahre dauernden Arbeit auf dem Friedhof und dank meiner Ehefrau hatte ich das Vergnügen, diesen Kopf-Gangbang erleben zu dürfen. Früher schlug ich Menschen, bis sie zu Boden gingen. Je schneller, desto besser, denn ich hasste allein schon die Tatsache, mich mit fremden Menschen abgeben zu müssen, geschweige denn sie zu berühren. Manche lernten einfach nur durch Schläge, mir nicht auf den Sack zu gehen. Mitleid war definitiv ein Fremdwort für mich, denn man hatte auch keines mit mir. Entweder du fällst, weil du zögerst, oder du bist gnadenlos und schneller als dein Gegenüber und ziehst einfach ohne Skrupel mitten auf die Zwölf durch.

Ein Appell an alle Kids da draußen: So etwas machen nur Doofis. Aber Doofis müssen früher oder später für ihre gebaute Scheiße zahlen, ganz wörtlich mit hohen Geldstrafen und Entschädigungen oder sie müssen in den Bau. Darauf braucht man keineswegs stolz zu sein. Seid stolz darauf, wenn ihr aus solchen Fehlern lernt und sie schnellstmöglich hinter euch lasst, ehe es zu spät ist.

Also nutzt euer Hirn und euer Herz im Leben! Helft Menschen auf, wenn ihr sie liegen seht, und tretet sie nicht nieder – das macht euch zu echt harten Kerlen. Denn das ist die wahre Stärke: Schwächeren zu helfen. Auch ich helfe Leuten heutzutage, so gut ich kann, wieder auf die Beine, wenn sie unten sind. Ich stütze sie, bin für sie da, lasse sie spüren, dass sie nicht allein sind.

Ja, meine lieben Leserinnen und Leser, ich habe meine Mama-Erziehung wieder zurück. Im Nachhinein habe ich dir, liebste Mutter, so vieles zu verdanken. Leider kannst du dieses Buch nicht mehr in deinen Händen halten. Mögest du in Frieden ruhen. Meine beruflichen Erlebnisse haben mich die selbst angeeignete Scheiße aus dem Hirn putzen lassen.

Ihr wollt das auch? Was ihr dazu braucht? ’ne Schaufel, ’nen Spaten, Einweghandschuhe und ’nen Job auf ’nem Friedhof.

Das komplette Rezept für ein sinnvolles Miteinander bekommt ihr nun aus meinem Tagebuch.

Des Totengräbers Tagebuch.

NOCH EINE ART VORWORT

Als ich ein pubertärer, von Pickeln geplagter heranwachsender Halbstarker war, zog ich mir gleich nach der Schule MTV rein und sah all die coolen Gangster-Rapper. Mir war irgendwie schon früh klar, dass ich so auch mal werden wollte. Einfach in der Sonne Partys machen mit hübschen Frauen, mit tollen Autos vorm eigenen Haus und jeder Menge Geld auf dem Tisch.

Ich muss dazusagen, dass ich für Drogen noch nie zu haben war. Drogen machen nur doof, und allein die Tatsache, dass ich zu dieser Zeit doof genug war, hätte in Verbindung mit Drogen die absolut krassesten Auswirkungen gehabt. Ich glaube kaum, dass ich heute hier sitzen und schreiben würde. Gut, sitzen ja, aber in einer Ein-Zimmer-Wohnung, die Vater Staat mir zahlen würde.

Jedenfalls wollte ich einst der coole Macher sein. Für wenig Leistung viel Reichtum und Wohlstand erlangen. Ich sah meine Mum, wenn sie abgerackert von der Arbeit kam. Müde, unzufrieden und genervt, weil ich immer in hellsten Tönen und tiefsten Bässen mein absolutes Lieblingslied von Grandmaster Flash, nämlich »The Message«, durch unser vierstöckiges Mietshaus jagte, dass sich die Yucca-Palmen im Hausgang genötigt fühlten, mitzugrooven.

Irgendwie zog ich aber in all den Jahren die Schule und die Lehre ohne besondere Vorkommnisse durch. Doch dann kam ich an den Punkt, an dem ich mir sagte, »Hey, warum suchst du dir eigentlich ’nen Job nach deiner Lehre, wenn du dein Geld doch viel schneller und leichter verdienen kannst?«. Als Lehrling im dritten Lehrjahr verdiente ich 540 Mark monatlich. Einige Gleichaltrige in meinem Bekanntenkreis hatten nicht mal ’ne Lehre, aber trotzdem täglich mehr Geld in den Taschen als ich im Monat. Logisch, die Jungs klauten wie die Raben.

Der Tag kam, und ich wollte es ebenfalls probieren. Wahnsinn! Meine erste Beute! Mein Kleingangster-Leben war somit geboren. Das Tolle war, dass ich erst nach meiner Lehre damit begann – hätte ich gewusst, wie einfach das ist, hätte ich die Lehre ganz sicher nicht zu Ende gebracht.

Lustig war damals, wenn mein großer Bruder von seinem Job als KFZ-Mechaniker verschmiert nach Hause kam, während ich schon – wie aus dem Ei gepellt – mit meiner ersten Freundin auf meinem Bett saß und wir es uns gemütlich machten.

Zu dieser meiner Bestzeit hatte ich nur zwei Erzfeinde. Zum einen war es meine Mum, die immer sagte, wenn ich mir keinen Job suche, fliege ich im hohen Bogen aus der Wohnung. Der lästigste, nie aufgebende Feind war das Arbeitsamt. Das war so was von aufdringlich. Die brachten einen echt dazu, vor zehn Uhr morgens aufzustehen und dann noch in einem überfüllten Gang mit ekelhaften fremden Menschen zu warten, bis man aufgerufen wurde. Igitt – war das eine Demütigung für mich!

Um das alles etwas abzukürzen, weil ihr ja meine Friedhofs-Story lesen wollt, sage ich nur, dass nach dem großen Hoch der brutal tiefe Fall kam. Ich wurde erwischt, bekam meine Verhandlung plus weitere wegen Körperverletzung und anderer Dummheiten.

Ich hatte auf einmal nichts mehr. Mir war klar: Noch einmal klauen, noch einmal irgendwo draufhauen, und ich darf für lange Zeit Wäscheklammern biegen. Kein Geld, kein Job, keine Freunde mehr, die etwas mit mir zu tun haben wollten, weil ich in ihren Augen ein braver Bub geworden war.

Das tat anfangs richtig weh. Also suchte ich mir notgedrungen einen Scheißjob. Egal welchen, Hauptsache, meine Mum und das Arbeitsamt gaben endlich Ruhe. Ich zog Karotten vom Feld, malochte als Laufbursche auf dem Bau, machte diesen und jenen Job. Alle waren unbefriedigend. Befriedigend war nur der Effekt, dass ich wie alle Normalos abends müde und hungrig war und keine Zeit und Lust hatte, überhaupt irgendwelche Scheiße zu bauen.

Dann aber bekam ich meinen Job auf dem Friedhof …

Im Voraus will ich betonen, dass dieses Buch auf Tatsachen beruht, ich aber die Pietät gegenüber den Verstorbenen und Hinterbliebenen gewahrt habe. Falls ein Satanisten-Freak dieses Buch in den Händen halten sollte, kann ich dem nur raten, es gleich wieder zu schließen. Dir wird hier sicher keiner abgehen. Ich habe es nicht nötig, für Geld über Leichen zu gehen. Meine Einstellung dank meines Berufes hat mich so oder so schon zu einem Menschen mit großem Reichtum gemacht. Ich habe wieder Herz, ich habe wieder Sinn, ich habe meine Aufgabe gefunden. Es ist Tag für Tag ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man etwas macht, das anderen Menschen guttut und auf ewig im Gedächtnis bleibt.

Alle Namen und Orte wurden von mir geändert. Diese sind aber auch wirklich das Einzige, was nicht stimmt.

Ehre, wem Ehre gebührt – und das sind vor allem die Toten.

DER GÄRTNER WAR DER COOLSTE

Lasst uns zur Namensgebung kommen. Mein richtiger Name ist Rusty. Nennt mich einfach Undertaker. Ist nicht mal so aus der Welt, denn Undertaker ins Deutsche übersetzt heißt Totengräber. Über die Jahre wurde dies zu meinem Spitznamen. Wenn du nun aber denkst, dass ich so scheiße aussehe wie der Totengräber in den Wildwest-Filmen, mit eingefallenem Gesicht, Zylinder und Eselsohren, muss ich dich enttäuschen. Ich sehe aus wie du – also wie ein Stinknormalo.

Meinen ersten Kollegen, den ich als Partner zugewiesen bekam, nennen wir mal Manfred. Und ich lernte ihn an meinem ersten Arbeitstag kennen. Morgens in aller Frühe stand ich vor dem Großraumbüro meines neuen Arbeitgebers. Stell dir vor, sogar ein Friedhof hat eine Verwaltung mit Büromenschen. Das wusste ich auch nicht, weil es mich nie zuvor interessiert hatte. Jedenfalls stand ich da und wartete, bis es sieben Uhr wurde, bevor ich mich in dieses Gebäude traute. Um mich wimmelte es von Arbeitern, die aus ihren privaten Autos stiegen und mit ihren Vespertaschen in Richtung Bauhof gingen. Pfui, dachte ich mir, so viele Menschen, auch noch fremde Menschen. Ob ich das überhaupt kann und will, dieses Miteinander? Wie ich schon sagte, ich hab ein Problem mit Menschen. Vor allem mit Fremden. Ich war noch nie ein Rudelmensch. Eher derjenige, der Freunde liebt und Fremde hasst.

Auf diesem Parkplatz vor dem Bürogebäude fühlte ich mich wie ein Wolf, der am liebsten in den tiefen Wald gerannt wäre. Nur weg von hier … Doch ich war schon so weit und gewillt, da musste ich jetzt durch.

Punkt sieben Uhr sprang im vorderen Bürogebäude das Neonlicht an. Auch die vielen Menschen waren wohl schon in ihren Umkleideräumen. Also noch mal tief durchgeatmet und rein! Der Puls und mein Herzschlag waren auf Spitzentour. Ich sah schon wieder frühmorgens eine Menschenschlange vor mir stehen und dachte nur an mein Arbeitsamt-Trauma. Furchtbar.

Ein Husten, lautes Gelächter, nervend klingelnde Telefonapparate und vier furchtbar mich einsperrende Wände – und ich war mittendrin. Sofort bemerkte ich, wie man mich in Augenschein nahm. Keiner konnte so recht etwas mit mir anfangen, doch mein Erscheinungsbild reichte wohl für dumme Blicke.

Ich hatte meine etwa schulterlangen, jedoch sehr dünnen Haare mit Haargel getränkt und zu einem Zopf gebunden. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mir diese langen Federn überhaupt nicht standen. Ich sah so scheiße aus wie Uwe Ochsenknecht in seinen besten Jahren. Immerhin hatte ich eine schwarze Lederjacke aus fetten guten alten Zeiten, ’ne 501-Jeans von Levi’s und meine New-Balance-Turnschuhe an. Manche starrten mich wegen der Klamotten an, der eine oder andere, weil man sich vom Sehen in der City kannte. Doch keiner von diesen Hirnis fragte mich, was ich hier suchte, geschweige denn, zu wem ich wollte.

Plötzlich stand ein kleines, relativ altes Männchen vor mir und fragte, ob ich der Neue sei. Alles spitzte die Ohren und wartete neugierig auf meine Antwort.

»Ja, der bin ich«, antwortete ich.

Sofort ging ein Getuschel los. Der kleine alte Mann forderte mich auf, ihm in ein anderes Gebäude zu folgen. Während wir durch die Menge gingen, beobachtete ich, wie sich zwei Schwachmaten in lustig-grünen Latzhosen über mich unterhielten und dabei mit vorgehaltener Hand vorm Mund über mich lachten. Natürlich zog mich mein Weg genau zwischen die wohl köstliche Unterhaltung der beiden hindurch, inklusive eines vernünftigen Schulterremplers meinerseits.

Erster Arbeitstag, und ich fühlte mich schon nach den ersten fünf Minuten angepisst. Was soll’s, dachte ich mir. Wenn jemand hier Probleme mit mir hat, dann bitte melden, ich bin dabei.

Zielstrebig trottete ich dem kleinen Alten hinterher, bis wir in einem Raum standen, der brechend voll mit Arbeitskleidung war. Hübsche schwarze Uniformen, blaue Latzhosen und jede Menge grüne Latzhosen, genau von der Sorte, wie sie die zwei Hohlblöcke trugen, die mich anmachen wollten. Nun ja, so ’ne Grüne bekomm ich bestimmt nicht, oder doch?, überlegte ich mir.

Der Kleine sagte zu mir: »Sie kommen in die Gärtnertruppe.«

Gärtnertruppe? Die mit den grünen Deppenhosen? Na ganz toll. Wie viel Demütigung ertrage ich noch?, dachte ich mir. Jedenfalls bekam ich ’nen Karton mit Arbeitsschuhen, Jacken, Hosen und Handschuhen in die Hände gedrückt.

»Hier, dies ist Ihre Arbeitskleidung. Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem neuen Arbeitskollegen. Der wird Sie übernehmen.«

Übernehmen?, dachte ich. Bin ich ein Hund, der ein neues Herrchen bekommt, oder was? Keine Stunde war ich in diesem Laden und schon hatte ich die Schnauze bis oben hin voll.

Ich trottete dem abgebrochenen Alten in einem Abstand von drei Metern hinterher; es ging quer durch den Friedhof. Von Weitem sah ich wieder so einen Grünfrosch, der auf ’nem Baumstamm saß und ’ne Kippe rauchte. Um ihn herum lag haufenweise Grünschnitt von Hecken.

Der Alte ließ ’nen Brüller los: »Manfred! Hast du nichts zu arbeiten?«

Sein Kopf lief komplett rot an. Oje, der Arme, dachte ich mir. Macht ’ne Pause und bekommt gleich so ’nen Einlauf.

Der Typ auf dem Baumstamm blieb jedoch ganz ungerührt. »Schrei mich mal nicht so an. Ich rauch jetzt meine Kippe fertig, und dann mach ich weiter. Immer deine unnötige Brüllerei, des nervt.«

Hey prima, der hat ja Eier in der Hose, dachte ich, der ist ja mal richtig cool, den mag ich jetzt schon.

So langsam verschwand das Tomatenrot aus dem Gesicht des Alten und er sagte in normalem Ton: »Manne, das hier ist dein neuer Kollege. Ich lass euch jetzt mal allein.«

Er schaute mich an. »Manfred ist Ihr Kapo. Er wird Ihnen alles Weitere erklären und zeigen. Also machen Sie es gut, ich werde im Laufe des Tages wieder bei Ihnen vorbeischauen.«

Dann drehte er sich um und wackelte zurück zum Hauptgebäude.

Ich stand da, in den Händen ’nen Karton mit Klamotten, und Manne saß daneben auf seinem Baumstamm und rauchte locker seine Kippe weiter.

»Rauchst du auch?«, fragte er.

»Ja, natürlich!«

»Na, dann stell doch mal deine Kiste ab und zieh erst mal eine durch. Das Geschrei von dem Alten darfst du dir nicht nahegehen lassen, der ist immer so. Der schreit, auch wenn es nichts zu schreien gibt. Aber das wirst du noch selbst lernen.«

Ich stellte die Kiste ab. Manne streckte mir seine riesigen Schaufelhände entgegen.

»Ich bin der Manne, und du kannst auch Manne zu mir sagen. Wie heißt du?«

»Rusty«, antwortete ich. »Kannst mich auch Rusty nennen.«

Er schmunzelte und nickte.

»Alles klar, Rusty. Alles locker, alles easy hier. Mach dir keinen Stress. Ich mache mir selbst keinen und dir übrigens auch nicht. Ich bin die Ruhe in Person. Ich glaub schon, dass es mit uns beiden passen wird.«

Oh, wie schön! Mir fiel ein Stein von Herzen. Ein Mensch, der mir sympathisch war, ein Fremder auch noch! Klasse. Ich wusste auf Anhieb, dieser Gärtner war der Coolste. Mit dem kann ich bestimmt malochen, ohne dass es Ärger mit ihm gibt.

DER ERSTE TRAUERZUG IN MEINEM LEBEN

»Also Rusty, ich zeige dir jetzt erst mal unsere Umkleidekabine und deinen Spind, wo du deine Kleidung einschließen und dich umziehen kannst.«

Manne drückte seine Kippe am Baumstumpf aus und erhob sich. Also trottete ich Manne hinterher, bis wir in der Umkleide standen.

»So, jetzt kannst du dich in aller Ruhe umziehen, ich komm gleich wieder. Ich geh nur schnell ’nen Kaffee holen.«

Okay, dann mal rein ins Trottelgrün. Ach du Scheiße, ich sah nun auch aus wie ein Vollpfosten. Ja, da war ich eben eitel. Robin Hood ist wohl deren Modeberater, dachte ich.

Manne kam mit zwei Kaffee zurück.

»Sag mal, Manne, warum haben wir diese ekelhaft grünen Klamotten? Ich hab heute Morgen im Lager auch blaue gesehen. Kann man nicht zumindest die bekommen? Besser als grün.«

»Grün ist die Hoffnung«, sagte er und lachte. »Sei froh, dass du die grüne hast, denn die blauen sind die der Totengräber, und ich glaube kaum, dass du diese Arbeit machen willst, oder?«

»Um Gottes willen – nein!«, entgegnete ich. »Friedhofsarbeit im Grünen, ja gut, aber mit dem Tod will ich nichts zu tun haben. Nein danke, dann lieber doch die grüne! Und für wen sind die schwarzen Uniformen, wenn ich fragen darf?«

»Die gehören auch den Totengräbern. Die machen hier alles. Die öffnen die Gräber im Blaumann, und den Sarg oder die Urne setzen sie im Schwarzkittel bei. Die wirst du im Lauf des Tages bestimmt noch sehen. Komm, wir gehen mal etwas malochen, bevor der Alte wieder auftaucht.«

»Apropos«, sagte ich. »Wie heißt der eigentlich noch mal? Der hat mir seinen Namen heute morgen zwar gesagt, aber so was von genuschelt, dass ich kein Wort verstanden hab.«

»Der heißt Iwan. Der Mann kann menschlich schwer in Ordnung sein, doch wir nennen ihn auch Iwan den Schrecklichen.« Wieder huschte ein freches Grinsen über Mannes Gesicht. »Der ist unser Meister, und das hängt er auch auch extremst raus. Er ist leicht cholerisch, aber korrekt, wenn man seinen Job sauber macht. Warte mal ab, der drückt dir früher oder später auch ’nen Blaumann in die Hände.«

»Hä? Wie bitte? Warum?«

»Na, weil du nur befristet auf ein Jahr bei mir bist, soweit ich es mitbekommen habe.«

Schwups, da flogen mir die Lefzen runter.

»So ein Mist, da bin ich ja überhaupt nicht scharf drauf.«

»Hey, Kopf hoch, Rusty! Es ist heute dein erster Arbeitstag. Mach dir doch nicht jetzt schon ’nen Kopf deswegen. Wer weiß, vielleicht kannst du ja auch bei mir bleiben und musst gar nicht zu denen wechseln.«

»Ja, warum soll das eigentlich passieren?«

»Na, weil mein Kollege, für den du nun da bist, in einem Jahr vom Bund zurückkommt, wenn er nicht verlängert. Der will dann seinen Arbeitsplatz wieder. Hat dir das denn keiner gesagt?«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich hörte bei meinem Einstellungsgespräch nur etwas von Gärtnergehilfe. Oder doch? Hatten die mir das gesagt? Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass einer der Personalräte sich während des Gesprächs erhob und vor der versammelten Mannschaft der Geschäftsführung vor mich trat. Dann sagte er:

»Also, ich habe große Zweifel, dass Sie hier Fuß fassen werden. Wenn ich Ihre häufigen Arbeitsplatzwechsel in Ihrem Lebenslauf sehe, behaupte ich mal schwer, dass Sie hier nicht alt werden.«

Alle starrten mich an, inklusive dem Big Boss, und warteten gespannt auf meine Reaktion.

»Wissen Sie was?«, sagte ich zu diesem Superschlaukopf. »Egal, wie lange ich gearbeitet habe, und egal wo, ich habe immerhin gearbeitet. Und wenn es mir hier gefällt und Sie mit mir zufrieden sind, werden wir ja sehen, wie alt ich hier werde. Dazu benötige ich einfach nur diese Chance von Ihnen, und ich werde Ihnen zeigen, was in mir steckt.«

Volltreffer! Ich bekam den Job. Ehrlichkeit und Frechheit siegen nun mal immer. Dass die Stelle jedoch nur auf ein Jahr befristet war, ging irgendwie komplett an mir vorbei.

Zurück am Arbeitsplatz erklärte mir Manne mit lockerer Gelassenheit meine Aufgaben. Er schnitt die Hecken, und ich putzte den Grünabfall hinterher und entsorgte ihn mit der Schubkarre in einen nahegelegenen Kompostplatz.

Der Job gefiel mir echt. Kein Stress, keine Hektik und ’n Top-Kollege, der super drauf war. Also gab ich so viel Gas, dass Manne die Heckenschere beiseitelegte und zu mir sagte:

»Hey, wir arbeiten hier nicht im Akkord. Mach mal etwas langsamer! Wenn Iwan sieht, wie schnell wir sind, drückt er uns noch mehr Hecken zum Schneiden aufs Auge. Es ist gleich Mittag. Heute reißen wir uns keinen mehr raus.«

Aus heiterem Himmel ertönte ein lautstarkes Glockengeläut über dem Friedhof. Ach, du Scheiße, dachte ich. Ist das die Glocke zur Mittagspause? Manne, der den ganzen Vormittag einen entspannten Gesichtsausdruck gehabt hatte, wurde auf einmal ernsthaft.

»Rusty, komm mit!«, sagte er. »Wir gehen etwas weg von hier. Die Glocken bedeuten, dass hier gleich ein Trauerzug vorbeikommen wird. Da gehen wir der Pietät halber ins Abseits. Also, nichts wie weg hier. Lass uns da drüben zwischen die Hecken stellen, bis der Zug vorbei ist. Danach können wir weiterschuften.«

Wir gingen einige Meter zur Seite, in die nahestehenden Hecken, sodass der Trauerzug uns nicht bemerken konnte. Es kam mir vor, als hätten die Vögel in den Bäumen ein Pfeifverbot bekommen, und der Wind durfte auch nicht mehr wehen. Außer diesem ohrenbetäubenden Glockenlärm herrschte wahrhaftig eine Totenstille.

Und da sah ich ihn auch schon kommen, den ersten leibhaftig mit eigenen Augen gesehenen Trauerzug, geführt von einem Totengräber in Uniform und gefolgt von einem Pfarrer und zwei Messdienern, die mit ihrem Weihrauch die Luft vernebelten. Kurz dahinter kamen drei weitere uniformierte Totengräber, die einen Sargwagen zogen, auf dem ein heller Sarg stand, den man mit weißen Gerbera-Blumen geschmückt hatte.

Nun war der Trauerzug auf unserer Höhe. Doch waren wir nicht sichtbar und standen gut getarnt hinter unserer Hecke. Man hörte die Schritte, das Kettenrasseln der Messdiener und das Knirschen des Splits auf dem Weg. Hinter dem Sarg kam, soweit mein Blick reichte, eine Hundertschaft trauernd schleichender Menschen. Aus der Menge drang das Weinen eines Kindes, das an der Hand seines Vaters ging. Wahrscheinlich war seine Mutter gestorben. Hey, Scheiße, was war mit mir los? Kurzzeitig bekam ich einen kleinen Stich im Herzen. Ich hatte die Erinnerung verdrängt. So sah der Sarg aus, in dem mein Vater lag, als er nach einem tragischen Verkehrsunfall verstorben war.

Seltsam. Es war der erste Tag auf dem Friedhof, und schon spielte sich etwas in mir ab. Totengräber? Nein danke! Solche traurigen Ereignisse zum Beruf zu haben, das konnte ich mir echt nicht vorstellen.

Nachdem der komplette Zug an uns vorbeigezogen war, stapften wir aus unserem Versteck hervor und Manne sagte: »Siehste, Rusty, lieber die grüne Hose, glaub es mir.«

Ich nickte ihm stillschweigend zu. Jetzt verstand ich, wie er es meinte.

DAS ERSTE JAHR

Meine Tätigkeit als Gärtnergehilfe war einfach himmlisch. Ich arbeitete unter freiem Himmel, konnte auch mal den Laubrechen beiseitelegen, wenn mir nach ’ner Zigarette war, und bestimmte mein Arbeitspensum selbst. Ich hatte keinen Lärm um mich, alles war ruhig und entspannt. Ab und an hörte man aus der Ferne die Totengräber-Kollegen, wenn sie mit dem Bagger ein Grab ausschachteten, oder man hörte die Glocken zur Beerdigung. Dann verkroch man sich eben in eine stille Ecke und dampfte dort ’ne Kippe.

Gerne war ich mit der Pflege und dem Gießen der Gräber beschäftigt. Es gab nichts Schöneres, als den ganzen Tag sein Hirn auszulassen und Unkraut zu zupfen, im Hochsommer mit dem Wasserschlauch herumzuspielen und den Kollegen Manne nass zu spritzen oder sich selbst abzukühlen. Ein Traumjob, wirklich. Manne hatte die Verantwortung. Ich musste null denken, sondern nur tun, was er sagte. Wenn er sagte, »putz hier, mach da«, dann tat ich es. Wenn er nichts sagte, war ich mal kurz weg, ’nen Kaffee trinken.

Jedenfalls erledigte ich meine Aufgaben gut, schnell und sauber. Darum durfte ich mir auch einige Freiheiten herausnehmen. Übel war nur, wenn Iwan um die Ecke kam und man nicht an seinem Arbeitsplatz war. Gut, den regelmäßigen Einlauf musste man in Kauf nehmen. Auch Iwan sah, dass ich sauber und schnell arbeitete. Für ihn war nur wichtig, seinen Frust an anderen abzulassen. Dies machte er auch, wenn man am Arbeiten war. Es tat ihm einfach gut. Das Geschrei war wohl sein Orgasmus, und wir Arbeiter spielten seine Vorlagen.

Innerlich war ich mit der Zeit schon so abgebrüht, dass ich ihn nur noch angrinste, wenn er kam und brüllte. Doch eines Tages kam er ganz ruhig zu mir.

»Rusty«, sagte er, »wir müssen mal ein ernstes Wörtchen miteinander reden.«

»Na gut«, antwortete ich und dachte mir insgeheim: So schlimm kann es ja nicht werden. Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Und wenn er mich jetzt rundmachen will, weil ich ihn schon nicht mehr ernst nehme, werde ich ihn diesmal sogar richtig dreckig an- oder auslachen.

Jedoch kam ich nicht in den Genuss. Als er mich beiseitenahm, sagte Iwan:

»Rusty, du bist nun ein ganzes Jahr bei uns und hast dich sehr gut in deine Arbeit eingebracht. Wir alle sind wirklich sehr mit dir zufrieden.«

Whow, yeah!, dachte ich mir und verspürte ein innerliches Hochgefühl. Ich hob im Kopf die Boris-Becker-Faust und dachte an Festvertrag und Lohnerhöhung und dass das Leben richtig schön sei. Doch Iwan nahm eine Nadel und zerstach damit meine Luftblase aus schönen Gedanken.

»Rusty, wie gesagt, du bist ein klasse Mitarbeiter, aber leider endet deine Tätigkeit zum Ende dieses Monats.«

Scheiße, das war ein Schlag in die Niere. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Warum muss dieser Soßenbinder wieder vom Bund zurückkommen?, dachte ich wütend. Warum will mir das Schicksal einen hart erkämpften Weg verbauen?

Total deprimiert und niedergeschlagen nickte ich Iwans Ansage ab und widmete mich wieder meiner Arbeit. Man sah ihm an, dass auch er seine Aussage bedauerte, aber er allein hatte nun mal nicht zu entscheiden.

Das Monatsende rückte näher und näher. Und dann kam er, der letzte Arbeitstag vor dem Aus. Ich hatte mich bereits von Manne verabschiedet. Gebeutelt machte ich mich in der Mittagspause daran, meinen Spind zu räumen. Ich stopfte alle Privatklamotten in meine Sporttasche, legte die gewaschene Dienstkleidung schön säuberlich auf meinen Schrank und fegte meine Nische aus.

Da stand plötzlich Iwan hinter mir.

»Hallo Rusty«, ratterte er mit einer schon fast zu freundlichen Stimme herunter. »Tut mir wirklich leid, dass du ab heute nicht mehr im Gärtnertrupp bist, aber sieh’s mal so, wenn du weiterhin Gärtnergehilfe wärst, könntest du ja nie am Montag bei den Totengräbern anfangen.«

Wie bitte? Was hatte er da eben gesagt?

»Ja, Rusty, ich kann doch so ’ne gute Arbeitskraft wie dich nicht einfach ziehen lassen. Ich habe mich mit allen Mitteln dafür eingesetzt, dass du in unserem Betrieb bleiben kannst. Bei den Totengräbern war eine Stelle zu besetzen, und diese steht dir zu, wenn du dein Okay dazu gibst. Mehr konnte ich nicht für dich tun.«

»Hmm«, murmelte ich. »Und wie lange hab ich Bedenkzeit?«

»Leider keine, Rusty. Hü oder hott. Leider. Entweder heute fertig oder ab Montag Totengräber mit neuem Arbeitsvertrag …«

Einmal tief durchgeatmet und … A star was born! Oder: Ein Narr was born? Ich hatte keine Wahl. Also rein in den Untergrund. Rein in die Tatsache, Konfrontation Tod.

FRISCHLING

Alles um mich herum lief ab wie im Schnellvorlauf eines Videorekorders. Bis eben noch war ich Gärtnergehilfe in Grün mit selbstsicherer Einstellung, und wie aus heiterem Himmel wurde ich zum absolut verunsicherten angehenden Totengräber im Blaumann.

Da stand ich also Montagmorgen im Bauhof und wartete gespannt auf meinen neuen Kapo. Erwin kannte ich nur aus der Umkleidekabine: Man sah sich und sagte kurz hallo. Gärtner und Totengräber waren nun mal zwei verschiedene Welten. Keiner wurde so recht mit der anderen Gruppe warm.

Ich wartete in voller Montur. Als ich gerade mein Zippo anschnippte und mit großen Zügen eine Kippe durchzog, kam Manne auf mich zu.

»Hey, Rusty, wo ist dein neuer Kapo? Hat er dich vergessen?«

In dem Moment sah ich aus dem Augenwinkel eine Hand auf meine Schulter zukommen. Patsch! – und mein Schlüsselbein wurde neu versetzt. Erwin, der Mann fürs Grobe, stand da und gab mir keine Möglichkeit, Manne zu antworten.

»Manne, ab heute gehört der zu uns«, tönte er. »Ab heute wird er ein Mann, ab heute ist Schluss mit lustig!«

Manne erwiderte Erwins Grinsen.

»Versaut mir meinen Rusty nicht«, sagte er und sah mich an. »Rusty, halt die Stellung und lass dich von denen nicht verarschen. So was machen die gern mit neuen Kollegen.«

»Ach was«, konterte Erwin lachend. »So etwas machen wir nicht.« Er grinste mich an. »Jetzt komm erst mal mit! Ich stelle dich den anderen vor.«

Ich kam mir vor wie an meinem ersten Arbeitstag, weil ich wieder einem Vorgesetzten hinterhertrottete.

Bald hörte ich das Tröten des Baggers. Als wir uns näherten, ließ Erwin ’nen Brüller und fuchtelte in Richtung Baggerführer.

»Mach mal das Ding aus!«, schrie er.

Der betäubende Lärm verstummte. Erwin wies auf mich und den Baggerführer.

»Ihr kennt euch? Also, das ist Rusty, euer neuer Kollege, und das hier ist der Matte.«

»Hallo. Willkommen an Bord.«

Vor mir war ein geöffnetes Grab, aus dem eine Leiter ragte. Aus dem Grab ertönte das Geräusch eines Spatens, der gegen etwas klopfte.

»Hey, Vinne!«, schrie Erwin. »Komm mal raus!«

Da kam einer die Leiter hoch. »Ah, unser Neuer«, sagte er.

»Ja, hallo, ich bin Rusty.«

»Ja, ich weiß, du warst bei Manne. Wir kennen uns vom Sehen.«

Der Mann stand auf seiner Leiter im Grab und sah mich an.

»Ich bin Vinne. Das ist ja klasse, dass du heute zu uns gestoßen bist, denn heute müssen wir zwei Gräber öffnen. Da wird es gleich mal stressig für dich. Also der perfekte Einstieg.«

Erwin lachte. »Also, Rusty«, sagte er, »ich lass dich nun bei den Jungs. Deine neue Hose benötigt erst mal ’ne Einweihung. Die ist viel zu sauber. Aber das haben wir gleich.«

Die beiden lachten dreckig, und da wusste ich, dass gleich eine Hardcore-Nummer auf mich zukommen würde.

»Also Rusty, pass auf!«, sagte Vinne. »Du schnappst dir einen Eisenrechen, und alles, was an Gebeinen durch das Ausbaggern ans Tageslicht kommt, wird von dir zur Seite gerecht.«

»Hä?«, machte ich. »Gebeine? Was sind Gebeine?«

Vinne grinste.

»Oje, der Gärtner, der Mann fürs oberirdische Grüne. Rusty, ich sag’s mal so: Du hast den Rasen auf die Erde gesät, und wir holen die Kartoffeln aus der Erde. Okay so weit?«

Ich nickte, obwohl ich nur Bahnhof verstand. Vinne sah, dass ich nichts kapierte, und wurde deutlicher.

»Also, ganz von vorne und langsam: Wir öffnen gerade ein Grab, in dem seit dreißig Jahren ein Verstorbener ruht. Die Angehörigen dieses Verstorbenen haben das Grab aufgegeben.«

Vinne klang jetzt, als ob er einen Vortrag hielte, alles sauber formuliert und so.

»Das heißt, dass die gesetzlich vorgeschriebene Ruhefrist der Grabstätte abgelaufen ist. Wenn die Angehörigen diese Ruhefrist nicht verlängern, aus welchen Gründen auch immer, kann diese Grabstätte zur Neubelegung wiedererworben werden.«

Er verzog das Gesicht.

»Je nach Bodenbeschaffenheit, sei es Sand, Lehm oder Lehm mit Grundwasser, stoßen wir auf Überreste der Verstorbenen. Auch die Sargbeschaffung, also welche Holzsorte man genommen hat, spielt eine Rolle. Je robuster das Holz, also beispielsweise eine Eiche, desto länger dauert die Zersetzung in der Erde. Wir stehen hier vor einem relativ sandigen Boden. Sandiger Boden ist luftdurchlässiger, was heißt, dass durch die Sauerstoffzufuhr der Zersetzungsprozess beschleunigt wird. Was wir hier nach aller Erfahrung noch finden werden, sind die Knochen des Verstorbenen und ein paar Holzfetzen vom Sarg. Und was da an Knochen noch zum Vorschein kommt, das nennt man Gebeine. Du kannst folgen?«

»Klaro, Vinne.«

»Wir müssen die Gebeine fein säuberlich aus dem Grabaushub lesen. Diese kommen dann in einen sogenannten Gebeinesarg. Der ist nicht hochwertig, aber er wird benötigt, um ebendiese Gebeine später wieder beizusetzen.«

»Aha.«

»Genauso ist’s. Das geht dann folgendermaßen: Wir öffnen unser Grab, bis wir die sogenannte Sargtiefe erreicht haben. Das sind rund 2,70 Meter. Haben wir diese Tiefe erreicht, die ganzen Gebeine ausgelesen und im Gebeinesarg verstaut, dann buddelt Matte mit seinem Bagger noch mal rund 70 Zentimeter tiefer und wir setzen die Gebeine wieder ein.«

Vinne hob den Finger.

»Alle Überreste eines Verstorbenen bleiben immer in der gleichen Grabstätte, in der er einst beigesetzt wurde.«

»Klingt logisch«, brummte ich.

»So ist das halt, aber da gibt es noch die größten Gruselgeschichten, was mit den Überresten passiert. Ist aber alles Quatsch, irgendwelche alten Sagen und so.«

Vinne winkte ab.

»Natürlich kommen auch mal ein Goldzahn oder eine Titanplatte zum Vorschein, doch … ja, Rusty, es kommt alles in den Gebeinesarg.«

Seine Stimme wurde laut und klar.

»Wer sich an den Toten bereichert, der hat die Hölle pur verdient. Das ist unser Kodex, und nach dem wird gehandelt. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Steht als erster Satz im Grundgesetz. Und wer die Würde vor dem Tod nicht beachtet, ist hier nicht lange. Darauf kannst du Gift nehmen, Rusty. Also: Dein Job ist jetzt, die Gebeine beiseitezuräumen und in den Gebeinesarg zu legen.«

»Okay, alles klar«, gab ich zur Antwort.

Ein kurzer Blick von Vinne zu Matte, und der warf seinen lautstarken Bagger an. Vinne zog die Leiter aus dem Grab, und gemeinsam schauten wir zu, wie Matte zu buddeln begann. Baggerschaufel für Baggerschaufel stieß Matte in die Tiefe, bis ein kleines helles Knöchelchen den Erdhügel hinunterrollte.

Ich sah das kleine Stückchen und blickte zu Vinne. »So was meinst du, oder? Ist das ein Knochen?«

»Ja genau, das ist ’ne Rippe. Leg die mal zur Seite. Wenn die kommt, kommt garantiert noch mehr.«

Na toll, dachte ich. Knochen zusammenlesen? Was für ein Scheißjob.

Matte baggerte und baggerte, und immer mehr Knöchelchen kamen zum Vorschein. Dann waren es so viele, dass ich kaum noch mit dem Rausfischen hinterherkam.

»Hey, Rusty, das machst du gut!«, rief Matte aus seinem Führerhaus.

Von seinem Platz aus hatte er den direkten Einblick in das vorhandene Grab. Er sah als Erster, was auf uns zukam.

Ich arbeitete mit dem Rechen, bis ich plötzlich ein knirschendes Geräusch hörte, wie Holz, das zerbricht.

»Oho!«, rief Matte. »Jetzt kommt richtiges Material.«

Oh nein!, dachte ich. Ich will das gar nicht sehen, und schon gar nicht will ich’s auslesen müssen. Voller Angst sah ich auf die Baggerschaufel, wie sie sich aus dem Grab hob. Oh mein Gott, was war denn das? Die Schaufel war komplett mit Holzlatten gefüllt. Dazwischen schimmerte ein weißes Tuch.

Manne öffnete die Baggerschaufel über dem Erdhügel, in dem das von mir aussortierte Material steckte, und der ganze Haufen Holz und Tuch rollte über den Hügel.

»Hey, Matte«, rief Vinne, »mach mal deinen Bock aus!«

Sofort verstummte der Lärm des Baggers.

»Also Rusty, diese Holzlatten sind die Überreste eines Sarges. Und in diesem weißen Tuch liegen die Überreste des Verstorbenen. Normalerweise legen wir dieses Tuch gleich mit in den Gebeinesarg, aber damit du dir mal ein Bild davon machen kannst, öffne ich es und zeig’s dir mal.«

Etwas aufgeregt richtete sich mein Blick auf Vinnes Hände. Vorsichtig klappten sie das Tuch auf. Puh, mein Gott … Wie viele Knochen das noch waren und wie groß die noch waren und … ach du Scheiße, ein Totenkopf lag da auch!

»Sag mal, Vinne, wie kannst du diesen Job machen?«, fragte ich.

Vinne schmunzelte nur, und Matte lachte hell auf.

»Oh, Rusty«, sagte er, »das hier ist gar nichts, verstehst du? Gar nichts. Es sind nur Knochen und Sargreste. Das hier ist für uns beide wie ein Tag Wellness, aber du wirst die Realität noch früh genug zu Gesicht bekommen, glaub mir. Komm, halt mal ein Tuchende, wir legen die Gebeine nun in den Sarg. Wir sind schon etwas knapp dran und müssen noch ein Grab öffnen.«

Matte warf wieder seinen Monsterbagger an. Vorsichtig hob er weiter das Grab aus, bis Vinne ihm per Handzeichen zu verstehen gab, dass die vorgeschriebene Grabtiefe erreicht war. Ich sortierte weiter, machte also meinen Knochenjob am Hügel.

»So, Rusty!« rief Vinne aus der Tiefe. »Wenn du alles ausgelesen hast, kannst du mir den Gebeinesarg herunterreichen.«

Ich schloss den Sargdeckel, schnappte mir das Kistchen und reichte es Vinne.

»Schau zu«, sagte er. »Wir sind nun auf unserer Sargtiefe. Jetzt schaufeln wir nochmals ein Loch ins Grab, damit wir dort dann die Gebeine beisetzen können.«

Gesagt, getan – die Gebeine verschwanden wieder im Erdreich. Sie kamen dahin, wo sie schon jahrelang geruht hatten. Immer noch am gleichen Platz, nur jetzt einen Stock tiefer.

»Jetzt geht es zum nächsten Grab«, sagte Matte. »Mal sehen, was uns da erwartet.«

Er gab mir ’nen sachten Boxschlag gegen die Brust. »Alles klar bei dir, Rusty?«

»Yep«, sagte ich nur.

Dann schulterte ich meinen Spaten und schlurfte hinter Vinne her zum nächsten Grab.

MARS MACHT MOBIL …

Als wir am zweiten Grab ankamen, war erst mal eine kleine Zigarettenpause angesagt. Wie mir bald auffiel: Die meisten rauchten. Es ist nicht normal, wie auf dem Friedhof die Kippen verschlungen werden. Zwar gibt es den einen oder anderen Kollegen, der nicht dampft, aber die Überzahl frisst die Glimmstängel geradezu. Irgendwie muss man sich wohl beruhigen. Zumindest bildet man sich ein, dass durch das Rauchen vieles besser wird.

»Also Rusty«, sagte Vinne. »Wir öffnen hier das Grab, an dem um 14 Uhr die nächste Beisetzung stattfindet. Der Unterschied zum vorherigen Grab ist, dass hier das Grundwasser höher steht. Die Erde besteht hier im Gegensatz zum vorherigen Grab anteilig mehr aus Lehm. Das bedeutet, dass wir hier höchstwahrscheinlich auf eine Wachsleiche stoßen werden.«

Er schaute mich ein wenig seltsam an. »Muss nicht sein, kann aber. Hast du Schokolade einstecken, Rusty?«

»Schokolade? Nein, ganz bestimmt nicht.«

Ich verstand ihn nicht. Und ich glaubte kaum, dass ich beim Öffnen eines Grabes ausgerechnet Schokolade brauchte.

»Na denn«, sagte Vinne und ging zu unserem Bagger.

Hinter dem Beifahrersitz zog er eine Staubmaske heraus und warf sie mir zu. »Hier, die wirst du später brauchen.«

Er fischte ein Paar dunkelbraune Gummihandschuhe hervor.

»Ach ja, die hier auch, und es wäre nicht verkehrt, wenn du dir aus deinem Spind noch schnell die Gummistiefel holst, die du bekommen hast. Rauch erst mal deine Zigarette fertig, dann kannst du sie rasch anziehen und wiederkommen. Matte und ich fangen in der Zeit schon einmal mit der ersten Schicht Verbaumaterial an. Wenn du wieder hier bist, beginnt deine Entjungferung in Sachen Grabaushub.«

»Aber ehrlich«, sagte Matte und lachte.

Vinne und er grinsten um die Wette. Oh Mann, dachte ich, während ich mich auf den Weg machte, das wird bestimmt wieder so ’ne Scheiße. Bis zum Bauhof, wo meine Gummistiefel waren, hatte ich rund zehn Gehminuten; der Friedhof war extrem groß.

Unterwegs pfiff es auf einmal aus den Sträuchern.

»Hey, du alter Totengräber!«, ertönte eine bekannte Stimme.

Zwischen zwei Sträuchern kam Manne hervor, der in dieser Ecke des Friedhofs gerade arbeitete.

»Und?«, fragte er. »Wie ist es bei den Durchgeknallten?«

»Na ja, anders als bei dir. Ich hatte eben meine erste Graböffnung mit ’nem ganzen Stall voll Knochen und Holz.«

»Und was machst du jetzt?«

»Ich soll meine Gummistiefel holen, weil wir jetzt ein Grab öffnen, in dem eine Wachsleiche oder Wattleiche oder sonst etwas liegen soll. Keine Ahnung, was das ist.«

»Hast du Schokolade einstecken, Rusty?«

»Hä? Jetzt fängst du auch damit an. Was habt ihr denn heute mit eurer Schokolade?«

»Soviel ich gehört habe, soll Schokolade helfen, den Geruch etwas milder zu halten. Die Jungs meinen auch, dass Schokolade bei dieser Arbeit den Magen beruhigt. Jeder hat so seine eigenen Rezepte. Frag sie mal. Ich kann nur wiedergeben, was ich darüber gehört habe.«

Manne hob die Hand. »Also Großer, ich arbeite weiter. Mach’s gut.«

»Ciao, Manne. War schön, dich getroffen zu haben.«

Ich ging weiter in Richtung Bauhof. Schokolade, Schokolade, ich will jetzt Schokolade. Wenn’s helfen soll? Warum auch nicht?

Aber die Chancen standen ziemlich schlecht, auf dem Friedhof an Schokolade zu kommen. Sollte ich mich hinter einem Grab verstecken und eine Schulklasse überfallen? Wenn sie vorbeikommt, springe ich hinter der Hecke hervor, überwältige den Klassenlehrer und durchwühle die Schulranzen der Kids, ob der eine oder andere Schokoriegel da zu finden ist …

An meinem Spind schlüpfte ich in meine neuen Gummistiefel. Glücklicherweise waren sie schwarz, es waren nicht diese hässlichen pissgelben, wie man sie normalerweise kennt. Ich kam mir eh vor wie ein Bauer auf der Alm, als ich zurück zu Matte und Vinne ging. Wenn mich jetzt einer meiner alten Kumpels sehen würde … Bauer sucht Frau?, dachte ich. Nein, Rusty sucht ’nen Schokoriegel!

In voller Montur kam ich zum Arbeitsplatz zurück. Ein unangenehmer Duft drang mir an den Riechkolben. Pfui Teufel, was für ein Gestank!, dachte ich. So ein ekelhaft beißender Geruch, den konnte mein Bruder mit seinen schlimmsten Socken nicht verursachen, nicht mal mit seinen Monsterfürzen, die er echt drauf hatte.

Dieser Geruch war mit nichts zu toppen. Mein Bruder wäre blass vor Neid geworden. Ich wich erst mal einige Schritte zurück.

Grinsend kam Vinne auf mich zu. »Wir haben auf dich gewartet«, sagte er. »Wie wir es uns schon gedacht haben. Volltreffer! Wir stoßen auf eine Wachsleiche. Bei dieser Feuertaufe darfst du nicht fehlen.«

Er griff in seine Hosentasche und fischte einen kleinen Mars-Riegel raus, riss das Papier mit den Zähnen auf und schob sich das Teil in den Mund. »Willst du auch einen? Ist besser, glaub es mir.«

Ich nickte nur. Reden wollte ich nicht, weil ich diesen bestialischen Gestank nicht in den Mund gelangen lassen wollte. Er verstand, dass ich auch wollte. Ruckzuck war das Papier weg und der Riegel im Mund.

Kauend und völlig entspannt deutete Vinne auf meine Staubmaske.

»Zieh die auch auf, du als Anfänger wirst sie brauchen. Komm mit, es wird Zeit, dass deine Klamotten den Anstrich bekommen.«

Schritt für Schritt näherte ich mich dem Grab und schaute leicht verunsichert von oben hinein. Dank Schokolade und Maske ließ der Geruch tatsächlich etwas nach. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass sich der Gestank trotzdem irgendwie einen Weg zu meiner Nase suchte.

Als ich in das Grab blickte, sah ich die nass schimmernde Erde. Es sah aus, als hätten da drin einige Wildschweine ihr Gehege. Richtig siffig, so richtig matschige Pampe.

Hinter mir stand Vinne. Er gab mir erschreckenderweise einen Schubs in Richtung Grab.

»Hey, hör auf damit!«, schrie ich. »Ich scheiß mich gleich ein, und du machst so ’nen Quatsch mit mir. Tu das nie wieder!«

Vinne und Matte lachten sich erneut einen ab. Für die war dies alles Routine, für mich alles andere als lustig und lässig. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt. Eine Welt, in der es für Normalo-Menschen keinen Zugang gibt. Nur für Durchgeknallte, die so einen Anblick wegstecken, ohne mit der Wimper zu zucken. Da konnte man reinwachsen? Da war ich mir nicht so sicher …

»Also, Rusty«, sagte Vinne, »jetzt lassen wir Matte ein paar Schaufeln ausheben, und dann schauen wir mal, was kommt. Du kannst dich derweil hinter dem Auswurfhügel postieren, falls wieder etwas zum Aussortieren kommt.«

Matte schaufelte mir einen matschigen, feucht-lehmigen Auswurf auf meinen Hügel. Die Erde schimmerte bereits grün-bläulich, schon richtig vergiftet und verstrahlt.

»Langsam, Matte, langsam!«, rief Vinne. »Jetzt noch eine Schaufel, sachte! Ich glaube, wir sind am Ziel.«

Matte fuhr mit der Baggerschaufel behutsam ins Grab. Und dann ertönte wieder das knirschende Geräusch von Holz. Vinne schaute von oben ins Grab hinein.

»Oh ja, Matte«, sagte er, »wir haben eine.«

Sofort verstummte der Bagger und Matte stieg aus dem Führerhaus. Auch er begutachtete das Grab.

»Komm her, Rusty, jetzt kommt dein Auftritt«, sagte er.

Langsam wagte ich mich erneut an die Graböffnung und blickte hinein. »Herrje, da liegt ein kompletter Sarg im Grab«, sagte ich. »Warum ist der denn noch da drin, Vinne?«

»Weil der Boden durch den Lehm und das Wasser so verdichtet war, dass kein Sauerstoff rankam und somit keine Zersetzung erfolgen konnte.«

»Und nun?«

»Wir müssen den Sarg so unbeschadet wie möglich herausheben, die Grabstätte tiefer graben und dann den Sarg wieder beisetzen. So wie jetzt können wir das alles nicht lassen. Der später kommende Sarg muss seine vorgeschriebene Tiefe haben. Also muss der hier einen Stock tiefer.«

Wahrscheinlich guckte ich ohne jedes Verständnis, denn er redete weiter, als ob er einen Vortrag halten müsste.

»Wir müssen sehr behutsam vorgehen. Zuerst musst du in das Grab hinunter. Versuch dort, deine Beine in der Grätsche zu postieren. Vermeide es, auf dem Sargdeckel zu stehen. Der ist so porös, du würdest sofort einbrechen. Ich gebe dir von oben Anweisungen, was du zu tun hast. Guck noch mal, dass deine Maske richtig sitzt. Da unten wird es um einiges übler, was den Geruch angeht.«

Mein Herz rebellierte und klopfte wie irre. Aber ich musste wohl hinab. Es war ja nun mein Job. Langsam ließ Vinne die Leiter in das Grab hinunter und stellte sie ganz knapp zwischen Grabwand und Sarg. Vorsichtig setzte ich den ersten Fuß auf die Leiter. Vinne klopfte mir auf die Schulter.

»Du packst das schon, ich bin ja da. Runter mit dir!«

Sprosse für Sprosse stieg ich hinab mit dem Wissen, dass genau unter mir eine komplette Leiche lag. Es war wie in einem Stephen-King-Film. Bestimmt fielen da unten gleich Würmer und Maden über mich her …

Der Gedanke machte mich rasend. Ruckzuck stieg ich wieder die Leiter hoch. »Hey, Vinne. Ich dreh gleich ab.«

»Was ist denn los?«

»Was ist da unten mit Maden und Würmern? Ich hab keinen Bock drauf, dass die Viecher an mir rumknabbern oder versuchen, in meine Klamotten zu kommen.«

Die beiden lachten sich erst mal einen ab; ich hatte es gar nicht anders erwartet.

»Quatsch, Rusty, das gibt es nur im Film«, sagte Vinne. »Da unten gibt es weder einen Wurm noch eine Made. Ein Wurm bekommt nach einigen Zentimetern Dreck auch keine Luft mehr. Die Viecher gehen nicht so tief in die Erde, maximal 30 Zentimeter, dann ist bei denen Schluss. Und Maden gäbe es nur, wenn sie der Verstorbene schon in sich getragen hätte, als er damals starb.«

»Wieso das denn?« Ich stand immer noch auf der Leiter, mit einem Bein am Rand des Grabes.

»Eine Made kann sich nur entwickeln, wenn eine Fliege ihre Larven in den Leichnam legt. Und wäre das hier der Fall gewesen, gäbe es erstens keine Leiche mehr und zweitens nach all den Jahren auch keine Maden mehr, weil diese schon längst verhungert wären. Wenn es etwas gibt da unten, sind das im Körper getragene Mikroben, also kleinste Bakterien. Die tragen wir alle in uns. Die sind beim Einsetzen des Todes dafür verantwortlich, dass wir zersetzt werden. Wir tragen diese kleinen Polizisten der Erde überall. Hauptsächlich in unserem Gedärm, aber auch auf der Haut und überall. Sie sind mit bloßem Auge nicht zu sehen, die Jungs, aber sie machen in der Regel saubere Arbeit.«

Matte trat hinzu, er hatte seinen Bagger verlassen.

»Genug mit der Lehrstunde, runter mit dir! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. So eine Arbeit muss rasch gehen, damit die Friedhofsbesucher so wenig wie möglich davon mitbekommnen.«

»Okay, ich geh dann mal wieder runter.«

Immerhin beruhigte mich die Information ein bisschen. Was außer dem penetranten Gestank auf mich zukam, wusste ich ja noch nicht.

Nachdem ich unten angekommen war, stellte ich mich breitbeinig über den Sarg. Meine Gummistiefel standen voll im Siff. Der Gestank in dem Loch nahm trotz Maske und Schokoladengeschmack heftig zu. Die Luft stand geradezu, so roch es wohl in der Hölle; kaum auszuhalten. Mir wurde schlecht, und ich dachte schon, ich müsste mich über den Sarg erbrechen. Das wäre ja nicht mal gegangen, denn ich hätte mir in die Maske kotzen müssen. Runtergezogen hätte ich sie auf keinen Fall. Mein Blick richtete sich auf den vor mir liegenden Sarg.

»Halloho, du da unten!«, ertönte von oben eine gedämpfte Stimme.

Ich blickte hoch und sah Vinnes und Mattes Köpfe im Schatten des wunderschön wolkenfreien Himmels. Wie gerne wäre ich wieder bei den beiden gewesen!

»Wir geben dir ein Tau hinunter, dazu einen Haken mit einer Öse«, sagte Vinne. »Durch diese ziehst du das Tau und verknotest es gut. Dann versuchst du diesen Haken seitlich an der Sargwand hinunterzubefördern und dann so unter dem Sargboden durchzuziehen oder zu schieben, dass er auf der anderen Seite wieder herauskommt.«

»Hä? Hier steht doch voll die Siffbrühe. Wie soll ich da durchkommen?«

»Hallo, du hast dafür deine Gummihandschuhe an. Mit den Händen natürlich, du Scherzkeks!«

»Was? Ich soll da reinfassen? Geht’s noch? Das ist ja widerlich.«

Stocksteif verband ich den Haken mit dem Tau und ließ es in gerader Körperhaltung am Sarg hinab.

»Und nun?«

»Du musst du dich etwas bücken, sonst kommst du nicht weiter.«

Bücken? Ich war schon so weit gebückt, dass meine Fresse knapp über dem Sargdeckel stand. Na gut, dann eben weiter. Ich bückte mich und fasste in die schon schäumend modrige Matschbrühe. Boah, hoffentlich sind die Handschuhe dicht, dachte ich. Mein Arm glitt immer weiter hinab. Der Geruch war einfach nur bestialisch. Ich wandte den Kopf zur Seite, damit ich mit meinem Gesicht ein wenig Abstand zum Sarg bekam. Jeder Zentimeter war Gold wert.

Mit einem schielenden Auge hatte ich stets meinen Arm im Blick, der sich durch die Pampe bewegte. Dann endlich war ich am Boden angelangt.

»Ich bin unten!«, rief ich kurzatmig zu den Kollegen hoch.

»Gut«, rief Vinne zurück. »Taste am Sargboden entlang und versuch einen Hohlraum zu finden, damit du den Haken durchschieben kannst. Und bevor du fragst: Da muss ein Hohlraum vorhanden sein, weil’s unter dem Sargboden immer diese Sargfüße gibt, dadurch ist das alles unterschiedlich in der Höhe.«

Oh mein Gott … mich schüttelte es. Jetzt auch noch da unten durch, näher mit dem Gesicht an den Gestank heran. Meine Wange war wenige Zentimeter von der Brühe entfernt, es passte keine Zigarettenlänge dazwischen. Nur nicht mit der Brühe in Kontakt kommen, bitte nicht!, redete ich mir ein. Und nur nicht ohnmächtig werden und kopfüber in die Brühe tauchen.

Mühsam fummelte ich durch den Dreck, bis es mir endlich gelang. Ich hatte den Hohlraum gefunden, das verdammte Tau ragte auf der anderen Seite heraus.

»Prima, Rusty, klasse!«, meldete Vinne von oben. »Gib uns den Haken hoch, dazu das andere Seilende.«

Gesagt, getan; danach war ich erst einmal erleichtert, wieder aufrecht stehen zu dürfen und Abstand vom Sarg zu bekommen. Meine Herren, war das ein Akt!

»Und nun kannst du erst mal da unten herauskommen«, ergänzte Vinne.

Wie geil war das denn? Es war wie Himmelsmusik, als ob mich Petrus persönlich zu einem Umtrunk einladen würde, so richtig schön von einer Harfe begleitet. Nix wie raus aus dem Loch! Und da war es, das wunderbare Tageslicht, meine Kollegen, mein Planet Erde, mein Himmel, meine Bäume. Und die Luft, die herrlich frische Luft. Ich kam mir vor wie ein aus dem Krieg heimgekehrter Soldat.

»Kurze Verschnaufpause für dich, Rusty«, ordnete Vinne an. »Stell dich kurz auf die Seite und schnalz dir eine. Schau einfach zu, was wir jetzt machen. Du musst eh gleich noch mal runter.«

Ich zog mir die Riesenhandschuhe ab und schob meine Staubmaske auf die Stirn. Ein fetter Lungenzug Sauerstoff tat gut, dann schob ich gleich ’nen fetten Zug Nikotin hinterher. Total erleichtert schaute ich Vinne zu, wie er beide Enden des Taus verknotete und in die Höhe hob. Matte kam ihm mit der Baggerschaufel behutsam entgegen.

»Schau zu, Rusty«, rief er über den Motorlärm des Baggers zu mir herüber. »Hier an der Schaufel ist ein Haken. Da legen wir das verbundene Seil ein, und Matte zieht dann sachte die Baggerschaufel in die Höhe, damit sich der Sarg da unten etwas hebt.«

Ganz langsam, fast im Standgas, zog Matte die Schaufel in die Höhe.

»Prima, der Sarg hat bis jetzt gehalten und ist nicht auseinandergebrochen!«, rief Vinne. »Rusty, schlüpf wieder in deine Handschuhe, Gesichtsmaske auf und das gleiche Spiel noch mal. Jetzt hast du’s aber wesentlich einfacher, da der Sarg nun schon in einer leichten Schräglage steht. Du musst jetzt nur das Tau noch einmal unter dem Sargboden durchziehen und uns beide Enden hochreichen. Alles einfach.«

Ich kletterte noch einmal hinunter. Den Gestank empfand ich diesmal als fast schon normal. Das lag wohl daran, dass ich den Geruch noch in meinen Nasenhaaren hatte. Abermals stand ich an der Wand des Grabes. In dem Loch war kaum Platz zum Stehen, wenn ich mich selbst nicht auf den Sarg stellte.

Etwas mulmig wurde mir, weil die Baggerschaufel über dem Grab stand, um das andere Tau straff zu ziehen. Wenn diese Schaufel in das Grab sauste, war ich Matsch. Mühsam legte ich das Tau um den Sargboden und gab beide Enden den Jungs hoch.

»Prima, jetzt kannst du wieder rauskommen«, sagte Vinne.

Ganz lässig stieg ich die Leiter empor: Trotz allem Ekel hatte ich es geschafft. Ich war superstolz auf mich.

»So, Rusty«, erklärte mir wieder Vinne, »jetzt wird Matte den Sarg noch mal langsam abstellen. Dann werden wir beide Taue jeweils an der Kopf- und Fußseite gleichmäßig platzieren, und Matte wird den Sarg in der Waagerechten aus dem Grab heben. Wenn er oben ist, wird er sofort mit den Decken hier abgedeckt und wir vertiefen das Grab weiter. Wenn wir damit fertig sind, wird der Sarg auf die gleiche Weise wieder beigesetzt und bis zur Höhe des Sargdeckels mit Erde bedeckt. Damit haben wir ausreichend Platz für die nächste Bestattung geschaffen.«

Ich schaute in das Grab und auf den Sarg. So langsam kapierte ich, was wir hier eigentlich machten.

»Hey, hast du bisher gut gemacht, Rusty«, sagte Vinne. »Komm, Matte, zieh an!«, rief er dann.

Er nahm mich zur Seite, damit wir aus dem Gefahrenbereich der Baggerschaufel kamen.

»Du musst da immer weg. Wenn Matte auch nur einmal den falschen Hebel benutzt, fehlt dir der Kopf, wenn die Schaufel runterknallt. Also immer auf den Eigenschutz achten. Hast du verstanden, Rusty?«

»Ja, hab ich.«

Und da kam er auch schon ans Tageslicht. Tageslicht, das er Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte. Mit Matsch überzogen und triefend vor Wasser, aber ansonsten in tadellosem Zustand. Langsam navigierte Matte den Sarg auf festen Boden. Vinne zog die Taue aus der Vorrichtung und deckte den Sarg sofort mit den großen Tüchern ab. Diese lagen bereit, damit vorübergehenden Friedhofsbesuchern der Anblick erspart blieb. Zudem gäbe es garantiert einige Neugierige, die stehen bleiben würden, um den Sarg zu begaffen. Aber wie man mir eingebläut hatte: Pietät ist das A und O, wenn man so einen Job macht.

Sofort erhöhte Matte die Standgaseinstellung seines Baggers und schachtete die Grabstätte weiter aus. Das machte er schnell, wie ich anerkennen musste; so etwas musste auch gekonnt sein.

»Ich glaub, das reicht!«, rief er von seinem Bagger herüber. »Vinne, was meinst du?«

Vinne nickte und stieß erneut die Leiter in die Tiefe. »Bleib du mal oben, Rusty, ich mach das schnell selbst fertig.«

Er zog die Unebenheiten mit seinem Spaten glatt, sodass eine saubere Fläche entstand. »Fertig«, meldete er aus dem Loch. »Jetzt können wir den Sarg wieder an seinen Ruheplatz bringen.«

Er stieg aus dem Grab, ging zum Sarg und streckte alle vier Tauenden in die Höhe. Matte hob – total perfekt! – seine Baggerschaufel exakt auf die Höhe der Taue. Mit einem klickenden Geräusch rutschten die Taue in die Vorrichtung. Jetzt mussten nur noch die Tücher vom Sarg, dann konnte es weitergehen.

Langsam, wie in Zeitlupe, erhob sich der Sarg in die Luft und wurde von Matte über die Grabstätte gelenkt. Dort ließ er den Sarg langsam hinab.

»Ruhe weiter in Frieden!«, rief Vinne dem Sarg hinterher, als dieser auf Augenhöhe angekommen war.

Der Sarg senkte sich zurück in die vertiefte Grube. Unten zog Vinne die Taue aus der Vorrichtung. Er winkte mir.

»Guck mal, wir ziehen die Taue jeweils an einem Ende heraus. Dann verfüllen wir die Grabstätte, bis Oma oder Opa da unten ihre Ruhe finden.«

Kaum hatte er zu Ende geredet, waren die Taue aus dem Grab heraus; Vinne folgte rasch. Matte ließ seinen Bagger wieder arbeiten. Die Erde prasselte auf den Sargdeckel hinunter, bis man diesen nach drei oder vier Schaufeln unter dem Erdreich nicht mehr sah.

Ohne die Leiter zu benutzen, sprang Vinne in das Grab hinunter; mit seinem Spaten zog er die Fläche erneut eben.

»So, das war’s«, sagte er und grinste. »Ach ja, dieses Reinspringen ist eigentlich nicht erlaubt. Bitte immer die Leiter benutzen! Das ist bei mir halt die Macht der Gewohnheit. Wenn du das mal so lange machst wie wir, schleichen sich eben solche Leichtsinnigkeiten ein.«

Er hob warnend den Zeigefinger. »Also, das hast du jetzt nicht gesehen. Für dich gilt: immer nur mit Leiter!«

Er reichte mir seinen Spaten, legte seine Hände links und rechts an das Verbaumaterial und schwang sich wie ein Sportler, der an den Ringen hängt, seitwärts und mit Schwung aus dem Grab.

»Wow, wie ein Leichtathlet!«, spottete ich. »Nicht schlecht.«

»Ja, das ist mein täglicher Sport hier. Da brauchst du abends nicht mehr in die Muckibude, wenn du an einem Tag so viele Gräber öffnen und schließen musst.« Vinne grinste. »Jetzt lass uns alles herumliegende Werkzeug zusammenräumen und von hier verschwinden. Später legen wir die Stricke an das Grab. Aber jetzt erst mal Frühstück. Ich zeig dir alles andere danach.«

Wir packten unser Material zusammen, legten es auf den Unimog und gingen gemeinsam in Richtung Bauhof. Meine Herren, dachte ich, das war bis jetzt schon ein Arbeitstag. Ich fühlte mich schon leicht k. o. Und dabei war es erst zehn Uhr in der Früh …