Totenufer - Dietmar Lykk - E-Book

Totenufer E-Book

Dietmar Lykk

4,9

Beschreibung

Die Kommissare Lüthje und Malbek stehen vor ihrer bisher schwersten Aufgabe: Ein pensionierter Kollege wird erstochen an der Kieler Stadtgrenze aufgefunden, nachdem er auf eigene Faust ungelöste Mordfälle neu aufgerollt hat. Hat er dabei zu tief gegraben? Als wäre das nicht genug, bringen eine Kriegswaffensammlung, eine eingemauerte Leiche und das Kaffeekränzchen von vier reizenden Seniorinnen die beiden erfahrenen Ermittler an ihre Grenzen. Ein toter Kommissar und sein Geheimnis: ein rätselhafter Fall aus dem hohen Norden.

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Dietmar Lykk, Jahrgang 1949, wurde in Kiel geboren und studierte Rechtswissenschaften, Soziologie und Philosophie in Kiel und Hamburg. Er lebt und arbeitet bei Flensburg.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Bildarchiv Monheim GmbH/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Dr.Marion Heister eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-118-5 Küsten Krimi Originalausgabe

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Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.

Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, 1883

1

Auf einer schmalen Landstraße am Stadtrand Kiels stand ein schwarzer Volvo mit geöffneten Türen. Auf der Fahrerseite hing eine männliche Leiche seitlich heraus. Der blutüberströmte Kopf berührte fast den Straßenasphalt, auf dem sich das Blut in einer großen Lache ausgebreitet hatte.

Kommissar Vehrs deutete auf die Leiche, als würde er sie seinem Chef Malbek vorstellen.

»Kriminalhauptkommissara.D. Bertold Stein.«

Die Sonne war gerade aufgegangen. Die Luft war erfüllt vom fröhlichen Vogelgezwitscher, dem betäubenden Duft der in voller Blüte stehenden gelben Rapsfelder und dem Schwerölgeruch, der aus den Schornsteinen der Containerschiffe auf dem nahen Nord-Ostsee-Kanal quoll.

Kriminalhauptkommissar Malbek rieb sich die Nase. Heute ging alles schief. Vehrs hatte ihn um halb sechs aus dem Tiefschlaf geweckt. Sein Dienstwagen war nicht angesprungen. Er hatte die Strecke von Laboe bis zum Tatort mit seinem alten Wohnmobil zurücklegen müssen, dreißig Kilometer durch den Berufsverkehr des Kieler Umlands. Und jetzt stand er vor einem ermordeten Kollegen.

»Er hatte seine Papiere dabei«, sagte Vehrs. »Den Rest stellen gerade die Hamburger Kollegen zusammen.«

Malbek kniff die Augen zusammen, während sein Blick die Leiche musterte. Vielleicht war er dem toten Kollegen einmal begegnet. Aber ein Wiedererkennen war schon wegen des Zustands der Leiche unmöglich. Sein Freund Kriminalhauptkommissar Lüthje war lange in Kiel gewesen, vielleicht würde der sich an Stein erinnern. »Und wer hat die Fahrertür geöffnet?«

»Wissen wir nicht. Der Zeuge, der die Leitstelle angerufen hat, war ein Busfahrer auf dem Weg zur Frühschicht nach Kiel. Der hat es hier so vorgefunden. Er hat was von einem schweren Verkehrsunfall erzählt. Also kam der Verkehrsunfalldienst. Nachdem der Notarzt jedoch den Tod des Fahrers festgestellt und mehrere stark blutende Stichwunden gefunden hatte, hat man uns verständigt.«

»Was ist mit dem Busfahrer?«, fragte Malbek.

»Er wurde vom Notarzt wegen eines Schocks behandelt und mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht.«

»Gott sei Dank!«, sagte Malbek.

Vehrs sah ihn irritiert an.

»Na, stellen Sie sich mal vor, wie er mit einem voll besetzten Bus im Kieler Berufsverkehr kutschiert, und dann setzt plötzlich die Schockwirkung ein.«

»Ach so, natürlich…« Vehrs versuchte, wieder den Faden zu finden. »Vorab haben wir Folgendes per Mail bekommen…« Er sah auf sein Smartphone. »Bis 1999 war Stein in Kiel, hat sich dann nach Hamburg versetzen lassen. Erst im Kommissariat für Organisierte Kriminalität, danach Leiter des Kommissariats für Kapitalverbrechen. War seit drei Jahren im Ruhestand. Lebte seit einigen Monaten wieder in Kiel, in der Wohnanlage Ostsee Port im Stadtteil Wyk. Hauptkommissar Prebling macht dort schon mit seinen Leuten Spurensicherung. Wir haben nämlich beim Toten drei Sicherheitsschlüssel gefunden. Sie passten in die Wohnungstür. Autoschlüssel steckt noch im Zündschloss. Das Handy ist schon unterwegs ins Landeskriminalamt.«

»Dr.Brotmann sollte sich das ansehen«, sagte Malbek.

»Ich habe ihn schon verständigt. Er wollte den Bestatter nach Bereitschaftsplan anfordern, damit der Leichentransport in die Kühlkammer der Gerichtsmedizin sofort nach seiner Untersuchung hier vor Ort vorgenommen wird. War ihm wohl sicherer.«

»Wieso sicherer?«, fragte Malbek irritiert.

»Weil der Leichenwagen das letzte Mal mit dreißig Minuten Verspätung kam. Da hat jemand von uns wohl nicht rechtzeitig angerufen, meinte er… und bei den hohen Außentemperaturen läuft auch die Verwesung schneller. Und das verfälscht die Berechnung des Todeszeitpunkts. Sie verstehen. Ich musste zum hundertsten Mal eine telefonische Belehrung über mich ergehen lassen.«

Malbek nickte. »Tut mir leid für Sie. Aber wer hat denn da letztes Mal von uns gepennt, wer hat den Bestatter nicht rechtzeitig angerufen?«

Vehrs hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich er selbst«, sagte Malbek und schloss das Thema damit ab.

»Da war noch was«, sagte Vehrs leise. Er bedeutete Malbek, sich mit ihm ein Stück in Richtung der am Straßenrand geparkten Polizeifahrzeuge zurückzuziehen, damit niemand von den Kriminaltechnikern ihr Gespräch mit anhören konnte.

»Was soll die Geheimnistuerei?« Malbek war genervt. Wahrscheinlich hatte er nicht nur mit Brotmann Ärger bekommen.

»Der Hamburger Kollege sagte mir…«, begann Vehrs zögernd, »…dass Stein schon seit Längerem an einem ungelösten Fall herumbastelte… ja, so hat er sich ausgedrückt.«

»Wer hat sich so ausgedrückt?«

»Kriminalhauptkommissar Mielke. Er hat das Kommissariat 2013 von Stein übernommen. Ich fand diese Bemerkung von ihm etwas geschmacklos. Dieses Wort ›herumbastelte‹… das klingt doch ziemlich verächtlich. Und pietätlos. Finden Sie nicht auch? Ich hatte ihm kurz vorher gesagt, dass wir Stein tot ausgefunden haben. Ich kann nicht sagen, dass er deshalb in Tränen ausgebrochen ist.«

Malbek senkte seine Stimme. »Was genau haben Sie ihm denn alles erzählt?«

»Außer dass Stein tot in seinem Wagen aufgefunden wurde, nichts. Wir stehen erst am Anfang und ermitteln in alle in Frage kommenden Richtungen.« Vehrs hob die Augenbrauen und griente Malbek an. »Das hab ich mehrfach gesagt. Jedes Mal, wenn er wegen des Tatorts Näheres wissen wollte.«

Malbek nickte. »Gut, Vehrs. Sie haben gerade unsere offizielle Sprachregelung formuliert.«

Vehrs wuchs um ein paar Zentimeter. Wahrscheinlich hatte er sich damit abgefunden, dass sein Chef heute Morgen schlecht gelaunt war. Und jetzt hagelte es Belobigungen.

Sie waren in der Nähe der Ottendorfer Au stehen geblieben, die an dieser Stelle von einer kleinen Brücke mit Geländer überquert wurde. Der Grund bestand in diesen Bächen immer aus einer tiefen Schlickschicht, in die man versank, wenn man versuchte, sich aufrecht hinzustellen. Außerdem war das Wasser bei der trockenen, heißen Wetterphase wegen des Sauerstoffmangels trübe. Die Taucher sahen fast nichts unter Wasser und mussten mit den Händen die Gegenstände erfühlen. An der Uferböschung hatten sie ihre bisherigen Funde abgelegt: Getränkedosen, zerbrochene Bierflaschen, einen Farbeimer, ein Weckglas, ein altes Damenfahrrad, einen Einkaufswagen. Als Tatwaffe hätte auf den ersten Blick eine der zerbrochenen Bierflaschen in Frage kommen können. Wenn sie nicht schon so verschlammt gewesen wären.

Auf den Feldern suchten Beamte der Schutzpolizei mit gesenktem Blick den Boden ab. Sie brauchten viel Glück, um dort etwas in dem dicht gewachsenen, bis zu den Hüften reichenden Mais und Raps zu finden. Und für Kollegen mit empfindlicher Nase wie Malbek war diese Suche in den blühenden Rapsfeldern eine Folter.

Malbek begann zu schwitzen, obwohl es erst früher Morgen war. Vehrs sah blass aus. Die Temperatur war nachts nicht unter zwanzig Grad gesunken und sollte laut Wetterbericht, wie an den letzten Tagen, wieder auf über dreißig Grad steigen. Hochsommer im Juni. Malbek und Vehrs trugen die gleiche Arbeitskleidung wie die Kriminaltechnik: weißer Einwegoverall mit Kapuze und Stiefel.

Inzwischen hatten sich bunt schillernde Fliegen über dem Leichenfundort eingefunden, deren wimmernder Brummton schon von Weitem zu hören war. Überhaupt erinnerten Malbek die Kriminaltechniker bei der Arbeit an leichenbesiedelnde Insekten, die sich immer wieder neue Einstichpunkte zum Blutsaugen suchten. Aber der Eindruck täuschte. Die Frauen und Männer schienen sich gleichzeitig in und um das Fahrzeug zu bewegen und brauchten trotzdem nur wenige Worte, um sich abzustimmen. Da alle vier Türen und die Kofferraumklappe geöffnet waren, konnten bis zu vier Kriminaltechniker im Fahrzeug gleichzeitig arbeiten. Mit Pinseln, Pinzetten, Klebefolien und ultravioletten Leuchten suchten sie eifrig nach Beute.

Malbek umrundete den Wagen, bis er durch die geöffnete Fahrertür über die Leiche hinweg zum Beifahrersitz sehen konnte. Dort wechselten sich zwei »Spurenleser« mit dem »Abkleben« des Sitzes ab.

»Vehrs, lassen Sie mal die Suchtrupps und die Taucher wissen, dass sie auch nach einem Autositzbezug sehen sollen«, sagte Malbek.

»Wenn es überhaupt einen Beifahrer gab…« Vehrs deutete auf eine Bank, die ungefähr fünfzig Meter weiter in Richtung eines Bachs am Wegesrand stand. Zwei Kriminaltechniker klebten gerade die Sitzfläche ab. Vielleicht war das hier ein Treffpunkt gewesen, und der Täter hatte auf der Bank auf Stein gewartet.

»Aber wenn das hier für Stein kein Treffpunkt war, wohin wollte er?« Malbek sah in die vermutete Fahrtrichtung.

Sie standen einen Kilometer westlich von dort, wo der Steenbeker Weg in Suchsdorf die Ottendorfer Au überquerte. Malbek sah auf seine Karte auf dem Smartphone. Laut GPS verlief die offizielle Stadtgrenze erst zwölf Kilometer weiter westlich, noch hinter dem Dorf Krattenbek, das mit seinen Ländereien an das Ufer des Nord-Ostsee-Kanals grenzte.

»Auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals verläuft ein langer Weg, der Hexenweg heißt«, sagte Malbek, der wieder auf seine GPS-Karte sah.

»So was gibt’s hier fast überall«, antwortete Vehrs altklug. »Und dahinten ist die Kanalweiche Schwartenbek, wo der Kanal Richtung Westen verbreitert werden soll.«

»Das Jahrhundertbauwerk.«

»Auf dieser Kanalseite wird wohl einiges Land weggeschaufelt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite ist Altwittenbek, und von da aus ist es ein Katzensprung bis Gettorf und zur B76 nach Flensburg und Dänemark.«

»Wenn das Steins Ziel gewesen wäre, hätte er die Kanalbrücke dahinten nehmen müssen.« Malbek deutete nach Osten.

»Immerhin wäre er hier in Richtung der Kanalfähre Landwehr gefahren. Richtung Krattenbek.« Vehrs zeigte nach Westen. »Vielleicht wollte er ja zur Fähre Landwehr.«

»Nachts?«, fragte Malbek skeptisch.

Vehrs nickte. »Landwehr fährt rund um die Uhr.«

»Und warum Landwehr?«

»Damit wäre er in ein paar Minuten in Gettorf.«

»Und auf der B76. Und gleich in Dänemark, ich weiß.« Malbek schüttelte den Kopf. »Nee, nee, das stimmt irgendwie nicht. Egal, wo er angeblich hinwollte… Erst musste er durch Krattenbek. Vielleicht war das sein Ziel? Haben die schon was im Auto gefunden? Handy, was Handschriftliches oder so?«

»Handy, ja. So per Hand haben die nichts darauf gefunden. Keine Anrufe, Suchverläufe oder so. Hat wohl alles gelöscht. Ist schon unterwegs zum LKA.«

Malbek sah auf der digitalen Karte seines Handys, dass die Ottendorfer Au westlich des größten städtischen Friedhofs Eichhof entsprang und dann in Mäandern durch den Domänenteich floss und östlich des Wildgeheges Suchsdorf in den Nord-Ostsee-Kanal. Das Wasser der Au, an der Kommissar Steins Leben gewaltsam geendet hatte, war also vorher am größten Friedhof Kiels vorbeigeflossen. Natürlich hatte das nichts miteinander zu tun. Aber Malbek interessierten solche Zufälle. Und jeder Zufall machte ihn misstrauisch. Berufskrankheit. Außerdem war er Sohn eines Pastors.

»Hier.« Malbek hielt Vehrs das Handy hin. »Krattenbek. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber ich war nie da.«

Vehrs sah flüchtig auf das Display. »Dreißig oder vierzig Häuser, vier Kuhställe und genauso viele Schweineställe, ein Pferdehof, ein Supermarkt und eine Kirche. Na ja, vielleicht ein paar Häuser und Ställe mehr. Sie verstehen, was ich meine.«

»Woher haben Sie eigentlich die Ortskenntnis?«, fragte Malbek.

»Meine Frau und ich wohnen seit ein paar Monaten in Suchsdorf, und wir haben schon einige Ausflüge in die Umgebung gemacht. Ich will immer genau wissen, wo ich bin«, sagte Vehrs mit spitzbübischem Gesicht.

»Und wieso weiß ich das nicht? Ich meine, dass Sie umgezogen sind?«

»Sie müssen nicht alles wissen«, sagte Vehrs mit freundlichem Gesichtsausdruck.

»Doch, das muss ich!«, entgegnete Malbek trotzig. Zugegeben, wenn seine Mitarbeiter ihn etwas nach seinem Privatleben fragten, wurde er einsilbig. Sein Freund Lüthje, Chef des Kommissariats3 in Flensburg, hielt das genauso. Allerdings duzte der seine Leute. Aber ehe die sich mal über was Privates austauschten, mussten schon eine Sturmflutwarnung und Orkanwarnung gleichzeitig aktiv sein. Sagte Lüthje jedenfalls. Wusste er etwas über diesen toten Kollegen? Das Dienstliche dürfte nicht so schwierig sein, es war ja sicher alles in der Personalakte dokumentiert. Aber fast immer war es das Private, das zur Wahrheit führte.

»›Krattenbek‹ hört sich irgendwie dänisch an«, sagte Malbek. Einfach, um etwas zu sagen. Vehrs hatte ihn eben so nachdenklich angesehen, als wollte er etwas Privates fragen.

»Stimmt!«, antwortete Vehrs. »Die Endung ›bek‹ heißt ›Bach‹. Und ›Kratten‹… kommt aus dem Mittelhochdeutschen! Jetzt fällt es mir wieder ein. Da gibt es verschiedene Bedeutungen, zum Beispiel ›Krätze‹, ›kratzen‹ und ›eng‹, ›dunkel‹.«

Malbek runzelte die Stirn, während Vehrs seinen Vortrag hielt. Als der fertig war, sah Malbek ihn misstrauisch an. »Ich kann mich daran erinnern, dass Sie mir mal einen lateinischen Namen für eine Strandblume nannten. Lesen Sie nachts im Lexikon, wenn Ihr Sprössling Sie nicht schlafen lässt?«

»Meine Frau kann etwas Dänisch«, erwiderte Vehrs ausweichend.

»Wusste ich auch nicht. Aber ist auch keine Entschuldigung für Ihr Genie«, brummelte Malbek.

Kommissarin Hoyer war fast ein Jahr lang seine Mitarbeiterin gewesen. Bis sie sich in Vehrs verliebte und schwanger wurde. Jetzt hatten die beiden einen sechs Monate alten Jungen.

Malbek hatte schnell Ersatz für Hoyer gefunden. Zufällig war es wieder eine Frau. Na ja, nicht ganz zufällig. Denn Malbek fand das Arbeitsklima besser, wenn eine Frau dabei war. Männer unter sich entwickelten immer eine Hackordnung und Konkurrenzsituationen. Und das schadete der Arbeit.

»Wo ist eigentlich Herning?«, fragte Malbek und sah suchend um sich.

»Sie ist mit Preblings Truppe in die Wohnung gefahren.«

»Okay. Sie muss sich das hier ja auch nicht stundenlang ansehen.« Malbek ging in die Hocke, um die ursprüngliche Fahrtrichtung des Volvo besser abschätzen zu können. Es sah so aus, als ob das Opfer beim ersten Angriff das Lenkrad nach links verrissen hätte. Also musste das Fahrzeug vor dem Angriff des Täters in Bewegung gewesen sein. Und zwar in westliche Richtung, es hatte sich demnach von der Stadt entfernt.

Der Kopf der Leiche berührte fast den Boden, während die Beine im Fußraum verklemmt waren. Aus der rechten Körperseite sickerte von den Hüften bis zum Hals langsam Blut über das Gesicht. Als ob auf der Beifahrerseite ein Alligator gesessen hätte. Die Leiche war mit einem kurzärmligen Hemd und einer hellen langen Hose bekleidet. Und wo das Blut herkam, wo die Wunden waren, die der Mörder dem Opfer beigebracht hatte, war nicht zu sehen. Das war eine Frage, die Dr.Brotmann beantworten sollte, und zwar nicht erst, wenn er die Leiche »auf dem Tisch« hatte, wie er sich gern ausdrückte, sondern »vor Ort«, um der Kripo möglichst schnell Hinweise auf das Tatgeschehen zu geben, damit man dem Täter schneller auf der Spur war.

Vehrs folgte vorsichtig Malbeks Blick. Er schien zu warten, bis Malbek ihn etwas fragen wollte. Oder legte er gerade eine Schweigeminute ein? Sonst redete er immer gleich weiter, wenn sie vor einer Leiche standen. Denn eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche. Der ewig wiederkehrende Anblick des Todes. Aber so einfach war es leider nicht. Erst recht nicht, wenn da ein Kollege– noch dazu mit dem gleichen Dienstgrad– in seinem Blut vor ihm lag. Das war anders. Ganz anders als sonst.

Die Kriminaltechniker machten ein Zeichen, dass sie ihre Arbeit vorerst beendet hatten, und packten ihre Köfferchen mit den Instrumenten und der »Spurenbeute«. Sie waren sicher froh, endlich dem Verwesungsgeruch der Leiche und den Insekten zu entkommen.

Ein Wagen näherte sich Richtung Suchsdorf. Ein Volvo. Nachtschwarze Lackierung. Malbek erinnerte sich jetzt. Bei ihrem letzten dienstlichen Treffen auf einem Campingplatz in Eckernförde hatte Dr.Brotmann ihm sein fabrikneues Modell das erste Mal vorgeführt und liebevoll den blanken schwarzen Lack getätschelt. Malbek vergewisserte sich durch einen Blick auf den Wagen des Kollegen Stein. Ja, es war der gleiche Volvo. Typ und Baujahr dürften identisch sein. Und die Farbe.

Als Dr.Brotmann seinen Wagen am Straßenrand direkt hinter Malbeks Wohnmobil einparkte, erschien wie auf ein Stichwort in der flimmernden Luft jenseits der Kurve die Silhouette des Leichenwagens.

»Ob das jetzt neuerdings auch zu seiner Show gehört?«, fragte Vehrs.

Malbek lächelte das erste Mal an diesem Morgen. Dr.Brotmanns Auftritte hatten sich in den letzten zwei Jahren zu einer Show entwickelt, bei der er seine makaberen Hantierungen(zum Beispiel das gewaltsame Brechen der Leichenstarre mit anschließender Messung an den betroffenen Muskelgruppen) durch laut gesprochene passende Zitate aus Shakespeares Dramen untermalte. Malbek war zu dem Schluss gekommen, dass Dr.Brotmann dieses Ritual als Show darbot, um seinen Beruf leichter ertragen zu können. War er gar nicht der coole Gerichtsmediziner, für den man ihn hielt? Sahen nicht alle Gerichtsmediziner, die Malbek kennengelernt hatte, etwas kränklich aus? Wie würde er, Malbek, sich verhalten, wenn Brotmann seine Show gerade heute wieder abziehen würde?

»Haben Sie ihm am Telefon gesagt, dass es ein Kollege von uns ist?«, fragte Malbek.

Vehrs schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Dr.Brotmann zu wenden, der zusammen mit einem kleinen Mann Taschen aus dem Kofferraum nahm und sich ihnen danach mit forschem Schritt näherte. Der kleine Mann zog sein linkes Bein mit einem kleinen Dreher nach und versuchte, mit Dr.Brotmann Schritt zu halten.

»Wir dürfen gespannt sein«, murmelte Malbek.

»Sie sagen es ihm, ja?«, fragte Vehrs.

»Mit Vergnügen«, antwortete Malbek.

»Verzeihen Sie, ich hatte noch nicht richtig gefrühstückt«, sagte Dr.Brotmann, als sie sich begrüßten. Er kaute. »Mein neuer Assistent, Dr.Erdmann.« Er wies mit verschmitztem Lächeln auf den klein gewachsenen Mann, der schwer atmend neben ihm stand. Dr.Erdmann hatte ein altes Gesicht, aber volles schwarzes Haar und tiefe Ringe unter den Augen, die Malbek und Vehrs aufmerksam taxierten. Er nickte ihnen zur Begrüßung zu.

»Es war heute Morgen keiner der üblichen Assistenten greifbar«, erklärte Dr.Brotmann, als er Malbeks und Vehrs’ erstaunte Gesichter sah. »Aber Dr.Erdmann hat löblicherweise die Nacht durchgearbeitet. Ich fand ihn am Schreibtisch vor und habe ihn geweckt.« Er lachte und klopfte Dr.Erdmann fröhlich auf die Schulter, sodass der etwas in die Knie ging.

Malbek wies zur Leiche.

»Kriminalhauptkommissar Steina.D. aus Hamburg«, sagte Malbek.

Brotmanns prüfender Blick wanderte über die Szene. Er stutzte und straffte seine Gestalt, als er erkannte, dass er den gleichen Wagentyp wie das Opfer besaß. Ein leises Kopfnicken signalisierte so etwas wie Anerkennung.

Er wandte sich wieder zu Malbek. »Ein Kollege von Ihnen?«, fragte er ungläubig.

»Ein Kollege von uns!«, sagte Malbek fest und sah dabei Vehrs an. Der nickte bedeutsam.

»Lassen Sie uns an die Arbeit gehen, Herr Dr.Erdmann!«, sagte Dr.Brotmann entschlossen.

Dr.Erdmann öffnete eine Tasche, der er zwei weiße Overalls entnahm. Einen davon reichte er seinem Chef, den anderen, eine wesentlich kleinere Größe, zog er über. Nach dieser Verwandlung griff Dr.Brotmann seine Laptoptasche und eilte in Richtung Leiche. Dr.Erdmann stolperte eilfertig hinterher, mit beiden Armen weitere Taschen und Gerätschaften an den kleinen Körper pressend.

Dr.Brotmann arbeitete still und konzentriert. Es gab nichts Theatralisches, keine übertriebene Gestik, keine glimmenden Feuer in seinen Augen. Die beiden Gerichtsmediziner schienen ein ziemlich gut eingespieltes Team zu sein. Dr.Erdmann säuberte mit Läppchen verschiedene Körperpartien, die Dr.Brotmann mit den Fingern und Instrumenten betastete. Daraufhin las er laut die Werte ab und diktierte sie Dr.Erdmann in den Laptop.

Malbek wandte sich Vehrs zu, der versuchte, mit beiden Händen ein paar Fliegen aus seinem Gesichtskreis zu verscheuchen.

»Kommen Sie, wir lassen die beiden Frankensteins ein wenig allein.« Sie entfernten sich bis auf Rufweite und trauten sich wieder, tief einzuatmen.

»Hat sich der Mielke näher zu diesem ungelösten Fall geäußert?«, fragte Malbek.

»Ich habe ihn direkt gefragt, ob er uns die Akte schicken könnte«, antwortete Vehrs.

Er hatte unter dem Overall seine Hosentasche gefunden und zog erleichtert ein Paket Papiertaschentücher hervor. Er hielt es Malbek hin. Der nickte dankend, zog sich zwei Stück aus der Packung und wischte sich damit Gesicht und Nacken trocken.

»Mielke hat geantwortet…«, fuhr Vehrs fort und schnäuzte sich, »…er wüsste nicht, ob Stein Unterlagen darüber gehabt hätte, aber es wäre nicht auszuschließen, dass er sich unzulässigerweise vor seinem Ausscheiden eine Kopie davon gefertigt hat. Das ist zwar sehr interessant, aber das hatte ich ihn überhaupt nicht gefragt!«

»Und? Haben Sie nachgehakt?«

»Ich dachte, das überlasse ich Ihnen«, sagte Vehrs und wischte sich mit dem vollgeschnäuzten Taschentuch die Stirn und den Hals.

»Danke. Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Malbek.

»Ich habe ihn nur noch gefragt, ob er mir nicht kurz sagen könne, worum es ging, bei diesem Fall…«

»Und?«

»Er bat mich, ihn doch weiter über unsere Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten. Nett, nicht? Also wieder keine Antwort! Er redete einfach an mir vorbei!«

»Kein Wort? Nichts über den Fall?« Malbek schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Nichts. Zuerst hatte seine Stimme angespannt geklungen, dann gab er sich entspannter, und ich meinte, in seiner Stimme ein spöttisches Lächeln zu hören.«

»Hat er nach mir, also Ihrem Vorgesetzten, dem Leiter des Kommissariats, gefragt oder mich wenigstens unbekannterweise grüßen lassen oder so was?«

»Nichts.«

Wollte Mielke ihn, Malbek, provozieren? So sehr, dass Malbek zum Telefon griff und Mielke anrief und nicht umgekehrt? Wusste Mielke etwas, das Malbek sehr interessieren würde?

Dr.Brotmann näherte sich. Gleichzeitig telefonierte er. Malbek sah, dass sich der Leichenwagen in diesem Moment in ihre Richtung in Bewegung setzte. Dr.Erdmann war dabei, die Instrumente und Gerätschaften in Plastikbeutel einzupacken. Sie mussten im Institut gereinigt und desinfiziert werden.

»Es war richtig, dass Sie mich gebeten hatten, zu kommen«, sagte Dr.Brotmann. »Die Verwesung ist schon fortgeschritten. Außerdem hätte ich auf dem Tisch die Morphologie der Verletzungen auch nicht annähernd so schnell analysieren können. Aber zunächst das Wichtigste: der Todeszeitpunkt.«

Malbek und Vehrs nickten gleichzeitig.

»Wir haben die Werte dreimal gemessen, Körpertemperatur und Außentemperatur, und unser Programm«, Dr.Brotmann deutete auf den Laptop, der bereits in einer Plastikfolie verpackt auf einem Aluminiumkoffer neben Dr.Erdmann stand, »hat beide Male ein fast identisches Ergebnis errechnet. Und das, obwohl die Außentemperatur sehr problematisch ist…«

Malbek verschränkte die Arme, Vehrs seufzte. Sie wurden ungeduldig. »Spucken Sie die Zeitspanne endlich aus, Herr Dr.Brotmann«, sagte Malbek gezwungen lächelnd.

Dr.Brotmann lächelte zurück. »Na gut, der Tod ist zwischen null Uhr und drei Uhr nachts eingetreten. Und zwar hier am Fundort.«

»Und erst heute Morgen um halb sechs hat sich ein Zeuge gemeldet«, sagte Malbek nachdenklich. »Aber das ist unser Problem. Was können Sie über die Wunden sagen?«

»Stichverletzungen mit einem spitz zulaufenden, runden Werkzeug. Schräg von oben nach unten. Also vermutlich vom Beifahrersitz aus. Zieht inneres und äußeres Verbluten nach sich. Ich glaube, dass der Stich am Hals zuerst beigebracht wurde. Die Handlungsunfähigkeit trat dann sofort ein. Keine Schneide, also kein Messer. Eher eine Rundfeile oder ein Schraubenzieher, angeschliffen natürlich. Vielleicht aus einer Metallwerkstatt. Die Morphologie der Stiche ist etwas merkwürdig. Zwei tiefe Einstiche, jeweils einen in der Hüfte und am Hals. Und mehr als zehn mit wahrscheinlich nur oberflächlicher Stichtiefe verteilt über die rechte Körperseite. Diese allein können nicht zur Handlungsunfähigkeit geführt haben. Es fehlen aber Spuren eines Kampfes. Keine Hautfetzen unter den Nägeln oder Kratzer an den Händen. Das bestätigt meine Annahme, dass der Stich am Hals für den Tod ursächlich war. Dann stellt sich aber die Frage, warum der Täter die vielen kleinen Stiche ausgeführt hat. Wut kann es wohl nicht gewesen sein, dann wären sie tiefer gewesen. Schließlich hatte das Opfer nur ein dünnes Hemd an. Ja, diese Stiche würde ich als…«, er hielt einen Moment inne und dachte nach, »…ja, wenn sich mein erster Eindruck bei der Obduktion bestätigt… wie ein Epilog.«

»Sagten Sie ›Epilog‹?«, fragte Malbek. Also doch noch ein bisschen Shakespeare.

»Sie haben mich richtig verstanden. Denken Sie darüber nach. Aber… wie gesagt: Ich rufe Sie nach der Obduktion an. Oder möchten Sie dabei sein und Ihr Kollege vielleicht auch?« Er lächelte Vehrs verbindlich an, als ob er ihn zum Abendessen eingeladen hätte. Vehrs schüttelte den Kopf.

»Nein danke, vielleicht ein andermal«, sagte Malbek. »Ich glaube nicht, dass uns im Moment diese Details bei den Ermittlungen weiterhelfen. Es reicht, wenn Sie anrufen, vielen Dank, Herr Dr.Brotmann und auch an Dr.Erdmann.«

Man nickte freundlich.

»Immer die Form wahren, Herr Vehrs«, flüsterte Malbek. »Nicht nur den Kopf schütteln, sondern den Mund aufmachen und sich brav bedanken.«

»Und wenn ich nichts weiter dazu sagen will?«

»Dann zwingt er uns womöglich mit irgendeiner ermittlungstechnischen Begründung, die ganze Obduktion mit anzusehen.«

»Sie vielleicht! Nicht mich!«, flüsterte Vehrs zurück.

Dr.Brotmann gab den schwarz gekleideten Männern Anweisungen, wie sie die Leiche richtig zu greifen hatten, damit sie keinen Schaden nahm, der seine Arbeit »auf dem Tisch« beeinträchtigen könnte. Der Reißverschluss des Leichensacks machte beim Schließen ein schmerzhaft schneidendes Geräusch, das Vehrs und Malbek zusammenzucken ließ. Die Trage wurde vorsichtig in das Heck des Wagens geschoben, die Hecktür mit lautem Knall zugeschlagen, und sichtlich erleichtert stiegen die Männer ein. Im Schritttempo fuhr der Wagen los.

Wie auf Kommando richteten sich die Hundertschaft, die auf den umliegenden Feldern nach Spuren suchte, die Kriminaltechnik und die Schutzpolizei an den Straßenabsperrungen kerzengerade auf, und wer eine Dienstmütze bei sich hatte, hielt diese andächtig mit der rechten Hand an die Brust. Sie sahen dem Leichenwagen hinterher, bis er in der inzwischen flirrenden Luft an der Linkskurve Richtung Stadtmitte verschwunden war.

Dr.Brotmann verabschiedete sich mit einer Handbewegung, Dr.Erdmann mit einem Kopfnicken und einem Lächeln, da er beide Hände für das Tragen der Instrumente brauchte.

War Dr.Brotmann heute vielleicht nur deshalb so sachlich, weil das Opfer den gleichen Wagentyp fuhr wie er?, fragte sich Malbek. Noch dazu in der gleichen Lackierung?

»Und wieso hat der Täter eigentlich die Fahrertür geöffnet? Das kann doch nicht beim Kampf passiert sein«, meinte Vehrs, als sie sich die Overalls vom Leibe rissen und in bereitstehende Plastiksäcke stopften. Die Kriminaltechniker schlossen die Türen des Wagens und bereiteten den Abtransport vor. Sie würden den Volvo noch einmal in Kiel in ihrer »Werkstatt« unter die Lupe nehmen. Wenn die Leiche auf dem Tisch der Gerichtsmedizin war.

»Für wahrscheinlicher halte ich es, dass ein unbekannter Zeuge in der Nacht die Tür geöffnet hat, um nachzusehen, ob er helfen kann. Und da fiel ihm die Leiche entgegen. Und dann ist er abgehauen. Das muss man sich mal vorstellen«, Malbek wurde laut und gestikulierte mit den Armen, »mitten auf einer Landstraße am Stadtrand von Kiel, in unmittelbarer Nähe eines dicht bewohnten Stadtviertels und mehrerer Dörfer, steht zwischen null und drei Uhr nachts ein großes Auto, in dem ein brutal ermordeter Mensch in seinem Blut aus der Fahrertür hängt. Für jeden Autofahrer auch von Weitem im Scheinwerferlicht deutlich sichtbar. Und trotzdem meldet sich erst morgens um halb sechs ein Zeuge!«, schimpfte er.

»Stellen Sie sich vor, Sie haben ein paar Bierchen zu viel getrunken«, sagte Vehrs. »Und sehen das plötzlich im Scheinwerferlicht! Vielleicht hat ein nächtlicher Zeuge sogar noch mehr gesehen. Ungefähr hundert Meter von hier ist das Gras an der Böschung von irgendetwas platt gedrückt worden. Wahrscheinlich Autoreifen neuester Bauart, meinte einer von Preblings Leuten. Da hat jemand gewendet. Aber der Boden ist staubtrocken und das Gras von der Sonne verbrannt. Das zerbröselt schon, wenn Sie es nur ansehen. Sie haben es trotzdem fotografiert. Für alle Fälle.«

»Für mich steht fest, dass das Fahrzeug in Bewegung war, bevor der Angriff des Mörders kam. Täter und Opfer hatten ein Fahrtziel. Sonst hätten wir es nicht in dieser Position schräg auf der Straße vorgefunden. Ob Stein zu der Fahrt gezwungen worden und wo der Täter zugestiegen ist, ist eine andere Frage«, sagte Malbek.

2

Das Mobiliar in Steins Wohnung war eine Mischung aus Stahlrohrdesign und Antikmöbeln norddeutscher Art. Die Flurgarderobe wuchtig, ein Sekretär im Wohnzimmer filigran. Vielleicht Ererbtes und was sich im Laufe der Jahre noch so angesammelt hatte, aus Hamburger Antiquitätenläden oder unbekannten Quellen. Hamburg ist groß, sagte Malbeks Freundin Tanja oft. Sie war Kommissarin bei der Kripo Hamburg.

»Wie groß schätzt du die Wohnung?«, fragte Malbek den Chef der Kriminaltechnik, Hauptkommissar Prebling, der gerade sämtliche Schubladen unter einem Bücherregal aufzog.

»Wohnen, Schlafen, Arbeiten. Küche, Bad. Zwei Toiletten. Ein eher kleiner Balkon. Alles in allem so achtzig bis neunzig Quadratmeter. Einzige Besonderheit: Im Wohnzimmer und Schlafzimmer gibt es je einen Fernseher mit Plasmabildschirm und Internet. Die Browserverläufe sind leer. Wahrscheinlich gelöscht. Wenn wir etwas finden, melden wir uns. Als wir hier heute Morgen reinkamen, roch es etwas muffelig. So als ob er ein paar Tage nicht gelüftet hätte. Trotz der Hitze. Das ist das Arbeitszimmer, wie man unschwer sieht«, sagte Prebling und wies auf Schreibtisch und Regale, die zwei Wände vom Boden bis zur Decke bedeckten. »Wir haben hier noch keine Spuren gesichert und nichts eingepackt. Ich wollte, dass du es siehst, wie wir es vorgefunden haben. Alles nur Kopien, keine Originale.« Er deutete auf die Aktenordner in den Regalen. »Ein Teil davon sind Zusammenfassungen von Zeugenaussagen. Daneben in den Stehsammelordnern sind Ausdrucke aus seinem Drucker neben dem Schreibtisch. Wir haben es überprüft. Der Laptop war übrigens nicht durch Passwort gesichert.«

»Habt ihr was Interessantes gefunden?«

»Nein. Der Browserverlauf ist zwar noch von den letzten zwei Tagen erhalten. Aber er scheint im Internet nur Zeitungen gelesen zu haben. Regional und überregional. Und alles sehr gründlich. Als ob er was gesucht hätte. Ohne erkennbares Muster.«

»Als ob er sich über uns lustig machen wollte…«, meinte Malbek.

»Ich glaube irgendwie nicht, dass er ein humoriger Kollege war.« Prebling sah im Zimmer um sich.

»Ich bin auch nicht grade eine Stimmungskanone«, sagte Malbek mit bitterernster Miene.

»Weiß Gott nicht, Herr Kollege«, erwiderte Prebling mit erhobenen Augenbrauen. Er wusste, dass Malbeks Vater Pastor in Schleswig gewesen war. Und dass er, Prebling, sich aufgrund ihrer langjährigen Zusammenarbeit solche Scherze gegenüber Malbek erlauben durfte. Nicht jeder durfte das.

Auf dem Schreibtisch lag »Die Zeit«, die Seite mit dem Kreuzworträtsel »Um die Ecke gedacht« war aufgeschlagen, die Felder mit Bleistift fast zur Hälfte ausgefüllt. Einige Bleistifteintragungen waren ausradiert. Fernsehen und Kreuzworträtsel lösen, waren das Steins Hobbys gewesen?

»Hat er Zeitungen aufbewahrt?«, fragte Malbek.

»Da unten im Regal, in den schwarzen Stehsammelordnern. Es sind ungefähr dreißig. Scheinbar beliebiges Erscheinungsdatum, aber chronologisch sortiert. Die Titelgeschichten haben keinen erkennbaren Zusammenhang. Wie wäre es mit folgender Theorie: Er wollte keine persönlichen Spuren hinterlassen. Weil er Computer und alles, was damit zusammenhing, hasste.«

»Das ging mir auch mal eine Zeit lang so. Ich sehnte mich nach den Zeiten von Sherlock Holmes und Hercule Poirot zurück. Und tue es immer noch.«

An der Wand neben dem Schreibtisch hing eine topografische Freizeitkarte »Kiel und Umgebung«, Maßstab 1:100.000.

»Hier ist der Tatort.« Malbek zeigte auf die Karte. »Zufall?«

»Warum war er nachts auf dieser einsamen Landstraße unterwegs?«, fragte Prebling.

»Vielleicht ein Treffpunkt?« Malbek zuckte mit den Schultern und begann sich im Zimmer umzusehen.

»Ist irgendetwas dabei, das so aussieht wie Kopien einer Fallakte?«

Prebling schüttelte den Kopf. »Ich hab bisher nur schnell mal durchgeblättert. Das Einzige, was diese Papierberge mit einer Ermittlungsakte gemeinsam haben, sind handschriftliche Seitenzahlen oben rechts. Aber diese sind alle fortlaufend pro Aktenordner, haben also nichts mit einer Ermittlungsakte zu tun. Wenn er Originale oder eine Kopie einer Akte hatte, dann wohl eher in einem Bankschließfach oder einfach hier.« Er tippte sich an die Stirn.

Da Malbek Prebling schon lange kannte und schon manches Betriebsgeheimnis mit ihm geteilt hatte, zog er ihn am Arm zum Fenster und sagte mit gesenkter Stimme: »Vehrs hat heute früh Steins Hamburger Nachfolger im Kommissariat über den Mord an ihrem ehemaligen Kollegen informiert. Mielke heißt der. Der Mann war offenbar nicht sonderlich traurig und sagte nur, dass Stein an einem ungelösten Fall gearbeitet hätte. Als Vehrs nach der Akte fragte, hat der darüber geredet, dass Stein sich vor seiner Pension vielleicht Kopien davon gemacht hätte. Und was wir denn schon herausgefunden hätten. Was hältst du davon?«

»Das hört sich so an, als ob er ein Tauschgeschäft anbietet: Sagt mir, was ihr wisst, dann gebe ich euch, was ihr wollt.«

»Und wie würdest du reagieren?«

»Mir das, was ich haben will, woanders besorgen?« Prebling zwinkerte Malbek zu.

»Vielleicht finden wir es ja selbst«, sagte Malbek und zwinkerte zurück. Mielke führte etwas im Schilde. Oder hatte etwas zu verbergen. Vielleicht sollte er ihm ein paar frisierte Wahrheiten anbieten, um ihn sich vom Leibe zu halten, dachte Malbek. Er würde mit Lüthje telefonieren müssen.

»Störe ich?«, sagte eine junge Frauenstimme.

Die beiden Männer drehten gleichzeitig um.

»Hallo, Frau Herning!«, sagte Malbek.

Sie hatte ein ovales, gleichmäßiges Gesicht und freche braune Augen. Als sie sich bei ihm vor sieben Monaten als Nachfolgerin für Kerstin Hoyer vorgestellt hatte, hatte er als Erstes beschlossen, nicht darüber nachzudenken, ob sie hübsch war. Die glatten kastanienbraunen Haare hatte sie zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei jeder Kopfbewegung aufgeregt hin und her hüpfte. Leider sah man hier davon nichts, da sie, wie alle anderen in der Wohnung des Toten, den weißen Overall samt Kapuze tragen musste.

Mit ihren behandschuhten Händen hielt sie zwei kleine, mit Gummiband zusammengebundene Stapel Papier hoch. »Hab ich im Schlafzimmer gefunden. Ich habe die Matratze leicht angehoben und druntergeschaut. Und siehe da: Auf der Unterseite waren in den Schaumstoff Löcher geschnitten, in die diese Papierbündel eingedrückt waren. Sehen wie Quittungen aus.«

Sie legte die Bündel auf den Schreibtisch. Malbek und Prebling nahmen sich jeder eines und blätterten sie flüchtig durch.

»Das ist doch praktisch unleserlich! Wieso legt sich ein Kriminalhauptkommissar mit langer Berufserfahrung so was unter, nein in die Matratze?«, fragte Malbek. »Wenn es wichtig ist, gehört so was in ein Bankschließfach.«

»Vielleicht hatte er eine Macke. Oder einen Tick«, sagte Herning.

Die handschriftlichen Eintragungen waren unleserlich, was wohl daran lag, dass die Einzahlungsbelege Kopien waren. Oder Kopien von Kopien. Immerhin war zu erkennen, dass es Bareinzahlungsbelege von Western Union waren. Die in fast allen Ländern vertretene amerikanische Firma war ein Anbieter von Bargeldtransfer. Damit wurden jedes Jahr Milliarden umgesetzt. Man zahlte das Geld in einer Filiale ein und konnte es nach ein paar Minuten in einer gewünschten Filiale rund um den Erdball in Empfang nehmen. Natürlich musste der Versender eine saftige Gebühr bezahlen, die sich nach der Höhe des versendeten Betrages richtete. Der Empfänger musste die vielen persönlichen Daten nachweisen, die der Versender über ihn in das Formular eingetragen hatte. Und er musste die richtige Codenummer für die Überweisung nennen können, die der Versender ihm übermittelt hatte.

Das System eignete sich gut für die Abwicklung dunkler Geschäfte, wurde aber auch sehr oft zur Überweisung von Unterhaltshilfen in die armen Heimatländer von Familienmitgliedern genutzt, die in westlichen Ländern einen Job gefunden hatten und damit die Familie ernährten. Die Originale waren sicher von Western Union längst eingestampft worden. Und als auskunftsfreudig war diese Firma nicht gerade bekannt. Die letzte Hoffnung ruhte also auf den Kriminaltechnikern. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie ein Wunder vollbrachten.

Malbek blätterte in dem Stapel, den er in der Hand hielt. »Geldwäsche in Raten? Nicht unüblich. Welche Sprache könnte das sein? Man kann immer nur ein paar Buchstabengruppen erkennen. Der Name Stein kommt jedenfalls als Absender nicht in Frage«, sagte Malbek.

»Mal sehen, was das LKA dazu sagt«, meinte Prebling.

Ob Mielke auf der Suche nach diesen Belegen war?

»Spätestens eine Stunde nachdem ich diese Dinger angezogen habe, juckt es mich am Hals und in der Nase«, sagte Malbek, als sie sich im Flur aus den Overalls befreiten und sie in den bereitgestellten Abfallsack neben der Tür warfen. »Und ich hab heute früh so ein Ding schon gefühlte fünf Stunden in der prallen Morgensonne getragen.«

»Sie sind bestimmt Allergiker, hab ich recht?«, fragte Herning, als sie sich an den mit Umzugskartons beladenen Kollegen im Treppenhaus nach unten schlängelten.

»Ja, vor allen Dingen die Nase«, rief er ihr über die Schulter zu.

Als sie draußen angekommen waren, betrachtete Malbek die Fassade des Gebäudes.

»Möchten Sie in so was Ihren Lebensabend verbringen?«, fragte er. Ein Panzerschrank aus Stahl und Glas. Fünf Stockwerke hoch. Immerhin schien es oben einen Dachgarten mit eingetopften Bäumen zu geben. Darunter Fenster für Bad und Küche, Rahmen aus schwarzem Kunststoff, durch die neugierige Gesichter zu ihnen hinunterstarrten. Lauter kleine Todesanzeigen, die auf einen Text verzichteten, weil die Porträts der Verblichenen für sich sprachen.

»Sie meinen, das wäre Selbstmord?«, fragte Herning zurück.

»So was in der Art. Kommen Sie, wir haben uns genug anstarren lassen.«

Sie gingen weiter in Richtung des großen Parkplatzes vor dem Gebäudekomplex.

»Um noch mal auf Ihre Frage zurückzukommen…«, begann sie zögernd.

»Ja?«

»Ich würde mir was ganz dicht am Wasser oder auf dem Land wünschen.« Sie dachte nach. »Eigentlich beides.« Sie lachte verlegen. Und als er nicht antwortete, fragte sie: »Wohin gehen wir jetzt?«

»Auf diese philosophische Frage eine schlichte Antwort: Ich wollte Sie zu einem Kaffee einladen.«

»Genau das, was ich jetzt brauche. Kennen Sie sich hier denn aus?«

»Nein, aber wo es Kaffee gibt, weiß ich.«

Malbek blieb vor seinem Wohnmobil stehen. Er begann, alle Türen zu öffnen, um durchzulüften. Herning sah ihm entgeistert zu.

»Damit können Sie beides haben«, rief Malbek ihr von innen zu, als er die Dachklappe öffnete. »Land und Wasser!«

»Gehört Ihnen der Oldtimer?«

»Tun Sie nicht so, als ob Sie das nicht wüssten.« Er legte die Treppe vor die Tür, machte eine höfische Verbeugung und eine einladende Armbewegung. Sie lächelte wieder verlegen, deutete einen Hofknicks an und betrat das Wohnmobil.

»Sie sind zwar erst ein gutes halbes Jahr bei uns«, fuhr Malbek fort und suchte in den Hängeschränken herum, »aber ich bin sicher, dass Ihnen ein paar nette Kolleginnen und Kollegen längst davon erzählt haben. Damit Sie wissen, was Ihr neuer Chef für ein Typ ist. Ja, ich kutschiere mit so einem Gefährt durch die Gegend. Ja, ich nutze es auch als Wohnung. Aber wenn mein Dienstwagen heute Morgen nicht gestreikt hätte, hätten wir wertvolle Zeit auf der Suche nach einem Kaffee verplempert. Den gibt es nämlich hier bei mir zu Hause. Sie können die Vorhänge schon mal zur Seite ziehen. Ich bin sicher, wir werden von den Bewohnern und den Kollegen observiert.«

Malbek suchte in den Schränken nach dem Café au Lait, und als er ihr die Dose mit dem Instantpulver zeigte, war sie einverstanden. Und als er auch die entsprechend großen Tassen dazu präsentieren konnte, war sie begeistert. Und als er sogar etwas H-Milch mit einem Batteriequirl aufschäumte, war sie entzückt.

Sie suchte eine Tischdecke in den Oberschränken, fand etwas ihrer Meinung nach passendes Geblümtes und breitete sie auf dem kleinen Tisch aus. »Das sieht doch wie eine Wiese aus«, bemerkte sie zufrieden.

Wenn Tanja das wüsste, dachte Malbek. Sie hatte ihm die Blumenwiese voriges Wochenende aus Hamburg mitgebracht. Sie saßen eine Weile da, tunkten die Oberlippen in den Milchschaum und versuchten angestrengt, sich nicht zu oft anzusehen und nicht zu übermütig zu werden.

Schließlich setzte er die halb leere Tasse ab und sagte überflüssigerweise: »An die Arbeit.«

Sie setzte die Tasse ebenfalls ab, etwas zu schnell, sodass es einen Klecks auf der Tischdecke gab. Sie machte Anstalten, aufzustehen, um nach einem »Wischtuch« zu sehen.

Er protestierte und sagte: »Das bleibt da, so wie es ist.«

Dann setzte er sie ins Bild. Sie war zwar heute frühmorgens mit Vehrs zum Leichenfundort gefahren und hatte die Szenerie sicher noch vor ihrem geistigen Auge. Trotzdem zeigte er ihr seine Handyfotos vom Leichenfundort, skizzierte die Theorien zur Auffindesituation, die Lage der Leiche und erörterte mit ihr die Frage der geöffneten Fahrertür. Und natürlich Dr.Brotmanns Verkündung des Todeszeitpunktes, seine vorläufige Analyse zur Morphologie der Einstichwunden und die Interpretation durch seinen Assistenten Dr.Erdmann.

»Und ich hab hier in der Zeit nur unter den Matratzen gewühlt«, sagte sie und schaute in den Milchschaum.

»Zweifeln Sie etwa an Ihrer Arbeit?«, fragte Malbek.

»Nein, ich… ich will nur sagen, dass ich… also, die Sache ist die: Als die Spurensicherung heute Morgen den Schlüsselbund bei der Leiche gefunden hatte, hat mich Herr Vehrs gefragt, ob ich mit in Steins Wohnung fahren wollte. Klar, hab ich gesagt und bin natürlich hierhergefahren, weil ich dachte, dass ich das aus irgendeinem Grunde machen muss. Aber begriffen hab ich es nicht, ich wollte lieber am Leichenfundort bleiben. Dummerweise hab ich Vehrs das nicht gesagt. Ich habe einfach gemacht, was er gesagt hat.«

Malbek hatte sie bei ihrem Vorstellungsgespräch gefragt, ob sie schon einmal bei der Aufklärung eines Kapitalverbrechens mitgearbeitet habe. Sie hatte geantwortet, dass sie schon als »Suchmaschine auf dem Acker« dabei gewesen sei. »Das lassen wir bei Frau Herning mal weg«, hatte Malbek zu Vehrs gesagt. Und da hatte Vehrs sie mit Hauptkommissar Prebling und den anderen in die Wohnung geschickt. Wo sie hervorragende Arbeit geleistet hatte.

»Warum haben Sie ihm nicht gesagt, dass Sie lieber am Tatort arbeiten wollen?«

»Herr Vehrs machte einen erschöpften Eindruck auf mich, als ob… ich hatte Angst, er würde ausrasten, wenn ich mit meinen Sonderwünschen käme.«

»Sie haben gedacht, er würde die Nächte durchmachen und deshalb das Rasieren vergessen. Aber ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass er vor ein paar Monaten Vater geworden ist. Seitdem kenne ich ihn nur unausgeschlafen.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Das braucht Ihnen nicht leidzutun. Er hat mir bei der Geburt seines Sohnes gesagt, er sei der glücklichste Mensch auf Erden. Er hätte es Ihnen sagen müssen.« Aber er hat ein Problem, über persönliche Dinge zu reden, wollte Malbek noch sagen. Doch es wurde ihm zu kompliziert.

»Woher will dieser Mielke überhaupt wissen, dass sein Kollege im Ruhestand an einem alten Fall arbeitete?«, fragte Herning.

Malbek zuckte die Schultern. »Davon hat er nichts gesagt. Vehrs hat mir den Wortlaut des Telefonats wiedergegeben.«

»Hat Mielke sich vielleicht nur verplappert?«, fragte Herning.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Malbek.

»Vehrs hat doch angerufen und nicht Mielke, richtig?«

Er nickte. »Es könnte doch sein, dass Mielke so überrascht von der Ermordung Steins war, dass ihm die Bemerkung über die Arbeit am alten Fall vielleicht nur herausgerutscht ist, weil die ihn am meisten beschäftigt hat. Hinterher hat er sich bestimmt geärgert!«

»Das würde auch erklären, warum er Vehrs’ Fragen nach der Akte ausgewichen ist. Er hat gemerkt, dass er einen Fehler gemacht hat und besser nichts davon erwähnt hätte. Aber es war zu spät. Er musste sich erst eine Ausrede zurechtlegen. Also entschloss er sich, das Telefonat mit Vehrs so schnell wie möglich zu beenden. Ihn abzuwimmeln. Nicht auf seine Fragen einzugehen. Aber seine Neugier war so groß, dass er doch noch fragte, ob wir schon was wüssten.«

»Hört sich plausibel an«, sagte Malbek. »Ich werde Mielke in Hamburg wohl persönlich auf die Füße treten müssen. Wir brauchen die Akte so schnell wie möglich. Dann werde ich Ihre Gedanken im Hinterkopf haben.«

»Heißt der wirklich Mielke?«, fragte Herning.

»Wenn Vehrs sich nicht verhört hat… Mein Vater hat öfter gesagt, für ihre Namen können die Menschen nichts. Aber in diesem Fall…«

»Welche Bedeutung haben die Zahlungsbelege, die ich gefunden habe?«

»Denken Sie laut nach, oder stellen Sie mir eine Frage?«

»Ich frage mich, was für ein Mensch der Stein war. Ein Kriminalhauptkommissar im Ruhestand versteckt ein Bündel fremder Zahlungsbelege in seiner Matratze. Ich glaube, wir können ausschließen, dass er an Demenz litt.«

»Ich habe auf seinem Schreibtisch ein fast vollständig ausgefülltes Kreuzworträtsel gefunden. Um das zu lösen, braucht man eine überdurchschnittliche Assoziationsfähigkeit. Andere Menschen reden von Kombinationsgabe. Nicht alle Ermittler haben es. Ich glaube, Stein war ein Typ, der gern um die Ecke gedacht hat. Deshalb wird es schwer für uns werden, seine Handlungen nachzuvollziehen.«

»Aber vorher müssen wir noch bei den Bewohnern dieses Hauses anklopfen.« Malbek schob eine Gardine beiseite und sah durch die Windschutzscheibe zum Gebäude. »Der Wohnpark Ostsee Port besteht aus vier ›Residenzen‹ von je sechzehn Wohnungen. Das Opfer wohnte in Residenz zwei. Da fangen wir an. Zuerst die Wohnung gegenüber auf der gleichen Etage. Ich rufe Vehrs an, er soll Unterstützung auftreiben und das weitere Vorgehen mit Ihnen abstimmen. Okay?«

»Und was machen Sie als Nächstes?«

3

»Sie räumen seine Wohnung leer!«, rief Marianne.

Eva und Ingrid sprangen auf. Kitty erhob sich seufzend aus ihrem Sessel, nahm die leere Kuchenplatte vom Tisch und folgte ihnen. Als sie in die Küche kam, drängelten sich ihre drei Freundinnen wie kleine Mädchen vor dem Fenster und reckten ihre Hälse. Kittys Eigentumswohnung lag im vierten Stock. Der Blick aus dem Küchenfenster reichte vom Hauseingang bis zum Parkplatz vor der Wohnanlage, auf dem mehrere Polizeifahrzeuge parkten. Zwei davon waren Transporter, die von Männern und Frauen in schwarzer Uniform mit schweren Umzugskartons beladen wurden.

»Quatsch«, sagte Eva, »so weit ist es noch nicht. Die Kripo will immer nur Computer und alles Schriftliche. Vielleicht noch Medikamente und alle Fingerabdrücke. Am besten noch die Visitenkarte des Täters.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Kitty.

»Du hast doch so einen riesigen Fernseher! Oder guckst du immer nur die Verkaufskanäle?«, erwiderte Eva.

Kitty tat so, als habe sie Evas Bemerkung überhört, und wandte sich wieder dem Fenster zu.

»Was er wohl in diesen Ordnern aufbewahrte?«, fragte Ingrid.

»Würdet ihr euch jetzt bitte vom Fenster zurückziehen?«, sagte Kitty streng und nahm sich das lange Messer, das neben dem Kuchenblech auf der Arbeitsplatte lag. »Was glaubt ihr, wie das von da unten aussieht?« Sie schnitt sorgfältig quadratische Streuselkuchenstücke vom Blech zurecht und stapelte sie auf einem großen Teller zu einer Pyramide. Kuchen am Vormittag. Kitty hatte gehofft, das würde beruhigend auf ihre Freundinnen wirken.

»Wollt ihr euch auf diese Weise als Zeugen anpreisen? Die Kriminalpolizei wird euch noch früh genug ausfragen!«

»Wieso? Er ist doch woanders gefunden worden! Jedenfalls nicht hier in seiner Wohnung«, maulte Eva und wandte sich unwillig vom Fenster ab. »Und nur du und Ingrid wohnt in diesem Haus. Marianne und ich sind nur deine Gäste.«

»Ja, und ihr seid heute das erste Mal hier, und das auch nur rein zufällig, habt den Toten nicht gekannt, geschweige denn je ein Wort mit ihm gesprochen«, leierte Ingrid mit ironischer Betonung. »Außerdem wohnt ihr nicht seit Jahren in Kiel, sondern erst seit gestern und kennt hier keine Menschenseele. Begreif doch endlich, wir sitzen im selben Boot.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Eva.

»Na, was wohl!«, schimpfte Ingrid. »Wir kannten ihn alle seit ein paar Monaten, und jede von uns ist auch mit ihm gesehen worden, hier im Haus oder in der Stadt. Und vielleicht erinnerst du dich auch daran, dass wir ihn alle oben auf der Dachterrasse kennengelernt haben? Und da saßen auch noch andere Bewohner des Hauses. Die haben gesehen, wie er mit uns gesprochen hat. Wenn wir es nicht erzählen, werden die es ausplaudern.«

»Kitty hat recht«, sagte Marianne mit fester Stimme. »Jeder, der hier wohnt oder sich in diesem Haus in den letzten Tagen aufgehalten hat, ist für die Kripo ein Zeuge.«

»Was können wir tun?«, fragte Ingrid.

»Der Polizei alles sagen, was wir wissen«, meinte Kitty.

»Was wissen wir denn schon? Nichts«, erwiderte Marianne. »Er hat seine Geheimnisse gehabt. Das haben wir mehr gefühlt als gewusst. Und damit macht man sich nur Schwierigkeiten. Gegenüber der Polizei musst du wissen, nicht fühlen.«

»Du scheinst dich ja gut auszukennen«, stichelte Ingrid.

»Bitte reißt euch zusammen! Warum esst ihr nicht ein Stück Streuselkuchen? Das beruhigt die Nerven«, mahnte Kitty.

»Auch am Vormittag?«, maulte Marianne.

Trotzdem nahm sie sich ein Stück und biss genussvoll hinein. Kitty griff auch zu und blinzelte Eva und Ingrid aufmunternd zu. Vergeblich.

»Wie ihr wisst, war ich Bilanzbuchhalterin«, sagte Ingrid mit mühsam beherrschter Stimme. »Und ich habe Dinge erlebt, von denen ihr euch keine Vorstellungen macht.« Die Falte an der Nasenwurzel, die ihr auch in ausgeglichener Stimmung ein ärgerliches oder bestenfalls nachdenkliches Aussehen gab, grub sich noch tiefer.

»Davon könntest du uns eigentlich mal was erzählen«, sagte Kitty zu Ingrid und wies mit einer Kopfbewegung zu Eva und Marianne, die mit gesenkten Köpfen und feuchten Augen ihren Gedanken nachhingen. »Das lenkt uns vielleicht ab.«

»Den Teufel werde ich tun«, grummelte Ingrid leise in Richtung Kitty, die ihr trotzdem ermunternd zuzwinkerte.

Kitty klatschte in die Hände und rief laut: »Und ich war bekanntlich Oberstudienrätin in einem Internat und sage: Schluss jetzt mit den trüben Gedanken, Eva und Marianne, habt ihr gehört? Ingrid will uns etwas Interessantes erzählen!«

Ingrid schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein anderes Mal.«

Wieder saßen sie eine Weile still, aßen den Kuchen, klaubten die Krümel vom Teller und nippten an ihrem Kaffee.

»Was soll ich bloß Hermann sagen?«, fragte Marianne unvermittelt und so leise, als ob sie mit sich selbst spräche.

»Wer ist Hermann?«, fragte Kitty.

Marianne sah erschrocken auf, als fühlte sie sich ertappt.

»Ein Verehrer, den du uns verschwiegen hast?«, fragte Ingrid mit ernster Miene, während sie eine trockene Rosine aus ihrem Gebiss klaubte und angeekelt auf ihren Teller legte.

Normalweise wäre die Frage in dieser Runde Grund genug für Gekicher und bohrende Fragen gewesen. Aber es herrschte nur erwartungsvolle Stille.

»Er wird doch jetzt denken…«, Marianne schluckte, bevor sie weitersprach, »…dass wir irgendetwas damit zu tun haben.«

»Wieso das denn?… Wer hat mit was…« Eva gelang es nicht, den Satz zu vollenden, da sie sich verschluckt hatte und mühsam versuchte, einen Krümel Streuselkuchen aus der Luftröhre zu husten. Ingrid und Marianne bemühten sich, ihr auf den Rücken zu klopfen und die Arme nach oben zu strecken.

»Genug, genug«, röchelte Eva.

»Wer hat eine Lösung für Mariannes Problem?«, fragte Kitty müde in die Runde.

»Was hast du diesem Hermann denn so über uns erzählt?«, wollte Ingrid wissen.

»Das ist doch jetzt nicht wichtig«, unterbrach Kitty, um Marianne den Rücken freizuhalten. »Versteht mich bitte nicht falsch, aber ich meine, wir sollten erst einmal darüber nachdenken…«

»…was wir jetzt machen sollen, wenn die Polizei uns ausfragt?«, sagte Marianne plötzlich keck.

Alle sahen Marianne dabei zu, wie sie mit der Kuchengabel ein neues Stück Streuselkuchen von der Pyramide aufpicken wollte. Es fiel ihr auf halbem Wege zum Teller auf ihren Schoß und von da auf den Teppich. Sie legte die Gabel beiseite und hob den Kuchen auf. Sie überlegte einen Moment und brachte ihn schließlich in die Küche.

»Tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint! Vergesst einfach, was ich gesagt habe!«, rief sie ihren Freundinnen über die Schulter zu.

Eva und Ingrid sahen so aus, als ob sie gleich über Marianne herfallen wollten. Ingrids Ader neben der Zornesfalte war bedrohlich angeschwollen, und Eva hatte eine Lauerstellung eingenommen.

»Wovon redest du, Marianne?«, legte Eva los. »Was tut dir leid? Die Krümel auf dem Teppich oder deine Geschmacklosigkeit uns… Was fällt dir ein! So einfach kommst du mir nicht damit…«

Kitty hatte sich die Frauenfreundschaft eigentlich anders vorgestellt, als sie bei ihrem Einzug im April 2013 eine Anzeige in einer Kieler Tageszeitung und einem Anzeigenblatt schaltete(»Lehrerin im Unruhestand sucht gleichgesinnte Kaffee- beziehungsweise Teetanten, die sich über ihre Zukunftspläne austauschen und in ihrer Freundschaft ein neues, emotionales Zuhause finden wollen«). Das Ganze war für sie ein großes Projekt. Ein Traum, der sie immer intensiver verfolgte, je näher der Tag der Verabschiedung aus dem Schuldienst rückte. Freundinnen im aktiven Ruhestand. Die jederzeit füreinander da waren. Und dazu gehörte auch das gegenseitige Eingeständnis, dass die heimliche Hoffnung, doch noch oder wieder einen Mann zu finden, nicht im Ruhestand aufhört. Und das Auffangen der Enttäuschung, wenn die Beziehung vorbei war.

Das mit der Aussprache über die heimliche Hoffnung war zwischen ihnen noch nie zur Sprache gekommen. Na ja, vielleicht war Mariannes »Hermann« ja schon ein Anfang. Aber für Ingrid und Eva gab es jetzt nur ein Thema. Den toten Bertold Stein.

Ein Mord war nicht das, was Kitty sich als Thema in ihrer Frauengruppe vorgestellt hatte. Musste sie das vielleicht als eine gemeinsame Bewährungsprobe sehen? Dann wäre es doch etwas, woraus sie lernen könnten. Als Frauengruppe.

Der Himmel oder wer auch immer hatte ihr im Leben schon mehrfach Prüfungen gesandt. Die letzte Prüfung hatte sie eine Woche vor dem Ruhestand zu bestehen. Eine banale, dumme Angelegenheit. Der Direktor des Internats hatte sein Verhältnis mit ihr beendet. Von einer Sekunde zu anderen. Sie hatten, wie so oft, in seinem Arbeitszimmer auf dem teuren Teppich vor seinem Schreibtisch miteinander geschlafen. Danach war er wie immer sofort aufgestanden, hatte seine Kleidung zurechtgerückt, die Krawatte wieder gebunden, eben alles wie immer. Aber dabei fing er plötzlich an, sie übel zu beschimpfen. Wegen ein paar Nichtigkeiten hatte er ihr mit beruflichen Konsequenzen gedroht, die sich auf die Höhe ihrer Ruhestandsbezüge auswirken könnten.

Er hatte sich innerhalb von Sekunden in eines von den Arschlöchern verwandelt, die ihr zu oft in ihrem Leben über den Weg gelaufen waren. Sie hatte also wieder nicht genau hingesehen. Sich von seinen fortwährenden Versprechen einlullen lassen, dass er seiner Frau »nächste Woche reinen Wein einschenken« wollte. Und dann hatte es immer wieder geheißen, nächste Woche und dann nächsten Monat und dann wieder nächste Woche.

Danach hatte sie sich eine andere Wohnung gesucht. Diese Wohnung, im Ostsee Port in Kiel-Wik. Sie hatte sich neu eingerichtet und sich wochenlang damit betäubt, alle Farben Ton in Ton aufeinander abzustimmen. Und dann trat plötzlich Stille ein. Unerträgliche Stille, die sie über den Tod nachdenken ließ.

Nach drei Tagen begann sie aus lauter Verzweiflung, Nachforschungen über ihren Vornamen anzustellen.

Sie zog plötzlich alles in Zweifel, was ihre Eltern ihr über sie erzählt hatten. Auch über ihren Vornamen. Ihre Eltern hatten ihr gesagt, dass sie wohl Kitty Wells dabei im Kopf gehabt hätten, eine amerikanische Popsängerin, für die ihr Vater geschwärmt hatte, den ihre Mutter während der britischen Besatzungszeit kennengelernt hatte. Er war für die BBC in Deutschland tätig gewesen und hatte sich danach auch im deutschen Radio und Fernsehen einen Namen als Discjockey gemacht und später mit Unterhaltungssendungen im Fernsehen. Als junge Frau fand sie den Namen schick und war ihren Eltern irgendwie dankbar dafür. Für Stolz hatte es aber nie gereicht.

Als der Internetanschluss in ihrer neuen Wohnung eingerichtet worden war, machte sie sich an die Arbeit. Fünfzehn Minuten nachdem sie ihren Namen in eine Suchmaschine eingegeben hatte, fand sie eine Auflistung von berühmten Frauen mit diesem Vornamen. Sängerinnen, auch die amerikanische Popsängerin, eine britische Schauspielerin, eine österreichische Regisseurin, die im selben Jahr wie sie selbst geboren war. Sie hätte nie gedacht, dass es so viele schöpferische Frauen mit diesem Vornamen gegeben hatte… doch dann stockte ihr der Atem.

Sie war auf den Namen Kitty Genovese gestoßen, ein New Yorker Mordopfer, dessen Name in der kriminologischen und psychologischen Fachliteratur berühmt war. Achtunddreißig Menschen waren in der Stadt jeweils für Momente Zeuge des Mordgeschehens an Kitty Genovese geworden und hatten die Polizei nicht gerufen. Dieses psychologische Phänomen hatte man den »Genovese-Effekt« genannt.

Seitdem Kitty das gelesen hatte, verfolgte sie der Gedanke, dass es Bestimmung ihres Lebens war, in eine ähnliche Situation zu kommen. Und nun war tatsächlich in ihrem Umkreis ein Mensch ermordet worden. Ein Mann, den sie und ihre Freundinnen gekannt hatten.

Hatte sie eine Vorahnung gehabt? Oder war das nur eine gedankliche Obsession, eine Zwangsvorstellung oder wie immer man das in der Psychiatrie nennen würde? Egal was es war, es gehörte zu ihr, und sie wurde es nicht mehr los. Also doch eine Obsession. Sie hatte bisher mit niemandem darüber geredet. Auch nicht mit ihren neuen Freundinnen. Und sie hatte es auch nicht vor. Und das Thema Bertold Stein interessierte sie auch nicht.

Gewiss, er war ein attraktiver Mann gewesen. Aber sie hatten ihn doch kaum gekannt. Lust auf ein neues Abenteuer hatte sie nicht gehabt. Und eine dauerhafte Beziehung wollte sie nicht mehr. Die Kraft fehlte ihr. Ihre Freundinnen dagegen schienen entflammt gewesen zu sein. Was Bertold Stein gefallen hatte. Sie konnte sich an seine Blicke erinnern, die manchmal prüfend und dann wohlgefällig über Evas mollige Formen glitten und dann wieder bei einer anderen Gelegenheit Ingrids knochigen Körperbau taxierten oder bei ihrem letzten Treffen im Sophienhof Mariannes zierliche Figur skeptisch prüften, als sei er erst jetzt darauf aufmerksam geworden.

Und sie selbst? Wann hatte er sie so angesehen wie die anderen? Sie war sich sicher, dass er es getan hatte, aber sie hatte es nicht bemerkt. Er war geschickt. Es war ihr, als ob er von ihren Freundinnen eine geistige Momentaufnahme machte, ohne dass sie davon das Geringste bemerkten. Vielleicht hing diese Fähigkeit mit seinem Beruf zusammen, den er ihnen nicht verraten hatte. Er hatte sich als ehemaligen Bürohengst in einer Landesbehörde bezeichnet. »Hengst« und »Landesbehörde« hatte sie geglaubt, aber das »Büro« hatte sie ihm nicht abgenommen. Dazu war er zu wach im Kopf gewesen.

Jetzt war er tot. Sie wusste, dass sie es nicht aussprechen durfte, aber… ja, es war gut so, wie es gekommen war. Er war schon fast weg, aus ihrem Leben verschwunden. Sie würden von der Kripo befragt werden. Dann würde man nach Wochen oder Monaten den Täter fassen. Ingrid, Marianne und Eva, jede auf ihre Weise, würden eine Weile getröstet werden müssen, bis sie wieder in ihrem Leben angekommen waren.

Also weg vom Thema Mord. Und ja nicht Mariannes dumme Bemerkung diskutieren, über dieses »damit zu tun haben« oder wie immer sie das Ganze umschrieben hatte.

Kitty nutzte die Stille, die Mariannes Aufforderung folgte, alles zu vergessen, was sie bisher gesagt hatte, beugte sich zu Marianne vor, die hilfesuchend von einem zum anderen blickte, und sagte mit gesenkter Stimme, die einen vertraulichen Tipp signalisieren sollte: »Sag dem Hermann doch einfach, was passiert ist. Ein Mann, der in diesem Haus wohnt… wohnte, ist ermordet aufgefunden worden… Punkt. Du wohnst doch nicht mal hier. Und er ist woanders aufgefunden worden.«

»Wo haben die ihn gefunden? Ich hab es vergessen«, fragte Marianne traurig.

»In seinem Auto«, sagte Kitty mit sanfter Stimme. »Ich hab es dir doch am Telefon gesagt. In seinem Auto. Das und alles andere kann der Hermann doch auch der Presse entnehmen, den Medien. Das brauchen wir hier doch nicht zu besprechen. Verstehst du?« Kitty schalt sich wegen ihrer Ungeduld, aber Marianne machte einen verwirrten Eindruck auf sie. Vielleicht stand sie unter Schock, und da half manchmal nur nachdrückliche Strenge oder sogar eine verbale Ohrfeige. Ob es wirklich ein Mord ist, steht auch noch nicht fest, dachte Kitty, aber das Aussprechen dieses Gedankens würde Diskussionen hervorrufen. Und sie wollte die anderen doch wegführen von diesem Thema.

Eva fing an zu weinen. Ingrid setzte sich auf Evas Sessellehne und legte den Arm um ihre Schultern.

Irgendwas passiert jetzt, dachte Kitty. Sie spürte, dass jeden Moment etwas zwischen ihnen passieren würde. Ein zittriges und zugleich hohles Gefühl, als würde sie zusammenbrechen, stieg in ihr auf.

»Tut mir leid«, sagte Marianne und begann wie auf Kommando ebenfalls zu weinen. Kitty saß sowieso neben ihr und nahm sie in den Arm.

Warum saß Ingrid nur so steif da? Warum streichelt und wiegt sie Eva nicht hin und her, wie ich es mit Marianne tue?, fragte sich Kitty. Vielleicht haben Buchhalterinnen das nie gelernt. Wenn ich nicht den Anfang gemacht hätte, würde sie vielleicht immer noch so steif dasitzen wie immer. Sicher ist es ihr einfach peinlich.

Das allgemeine Weinen erstarb. Zurück blieb leises, stoßweises Atmen, leichtes Seufzen und schließlich allgemeines Schnäuzen.

Kitty war so, als ob sie alle von der gemeinsamen Stille überrascht worden wären, sie mit Marianne an ihrer mütterlichen Brust und Ingrid mit Evas Kopf an der Schulter, wie zwei Mütter mit ihren Töchtern.

Woran dachten die anderen?, fragte sich Kitty. An den Toten? An den Mord oder den Mörder? Wusste eine von ihnen mehr als die anderen?

In diesem Moment fiel Kitty auf, wie sie und die anderen langsam die Köpfe hoben. Da war ein Geräusch, das an die Oberfläche kam, wie eine Luftblase, die platzte, als sie alle verletzt und erschöpft dasaßen. Es war ein Geräusch, das sie eigentlich schon vorhin hätten hören müssen, das aber so viel leiser war als ihre aufgeregten Stimmen. Es waren die Schritte der Polizisten mit den Umzugskartons, die im Hausflur widerhallten, in Kittys Wohnung drangen, nicht durch die Wohnungstür, sondern durch die Wände. Treppauf, treppab.

4

»Das sind also die unerledigten Fälle, an denen Herr Stein nach der Pensionierung weiterarbeitete?«, fragte Malbek.

Auf dem kleinen Besprechungstisch zwischen Hauptkommissar Mielke und Malbek waren fünf Akten gestapelt. Auf dem Boden neben dem Tisch stand ein Karton, in den die Akten passen konnten. Mielke hatte sie schon bereitgehalten, nachdem Malbek sich an der Pforte angemeldet hatte.