Trägerin des Lichts - Erkennen - Lydie Man - E-Book

Trägerin des Lichts - Erkennen E-Book

Lydie Man

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Beschreibung

Dunkle Zeiten, Hunger und Not herrschen im Lande Morann. Einzig das Gerücht, dass die Königskinder am Leben sind, hält die verzweifelten Menschen aufrecht. Nun aber gelingt es einigen Kundschaftern des ehemaligen Heerführers Bajan, den eigenen Tod vorzutäuschen und unentdeckt von den Tempelwachen über die Grenze nach Temora und Saran zu entkommen. Endlich erhält Bajan die Möglichkeit, wieder in das Geschehen des Landes einzugreifen. Er schickt seine Kundschafter aus, nach Thronfolger Currann und den verschwundenen Fürstensöhnen zu suchen. Denn nur, wenn einwandfrei bezeugt werden kann, dass sie am Leben sind, können die Bewohner des Landes davon überzeugt werden, einen schlagkräftigen Widerstand gegen das Böse aufzubauen. Es wird allerhöchste Zeit. Die Macht des Feindes erstarkt im Norden, und auch die Diener sind nicht untätig geblieben. Sie haben ganz neue Wege gefunden, sich unter den Völkern zu verbreiten. So sind sie bestens über jeden Schritt der Verbündeten unterrichtet, und die Rebellen und damit die Königskinder geraten in nicht nur eine ihrer tödlichen Fallen.

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Seitenzahl: 1550

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lydie Man

Trägerin des Lichts

Erkennen

Impressum

Deutsche Erstausgabe im Februar 2013 als E-Book erschienen

Copyright Text und grafische Gestaltung:

© 2024 Lydie Man

Kontakt: [email protected]

Facebook: www.facebook.com/lydauthor

All rights reserved

Verlag: Inga Rieckmann alias Lydie Man

c/o Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

Veröffentlichung und Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Inhalt

Dunkle Zeiten, Hunger und Not herrschen im Lande Morann. Einzig das Gerücht, dass die Königskinder am Leben sind, hält die verzweifelten Menschen aufrecht.

Nun aber gelingt es einigen Kundschaftern Bajans, den eigenen Tod vorzutäuschen und unentdeckt von den Tempelwachen über die Grenze nach Temora und Saran zu entkommen.

Endlich erhält Bajan die Möglichkeit, wieder in das Geschehen des Landes einzugreifen. Er schickt seine Kundschafter aus, nach Thronfolger Currann und den verschwundenen Fürstensöhnen zu suchen. Denn nur, wenn einwandfrei bezeugt werden kann, dass sie am Leben sind, kann an einen Aufbau des Widerstandes gegen die Mönche und damit das Böse gedacht werden.

Es wird allerhöchste Zeit. Die Macht des Feindes erstarkt im Norden. Selbst den skeptischsten Führern der Völker des Westens ist aufgegangen, dass von dort eine unbekannte, grausame Gefahr droht. Es gelingt Bajan die Saraner zu überzeugen, ihre Flotte gen Norden zu entsenden und die Lage auszukundschaften.

Doch auch ihr Feind ist nicht untätig geblieben. Die Diener haben ganz neue Wege gefunden, sich unter den Völkern zu verbreiten. So sind sie bestens über jeden Schritt der Verbündeten unterrichtet, und die Rebellen und damit die Königskinder geraten in nicht nur eine ihrer tödlichen Fallen..

Personen der Handlung

Im Verborgenen:

Currann, Thronfolger des Reiches

Phelan, sein jüngerer Bruder

Althea, ihre Cousine

Noemi, ihre treue taubstumme Freundin

Bajan, ehemaligerHeerführer

Sinan, der jüngere Bruder von Ratsherr Nestan

Tamas, Sohn von Tanaar, des Fürsten von Nador

Yemon, Sohn von Yenkal, des Fürsten von Mukanir

Ouray, Sohn von Orban, eines Siedlungsvorstehers

Kiral, ein Cerinn aus dem fernen Osten

Der Hofstaat

Aietan, König von Morann

Alia, seine mittlerweile verhasste Königin

Lelia, einzig verbliebenes Königskind bei Hofe

Nusair, oberster Mönch und religiöser Führer des Landes

Stiig, sein Schriftführer

Brida, Haushofmeisterin

Nestan, Ratsherr und rechte Hand Nusairs

Nelana (Nel), seine Schwester

Daria, Zofe und Nusairs Nichte

Vara, Zofe

Ciaban, Heerführer

Weitere Personen in Gilda und Morann:

Meda, inoffizielle ehrwürdige Mutter der Heilerinnen

Leanna, Lelias verschwundene Zwillingsschwester

Netis, eine Heilerin

Rynan,Leannas Beschützer und Kundschafter der Heilerinnen

Lina, seine Schwester

Bayram und Tabea, Bajans Halbbruder und seine Frau

Ioanna, Medas kleine Tochter

Thorald, Altheas Vater in Gefangenschaft

Leviad, ein alter Freund Bajans

Nadim, ein Kundschafter Bajans

Orban, Siedlungsvorsteher und Vater von Curranns Kamerad Ouray

Tanaar, Fürst von Nador und Vater von Curranns Kamerad Tamas

Tavar, Tamas’ jüngerer Bruder

Dagan, der Steuereintreiber von Fürst Tanaar

Eachan, Rittmeister von Fürst Tanaar

Rhiba, eine Rebellin in den Sümpfen

In Branndar:

Sirial (Siri), Curranns Frau

Nathan (Nat), ihr ältester Sohn

Farlan, ihr zweiter Sohn und Curranns Erstgeborener

Iovan, ihr dritter Sohn und Curranns Zweitgeborener

Strahan, ihr Vater, der Schulmeister

Peadar, der Mönch der Siedlung

Karya, Siris Tante, die Heilerin

Goran, ihr Sohn, Siris Cousin

Nuria, Siris Freundin

Belan, ihr Sohn

Evi, ihre Tochter

Yorran, der Schmied

Yassin und Ramon, zwei Jungen

Kjell und Rike,zwei von den Goi entführte Kinder aus Saran

In Temora:

Anwyll, Hohepriester von Temora

Aislinn, Altheas Großmutter und Priesterin im Rat Temoras

Mihal, Ratsmitglied und Anwylls Nachfolger

Halldor und Bendiks, zwei weitere Ratsmitglieder

Chaya, Ausgestoßene und Heilerin

Maret, Novizin

Emlyn, Novizin

Galvin und Gayle, Zwillinge und ebenfalls Novizen

Ragai, der gefangene Priesterkrieger

Mahin, Anführer einer Siedlung und Marets Bruder

Verna, seine Frau

Livie, ihre Tochter

Naja, Vernas Schwester, Novizin

Amin, Händler Temoras

Jesko, Clansführer und Amins Bruder

Taro, sein ältester Sohn

Taisto, sein jüngerer Sohn

In Saran

Regnar, Altheas Großvater und Seeräuber

Roar, Clansführer von Saran

Jorid, Jeldriks Schwester

Sylja, Herrin über Roars Haus

Bryn, der saranische Schmied

Rana, seine Frau

Phelana, ihre kleine Tochter

Sedat, Gesetzeshüter von Saran

Corin und Eryk, die Väter der entführten Kinder Kjell und Rike

Oren, ein Kamerad Jeldriks

Widar, ermordeter Clansführer

Harcon, sein Bruder und Nachfolger

Bado, ein aus dem Clan Sarans Ausgestoßener

Auf See

Jeldrik, Phelans bester Freund und Sohn von Clansführer Roar

Seeko, Widars Sohn und Phelans Feind

Tzusa, eine Priesterin

Ohin, Vater von Jeldriks Kamerad Oren

In Mukanir

Naluri, die ehemalige Königin

Meno, ehemaliger Archivar Gildas und jetzt Schulmeister

Yola, Vertraute Naluris und seine Frau

Yenkal, Fürst von Mukanir und Vater von Curranns Kamerad Yemon

Kapitel 1

Zwischenwelt

Wie verändert alles war! Althea hatte Mühe, überhaupt durch das Tor zu greifen, so verhärtet war die einstmals pulsierende Fläche. Dahinter erblickte sie den Wald, er war ein einziges Durcheinander aus umgestürzten Bäumen, zerfetzten Blättern, und in der Luft.. keine Musik, sondern Schreie, schmerzhafte, zu Tode erschrockene Schreie. Es war so laut, dass ihr der Schädel dröhnte und sie die Hände über den Kopf zusammenschlug und in die Knie brach. Das Tor verschloss sich wieder, und damit verstummten auch die Schreie.

Keuchend blieb Althea eine Weile am Boden hocken, bis es aufhörte, sich um sie zu drehen, und sie wieder klar sehen konnte. Was sollte sie tun? Etwas in ihr warnte sie eindringlich davor, auch nur einen Finger in die fremde Welt hinüberzustrecken. Sie hatte Angst, erkannte sie, wirklich Angst. Aber andererseits drängte es sie zu erfahren, ob dem Feenjungen Ti’Anan etwas geschehen war. Und sie wollte ihn unbedingt warnen vor der Gefahr, die so unvermittelt über ihre Welt hereingebrochen war: SEINEM Angriff, Phileas’ tödlicher Versuch, endlich der Macht hinter dem Tor habhaft zu werden.

Entschlossen rappelte Althea sich auf. Wenigstens wollte sie sehen, ob es ihrem fremden Freund gut ging. Keinen Gedanken verschwendete sie an ihre Freunde, an Noemi, die angstvoll draußen im nächtlichen Garten auf sie wartete, oder an Chaya, die sich in unruhigem Schlaf in der Hütte wand. Phelans zur Vorsicht mahnende Stimme, wie immer in ihrem Kopf, schob sie beiseite. Sie nahm allen Mut zusammen und legte ihre Hand erneut auf die silbrig schimmernde Fläche. Sofort drangen wieder diese Laute in ihr Gehirn ein und trafen sie bis ins Mark, aber diesmal war sie darauf vorbereitet. Unter Aufbietung aller Konzentration schaffte sie es, sich ein wenig davon abzuschirmen. Diesmal blieb ihr Blick klar. Vorsichtig streckte sie ihren Kopf hinüber auf die andere Seite. Ein erster, vorsichtiger Luftzug. Sie konnte atmen und sich bewegen. Das war gut.

»Ti’Anan!«, rief sie laut und zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte vergessen, dass er ja mit den Gedanken redete und nicht mit dem Mund. Welch lauten Hall ihre Stimme hier erzeugte und wie tief sie klang! Sofort wurde es still, totenstill. Also hatte man sie gehört. ›Ti’Anan?‹, rief sie zaghaft in Gedanken und bereit, sich sofort in Sicherheit zu bringen.

Ein Summen erhob sich in der Luft. ›Wassss isssst dasss?‹, zitterte es durch die Luft, durch die Bäume, oder war es in ihren Gedanken? Es klang wie das Flüstern von tausend Stimmen. Althea sträubten sich die Haare. Alles in ihr drängte danach, schleunigst kehrtzumachen. Nur fort von hier! Doch ihr Pflichtgefühl gegenüber dem Feenjungen war stärker. Sie musste es wissen, koste es, was es wolle. ›Ti’Anan, wo bist du?‹

Etwas kam näher, sie konnte es nicht sehen, aber spüren. Es war bedrohlich und es kam.. Althea riss den Kopf nach oben. Zu spät. Eine dunkle Wolke schoss auf sie herab, sie wurde gepackt, durch das Tor gezogen und emporgerissen. Althea schrie. Tausend kleine Stiche versengten ihre Haut, sie wurde überzogen von Schmerz. Es blieb ihr keine Zeit zu reagieren, ihr Instinkt übernahm das Handeln. Sie rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen, versuchte, möglichst viele Stellen von sich zu schützen, und holte ihr Licht. Es sprengte dieses Ding auseinander, die schmerzhaften Stiche hörten auf. Althea spürte, wie sie fiel. Sie riss die Augen auf und sah den Wald mit rasender Schnelligkeit auf sich zukommen, und sie fühlte, wie es sich über ihr wieder zusammenbraute, das, was sie angegriffen hatte. ›Nein!‹, dachte sie in Panik. Schon schlug sie durch das Geäst der Bäume und raste auf den Boden zu. »Neeiiin!!« Sie streckte die Hände aus, wusste nicht, was sie tat. Im letzten Moment wurde ihr Fall aufgehalten, und sie landete wie nach einem Sprung von einer Mauer auf dem Boden.

Althea rollte sich auf dem Boden ab und rannte. Fort, nur fort von diesem Ding! Sie rannte um ihr Leben, ignorierte den Schmerz auf ihrer Haut, die sich anfühlte, als hätte sie sich verbrannt. Dicht war der Wald, es gab keinen Pfad, keine Lichtung. Sie stolperte über Wurzeln, schlug hin, riss sich die Kleider an Dornen auf, aber sie hielt nicht inne. Sie rannte und rannte und rannte, bis ihr plötzlich aufging, dass sie gar nicht aus der Puste geriet.

Abrupt blieb sie stehen. Es war alles still bis auf das Summen in der Ferne, selbst ihr eigener Atem, den sie eigentlich überlaut hätte hören müssen, war ruhig. Wie konnte das sein?

Althea stieß probehalber etwas Luft durch die Zähne aus. Das Zischen beruhigte sie. Aber warum kam dieses Etwas nicht hinter ihr her? So, wie ihre Kleider in Fetzen hingen, war sie mit aller Gewalt durch den Wald gebrochen. Das musste doch zu hören gewesen sein! Wo war es? Und wo war das Tor? Panisch sah sie sich um. Nur undeutlich konnte sie sich an eine graue Felsformation erinnern, und hier sah nichts danach aus. ›Ich habe mich verlaufen!‹, dachte sie verzweifelt, und im selben Moment schwoll das Summen an.

Althea erstarrte. Konnte dieses Ding ihre Gedanken hören? Wie Ti’Anan? Aber nicht ihre Schritte? Was war das für eine merkwürdige Welt! ›Denk nach, Thea!‹, dachte sie und verpasste sich augenblicklich einen Rüffel. Nicht denken, sondern handeln. Was hätte Phelan getan? Er hätte sich versteckt, sich mucksmäuschenstill verhalten und sich einen Überblick verschafft.

Hastig sah sie sich um. Dort, dort hinten, stand ein mächtiger Baum, viel größer und breiter als alle anderen. Seine Zweige hingen tief, sodass sie bequem hinaufklettern konnte. Schnell gelangte sie auf dem riesigen Baum nach oben, sodass sie über die anderen Bäume hinwegschauen konnte. Dort angekommen, wandte sie sich in die Richtung, aus der das Summen kam. Althea musste schlucken. Dort hinten, in weiter Ferne, kreiste eine dunkle Wolke über dem Wald.

›Dort muss ich hergekommen sein‹, dachte Althea, und sie schrie beinahe auf, als die Wolke in die Höhe schoss und ein gutes Stück auf sie zuraste. Eilig verbannte sie jeden Gedanken aus ihrem Kopf und machte ihn leer. Die Wolke hielt inne. ›Pass auf!‹, mahnte sie sich tief in ihrem Innern, die Wolke genau im Auge behaltend. Nichts geschah. Da hatte sie blitzschnell gelernt, welche Gedanken sie denken konnte, ohne gehört zu werden, und welche nicht. Mit etwas Übung war es kinderleicht. ›Na warte!‹, dachte sie und fletschte die Zähne, als die Wolke nicht weiter auf sie zukam, sondern sich langsam wieder entfernte. Sie hatte dieses Ding überlistet. Es machte ihr Mut, und ihre Erleichterung machte Raum für ihre anderen Sinne, die in ihrer Panik unterdrückt worden waren. Staunend fuhren ihre Finger über die seidige Oberfläche des Astes, an dem sie sich festhielt. Er war von einer Beschaffenheit, wie sie es noch nie gesehen hatte.

Seufzend lehnte Althea ihre zerschundene Wange dagegen und genoss das tröstliche Gefühl. Der Baum wirkte fast, als sei er lebendig. Und wie es hier roch! Tausend Düfte strömten auf sie ein, so rein und klar wie der Wald in Temora nach einem lang ersehnten Regen. Sie nahm es mit allen Sinnen in sich auf und versuchte, sich Mut zu machen.

Wie sie dort so mit geschlossenen Augen saß, spürte sie auf einmal, dass sie etwas im Nacken zu wärmen begann. Musik erhob sich in der Luft, ein leiser Gesang, der ihr merkwürdig bekannt vorkam. Das war die Melodie, die ihr schon seit Ewigkeiten nicht mehr aus dem Kopf ging! Wo kam sie nur her?

Althea wandte sich um. Sie sah, dass hinter ihr etwas hell schimmerte. Vorsichtig kletterte sie um den Stamm herum, bemüht, ja kein Geräusch zu machen. Man wusste ja nie, was hier noch alles im Wald herumstrich! Sie konnte einfach nicht anders, nach ihrer jahrelangen Übung im Bannwald von Temora.

Was sie dort erblickte, ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie sperrte Mund und Augen auf und beugte sich gefährlich weit vor. Der Horizont schwamm im Licht. Sie kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können, dabei blendete dieses Licht, anders als das Sonnenlicht, sie keineswegs. Es war ihr Licht, warm und wohltuend, das wusste sie sofort. Das Wissen kam tief aus ihrem Innern, und sie fühlte sich mit aller Macht dorthin gezogen. Eine Weile saß sie einfach nur da und genoss es. Dann begannen sich langsam Konturen aus der hellen Fläche zu schälen. Es war ein großer See, in dessen Mitte aufrecht eine riesige Säule stand, die bis in den Himmel zu reichen schien.

›Die Quelle‹, dachte Althea, instinktiv ihre Gedanken abschirmend. Tief nahm sie dieses Bild in sich auf. Der See war in Bewegung, er umströmte die Säule in der Mitte. Wogen schossen empor und versanken wieder. Sie konnte nur schauen und staunen. Einmal schlugen zwei Wogen aneinander und fuhren empor und explodierten in einem Funkenregen. Er wurde von der senkrecht stehenden Säule angezogen, verschmolz mit ihr, und der Gesang wurde jubelnd laut. Es war wunderschön.

Althea seufzte leise und schrak zusammen, wie weit ihre Stimme in diese Welt hinaus getragen wurde. Am liebsten hätte sie mitgesungen, alles in ihr drängte danach. Es wurde von einem anderen Geräusch verdrängt. Das Summen war wieder lauter geworden. Das Ding hatte ihre Stimme gehört!

Althea zwang sich mit aller Kraft still. Sie musste Ti’Anan finden, er war ihre einzige Möglichkeit, hier wieder herauszukommen. Suchend sah sie sich um, zwang ihre Augen fort von dem Licht. Hatte er nicht etwas von einem Palast gesagt? Da hatte sie ihn auch schon gefunden. Es war ein wahres Labyrinth aus steil aufragenden Felsen. Oder doch ein Gebäude? Sie konnte es auf diese Entfernung nicht sagen. Die vielen Öffnungen, Treppen und Brücken waren derart geschickt in den Fels eingearbeitet, dass sie fast miteinander verschmolzen. Ein wenig erinnerte es sie an Temora. Die Priester hatten diesen Palast kopiert, erkannte sie, wie von so vielem hatten sie ein Abbild geschaffen. Von was wohl noch?

Zeit, es herauszufinden, dachte sie entschlossen und begann wieder zu klettern. Unten angekommen, begann sie zu laufen – und hielt schon wieder inne und staunte. Laufen war die falsche Bezeichnung dafür, wie sie sich fortbewegte. Machte sie einen Schritt, legte sie die Entfernung, von drei, nein vier, nein fünf! Schritten zurück. Wie war das möglich? Vorhin, in ihrer Panik, hatte sie es nicht bemerkt. In dieser Welt herrschten wahrlich andere Gesetze!

Althea hätte beinahe laut gelacht. Sie hatte ihren Fall zu Boden aufgehalten? Konnte sie gar Kraft ihrer Gedanken.. fliegen? Alles schien auf einmal möglich zu sein. Sie bog den Kopf zurück und sah hinauf in den perlmuttartig schimmernden Himmel. Sollte sie..?

Aber da war noch dieses Ding. Es würde sie sehen. Nein, besser sie bewegte sich auf herkömmliche Weise vorwärts, leise und ungesehen. Sie wollte einen weiteren großen Schritt in Richtung des Palastes machen, da stach sie plötzlich irgendetwas in ihr Bein.

Althea quietschte erschrocken. Sie hatten ein Tier in ihren Beinlingen! Hastig band sie ihren Gürtel auf und dachte dabei an Spinnen und Mäuse oder anderes Getier. Doch das, was sie dann mit spitzen Fingern aus ihrer Kleidung herauszog, war mitnichten eine Spinne.

Vorsichtig setzte sie es auf ihrer ausgestreckten Handfläche ab und beäugte es. Auf ihrer Hand wurde gerade ein kleines geflügeltes Wesen wieder munter, das sie, dessen war sie sich sicher, mit ihrem Licht in die Bewusstlosigkeit geschickt hatte. Es sah nicht aus, wie man sich ein Feenwesen gemeinhin vorstellte, es hatte dieselben spitzen Ohren und Krallen wie Ti’Anan. Es erinnerte sie irgendwie an eine Fledermaus mit menschlichen Zügen.

Sachte stieß sie es mit ihrem Finger an. Es war ein Soldat, ein mit einer eingedellten Rüstung bekleideter und mit einem Speer bewaffneter Soldat. Das also hatte sie angegriffen. Was hatte Ti’Anan noch gesagt? ›Eine Wache‹, dachte sie, und bei diesem Laut schrak das Wesen auf. Es sprang fauchend hoch und ging in Abwehrhaltung, den Speer drohend ausgestreckt, dessen Spitze jetzt hell glühte.

›Hab keine Angst, ich tue dir nichts‹, dachte Althea. Ihre Worte wurden von dem lauter werdenden Gesumm der Wolke übertönt.

›Zu Hilfe!‹, rief das Wesen.

›Nein!‹ Althea umschloss es mit der Hand und rannte. Die Wolke schoss hinter ihr her, sie konnte in ihren Gedanken hören, wie der kleine Wächter nach seinen Kameraden rief. ›Halt den Mund!‹, dachte sie und schickte ihn mit einer winzigen Portion ihres Lichtes zurück in die Bewusstlosigkeit. Dann beschleunigte sie ihren Schritt und hetzte durch den Wald, bis sie sich getraute, wieder innezuhalten und zu lauschen.

Die Wachen waren weit entfernt. Sie konnte ihr Gesumm kaum noch hören, wie sie nach ihrem Kameraden riefen. Vorsichtig öffnete sie ihre Hand. Das Wesen lag regungslos, aber es atmete, die kleine Brust hob und senkte sich. Althea empfand Mitleid für den kleinen Mann. Was für ein Schreck musste sie für ihn sein! Sie wollte niemanden quälen, deshalb legte sie ihn behutsam in das weiche Moos und sandte etwas Licht in ihn, um ihn aufzuwecken. Dann sprang sie auf und rannte davon.

Nun, da das Gesumm so weit entfernt war, konnte sie mit einem Mal andere Stimmen hören. Es waren aufgeregte, schmerzverzerrte Stimmen. Althea folgte ihnen, bis sie plötzlich aus dem Wald trat und in einen wunderschönen Garten gelangte, oder vielmehr in das, was noch von ihm übrig war. Bäume und Statuen lagen umgestürzt herum, sie sah einen Brunnen, der aus einem tiefen Riss sein Wasser verlor. Und das Gebäude, von Weitem scheinbar intakt, sah von Nahem mehr als mitgenommen aus. Es hatte schwere Schäden davongetragen, Felsbrocken lagen herum, Decken und Brücken waren eingestürzt, und überall wurden Verletzte herausgetragen..

Althea riss die Augen auf, als sie erkannte, wie.. – was war das? - etwas dort aus dem Gebäude kam. Die Bewohner liefen nicht, sie schwebten! Hastig sah sie sich um, ob jemand in ihrer Nähe war, aber sie war allein. Neugierig schlich sie sich näher heran.

Es waren Flügel. Althea konnte sie sehen, sobald die Wesen zu Boden geschwebt waren und die Verwundeten ablegten. Sie hatten Flügel wie Ti’Anan, aber wie anders sahen sie aus! War ihr Ti’Anan noch halbwegs menschlich erschienen, diese Wesen waren es ganz sicher nicht. Sie waren einfach fremd, aber nicht minder schön. Durchscheinend wie Licht und mit Zügen eines fremdartigen Raubtieres, ein kleiner, verkümmerter Mund, dafür umso größere, mit senkrecht stehenden Pupillen versehene, goldene Augen.

Althea schluckte und sah staunend zu, wie sie ihre Verwundeten versorgten. Es beruhigte sie etwas, dass auch sie verwundbar waren. Wesen, die verletzt werden konnten und versorgt werden mussten, konnten nicht so verschieden von den Menschen sein. Es waren lebendige Wesen, keine Götter.

Althea schlich sich weiter in den Garten, von Gebüsch zu Gebüsch, immer auf der Hut vor Entdeckung. Wo war nur Ti’Anan? Sie musste ihn finden, sie musste einfach! Sonst wäre sie verloren!

Und dann entdeckte sie ihn. Er kam mit einem kleinen Wesen auf dem Arm aus den Trümmern gelaufen. Er lief? Sie stutzte. Warum tat er das? Konnte er denn nicht fliegen? Das wäre doch gewiss sehr viel einfacher. Er übergab das kleine Wesen, es war offensichtlich ein Kind, einem der anderen. So dicht nebeneinander war der Unterschied zwischen ihm und den geflügelten Wesen mehr als augenfällig und gleichzeitig ihre Ähnlichkeit. Ja, war er denn ein Mischling?, dachte sie erstaunt.

Althea ließ alle Vorsicht fahren. ›Ti’Anan!‹, rief sie in ihren Gedanken. Alle Wesen fuhren auf, es klang wie das Rauschen einer heftigen Windböe. »Ti’Anan!«, rief sie noch einmal, leise diesmal und mit ihrer richtigen Stimme. Es schallte laut durch den Garten, obwohl sie so leise gerufen hatte, und ließ einen Windstoß entstehen.

Da schrien alle Wesen auf. Althea verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem schützenden Gebüsch, als die lauten Schreie eine Welle von Schmerz in ihrem Kopf verursachten. Furchtsam wichen die Wesen vor ihr zurück, alle, bis auf einer: Ti’Anan machte ungläubig einen Schritt vorwärts, eine Hand, die ihn zurückzerren wollte, abschüttelnd. ›Althea!?‹

Sie hörte es nicht mehr. Auf den Rücken gefallen, sah sie einen dunklen Schatten auf sich herab schießen. »Neeiiiin!« Sie rollte sich zusammen und ballte in Erwartung eines neuen Angriffs die Fäuste.

›Haltet ein!‹ Nur undeutlich wurde Althea bewusst, dass sich plötzlich jemand zwischen ihr und dem dunklen Schatten befand. Ihre Augen tränten und schmerzhafte Stiche explodierten in ihrem Kopf, da die Schreie immer lauter wurden. »Ti’Anan..«, flüsterte sie. Sie spürte zwei Arme, die sie schützend umschlossen.

›Zurück mit euch! Sie gehört zu mir!‹

›Sssie issst ein Eindrrringling, sssiiee hat unsss angegrrriffen‹, summte der Wächterpulk.

›Nur weil ich angegriffen wurde!‹, dachte Althea verzweifelt und spürte, wie sie kurz davor war, in Panik wild um sich zu schlagen. Auf einmal war sie erschöpft, von den vielen Eindrücken und dem ungewohnten, anstrengenden Einsatzes ihres Kopfes. ›Bitte, ich will doch nichts Böses, ich wollte doch nur sehen, ob du verletzt bist, und ich wollte euch warnen‹, flehte sie mit letzter Gedankenkraft. Flimmernde Kreise drehten sich vor den Augen, und sie merkte, wie die Welt plötzlich kippte und sie zusammensackte. Ganz weg war sie nicht, sie spürte, wie sie aufgehoben und getragen wurde. Oder schwebte sie? In ihrem Kopf herrschte plötzlich eine wohltuende Stille, wie Balsam. Sie seufzte und schloss die Augen und gestattete es sich, ganz dem Gefühl nachzugeben.

›Was geht hier vor?!‹

›Ruhig, bitte redet nicht allzu laut, das tut ihr weh.‹

Ti’Anans Stimme holte sie wieder zurück. Sie wagte nicht, sich zu rühren, spürte sie doch die Anwesenheit vieler Wesen um sich, sehr wütender, teilweise auch verängstigter Wesen.

›Sie wird wach‹, sagte Ti’Anans Stimme in ihrem Kopf. Er saß neben ihr, und sie bemerkte, dass er sie immer noch festhielt. ›Althea, mach doch die Augen auf. Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen.‹

›Vorerst nicht‹, grollte eine tiefe Stimme.

›Vater, bitte!‹, rief Ti’Anan, zu laut. Althea stöhnte. ›Tut mir leid. Bitte, mach doch die Augen auf.‹

Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um es wirklich zu tun. Zunächst war ihr Blick noch flimmernd und verschwommen, dann schälten sich Konturen heraus. Als sie aufsah, blickte sie in Ti’Anans Gesicht.

Er hatte die Zähne leicht gebleckt. ›Na bitte, geht doch!‹, lachte er.

Dieses Zähneblecken sollte ein Lächeln darstellen, erinnerte sich Althea und war erleichtert. Sie stieß einen Seufzer aus, der sich in ein erschrockenes Aufkeuchen verwandelte, als ihr Blick auf die sie Umgebenden fiel. Was waren das für Wesen? An das Aussehen hatte sie sich beinahe schon gewöhnt, aber diese hier waren wesentlich größer als die im Garten, mächtig und bedrohlich. Sie wurden von weiten Gewändern umflossen, die ständig hin und her wallten, genauso wie die bedrohliche Missbilligung, die sie umgab wie eine unsichtbare Strömung. Es waren ausnahmslos männliche Wesen, sie wusste nicht genau zu sagen, woran man das erkennen konnte, aber es war so.

Althea duckte sich an Ti’Anan, der sie schützend umfasste. ›W..wer seid Ihr?‹

›Du hast hier keine Fragen zu stellen, Mensch, sondern wir‹, grollte es neben ihr.

Althea fuhr herum und erstarrte. Dieses Wesen war das größte und mächtigste von allen. Der König, erkannte sie. Ti’Anans Vater. Sie presste die Augen zusammen, obwohl sie wusste, dass dies kindisch war.

›Antworte mir! Wie bist du hierher gekommen? Was willst du hier? Sprich!‹ Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Althea konnte nicht antworten, ihr entfuhr ein schmerzhaftes Wimmern.

›Vater, bitte..‹

›Lass sie los. Sofort! Wir werden sie..‹

›Nein!‹, rief Ti’Anan, doch sie spürte, wie eine unsichtbare Kraft ihn von ihr löste und zurück riss.

Sie rollte sich schützend zusammen, barg den Kopf in den Armen. ›Bitte, ich will Euch doch nichts Böses, ich will Euch warnen!‹, rief sie.

›Warum? Und wovor?‹

Es loderte Schmerz in ihrem Kopf auf. Jemand versuchte, mit aller Gewalt in ihre Gedanken einzudringen. Althea errichtete instinktiv einen Schutzwall und blockte es ab, und augenblicklich wurde der Druck so stark, dass sie schrie, richtig schrie. Es hallte so laut durch den Raum, dass die Luft erzitterte und der Druck in ihrem Kopf abrupt verschwand.

Althea fiel keuchend ein ganzes Stück nach unten in weiche Kissen. Sie hatte geschwebt, erkannte sie und riss die Augen auf. Alle Wesen hatten sich geduckt und richteten sich gerade wieder auf. Drohend kam der König auf sie zu. Sie sprang von diesem kissenbestückten Podest herunter und flüchtete sich zu Ti’Anan in die äußerste Ecke des Raumes. Ein Fehler, wie sie sogleich merkte. Hier gab es weder Fenster noch andere Öffnungen. Sie saß in der Falle. Zitternd ergriff sie Ti’Anans Hand, als die Wesen sie langsam einkreisten. Er richtete sich auf und bleckte die Zähne, fauchend und bereit, sie jederzeit zu verteidigen.

›Wovor willst du uns warnen, Mensch? Oder wie nennt man dich?‹, grollte der König.

›Sie ist ein Mädchen!‹, fauchte Ti’Anan und ärgerte sich augenblicklich, denn sofort nahm ihn sein Vater ins Visier. ›Woher weißt du das? Und woher kennst du sie? Nicht wahr, MÄDCHEN, du wirst gewichtige Gründe anführen müssen, um uns zu erklären, warum ihr beide die heiligen Gebote gebrochen habt.‹

›Welche Gebote?‹, fragte Althea. ›Ich..‹

›Aber das musst du doch wissen‹, flüsterte Ti’Anan.

›Antworte, Mädchen!‹, donnerte der König, so laut, dass Althea in die Knie ging.

Mit letzter Kraft protestierte sie: ›Ich.. ich weiß nichts von irgendwelchen Geboten. Niemand weiß etwas von dieser Welt und.. und ich wollte doch nur.. ER hat euch angegriffen, ER hat versucht, eines der Tore aufzubrechen. Es war schrecklich!‹

›Wer ist ER?‹, fragte Ti’Anan verwundert.

Sie sah ihn an, nur ihn, zu bedrohlich war der Anblick der anderen. ›Phileas. Er..‹

Ein Aufschrei ging durch die Luft. Sämtliche Wächter kamen durch die Fenster hereingeschossen. Althea schrie auf und duckte sich, als der König nach ihr greifen wollte. ›Niemand erwähnt diesen Namen in meinem Reich!‹

›Nein, lasst sie in Ruhe!‹, rief Ti’Anan und warf sich schützend über sie, doch zu spät. Die Wächter drangen auf sie ein, heiße Spitzen bohrten sich in ihre Haut.

Althea wusste sich nicht mehr zu helfen. Sie holte ihr Licht, alles, was sie aufbieten konnte. Es gab so etwas wie einen lauten Schlag, und plötzlich war sie frei. Keuchend duckte sie sich, das Gewicht Ti’Anans auf sich, in Erwartung des nächsten Angriffes. Doch nichts geschah. Es war still um sie herum. Althea wagte es, die Augen aufzumachen, und fuhr zusammen. Alle um sie herum lagen regungslos am Boden, Ti’Anan, die Wesen und die Wächter in einem großen, leblosen Haufen. Sie sah auf ihre Hände herab, die immer noch leuchteten, und erschrak über die furchtbare Macht, die ihr Licht haben konnte. Waren sie tot? Doch da spürte sie, dass Ti’Anan atmete. Weiter hinten begannen sich die Wesen, die am weitesten von ihr weg gestanden hatten, wieder zu rühren.

Auch der König hob langsam den Kopf. ›Mein Sohn!‹, rief er gar nicht mehr bedrohlich, sondern angsterfüllt.

Althea konnte sich nicht bewegen. Ti’Anans Gewicht hielt sie am Boden fest, und sie rührte sich nicht aus Angst, die überall um sie herum liegenden Wächter zu verletzen. ›Ihm ist nichts geschehen‹, sagte sie. ›Er schläft nur. Ich wecke ihn auf.‹ Nur wenig Licht musste sie in ihn senden. Er wollte auffahren, aber sie hielt ihn fest. ›Nicht bewegen, sonst zerquetschst du die Wächter. Ich will nicht, dass jemand zu Schaden kommt.‹ Furchtsam erstarrte er in ihren Armen.

›Gib meinen Sohn frei‹, drohte der König, ›oder ich werde dich..‹

›Hört auf damit, sofort!‹ Plötzlich war da eine höhere, sanftere Stimme. Althea sah ein wunderschönes Wesen durch die Tür schweben. Es sah sich um, streifte die gerade Erwachten, die bewusstlosen Wächter und dann Ti’Anan, der immer noch auf ihr lag. Die Wesen verneigten sich alle vor ihr.

›Die Königin‹, erkannte Althea. Sie schloss vor Erleichterung die Augen, instinktiv ahnend, dass jetzt ihre Rettung nahte.

›Seht Ihr denn nicht, dass sie noch jung ist? Ihr ängstigt sie zu Tode, und das ist die Folge davon.‹ Althea hörte gleichermaßen Tadel an die Wesen als auch Mitleid für sie in ihrer Stimme. Wie viel mehr konnten diese gedachten Worte ausdrücken! Sie schlug die Augen auf und fand das wunderschöne Gesicht der Königin dicht vor sich. Sie lächelte ihr ermutigend zu, nicht mit dem Gesicht, sondern mit den Augen. Dennoch wusste Althea, dass es ein Lächeln war, und erwiderte es. Sie war einfach wunderschön. Ein Lichtwesen.

›Hab keine Angst. Wir sind alle etwas außer uns darüber, dass du nach diesem Angriff hier erschienen bist. Viele wurden verletzt..‹

›Das.. das habe ich gesehen, und es tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob es Ti’Anan gut geht und..‹ Althea schluckte. ›Oh bitte, könnt Ihr nicht die Wächter fortnehmen? Sonst zerquetsche ich noch einen von ihnen. Ich will niemandem schaden.‹

Die Königin lächelte. ›Das werde ich, wecke sie nur auf. Das kannst du doch, oder?‹

Althea sah die männlichen Wesen mit einem Rauschen zusammenfahren. ›Was meint Ihr damit, meine Gemahlin?‹, fragte der König.

Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihnen um. ›Sie ist eine Auserwählte, seid Ihr das nicht gewahr geworden? Sonst wäre sie niemals in unsere Welt gelangt.‹

Althea schluckte. Was würden sie nun..? Da geschah etwas Unglaubliches. Alle Wesen versanken vor ihr in einer tiefen Verbeugung, auch die Königin. Ti’Anan, der sich immer noch nicht rühren konnte, starrte sie fassungslos an. Seine Angst war fort. ›Du.. eine Auserwählte? Aber.. wie ist das nur möglich!? Du bist doch viel zu jung!‹

›Ich weiß es nicht‹, gestand Althea offen und warf einen unbehaglichen Blick auf die Wesen, die immer noch in dieser Haltung verharrten. Sie warteten auf etwas, das war offensichtlich, aber auf was?

Ti’Anan spürte, dass sie unsicher war. ›Du musst ihre Ehrerweisung erwidern und sie segnen‹, wisperte er.

›Segnen? Aber wie? Wie macht man das? Und warum?‹

›Du weißt es nicht?‹, flüsterte Ti’Anan. Die Königin hob langsam den Kopf. Ti’Anan verstand es nicht. ›Aber, das musst du doch wissen!‹

›Was? Was muss ich wissen?‹, rief Althea in zunehmender Verzweiflung. Auf einmal wurde es ihr viel zu eng, der fremde Junge auf ihr liegend und die Wesen, die sie alle verstohlen und mit Unglauben ansahen.

Die Königin kam langsam auf sie zu. ›Armes Mädchen, bist du eine Waise? Hattest du niemanden, der dich lehren konnte?‹

›Nein.. ich meine ja.. oh, bitte, so nehmt doch die Wächter fort!‹

Da erhob sich auch der König. ›Wirst du unsere Fragen beantworten?‹

In Althea zog sich alles zusammen. Die Königin griff hier nicht ein, also hatte er das letzte Wort, das erkannte sie nun. Er würde sie befreien gegen die Preisgabe von Dingen, um die sie kaum wusste. In ihr regte sich Widerstand. ›Wenn Ihr mir auch meine beantwortet‹, erwiderte sie, nicht gewillt, sich einfach so überrumpeln zu lassen.

Sie konnte spüren, dass es dem König und den anderen Wesen missfiel. ›Wie du willst. Wecke die Wächter auf. Ich werde sie hinausschicken.‹ Und das tat er. Es brauchte zwar mehr als einen Befehl, dass die verwirrten, zornigen Wächter folgten, aber irgendwann lag sie allein mit dem Feenjungen. Endlich konnten sie sich rühren. Er sprang sofort auf und brachte sich mit gebleckten Zähnen in sichere Entfernung zu ihr.

Es tat Althea weh. Ihr einziger Verbündeter hatte sich von ihr abgewandt. Sie erhob sich langsam. ›Es tut mir leid. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen‹, sagte sie an ihn gerichtet. Sie sah unauffällig zu den Öffnungen in der Wand hinüber, fieberhaft nach einer Möglichkeit zur Flucht suchend.

Die Königin hielt ihren Gemahl mit einem Schwenk ihrer lichten Hand zurück. ›Hab keine Angst‹, sagte sie. ›Wie kommt es, dass du überlebt hast? Haben sie dich versteckt, bevor sie getötet wurden? Oder wurdest du als kleines Mädchen fortgebracht?‹

›Ich.. ich verstehe nicht.‹ Althea wandte sich zu ihr um, die Hände fest an die Wand gepresst. Rasch nahm sie diese herunter, als sie erkannte, wie verängstigt das aussehen musste. ›Wer soll mich versteckt haben? Und warum glaubt Ihr, ich sei Waise?‹

›Die Druidai, die bei dem Angriff getötet wurden, natürlich!‹, rief Ti’Anan, erbost über ihre Begriffsstutzigkeit aus. ›Das musst du doch wissen!‹

›Die Drui.. aber, die sind doch schon lange tot, viele Hundert Jahre. Es gibt keine Druidai mehr.‹

›Jahre? Was ist das?‹, verlangte der König zu wissen. ›Dieses Zeitmaß kennen wir nicht.‹

Althea begann zu zittern. ›Ihr kennt keine Jahre?‹ Was war das für eine merkwürdige Welt? Sie begriff das alles nicht mehr. Die vielen Rätsel, die Ablehnung, die ihr entgegen schlug, und nicht zuletzt ihre Furcht wurden ihr zu viel. Sie schlug die Hände vors Gesicht und krümmte sich erneut schützend zusammen. ›Ich verstehe Euch einfach nicht. Ich weiß einfach nichts..‹ Sie schluchzte auf. ›Mein ganzes Leben lang hält man mir ständig vor, was ich alles angeblich wissen muss. Überall wird von mir irgendetwas erwartet, und ich weiß es doch nicht! Niemand kann mir sagen, wer ich bin. Keiner kennt Antworten auf meine Fragen.‹

Althea begann zu weinen, und es war ihr egal, ob das zu hören war. Seit ihrer Flucht hatte sie nicht mehr so geweint, und es kümmerte sie nicht, dass diese Wesen um sie herumstanden und nicht wussten, was sie davon halten sollten. Sie ergab sich ganz ihrem inneren Schmerz, sank zu Boden und rollte sich zusammen.

Die Königin hatte wohl erkannt, dass sie so nicht weiter kamen. ›Geht‹, hörte Althea sie sagen. ›Nein, Ti’Anan, du bleibst hier bei mir, auch wenn dir das nicht gefällt. Du hast sie hierher geholt, also wirst du dich um sie kümmern.‹

Althea spürte, wie sie sanft angehoben wurde und kurz darauf wieder in die weichen Kissen sank. Schluchzend vergrub sie ihren Kopf darin.

Ihr Ausbruch hielt nicht lange an. Irgendwann wurde sie ruhiger, nur das schmerzhafte Hämmern in ihrem Kopf ließ nicht nach. Sie war nur allzu versucht, ihrer Erschöpfung nachzugeben und zu schlafen, aber da waren noch die Fremden um sie herum. Sie durfte sich nicht gehen lassen. Langsam schlug sie die Augen auf und fand das schöne, fremde Gesicht der Königin dicht vor ihrem eigenen. Tiefes Mitleid stand darin.

›Oh, armes Mädchen! Haben sie dich verletzt? Deine Augen bluten.‹

›Meine..?‹ Althea wischte sich verwundert mit dem Handrücken über die Augen und fand darauf nur die feuchten Spuren ihrer Tränen vor. ›Das.. ach, es ist nichts. Nur Tränen. Das kommt bei uns Menschen von Zeit zu Zeit vor, wenn wir traurig sind oder Schmerzen haben. Es ist normal.‹ Sie sah mit brennenden Augen zu der Königin auf. ›Hier ist wirklich alles anders als in meiner Welt.‹ Plötzlich begriff sie ein paar Dinge. Wenn sie diese Welt verstehen wollte, dann musste sie all das, was sie bisher angenommen hatte, fahren lassen. Sonst würde ihr es nicht gelingen. Aber wie sollte sie das machen? Alles in ihr drehte sich, sie konnte noch nicht klar denken. Daher legte sie sich zurück und warf Ti’Anan einen verzeihenden Blick zu, bevor sie die Augen schloss. ›Es tut mir leid, da habe ich dich wirklich in etwas hineingeritten. Hoffentlich bekommst du nicht allzu großen Ärger mit deinem Vater.‹

Die Königin lachte auf, es klang glockenhell, aber Ti’Anan fauchte: ›Und ob! Wie konntest du nur so dämlich sein? Habe ich dich nicht gewarnt?‹ Althea fuhr auf und stöhnte.

›Ti’Anan, es ist genug‹, mahnte die Königin, ›schließlich hat sie es aus Sorge um dich getan. Mädchen, ich sehe, dass dich dies alles sehr schwächt. Sicherlich musst du dich erst einmal an diese Welt gewöhnen. Ruhe dich ein wenig aus, und dann werden wir gemeinsam versuchen, dein Rätsel zu ergründen. Du hast mein Wort, dass niemand diesen Raum betritt. Ti’Anan wird bei dir bleiben und bei dir wachen, und wenn du dich ausgeruht genug fühlst, dann komme einfach zu uns hinaus.‹

Althea seufzte erleichtert auf. Eine wohltuende Stille legte sich über sie, und sie wehrte sich nicht, als diese sie in einen tiefen Schlaf sandte.

Eine Berührung ließ sie langsam wieder zu sich kommen. Althea schirmte ihren erwachenden Geist sofort ab, um nicht zu zeigen, dass sie wach war. Jemand strich ihr über die Haare, nahm ganze Bündel davon zusammen, zog an den widerspenstigen Locken. Die Haut ihrer Arme wurde befühlt, die Beschaffenheit ihrer Hände, Knöchel und Finger. Als der Unbekannte jedoch einen Schuh von ihrem Fuß streifte und dort fortfahren wollte, warf sie sich mit einem Ruck herum und setzte sich auf. Ungläubig sah sie auf Ti’Anan, dessen Hand mitten in der Bewegung verharrte. ›Was machst du da?!‹

›Ich.. äh.. nichts!‹ Er sprang zurück, in sichere Entfernung zu ihr.

Althea hätte schwören können, dass er, wäre er ein Mensch gewesen, rote Ohren bekommen hätte. Seine schwollen etwas an und bogen sich eine Winzigkeit nach außen, behielten aber die bleiche Farbe. Althea legte den Kopf schräg, mehr belustigt als empört. ›Warum untersuchst du mich?‹ Er wäre am liebsten davongelaufen, das spürte sie wohl. ›Ach komm schon, hör endlich auf, vor mir Angst zu haben. Nichts hat sich verändert!‹

Seine Haare sträubten sich. ›Doch! Du bist eine Auserwählte!‹

›Nicht schon wieder!‹ Sie rollte ungeduldig mit den Augen zur Decke. Um etwas zu tun zu haben und ihm Zeit zu geben, sich zu beruhigen, schnappte sie sich ihren Schuh und zog ihn wieder an. Dann sah sie zu ihm hinüber, ein klein wenig belustigt, aber auch bedrückt. Sie musste wieder sein Vertrauen gewinnen, sonst wäre sie dieser Welt hilflos ausgeliefert.

›Willst du dich nicht setzen? Ich beiße nicht‹, sagte sie und klopfte neben sich auf die weichen Kissen. Sie sah, wie er mit sich kämpfte und schließlich sein Stolz die Oberhand gewann. Zögerlich, die goldenen Augen wachsam auf sie gerichtet, setzte er sich an das äußerste Ende des Podestes.

Althea lächelte. ›Siehst du, es geht doch‹, wiederholte sie seine eigenen Worte. ›Du wirst mir ziemlich viel erklären müssen, zum Beispiel, was genau eine Auserwählte ist. Ich habe nämlich keine Ahnung‹, begann sie vorsichtig. Vielleicht half es ihm, wieder Zutrauen zu fassen, wenn sie ihre eigene Unwissenheit herauskehrte.

Er hatte erstaunt sein Gesicht verzogen. ›Du weißt es wirklich nicht? Wie ist das möglich? Und wie hast du dann..‹ Er verstummte, peinlich berührt.

Sie ahnte, worauf er hinauswollte. ›Mein Licht wurde geweckt, als ich dich das erste Mal sah. Mit der ersten Berührung mit eurer Welt, da bin ich mir ziemlich sicher. Niemand konnte mich lehren, ich musste alles selbst herausfinden. Welche Dinge ich damit tun und welchen Schaden ich anrichten kann. Vieles kommt ganz tief aus mir hervor, ohne dass ich weiß, woher ich das kann. Es ist.. als bestimmte etwas anderes mein Handeln.‹

Bei diesen Worten sträubten sich seine Haare noch mehr, und er bleckte die Zähne. Althea tat es weh zu sehen, wie er sich immer mehr vor ihr zurückzog. Er wirkte geradezu abgestoßen. Sie schluckte bitter. ›Hör mal, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht angreifen. Meine Kraft wirkt in dieser Welt ganz anders als in meiner.‹

›Es war ein Mordsschlag! Mir dröhnt jetzt noch mein Kopf!‹, rief er erbost. Althea biss sich auf die Lippen, senkte den Kopf und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Sie hatte ihn verletzt und befremdet, und das schmerzte sie. ›Althea, was hast du?‹ Es klang erschrocken.

Sie schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. ›So wie du mich jetzt ansiehst, so haben mich alle Menschen mein ganzes Leben lang angesehen, selbst meine eigene Familie, als sie das mit meinen Kräften herausfanden. Sie haben alle Angst vor mir, aber ich weiß es doch nicht besser!‹ Sie hielt inne, denn sie spürte eine leichte Berührung an ihrer Hand. Als sie die Augen aufschlug, fand sie den Feenjungen dicht neben sich. Er wirkte ehrlich beschämt.

›Es tut mir leid, wirklich. Ich habe nicht daran gedacht, was dies alles für dich bedeuten muss. Ich kann dich verstehen, denn mir geht es genauso. Ich bin das letzte Kind des Königs mit einer Auserwählten.‹

›Mit einer Auserwählten? Aber wie ist das möglich?‹

›Na, wie schon, sie vereinigen sich, und dann bringt sie nach einiger Zeit ein Kind zur Welt, wie sonst?‹ Er konnte nicht glauben, dass sie so ahnungslos war. ›Tun das die Menschen nicht? Sich vereinigen?‹

Althea schnaubte, sie ahnte sehr wohl die Gedanken, die er sie nicht hören ließ. ›Natürlich tun sie es, das war es nicht, was ich meinte. Ich habe dir doch erzählt, dass die Druidai schon sehr lange tot sind. Wenn deine Mutter eine Auserwählte ist, dann..‹, sie schluckte, ›dann musst du uralt sein!‹

›Uralt?‹ Er schüttelte den Kopf. ›Du musst dich irren. Ich bin wirklich der jüngste Nachfahre des Königs mit einer Auserwählten. Bei Weitem der Jüngste. An meine älteren Halbgeschwister kann ich mich kaum erinnern.‹

Althea sprang auf. Sie überlegte fieberhaft. Irgendetwas war hier im Gange, etwas, das sie nicht greifen konnte. Aber was? Sie beschloss, einfach zu raten: ›Ti’Anan, kannst du dich an den letzten Angriff von.. IHM erinnern?‹ Gerade noch rechtzeitig verkniff sie sich den Namen.

›Oh, davon weiß ich nur aus Erzählungen der anderen. Ich wurde kurz danach geboren. Ich weiß noch, dass sie mir erzählt haben, wie mein Vater viele eigenhändig aus den Trümmern des Palastes holte. Es war furcht.. Althea? Was hast du?‹ Sie hatte die Augen aufgerissen und starrte ihn entgeistert an. Er stand auf und ging langsam auf sie zu. ›Alles in Ordnung?‹

›Das ist es! Deine Welt hat.. sie ist..‹ Wie sollte sie das erklären? Sie brauchte etwas, womit sie ihm das begreiflich machen konnte, etwas, das sie beide kannten. Da fiel ihr etwas ein. Er selbst hatte davon gesprochen. ›Weißt du um die Zeit, in der eine Menschenfrau ein Kind austrägt?‹

›Ähm‹, die spitzen Ohren bogen sich ein wenig nach außen, ›jaahh, so ungefähr weiß ich es. Warum fragst du?‹

›In meiner Welt dauert es in etwa ein dreiviertel Jahr, bis es ausgetragen ist.‹

›Bei uns dauert es eine Lichtzeit.. ein dreiviertel..‹ Ti’Anan verstummte. Seine hellen Haare sträubten sich schon wieder, und er fauchte. Althea nickte. Er hatte es gleich begriffen. ›Viele Hundert.. Jahre?!? So lange?‹

›So lange. All das Wissen der Druidai ging verloren, bis auf die Geschichte derjenigen, die den Verräter einließ: Asklepia. Sie machte eine Prophezeiung, bevor sie starb: Dass die Gabe wieder in Erscheinung treten würde, wenn eine dunkle Zeit anbrechen würde. Und es ist eine dunkle Zeit angebrochen, wie du siehst.‹

›Asklepia..‹

›Du erinnerst dich an etwas?‹

›Aber natürlich! Meine Mutter brachte sie hierher. Sie waren die letzte der Auserwählten, die das Tor durchschritten, bevor wir den Bann darüber legten. Asklepia war tot. Sie wurde mit allen Ehren dem Licht übergeben.

›Deine Mutter..‹ Althea starrte ihn sprachlos an. ›Oh bitte, erzähl! Erzähle mir alles, was du..‹ Sie verstummte.

Ti’Anan wies ihre Gedanken plötzlich ab und hob lauschend den Kopf. Dachte er, sie würden belauscht? Althea sah ihn fragend an. Er schüttelte den Kopf und zog sie mit sich. Kein Wort dachte er, als er sie zu einem Fenster führte und auf den Sims kletterte. Er war vollkommen still, und Althea unterdrückte jede Frage, jeden Gedanken und jede Regung.

Es war nicht weit nach unten. In den Felsen gelegen, hatte der Palast so viele Vorsprünge und Ecken, dass Althea mühelos herunterklettern konnte. Wieder fragte sie sich, warum er nicht seine Flügel benutzte. Vielleicht konnten die anderen es spüren? Er kletterte nicht auf direktem Wege nach unten, sondern dorthin, wo die Felsen in einen sehr dicht bepflanzten Teil des Gartens mündeten. Dort liefen sie auf den Wald zu, sich immer in der Deckung der Büsche haltend.

Kaum im Wald angekommen, wollte Althea etwas fragen, aber er schüttelte warnend den Kopf. Noch nicht. Sie begannen zu laufen, immer in Richtung des Lichts. Schon nach den ersten Schritten musste sie feststellen, dass sie viel schneller war als er. Sie erinnerte sich, wie er auf ihrer Seite des Tores zusammengebrochen war. Sie wartete, bis er sie eingeholt hatte, und sprang dann langsamer hinter ihm her. Es war ihm unangenehm, das konnte sie sehen, aber er sagte immer noch nichts, während er beinahe zornig vor ihr her rannte.

Das Licht wurde immer heller, und der Gesang begann sie einzuhüllen und beinahe zu tragen. Es war wunderschön. Am liebsten wäre Althea stehen geblieben und hätte sich mit geschlossenen Augen diesem Erlebnis hingegeben, aber Ti’Anan strebte zügig weiter. Althea folgte ihm durch den Wald, bis sie an einer Felsengruppe angelangt waren und er erneut zu klettern begann. Verwundert folgte sie ihm hinauf, bis er ihr die Hand entgegenstreckte und sie über eine Felsenkante zog.

›Sieh!‹, war alles, was er sagte, und mehr brauchte es auch nicht. Althea nahm mit allen Sinnen diesen Anblick in sich auf. Sie standen unmittelbar über dem Seeufer. Warme Luft blies ihr entgegen, aber es war das Licht selbst, das sie bis ins Innerste wärmte. Die Musik war an diesem Ort beinahe unerträglich schön. Althea musste sich ein wenig gegen sie abschirmen, um sie wirklich genießen zu können. Danach gab es kein Halten mehr, sie schloss die Augen und badete mit allen Sinnen in den Dingen, die auf sie einströmten. Ohne dass sie es bemerkte, begann sie sich im Takt der Musik zu wiegen und zu summen.

Ti’Anan musste sie festhalten, sonst wäre sie kopfüber in den See gestürzt. ›Althea, komm zu dir!‹, rief er.

Sie machte widerwillig, fast benommen, die Augen auf und sah auf diesen wunderbaren Ort hinab. ›Was ist das, Ti’Anan?‹

›Das ist das Meer der Seelen.‹

›Das Meer der Seelen‹, flüsterte Althea verzückt und wollte wieder einen Schritt vor.

Er packte ihre Hand, zog sie ein Stück zurück und zwang sie, sich auf den Felsen zu setzen. ›Althea, sieht mich an. Nun mach schon!‹ Als sie es nicht tat, packte er hart ihr Kinn und zwang sie dazu. Seine goldenen Augen zerschlugen den Bann, der auf ihr lag. Sie schrak zusammen. ›Jetzt bist du wieder bei mir‹, lächelte er.

Plötzlich konnte sie wieder denken. ›Pst! Sei leise!‹

›Nein, das brauchen wir nicht. Das Seeufer ist der einzige Ort, wo wir uns unterhalten können, ohne gehört zu werden. Die Musik übertönt es. Vorhin, da sind wir gerade rechtzeitig gegangen. Sie waren dabei, wieder wach zu werden. Althea, was ist?‹, fragte Ti’Anan besorgt.

Jetzt, wo sie ihn wieder ansah, musste sie mit einem Mal ein Schaudern unterdrücken. ›Es ist wunderschön, aber auch.. es graut mir davor. Es hat sehr viel Macht.‹

›Du bist sehr klug‹, nickte Ti’Anan anerkennend. ›Es gab schon andere, die sich bei diesem Anblick dort hineingestürzt haben, ohne innezuhalten.‹

Aus den Augenwinkeln warf Althea einen vorsichtigen Blick auf das wogende Meer. Nun, da ihr Blick und ihre Sinne durch seine Warnung geschärft waren, konnte sie die verführerischen Dinge beiseitedrängen und andere Details wahrnehmen. Ihr stockte der Atem. ›Aber, das sind ja.. Körper!‹ Sie sah Umrisse von Händen, Füßen, Krallen und Klauen, menschliche und fremde.

›Es sind die Abbilder des letzten Lebens, das die Seelen geführt haben‹, erklärte Ti’Anan, sie genau beobachtend und sich für alle Fälle bereithaltend. ›Sie kommen nach ihrem Tod hierher, alle Wesen von jeder Welt.‹

Althea riss den Kopf herum. ›Von jeder Welt?!‹

Er wollte schon wieder etwas Spöttisches über ihre Unwissenheit sagen, bezwang sich aber: ›Ja, eure ist nicht die Einzige. Es gibt viele, sehr viele sogar. Die Seelen, die du dort siehst, sind nicht vollständig, sie sind nur eine Hälfte eines Ganzen.‹

Althea merkte auf: ›Die Seelenhälften! Ja, natürlich! Die Temorer glauben noch heute daran, dass zwei Seelen auf der ewigen Suche nacheinander sind.‹

Ti’Anan schnaubte nur. ›Sie wissen nichts! Schließlich denken sie auch, wir seien Götter. Alle Lebewesen denken das, aber sie irren sich.‹

›Sei nicht so hochnäsig!‹, begehrte Althea auf. Sie war erbost darüber, dass er einfach so über sie urteilte. ›Woher sollen sie es schließlich wissen?‹

Er fühlte sich sofort angegriffen und bleckte die Zähne. ›Sie bräuchten nur nachzudenken. Es ist logisch! Sie sind dumm!‹

›Nein, sind sie nicht!‹ Althea sprang auf. Sie fühlte sich verletzt, dass er die Menschen so herabsetzte. ›Logik kannst du nur anwenden, wenn du alle Fakten kennst‹, warf sie ihm einen Lehrsatz ihres Vaters an den Kopf.

›Aber wie können sie denn so dumm sein zu glauben, dass dies die Welt der Götter ist? Das, das dort, ist göttlich!‹, fauchte er und zeigte auf die riesige, senkrecht stehende Säule, die den See in Bewegung hielt. ›Finden zwei Seelen zusammen, dann gehen sie ein in das Göttliche. Sieh, dort hinten, dort ist es gleich soweit!‹

Althea sperrte Mund, Augen, Ohren und ihre Sinne weit auf, als sich aus dem Meer zwei Gestalten herauszuschälen begannen. Unendlich mühsam schoben sie sich in die Höhe, doch dann streckten sie ihre Hände nacheinander aus. Als sie sich berührten, stiegen sie rasch empor, verschmolzen miteinander und stoben in einem Funkenregen auseinander. Die Musik schwoll an, sie lockte, das erkannte Althea nun, die Funken zu der Säule. Sie sah zu, wie sie sich in ihr auflösten und verschwanden. Eine Weile brauchte sie, um sich aus dem Bann des Anblicks zu befreien, doch dann sah sie den Feenjungen. Sie spürte den überheblichen Triumph des vermeintlich höheren Wissens in seinen Augen und seinen Gedanken, und das stachelte ihren Widerstand an.

›Ach, und woher willst du wissen, dass dies das Göttliche ist? Woher willst du wissen, dass dies nicht das Tor in eine weitere Welt ist, in der andere Wesen sitzen, die genauso spöttisch auf euch zeigen? Jemand sagte mir einmal, dass alles, was die Menschen nicht kennen, ihnen Angst macht und dass viele dazu neigen, es als göttlich oder teuflisch zu benennen, um damit leben zu können. Ich glaube, ihr wisst es auch nicht. Ihr seid nicht besser als alle anderen und..‹

›Wie kannst du es wagen!‹ Ti’Anan sprang sie an, fauchend und mit spitzen Krallen, doch bevor Althea sich wehren konnte, wurde er von unsichtbarer Hand zurückgerissen.

›Ti’Anan!‹, donnerte die mächtige Stimme des Königs, und da schwebte er auch schon heran, zusammen mit der Königin und den anderen Wesen, die Althea schon bei sich im Raum gesehen hatte.

›Vater, ich..‹

Der Feenjunge wurde von unsichtbaren Händen emporgezogen, bis er ganz dicht vor ihm schwebte. Der Zorn seines Vaters umloderte ihn. ›Sie hat dir eine Frage gestellt und dich um Antwort gebeten. Eine höchst philosophische Frage sogar, so, wie sie sich unseren Gelehrten schon seit Anbeginn unserer Zeit stellt. Sie ist nur allzu berechtigt, denn die Wahrheit ist, Mädchen, wir wissen es nicht. Wir kennen..‹

›Aber Vater!‹ Ti’Anan verschlug es die Sprache, dass er solch wichtige Geheimnisse einfach mit einem fremden Wesen teilte.

›Nur weil du mit deinem Schicksal haderst, kannst du das nicht an anderen auslassen und voller Hochmut auf sie herabblicken‹, grollte der König. ›Du wirst dich bei ihr entschuldigen, und dann wirst du in den Palast gehen und dich nicht von der Stelle rühren, hast du verstanden?‹

›Nein, das werde ich nicht!‹, fauchte Ti’Anan, riss sich los und rannte, sobald er zu Boden gestürzt war, in den Wald davon. Althea sah ihm unbehaglich, aber auch ein wenig traurig hinterher.

Der König rief jemanden, eine Art Diener. ›Fangt ihn ein und sperrt ihn weg, bis er sich wieder besonnen hat. Er wird sich bei dir entschuldigen, Mädchen.‹

›Mein Name ist Althea‹, sagte sie. ›Das bedeutet: Die Heilende.‹

Die Königin lachte, es war wie ein warmer Hauch. ›Ein treffender Name, wahrlich. Sag, Althea, wer hat dich gelehrt? Du bist sehr klug.‹

›Mein Vater‹, antwortete Althea, sich wieder auf den Felsen setzend, weil sie nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte. Alle Wesen um sie herum schwebten zu Boden und ließen sich ebenfalls nieder, und die Königin kam zu ihr. Dabei streifte ihr Gewand Althea ein wenig. Es verursachte ihr eine Gänsehaut. Zu gerne hätte sie gefühlt, woraus diese Wesen bestanden.

Die Königin lächelte, als sie ihren Blick bemerkte. ›Keine Sorge, wir sind richtige Wesen, keine Geister.‹

Althea nickte. ›Ja, das ist mir schon klar. Sonst hättet Ihr nicht bei dem Angriff verletzt werden können.‹

›Du ziehst wirklich sehr folgerichtige Schlüsse‹, meinte eines der anderen Wesen anerkennend. ›Haben wir das vorhin richtig gehört, dein Vater hat dich das gelehrt? Ist er ein Druidai?‹

›Mein Vater?!‹ Althea musste lachen, obwohl ihr traurig zumute wurde. ›Nein, er ist weit davon entfernt. Er ist Gelehrter, aber nur Gelehrter, kein Priester. Jedweder Glaube geht ihm völlig ab.‹

›Tatsächlich?‹, wunderte sich der König. ›Du sagst, die Druidai sind schon lange tot. Wie lange? Gib uns ein anderes Zeitmaß.‹

Althea zögerte nicht, ihnen von ihren Erkenntnissen zu berichten. Ti’Anans Bestrafung und ihre offene Neugier ließen sie ruhig werden. Sie überlegte, wie sie das am besten erklären sollte. ›Wir glauben, einen Vergleich gefunden zu haben, nur klingt es so.. so unglaublich‹, begann sie.

›Sag es uns! Was habt ihr herausgefunden?‹, fragte die Königin. Althea konnte die gespannte Erwartung um sich herum spüren. Es war, als warteten sie auf etwas, und als sie ihnen von ihrem Vergleich erzählte, fuhren sie alle auf.

›Hoheit, das bestätigt unsere Theorie!‹

›In der Tat, das tut es.‹ Alle Wesen wirkten zutiefst beunruhigt.

›Du bringst uns Antwort auf eine lang gestellte Frage‹, sagte die Königin. ›Die Frage, ob in jeder Welt das gleiche Maß an Zeit existiert oder nicht.‹

›Sie ist überall verschieden? Aber.. dann habt Ihr wirklich miterlebt, wie.. ER Euch angegriffen hat!‹ Dieser Gedanke erschloss sich Althea erst jetzt. ›Oh bitte, so erzählt doch. Was hat dies alles mit den Druidai zu tun?‹

Die Königin war es, die Altheas Bitte erfüllte. Alle anderen tauschten noch erregte Gedanken über die neuen Erkenntnisse aus. ›Du weißt es wirklich nicht, nicht wahr? Nun, seit Anbeginn der Zeit kamen Lichttag für Lichttag die Auserwählten durch die vielen, vielen Tore hierher, um mit uns das Ritual der Einheit zu vollziehen. Ihre Kinder sind es, die durch ihren Gesang und ihre Kraft die Quelle in Bewegung halten. Jedes Lebewesen hat seinen Anteil daran. Die von den Menschen abstammenden Wesen machen den Gesang, den wir leider nicht hören, aber spüren können. Andere wiederum halten durch ihre Kräfte die Quelle in Bewegung. Ohne sie stünde die Quelle still, und die Seelen würden aufhören zu wandern.‹

›Sie würden nicht mehr wandern? Aber, dann wären sie ja.. weder lebendig noch tot!‹, rief Althea. Ihr kam ein schrecklicher Verdacht. ›Ist es das, was ER will? Die Herrschaft über die Quelle und die Seelen aller Völker?‹

Die Königin ergriff ihre Hand. Es fühlte sich merkwürdig an, flüssig und fest zugleich. Als Althea ihre Hand drücken wollte, fühlte sie keine Haut, keine Knochen, einfach nichts. ›Was ER will, liegt im Dunkeln. Es kam schon früher vor, dass Wesen, die nicht auserwählt waren, versucht haben, die Tore zu überwinden. Aber noch nie hat jemand dabei so viel Heimtücke und böse Macht entfaltet wie ER. SEIN und der Angriff SEINER Getreuen auf die heilige Stätte der Druidai kostete fast alle Druidai, viele der Wächter und einige unserer Brüder und Schwestern das Leben. Nur ein Mensch kann zu so etwas abgrundtief Bösem fähig sein.‹

›Nur ein Mensch?‹ Althea begehrte auf. ›Gibt es das denn nicht auch woanders? Das glaube ich nicht! Warum sollten nur die Menschen so böse sein?‹

›Höre, was wirklich geschah, bevor du urteilst‹, mahnte der König, der sich ihrem Gespräch zugewandt hatte. Alle anderen folgten ihm. Er fuhr fort: ›Nachdem der fremde Feldherr die Heilige Stätte der Druidai erobert und den Verräter als das erkannt hatte, was er war, hätte alles in Frieden enden können, wären nicht die Diener der Druidai gewesen. Ti’Anans Mutter brachte Asklepia hierher und wir.. nun, wir begingen auch einen Fehler. Anstatt Phileas gleich mit aller Macht zu bannen, hießen wir die Diener nur, ihn zu binden, und belegten ihn mit einem Fluch. Danach sammelten wir uns hier, um Kraft zu schöpfen. Wir waren geschwächt.‹

›Oh, ich weiß. Ti’Anan ist auch in meiner Welt zusammengebrochen und..‹ Althea biss sich auf die Lippen, aber es war zu spät. Sie hatte sich verplappert.

›Er war dort?!‹ Des Königs Kleider wallten heftig durch die Luft. ›Das war ihm ausdrücklich verboten! Das wird ernste Folgen für ihn haben, verlasse dich darauf!‹

›Nein, bitte nicht!‹ Althea sah sich genötigt, ihn in Schutz zu nehmen. ›Schuld bin ich, ich habe das Tor zufällig entdeckt und es geöffnet und gerufen. Da kam er einfach angelaufen.‹

›Dennoch war es ihm nicht erlaubt, dort im Wald herumzustreifen, obwohl er es oft tut. Er macht nie das, was man ihm sagt‹, grollte der König.

Seine Gemahlin lächelte Althea zu. ›Du solltest dort auch nicht sein, nicht wahr?‹

Althea schluckte. ›Nein, und dass wir uns dem Tor näherten, hat meinen Cousin fast das Leben gekostet. Hätte ich nicht meine Kräfte entdeckt, wäre er jetzt.. tot.‹ Sie wagte es kaum auszusprechen.

›Nein, nicht tot, sondern etwas sehr viel Schlimmeres. Er wäre verbannt in ewige Finsternis. Das war es auch, was wir IHM zugedacht hatten‹, sagte der König und erzählte weiter. ›Als wir unsere Kräfte gestärkt hatten, öffnete Ti’Anans Mutter das Tor erneut. Wir wollten unsere Toten bergen und jenen mit einem so wirksamen Fluch belegen, auf dass SEINE Seele nie wieder auf irgendeiner Welt wandeln sollte. Doch statt des zerstörten Haines fanden wir das Tor eingemauert, und von IHM und unseren Opfern, die vorher überall verstreut gelegen hatten, fehlte jede Spur. Ti’Anans Mutter ging sie suchen. Es dauerte nicht lange, da kam sie zurück. Berichte du weiter, meine Gemahlin. Du hast sie gepflegt.‹

›War sie verwundet?‹, fragte Althea erschrocken.

›Oh ja. Man hat sie beschuldigt, mit bösen Mächten im Bunde zu sein und Anteil an dem Verschwinden von IHM gehabt zu haben. Sie wurde mit Schlägen und Steinwürfen vertrieben. In letzter Not kehrte sie zu uns zurück, und sie berichtete uns von dem Schicksal unserer Gefallenen.‹ Die Königin seufzte leise, es klang wie ein Windhauch. Von den Umstehenden jedoch kam eine Welle des Zornes. Althea duckte sich unmerklich und wurde von der Berührung der Königin beruhigt. ›Weißt du, wie ein jedes dieser Tore beschützt wird?‹

Althea wusste sofort, wovon sie sprach. ›Ja, durch einen Ring. Ich spüre ihn nicht, aber andere brechen darin zusammen. So, wie mein Cousin.‹

›So ist es, nur dass sie zu der Zeit noch nicht tödlich waren. Sie hinderten nur Nicht-Druidai daran, sich dem Tor zu nähern. Ti’Anans Mutter berichtete uns, dass irgendjemand in der ganzen Verwirrung herausfand, dass man mit Hilfe unserer Toten den Ring gefahrlos betreten konnte. Nur das Tor, das bekamen sie nicht auf, und so beschloss der Anführer des Eroberervolkes, es ein für alle Mal zu verbergen.‹

Althea sah sie mit großen Augen begreifend an. ›Sie haben eine ganze Stadt darüber gebaut, Gilda, meine Heimatstadt. Es war Zufall, dass ich das Tor entdeckt habe.‹

›Zufall oder Vorhersehung?‹ Die Königin lächelte. ›Wer weiß das schon? Ti’Anans Mutter berichtete uns, dass Streit darüber entstanden war, was mit den sterblichen Überresten der Druidai und unserer Brüder und Schwestern geschehen sollte. Die Eroberer wollten sie verbrennen, aber die Diener und Dienerinnen der Druidai wehrten sich dagegen. Ein Teil, es waren vor allem die Frauen, wollten die Toten vor dem Tor aufbahren, falls wir wiederkommen würden, um sie zu holen. Die anderen jedoch, viele Männer waren darunter, entdeckten, dass unsere Toten ein eigener Ring umgab, selbst die Wächter ein winzig kleiner. Und sie ahnten, was für eine Macht sich dahinter verbarg. Der Anführer der Eroberer merkte es ebenfalls. Er vertrieb sie schließlich, voller Furcht, sie könnten die Herrschaft wieder an sich reißen. Die Toten nahmen sie mit, die Frauen jedoch blieben. Sie gründeten eine neue Gemeinschaft, und der Anführer, der sich zum König über jenen Ort krönen ließ, stellte sie unter seinen Schutz. Sie waren es, welche die Geschichte an Ti’Anans Mutter weitergaben. Ohne sie wüssten wir nichts.‹

›Diese Frauen gibt es heute noch‹, sagte Althea. ›Sie haben ihren Orden nach Asklepia benannt und kümmern sich um die Kranken und Bedürftigen. Oh, Ihr wart bestimmt sehr zornig, als Ihr das herausfandet.‹

›Oh ja, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß unser Zorn und unser Schmerz waren. Wir versiegelten alle Tore, egal zu welcher Welt, und legten einen Bann auf sie, sodass niemand dorthin gelangen konnte. Nur einer echten Druidai kann es nach wie vor gelingen. Dir, Mädchen, ist es gelungen, und nun ist es an der Zeit, dass auch du für uns etwas Licht ins Dunkel bringst. Wir warten seitdem darauf, dass man uns unsere Toten zurückbringt und wir erfahren, was mit IHM geschehen ist.‹

›Ich..‹ Altheas Kopf war wie leer gefegt, sie musste erst einmal verarbeiten, was sie dort gehört hatte. In ihrem Kopf spürte sie, wie sie einen leichten Stoß erhielt. ›Nun mach schon, Mädchen!‹, sagte eines der Wesen. ›Wir spüren doch, wie deine Gedanken arbeiten.‹

›Lasst sie!‹, mahnte die Königin. ›Es ist gewiss sehr viel auf einmal für dich, nicht wahr?‹

›Oh ja.. wo soll ich anfangen?‹, fragte Althea ratlos.

›Vielleicht..‹ Die Königin lächelte ihr aufmunternd zu. ›Wie wäre es mit deiner eigenen Geschichte? Das dürfte dir doch nicht schwerfallen.‹

›Nein, gewiss nicht‹, dachte Althea und begann zu erzählen, zunächst stockend und zögerlich und sehr leise, weil sie immer noch den Zorn der sie umgebenden Wesen spürte. Das legte sich jedoch sehr schnell. Althea lernte, dass auch diese mächtigen Wesen fasziniert werden konnten. Sie waren es wirklich, als sie von Altheas Aufwachsen in Gilda hörten, von ihren Umtrieben mit Phelan, wie sie die Erwachsenen umgangen und die Gänge, das Tor und Asklepias Geschichte gefunden hatten.

›Ha, ihr beide hättet euch wahrlich mit Ti’Anan verstanden!‹, rief der König aus. Seine Belustigung vibrierte durch die Luft, er lachte.

›Warum habt ihr das Tor den anderen nicht gezeigt?‹, fragte eines der anderen Wesen.

›Weil wir um sie fürchteten‹, erklärte Althea ernst. ›Sie hätten uns bestraft und dann nicht auf uns gehört und versucht, das Tor zu untersuchen. Sie wären dabei umgekommen, so, wie beinahe mein Cousin. Durch seine Krankheit entdeckte ich meine Kräfte, und meine Träume von IHM setzten ein. Phileas ist ein Geist, ein mächtiger, grausamer Geist.‹

Es wurde still um sie herum, als sie diesen Namen aussprach, aber anders als zuvor begehrte keines der Wesen dagegen auf. Selbst die Musik verstummte, als sie begann, Asklepias Sicht der Dinge zu schildern, wie die endgültige Besiegung von Phileas scheiterte und er einfach verschwand. Und sie zog gleich einen Schluss daraus: ›Denkt doch, wenn die Zeit in dieser Welt langsamer läuft als in der anderen, dann müsst Ihr selbst in der kurzen Abwesenheit vielleicht Tage oder gar Wochen fort gewesen sein. Was hätten die Diener denn tun sollen? Die Toten bei den grausamen Eroberern zurücklassen? Ich kann verstehen, dass sie die Toten mitnahmen, wenn vielleicht auch aus falscher Absicht.‹

›Versuche nicht, sie in Schutz zu nehmen‹, grollte der König. ›Es ist und bleibt ein Frevel! Wo sind sie hingegangen?‹

Althea schloss die Augen. ›Nach Temora. Ich.. ich glaube, ich habe dort etwas gespürt. Sie haben einen Ring um Temora, einen guten Ring, und die Priester sind als Einzige in der Lage, ihn zu durchschreiten. Oh nein, das bedeutet doch nicht etwa..‹ Sie schlug die Hände vors Gesicht, und die Wut, die um sie herum anschwoll, bestätigte den Verdacht, der in ihr keimte. ›Sie tragen sie bei sich?‹

›Unsssere Toten!‹ Plötzlich waren die Wächter da. Althea schrie auf, als die Wolke sich auf sie stürzen wollte.

›Haltet ein!‹, befahl der König.

›Ja, haltet ein!‹, wiederholte eine kleine Stimme. Einer löste sich aus dem Wächterpulk und kam auf sie zu. Sie erkannte ihn sofort an der zerbeulten Rüstung. Es war der kleine Wächter, den sie im Wald zurückgelassen hatte. ›Dieser Eindringling will nichts Böses, er hat mein Leben geschont‹, sagte der kleine Mann und schwebte auf sie zu.

Althea streckte die Hand aus, sie konnte gar nicht anders, und er ließ sich darauf nieder. Sie musste lächeln. ›Ich hoffe, ich habe dich nicht allzu sehr erschreckt. Ich wollte niemanden verletzen.‹

›Alle sind am Leben. Ach bitte, darf ich es einmal fühlen?‹, bat er.

›Fühlen? Aber warum? Hier ist doch alles voll davon!‹ Althea wunderte sich sehr. Sie hatten doch die Quelle?

›Weder die Wächter noch wir können uns der Quelle nähern. Dafür sind wir zu schwach‹, erklärte die Königin. ›Wir spüren es nur in unseren Gedanken. Nur die Druidai vermögen das Licht zu beherrschen, und ihre Kinder wie Ti’Anan sind es, welche die Quelle am Leben erhalten.‹

Althea nickte verstehend. ›Beherrschen die Druidai das Licht oder werden sie von ihm beherrscht? Ich hatte schon oft den Verdacht, dass es letzteres ist‹, murmelte sie, und dann tat sie dem Wächter den Gefallen. Sie holte ihr Licht und hüllte ihn darin ein. ›Ich darf das nicht allzu häufig machen‹, sagte sie in Richtung der anderen und hielt sie davon ab näherzukommen. Sie lachte, als der Wächter sich jauchzend in ihrem Licht drehte. ›Ich spüre nämlich von denjenigen, die ich damit berührt habe, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt. Werden es zu viele, würde ich nur noch träumen und über kurz oder lang wahnsinnig werden. Betrachte es als Geschenk, kleiner Wächter.‹

Er verneigte sich tief vor ihr. ›Ich danke Euch, Herrin.‹

›Herrin?‹, dachte Althea und schluckte. Sie warf einen Blick auf die Quelle. Ein Teil von ihr wunderte sich über dieses ernste Gespräch, das sie hier mit den Wesen führte. Auf einmal spürte sie, dass sich, je länger sie in der Nähe der Quelle verweilte, etwas in ihr veränderte. Sie fühlte, dass sie dabei war, etwas endgültig hinter sich zu lassen. Es war wie ein Abschied. Woran lag das? Fand sie endlich einen Teil von sich, den sie vorher nie verstanden hatte? Althea stand langsam auf, wie im Traum, und trat hinaus auf die Klippe. Der Wächter flog erschrocken auf und kehrte zu seinen Kameraden zurück.

Althea merkte es nicht. Sie schaute auf das Meer der Seelen hinaus, und dann sah sie es: Eine Gestalt stand dort aufrecht, wer weiß, wie lange schon.

›Ah, da ist sie‹, sagte die Königin.

›Wer ist das?‹, fragte Althea.

›Asklepias Seele. Sie weigert sich zu gehen, die ganze Zeit schon. Sie wartet auf ihre Seelenhälfte.‹