Trägerin des Lichts - Erstarken - Lydie Man - E-Book

Trägerin des Lichts - Erstarken E-Book

Lydie Man

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Beschreibung

Wie ein lähmendes Tuch legt sich die Macht des Bösen über das Land Morann. Die Handelsströme kommen zum Erliegen, die Menschen leiden bittere Not. Besonders hart trifft es Currann und seine Kameraden, die im entlegenen Branndar vom Hungertod und von den Bergstämmen bedroht werden. Currann will den Menschen in Branndar um jeden Preis beistehen und bringt dabei nicht nur sich selbst, sondern auch die Kameraden in Gefahr. Ihr Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt. Werden seine Kameraden zu ihrem Eid stehen und zu ihm halten? Auch die Temorer bekommen die Macht des Bösen zu spüren. Während Althea und Noemi mit ihrer Beschützerin Chaya in der scheinbaren Sicherheit des Bannwaldes leben, verschwinden Priester der Gemeinschaft spurlos, und eine rätselhafte Seuche bricht in der Bevölkerung aus. Unvermittelt stehen die drei Heilerinnen mitten im Sturm der Ereignisse, denn sie sind es, die den kranken Menschen beistehen, nicht die allseits gefürchteten Priester. Und damit wird Althea auch sichtbarer für die Diener des Bösen, die das Mädchen aus Gilda mit allen Mitteln suchen. Getrennt von den Mädchen, hat Phelan sich nur widerwillig mit seinem Exil in Saran abgefunden. Zusammen mit dem ehemaligen Heerführer Bajan, als dessen Sohn er dort vorgestellt wurde, hilft er den Saranern, ihre Grenzen gegen die von allen Seiten eindringenden Feinde zu verteidigen. Phelans Befürchtung, dass auch in Saran ein Diener des Bösen lauert, wird zur grausamen Gewissheit, und dem Diener ist längst klar, wer der junge Mann an Bajans Seite in Wahrheit ist. Er wird ausgesandt, Phelan in seine Gewalt zu bringen und über ihn an Altheas Versteck heranzukommen.

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Seitenzahl: 1604

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lydie Man

Trägerin des Lichts

Erstarken

Impressum

Deutsche Erstausgabe im Januar 2013 als E-Book erschienen

Copyright Text und grafische Gestaltung:

© 2024 Lydie Man

Kontakt: [email protected]

Facebook: www.facebook.com/lydauthor

All rights reserved

Verlag: Inga Rieckmann alias Lydie Man

c/o Block Services

Stuttgarter Straße 106

70736 Fellbach

Veröffentlichung und Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Inhalt

Wie ein lähmendes Tuch legt sich die Macht des Bösen über das Land Morann. Die Handelsströme kommen zum Erliegen, die Menschen leiden bittere Not. Besonders hart trifft es Currann und seine Kameraden, die im entlegenen Branndar vom Hungertod und den Bergstämmen bedroht werden. Currann will den Menschen in Branndar um jeden Preis beistehen und bringt dabei nicht nur sich selbst, sondern auch die Kameraden in Gefahr. Ihr Zusammenhalt wird auf eine harte Probe gestellt. Werden seine Kameraden zu ihrem Eid stehen und zu ihm halten?

Auch die Temorer bekommen die Macht des Bösen zu spüren. Während Althea und Noemi mit ihrer Beschützerin Chaya in der scheinbaren Sicherheit des Bannwaldes leben, verschwinden Priester der Gemeinschaft spurlos, und eine rätselhafte Seuche bricht in der Bevölkerung aus. Unvermittelt stehen die drei Heilerinnen mitten im Sturm der Ereignisse, denn sie sind es, die den kranken Menschen beistehen, nicht die allseits gefürchteten Priester. Und damit wird Althea auch sichtbarer für die Diener des Bösen, die das Mädchen aus Gilda mit allen Mitteln suchen.

Getrennt von den Mädchen, hat Phelan sich nur widerwillig mit seinem Exil in Saran abgefunden. Zusammen mit dem ehemaligen Heerführer Bajan, als dessen Sohn er dort vorgestellt wurde, hilft er den Saranern, ihre Grenzen gegen die von allen Seiten eindringenden Feinde zu verteidigen. Phelans Befürchtung, dass auch in Saran ein Diener des Bösen lauert, wird zur grausamen Gewissheit, und dem Diener ist längst klar, wer der junge Mann an Bajans Seite in Wahrheit ist. Er wird ausgesandt, Phelan in seine Gewalt zu bringen und über ihn an Altheas Versteck heranzukommen.

Personen der Handlung

Im Verborgenen:

Currann, Thronfolger des Reiches

Phelan, sein jüngerer Bruder

Althea, ihre Cousine

Noemi, ihre treue taubstumme Freundin

Bajan, ehemaligerHeerführer

Sinan, der jüngere Bruder von Ratsherr Nestan

Tamas, Sohn von Tanaar, des Fürsten von Nador

Yemon, Sohn von Yenkal, des Fürsten von Mukanir

Ouray, Sohn von Orban, eines Siedlungsvorstehers

Kiral, ein Cerinn aus dem fernen Osten

Der Hofstaat

Aietan, König von Morann

Alia, die neue Königin

Lelia, einzig verbliebenes Königskind bei Hofe

Nusair, oberster Mönch und religiöser Führer des Landes

Brida, Haushofmeisterin

Nestan, Ratsherr und rechte Hand Nusairs

Daria, Zofe und Nusairs Nichte

Weitere Personen in Gilda und Morann:

Meda, inoffizielle ehrwürdige Mutter der Heilerinnen

Leanna, Lelias verschwundene Zwillingsschwester

Rynan,Leannas Beschützer und Kundschafter der Heilerinnen

Orban, Siedlungsvorsteher und Vater von Curranns Kamerad Ouray

Tanaar, Fürst von Nador und Vater von Curranns Kamerad Tamas

Tavar, Tamas’ jüngerer Bruder

Dagan, der Steuereintreiber von Fürst Tanaar

Thorald, Altheas Vater in Gefangenschaft

Leviad, ein alter Freund Bajans

Nadim, ein Kundschafter Bajans

In Branndar:

Sirial (Siri), Curranns Freundin

Nathan (Nat), ihr neugeborener Sohn

Strahan, ihr Vater, der Schulmeister

Peadar, der Mönch der Siedlung

Kedar, Siedlungsvorsteher und Siris Onkel

Karya, Siris Tante, die Heilerin

Goran, ihr Sohn, Siris Cousin

Mari, ihre Tochter, Siris Cousine

Nuria, Siris Freundin

Belan, ihr kleiner Sohn

Evan, Nurias Mann

Evi, Nurias kleine Tochter

Yorran, der Schmied

Yassin und Ramon, zwei Jungen

Kjell und Rike,zwei von den Goi entführte Kinder aus Saran

In Temora:

Anwyll, Hohepriester von Temora

Aislinn, Altheas Großmutter und Priesterin im Rat Temoras

Mihal, Ratsmitglied

Chaya, Ausgestoßene und Heilerin

Maret, Novizin

Emlyn, Novizin

Galvin und Gayle, Zwillinge und ebenfalls Novizen

Verna, Tochter eines Clansführers

Naja, Vernas Schwester, Novizin

Mahin, Marets Bruder

Amin, Händler Temoras

In Saran

Regnar, Altheas Großvater und Seeräuber

Roar, Clansführer von Saran

Jeldrik, sein Sohn und Erbe

Jorid, Jeldriks Schwester

Ryolf, ihr Onkel, Roars Bruder

Sylja, Herrin über Roars Haus

Bryn, der saranische Schmied

Rana, seine und nicht mehr Phelans Sklavin

Sedat, Gesetzeshüter von Saran

Yeni, Priesterin der ethenischen Sklaven

Corin und Eryk, die Väter der entführten Kinder Kjell und Rike

Oren, Haldar und Bado, die drei Unholde der Siedlung

Widar, ermordeter Clansführer

Harcon, sein Bruder

Seeko, sein Sohn

Auf See

Tzusa, eine Priesterin

Ohin, Vater von Jeldriks Kamerad Oren

Ragai, Phelans Gefangener

In Mukanir

Naluri, die ehemalige Königin

Meno, ehemaliger Archivar Gildas und jetzt Schulmeister

Yola, Vertraute Naluris und seine Frau

Yenkal, Fürst von Mukanir und Vater von Curranns Kamerad Yemon

Prolog

SEIN Zorn war gewaltig.

Die Tochter des Temorers war entkommen und wurde verborgen von Anwyll, dem Führer der Narrengemeinschaft, dessen war ER sich sicher. Einer SEINER Diener in Temora war getötet worden. Alle in der Gewalt SEINER Diener hatten ihnen widerstanden. Schwächlinge waren sie, allesamt! Sie waren zu offensichtlich vorgegangen, und das hatte SEINE Gegner gewarnt. Diese hatten sich wappnen können, aber auch genug gegen IHN in der Hand, um SEINEN Plänen ernsthaft gefährlich werden können?

Zeit, es herauszufinden. Wenn alles nach SEINEN Wünschen gegangen war, hatten SEINE Diener die Saat bereits ausgelegt, in Gilda, in Temora, bei dem Seefahrervolk. ER würde sich aufmachen, den nächsten Schritt SEINES Planes auszuführen, hoch oben im Norden, weitab von allen Zeugen, die IHM gefährlich werden könnten. Und währenddessen würde die Falle über den Ahnungslosen zuschnappen, und ER würde zurückkehren zu jenen, welche SEINE Macht über jene brachten, die SEINEN Plan gefährdeten.

Sie würden IHM nicht entkommen.

Kapitel 1

Branndar

Im Winter nach der Flucht

Alles bewegte sich unendlich langsam. Er rannte. Sein Atem keuchte, die eiskalte Luft zerriss fast seine Lungen, und doch kam er nicht vorwärts. Es war der Albtraum vieler Nächte, und er sollte ihn sein ganzes Leben verfolgen. Er hörte ihren Schrei, voller Verzweiflung, Schmerz, aber auch Wut, hörte seine eigenen knirschenden Schritte im Schnee. Ein langer Moment, und da lag sie auch schon vor ihm, ein dunkles Häuflein im gleißenden Weiß, den Körper schützend um etwas gekrümmt, das sie unter sich barg. Und er sah seinen ärgsten Feind, wie er durch die Menschenmenge brach, gefolgt von seinem Sohn und seiner Tochter, und wie er direkt auf sie zuhielt.

Siri wimmerte, als sie die Schritte neben sich hörte. Es war ein Laut, der Curranns Wut ins Unermessliche steigen ließ. Sie gewann die Oberhand. Es ging so schnell, dass sein bewusstes Ich, das zu allererst Siri helfen wollte, es nicht verhindern konnte. Siedlungsvorsteher Kedar sah einen dunklen Schatten auf sich zuspringen und wurde von einem gewaltigen Fausthieb zu Boden geschleudert. Er rutschte mehrere Schritte den Berg hinunter und blieb zu den Füßen der Leute liegen, die schreiend vor dem unheimlich gekleideten jungen Mann mit den stechenden schwarzen Augen und der blanken Waffe zurückwichen. Männer drängten ihre Frauen nach hinten, die Frauen ihre Kinder, es war ein heilloses Durcheinander. Goran und Mari wurden einfach mitgerissen, sodass Kedar allein zwischen der Menge und dem wutschnaubenden Currann liegen blieb.

Der Siedlungsvorsteher war betäubt. Er lag blinzelnd im Schnee und schien nicht begreifen zu können, was soeben geschehen war. Da kam Currann wieder zu sich. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sein Schwert gebraucht, dessen wurde er sich in diesem Moment bewusst. Er erschrak furchtbar vor sich selbst, doch das wollte er seinen Gegner auf keinen Fall sehen lassen. Seine Sorge galt jetzt allein Siri. Er ließ den Vorsteher einfach liegen.

Als er sich umdrehte, halfen Kiral und Sinan ihr gerade auf. Sie zitterte am ganzen Leib, blickte zu Boden und schien irgendwie kleiner zu sein als in seiner Erinnerung. Mit einem Kopfrucken schickte er seine Kameraden in Richtung Kedars, der nun wieder zu sich kam und sich laut fluchend aus dem Schnee aufrappelte.

Currann trat langsam auf Siri zu. Sie hob den Kopf, sah ihn an. »Keine Angst, wir sind da. Jetzt wird dir nichts mehr geschehen«, sagte er so leise, dass es niemand sonst hören konnte. Seine Stimme klang belegt. Es war das erste Mal seit fast einem Jahr, dass sie sich bei Tageslicht sahen. Er sog ihren Anblick förmlich in sich auf, die Form ihres Gesichts, die Farbe ihrer Augen, die hohen Wangenknochen, sah aber auch die Schatten, die Ringe unter ihren Augen, ihre Blässe.

»Siri, geht es dir gut?«, flüsterte Currann besorgt. Sie schüttelte abwehrend den Kopf und drehte sich zu ihrem Onkel um. Voller Verachtung sah sie zu ihm herunter. Kedar wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Nase. Sie war gebrochen. Es bescherte ihr ein leises Triumphgefühl, das aber sofort schwand, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah.

Voller Abscheu und Häme sah er sie an. »Du wirst dieses kleine Scheusal nicht behalten! Ich dulde nicht, dass du derart Schande über deine Familie bringst!«

Durch Siri ging ein Ruck. »Nein, nicht!«, sagte sie zu den drei Kameraden, die sich schon wieder auf Kedar stürzen wollte. Hoch aufgerichtet trat sie zwischen sie, Curranns starke Präsenz hinter sich und Sinan und Kiral zu ihrer Seite. »Dieses kleine Scheusal ist mein Sohn, mein Kind! Und ich habe es bekommen, weil ich ein anderes beschützt habe, was eigentlich deine Aufgabe gewesen wäre, nicht wahr, Kedar?« Ihre Stimme war eisig, das Zittern verschwunden. Voller Verachtung spie sie seinen Namen aus, nannte ihn nicht Onkel, sah ihn nicht mehr als Teil ihrer Familie. Noch hatte sie die Kraft dazu, sich ihm zu widersetzen.

»Lass Siri in Ruhe, Vater!«, rief eine helle Stimme dazwischen. Mari hatte es endlich geschafft, sich durch die Menschen nach vorne zu arbeiten, dicht gefolgt von ihrem Bruder, der sie aufhalten wollte, aber nicht schnell genug war. Sie wollte zu ihrer Cousine, doch Kedar fing sie ab.

Er verpasste ihr eine harte Ohrfeige. Mari ging mit einem Schrei zu Boden. »Wer hat dir erlaubt, das Haus zu verlassen? Wenn du..«

»Vater!« Goran stand fassungslos vor ihm und wollte seiner Schwester aufhelfen.

»Du hältst dich da raus!«, brüllte Kedar. Er trat zwischen sie. Sein Sohn zog die Schultern ein und wehrte sich nicht. Niemand wagte, sich zu rühren. Kedar fuhr erneut zu Siri herum. »Niemand hier wird es wollen, dass ein Goi Bastard in unserer Mitte aufwächst. Glaub ja nicht, dass du ihn behalten kannst!«, drohte er mit der Faust in ihre Richtung.

»Das zu entscheiden steht dir nicht zu, Kedar! Ich werde mein Kind behalten, und wenn du an der angeblichen Schande krepierst, wird es nicht nur einen geben, der dann ein Dankgebet spricht!«, fauchte Siri. Currann war stolz auf sie, wie sie sich verteidigte, doch seine Sorge um sie stieg. Nur weil er hinter ihr stand, konnte er sehen, dass ihre Arme zitterten. Hatte sie Schmerzen? Unauffällig rückte er näher an sie heran.

Kedar war äußerst erbost darüber, dass sie sich ihm derart widersetzte, ja, sogar zum Gegenangriff überging. »Dann wird hier für dich kein Platz sein!«, bellte er. »Ist es nicht so?« Er drehte sich zu den Menschen um. Betretendes Schweigen war die Antwort. Niemand mochte Kedar oder Siri anblicken. Die Menschen schienen noch gar nicht begriffen zu haben, was hier vor sich ging.

Doch plötzlich entstand Bewegung zwischen ihnen. Siris Freundin Nuria drängte sich nach vorne. »All dies sagst du, obwohl du weißt, dass Siri für unseren Belan gelitten hat? Was bist du nur für ein Mensch?!« Sie stemmte wütend die Arme in die Hüften.

Kedar wich einen Schritt zurück, sodass er fast auf seine Tochter Mari trat, die immer noch im Schnee lag. Doch so leicht gab er sich nicht geschlagen. »Ja, da spricht die Richtige. Wenn es nach mir gegangen wäre, wärest du nicht wieder in unseren Tempel aufgenommen worden und mit der Mutter meiner Kinder fortgegangen! Aber eines ist sicher: Ich dulde keinen Goi Bastard in dieser Siedlung, und du..«, er drohte so plötzlich in Siris Richtung, dass sie sich gut sichtbar für Currann zusammenreißen musste, nicht zurückzuweichen, »dich werde ich aus dem Tempel verbannen lassen! Wie kannst du es wagen, dich dem Willen deiner Familie zu widersetzen?!« Siri zog unmerklich die Schultern ein. Sie stand völlig still.

»Der wesentliche Teil ihrer Familie ist praktischerweise nicht anwesend, Vorsteher, um dieser Ansicht zu widersprechen!«, rief da eine Stimme von der Seite. Alle fuhren herum. Tamas trat mit vor Wut bleichem Gesicht und gezücktem Schwert zwischen den Hütten hervor, gefolgt von Ouray und Yemon. Sie waren schweißüberströmt und schneebestäubt. Sofort kreisten sie Kedar ein und erreichten, dass er endlich ein paar Schritte Abstand von seiner Tochter nahm.

Tamas stellte sich zwischen sie und nahm ihn sich erneut vor: »Ich glaube nämlich, dass sie gänzlich anderer Meinung sind. Und Strahan ist es, der zu entscheiden hat, nicht Ihr!« Er mochte nicht hinter sich sehen, wo Mari immer noch im Schnee lag, weil er ahnte, dass er dann seine Beherrschung verlieren würde.

Currann wusste, was in ihm vorging, hatte er es doch eben selbst erst erlebt. Er hielt ihn mit einem unmerklichen Kopfschütteln zurück. ›Zeig Kedar nicht, wie es um dich steht‹, befahl er stumm. »Was hat er mit deinem Vater gemacht?«, raunte er stattdessen Siri zu.

»Eingesperrt. Vater Peadar und Karya auch. Damit sie mir nicht helfen können!«, rief sie laut. Erstickt fügte sie hinzu: »Er wollte meinen Kleinen im Schnee aussetzen, bis.. bis..«

»Siri, nicht!« Nuria trat zu ihr und nahm sie behutsam in die Arme. Dankbar lehnte Siri ihren Kopf an ihre Schulter.

›Sie sieht erschöpft aus‹, ging Currann auf, so kurz nach der Geburt kein Wunder. Die Kapuze des kleinen Schlafsackes rutschte ein wenig nach unten, und er erspähte einen dunklen, flaumigen Haarschopf. Was auch immer der Vater dieses Kindes war, der Kleine war gänzlich unschuldig. Mitleid überkam ihn, und der Beschützerinstinkt, der bisher Siri gegolten hatte, übertrug sich auch auf ihr Kind, das er nun zum ersten Mal als eigenständiges Wesen wahrnahm. Grimmig nahm er sich Kedar vor: »Wie kommt es nur, dass Ihr Euch stets an den Wehrlosen und Unschuldigen vergreift? Braucht Ihr das, um Eure Stärke zu beweisen? Erbärmlich, das ist es, was Ihr seid!«

Kedar gab sich nicht so leicht geschlagen. Er zückte eine andere Waffe, packte die Menschen bei ihren Ängsten. »Ich lasse nicht zu, dass unsere knappen Vorräte durch ein Kind der Schande geschmälert werden. Es ist mein Recht, das zu entscheiden, nicht Eures!«, rief er.

Er hatte sich verrechnet. Nun regte sich erstmals Protest in den Reihen. »Das kannst du doch nicht machen!«

»Sie hat den Jungen beschützt!«

»Es wird schon reichen.«

Kedars Miene verfinsterte sich. Er verschränkte die Arme. Currann hatte auf einmal den Eindruck eines bockigen Kindes. »Das zu entscheiden obliegt mir, und ich sage, dass ich niemanden dulde, der gegen die Regeln des Einen Tempels verstößt.«

»Danach hat er aber nicht gefragt, als er sich an Yorrans Tochter vergriffen hat«, brummte Kiral verächtlich neben ihnen und so laut, dass es nicht nur der Vorsteher hörte.

Von Siri kam ein gequälter Laut. »Mich hat auch niemand gefragt!«

Currann sah, dass ihr die Tränen herunterliefen. Sie war am Ende ihrer Kräfte. Auch Kedar hatte es entdeckt, und sein Blick bekam etwas Triumphierendes. Curranns kaum unterdrückte Wut brach sich wieder Bahn, als er das sah. Er stellte sich zwischen sie, schützte Siri mit seinem breiten Rücken vor den hämischen Blicken. »Tut, was Ihr wollt. Siri und der Kleine unterstehen unserem Schutz, und wir werden sie auch versorgen. Und ihre Familie gleich mit!« ›Und im Frühjahr, da werden wir dafür sorgen, dass Ihr die längste Zeit Siedlungsvorsteher gewesen seid!‹, fügte er in Gedanken hinzu, während er Ouray beobachtete. Dieser hatte die Stirn gerunzelt ob seiner Behauptung. Currann ahnte, dass er rechnete, und er war mehr als erleichtert, als Ouray ihm schließlich kurz zunickte. Es würde schon reichen.

In Kedars Augen erschien ein bösartiges Glitzern. »Oh ja, tut das. Dann kann sie es Euch gleich mit dem Dienst als Hure vergelten!«

Alle zuckten zusammen. Für Siri war es zu viel. Ihre Knie knickten ein, sodass nicht nur Nuria, sondern auch Currann zupacken musste, damit sie nicht in den Schnee schlug. Im gleichen Moment trat Tamas dem Ortsvorsteher die Beine weg, sodass dieser schmerzhaft auf seinem Hinterteil landete. Als er aufsah, hatte er eine Schwertspitze vor seinem Gesicht. Sein Sohn stürzte vorwärts, um ihm zu helfen. Blitzschnell fing Ouray ihn ab und drängte ihn zurück in Richtung der Menge.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, rief Tamas über die Schulter, ohne Kedar einen Moment aus den Augen zu lassen.

Currann presste seine freie Faust an die Stirn, so sehr musste er sich beherrschen, um nicht gleich jemanden umzubringen. Seine andere Hand spürte, dass Siri eiskalt war. Natürlich, sie trug ja keinen Mantel. Sie musste schleunigst ins Warme und sich hinlegen. Er selbst war zu überhaupt zu keinem klaren Gedanken fähig. Er brauchte einen Moment Ruhe, und er ahnte, dass Kedar es auch darauf anlegte, ihn die Beherrschung verlieren zu lassen.

»Lass meinen Vater in Ruhe!« Mit geballten Fäusten, das Gesicht verzerrt vor ohnmächtiger Wut, stand Goran vor den Kameraden, wagte jedoch nicht einzugreifen.

Zum ersten Mal nahm Currann ihn überhaupt bewusst wahr. Er sah, dass Goran ständig zu Siri hinaufstarrte. In seinem Blick lag weder die Wut, die er selbst fühlte, noch die Abscheu und Häme Kedars. Nein, es war etwas anderes. Bitterkeit. ›Er fühlt sich betrogen‹, ging Currann auf. Hintergangen. Und er wollte Siri noch immer. Plötzlich ahnte Currann, dass Goran nicht unbeteiligt an dem ganzen Geschehen war. ›Du wirst sie nicht bekommen!‹. Er schoss einen derart eisigen Blick in Gorans Richtung, dass dieser hastig zur Seite blickte.

»Haltet sie dort fest. Wir sind gleich wieder da.« Er bedeutete Nuria, Siri zwischen die Häuser zu führen, außer Sicht der anderen.

»Oh, was können wir nur tun?«, flüsterte Nuria verzweifelt. Currann zog seinen Fellumhang aus und reichte ihn Nuria, damit sie ihn Siri umhängte. Er entfernte sich ein wenig von den beiden, schloss die Augen und dachte nach. Nur die geballten Fäuste verrieten seine Anspannung.

Siri beobachtete es aus den Augenwinkeln, während sie sich von Nuria in den wärmenden Umhang helfen ließ. Dann lehnte sie sich erschöpft an eine Hüttenwand. Oh ja, ihr war kalt, aber diese Kälte kam von innen. Sie betäubte alles andere, ihre Schmerzen, ihre Angst, ihre Wut. Und dennoch, sie kannte Currann gut genug, um zu wissen, dass nur noch ein Funke genügte, um ihn die Beherrschung verlieren zu lassen. Sie beschloss einzugreifen. »Wir können nichts tun. Er hat alles Recht auf seiner Seite«, sagte sie leise.

»Aber das ist unmenschlich!«, protestierte Nuria. »Du konntest doch nichts dafür, genauso wenig wie ich!«

Mit geschlossen Augen hörte Currann zu. Siri hatte recht, das wusste er, und wenn er Kedar auch am liebsten umgebracht hätte für das, was er Siri antat, so wusste er auch, dass er ihr danach niemals wieder in die Augen würde sehen können.

»Nein!«, sagte er so plötzlich, dass die beiden Frauen zusammenzuckten. Er fuhr herum. »Nein, das werden wir uns nicht gefallen lassen! Wenn Kedar auf das Recht besteht, dann werden wir das auch! Wir schlagen ihn mit seinen eigenen Mitteln.« Er baute sich vor Siri auf. Sie hob langsam den Kopf. »Nuria, würdet Ihr wohl einen Augenblick das Kind nehmen und uns allein lassen?« Siris Augen weiteten sich. Instinktiv umschloss sie ihren Sohn fester. »Siri, bitte.. du willst dir das doch nicht gefallen lassen?«

Nuria sah sprachlos zwischen den beiden hin und her. So langsam kam ihr der Verdacht, dass sie alle über lange Zeit etwas nicht mitbekommen hatten. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass alles gut werden würde. »Gib ihn mir.« Sie streckte die Hände aus und nahm Siri das Kind sanft, aber bestimmt aus den Armen. Siri hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Als es fort war, schlang sie zitternd die Arme um sich.

»Himmel, dir ist wirklich kalt!« Currann wickelte den Umhang fest um sie. »Keine Angst. Er wird nicht mehr an euch herankommen, das verspreche ich.« Er ließ seine Hände auf ihren Schultern ruhen, war fast versucht, sie aus ihrer Benommenheit zu rütteln, aber er zügelte sich. Eindringlich sah er sie an. »Siri, schau mich an!« Ihre Augen waren tränenblind, als sie es schließlich tat, und sie wehrte sich nicht dagegen, dass er ihr eine Träne auf der Wange fortwischte. »Siri, willst du, dass Kedar gewinnt? Dass ihr eure Ehre verliert und du vertrieben wirst?«

Siri schrak auf. Sie fühlte sich von diesem Blick umfangen. Die Wut, sie war noch da, sie lauerte in den schwarzen Augen, aber sie betraf nicht sie. Ihr leuchtete etwas anderes entgegen, etwas, das sie nicht einordnen konnte. Es machte ihr Angst, es rührte Erinnerungen in ihr wach, ob gute oder schlechte, das vermochte sie nicht zu sagen. Es bedrohte sie irgendwie, und deshalb drängte sie dies rasch beiseite.

Er spürte, dass sie sich mit aller Macht zusammennahm. »Niemals! Ich werde mich seinem Willen nicht beugen!« Sie war wieder in der Lage zu denken, und ihr wurde warm, als ihre Wut zurückkehrte. Vielleicht war es sein eindringlicher, zwingender Blick, der ihr half, ganz sicher aber seine Stärke, die sie hinter jeder seiner Bewegungen, hinter jedem seiner Worte spürte. »Was hast du vor?«

»Siri, es gibt einen Weg, wie wir Kedar die Stirn bieten können. Ohne dass du und dein Vater das Gesicht verliert und ihr entehrt werdet.«

Sie runzelte die Stirn. »Das ginge nur, wenn er nicht mehr Vorsteher ist, aber das werden sie..«

Currann hob die Hand. Sie verstummte. »Lass Kedar mal außen vor, um den kümmere ich mich, wenn es soweit ist. Siri..« Seine Stimme wurde leise und sein Blick fürsorglich, ja beinahe zärtlich.

Sie fühlte sich unwohl darunter. »Was?«, flüsterte sie.

»Ich kann dich schützen.« Er hob die Hand, wollte sie berühren, und im selben Moment begriff sie.

Sie zuckte zurück. »Oh nein, das kann ich nicht! Ich kann nicht deine Frau werden!« Sie wurde bleich, versuchte von ihm fortzukommen, doch sie war gefangen zwischen ihm und der Hüttenwand.

Currann ließ getroffen die Hand sinken und trat einen Schritt zurück. »Ja, aber warum denn nicht? Ich dachte, wir sind Freunde und..«

»Oh Currann, das ist es nicht. Ich.. ich..« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schüttelte heftig den Kopf.

Er stand mit hängenden Armen vor ihr. »Warum nicht?«

»Natürlich habe ich dich gern, aber.. aber..«

»Aber?«

»Ich kann nicht deine Frau sein! Nicht in dem Sinne.. verstehst du nicht? Du brauchst eine Frau, die hochgestellt ist, ehrbar, die dir Erben schenkt, Söhne.. das werde ich niemals können. Niemals, hörst du!« Sie weinte jetzt.

Currann hätte sie am liebsten an sich gezogen, getröstet, irgendwie ihren Schmerz fortgenommen, doch er durfte es nicht. Sie würde es nicht dulden. Es tat ihm weh zu sehen, wie sie sich quälte. »Siri, ist es das, was dich abhält? Das wird mich nicht abhalten, dich zu schützen, ganz im Gegenteil.« Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und blickte auf. Currann fühlte sich ermutigt. »Sieh mal, meine Mutter, sie war eine ehrbare Frau. Sie hat meinem Vater Söhne geschenkt, aber dennoch war ihre Ehe das Grauen. Ich will so etwas nicht selbst erleben.« Wie sehr das der Wahrheit entsprach, erkannte er selbst erst in diesem Moment. »Siri, ich will eine solche Ehe nicht. Ich will eine gleichgestellte Partnerin, eine Freundin, eine, mit der ich jeden Gedanken teilen kann. Dich will ich und keine andere! Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn ich es nicht fertigbringe, dich zu beschützen.«

Laute Rufe ließen sie herumfahren. Frauen schrien, es schallte zu ihnen in die Gasse. In Siri zog sich alles zusammen. Sie saß in der Falle.

»Siri..«

»Habe ich eine Wahl?«

Das klang so geschlagen, dass Currann sie am liebsten geschüttelt hätte. »Oh doch, die hast du.« Er stockte, weil sie krampfhaft die Augen schloss. »Wenn du willst, dann verspreche ich dir, dich nicht anzurühren.«

»Das sagst du jetzt!«, flüsterte sie. Eine plötzliche Bewegung ließ sie die Augen wieder aufreißen. Currann kniete vor ihr im Schnee. »Oh nein, tu das nicht!« Sie wusste, dass sie verloren hatte, wenn er das tat.

»Ich will dich nicht zwingen, ich will deine Freundschaft, und dafür biete ich dir meinen Schutz. Siri, bitte!«, flehte er. Es vernichtete ihre letzten Reserven. Sie schlug die Hände vors Gesicht, so nahe war er ihr plötzlich.

»Althan! Kommt schnell!« Plötzlich stand Nuria in der Gasse.

Currann sprang auf. »Siri, was sagst du? Bitte..«, flüsterte er eindringlich.

Siri wandte den Kopf in Nurias Richtung, sah die Angst in ihrem Gesicht, sah auf den Kleinen in ihrem Arm und nickte ergeben. »Also gut«, sagte sie tonlos, richtete sich auf und ging Nuria entgegen. Sie sah ihn nicht mehr an, während sie ihr Kind an sich nahm.

Currann starrte ihr hinterher. Warum kam er sich auf einmal vor wie ein mieser Schuft? Er verdrängte den Gedanken, denn jetzt hörte er Gebrüll. Schleunigst kehrte er zu den anderen zurück, während Nuria ihm mit Siri langsamer folgte. Als er um die Ecke kam, sah er gerade noch, wie Kiral Tamas von dem Siedlungsvorsteher fortzerrte, während dieser von Yemon mit dem Schwert zurückgehalten wurde.

»Lass mich los!«, brüllte Tamas.

»Ruhe!« Currann brauchte nicht die Stimme zu heben. Ihr Erscheinen genügte. Alle wandten sich zu ihnen um.

»Oh nein, was hat er mit Mari gemacht?«, flüsterte Siri, die zu ihm aufgeschlossen war. Goran kniete im Schnee und hielt seine bewusstlose Schwester in den Armen. Currann ahnte, dass Kedar sich auf Mari gestürzt hatte und dass Tamas sich nicht hatte beherrschen können. Besser sie sorgten dafür, dass schleunigst etwas anderes geschah, sonst wusste Kedar sofort bescheid. Wenn es dafür nicht schon zu spät war. Er wechselte einen fragenden Blick mit Siri, und sie nickte ergeben. Currann atmete tief durch. »Treibt sie in den Tempel, allesamt, und haltet sie dort fest! Ouray, sieh nach Siris Familie und Vater Peadar. Bitte sie dorthin.«

Er sah Kiral die Augen zusammenkneifen. Tamas stellte alle Gegenwehr ein. Sinan sah schnell zwischen ihm und Siri hin und her und begriff. Er starrte Currann offenen Mundes an. Currann nickte ihm zu. Sinan schluckte. »Also los, ihr habt ihn gehört!«

Die Bewohner wichen mit erschrockenen Ausrufen zurück, als die Kameraden mit gezückten Schwertern ausschwärmten. Tamas kümmerte sich höchstpersönlich um Kedar, stieß ihn grob vorwärts, fort von dessen Sohn und Tochter. Der Einzige, der zurückblieb, war Goran, der Mari gerade half, sich aufzusetzen, doch Currann wollte ihn nicht in Siris Nähe dulden. »Ihn auch!«, nickte er Kiral zu. Augenblicklich wurde Goran gepackt und von seiner Schwester fortgezerrt.

Im selben Moment kamen Nurias Mann Evan und der Schmied Yorran schwer atmend zwischen den Häusern hervor. Evans Atem rasselte regelrecht, wie sooft in letzter Zeit. Er ging sofort zu seiner Frau und stellte sich schützend neben sie. »Es tut mir leid«, sagte er an Siri gewandt. »Wir waren in der Schmiede und haben es zu spät mitbekommen.« Sie brachte keinen Ton heraus. »Siri, geht es dir gut?«

»Natürlich nicht, so kurz nach der Geburt«, rügte Nuria und nahm Siri beim Arm. »Komm, ich bringe dich schnellstens in Warme und dann..«

»Nein!« Siri machte sich los. »Nein, wir haben noch etwas zu erledigen. Jetzt gleich.« Hoch erhobenen Hauptes ließ sie alle stehen. Sie ging zu Mari, half ihr mit ihrer freien Hand auf und umarmte sie. Zitternd hielt sich das Mädchen an ihr fest.

Currann sah ihr betroffen hinterher. Er seufzte und holte tief Luft. »Gehen wir.«

Siris Vater Strahan und ihre Tante Karya kamen ihnen schon auf dem Tempelplatz entgegen. Etwas weiter hinten folgte Vater Peadar, der sich humpelnd auf Ouray stützte. Strahan hatte ein blaues Auge, das langsam zu schwoll. »Siri, Mari, bei allen Heiligen!« Karya stürzte zu ihren Mädchen. »Was hat er mit euch gemacht?!« Sie nahm besorgt die Verletzungen ihrer Tochter in Augenschein. »Hat er dich geschlagen, Mari?«

»Ist nicht schlimm, Mutter.« Mari ließ sich mit geschlossenen Augen in ihre Arme ziehen. Siri stand regungslos daneben. Sie reagierte nicht auf die besorgten Ausrufe ihres Vaters, wiegte nur ihr Kind.

»Wo sind sie nur alle hin?«, keuchte Peadar, als er es endlich zu ihnen geschafft hatte.

Currann überflog die Gruppe mit finsterem Blick. »In den Tempel«, erwiderte er knapp. »Was hat Kedar mit Euch gemacht?«

»Nicht nur Kedar, sondern auch mein Sohn. Sie haben uns von Siri getrennt und uns im Haus eingesperrt«, antwortete Karya bitter und bestätigte damit Curranns Verdacht.

Ihr Tonfall ließ Siri wieder zu sich kommen. Sie straffte sich. »Vater Peadar, würdet Ihr uns wohl einen Moment in Eurem Bekenntnisraum gewähren?«

Die drei starrten sie verwundert an. »Ja, aber warum..?«, brachte Strahan endlich hervor.

»Bitte«, sagte Currann und deutete zum Tempel.

»Was habt Ihr vor?!«, rief Karya.

»Das werdet Ihr gleich erfahren.« Er wartete, bis Siri nickte. Sie ging voraus, ohne eine weitere Antwort seitens des Mönches abzuwarten, und Currann folgte ihr. Den anderen blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen.

»Nuria, was soll das?«, zischte Karya ihr zu, unhörbar für die beiden.

»Keine Sorge. Lass sie nur machen«, beruhigte Nuria sie und unterdrückte ein Lächeln.

Im Tempel schallte ihnen aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Die von Kedar war am lautesten. Er beschimpfte die Kameraden, allen voran Kiral, die sich mit gezückten Schwertern im Raum verteilt hatten.

»Ruhe!«, donnerte Peadar, der dicht hinter Siri und Currann eintrat. Alle fuhren zu ihm herum. »In meinem Tempel hält nur einer Predigten, und das bin ich. Schweigt still, zurück mit Euch! Haltet Frieden. Und steckt sofort die Schwerter fort!« Er war äußerst erbost über ihr aller Verhalten. Die Leute verstummten betreten und taten, was er sagte, die Kameraden jedoch warteten auf das Nicken ihres Kommandanten.

Currann hielt sich dicht neben Siri, spürte er doch, wie sie sich unter den Blicken der Menschen zusammenkrümmte. Sie sah starr geradeaus, sodass sie gar nicht merkte, dass Entsetzen, gepaart mit Mitgefühl, in den meisten Augen zu sehen war. Selbst Goran sah sie nicht mehr so finster an. Currann beobachtete ihn verwundert, er wusste immer weniger, was er davon halten sollte. In Gorans Augen stand ein Ausdruck, als wäre er tief getroffen.

»Wollen wir?« Peadar sah sich zu ihm um.

»Ja, gehen wir«, nickte Currann und wandte sich an Strahan. »Darf ich Euch bitten, mit uns zu kommen?« Die Leute sahen nicht minder erstaunt drein wie der Schulmeister. Was hatte der Kommandant vor? Er nickte vorsichtig.

Siri hatte unterdessen, ohne es zu wollen, Kedar angeblickt. Hass stand in seinen Augen. Es machte sie vollends rebellisch, und sie fasste einen Entschluss. »Mari«, sie wandte sich zu ihrer Cousine um, »würdest du mein Kind halten? Bis ich wieder da bin?«

»Fass das Scheusal ja nicht an!« Kedar war vorgesprungen und wollte zu ihr, doch eine Hand packte ihn an der Schulter und drängte ihn zurück in die Menge.

»Vater Peadar sagte, gebt Ruhe«, grollte Kiral. Er wandte sich verächtlich ab und ging schnurstracks zu den Frauen hinüber. Mit verschränkten Armen pflanzte er sich hinter ihnen auf. Die Kameraden folgten seinem Beispiel und bildeten einen schützenden Ring um sie.

»Wir passen auf den Kleinen auf, hab keine Angst«, sagte Karya. Sie sah wohl, wie schwer es Siri fiel, ihr Kind zurückzulassen.

»Ich danke euch«, flüsterte Siri und ließ sich von dem Mönch die Gasse hinunterführen, welche die ungläubig dreinschauenden Bewohner ihnen freimachten. Currann folgte mit Strahan. Er behielt Kedar genau im Auge, besonders, als sie sich dicht an ihm vorbeibewegen mussten. Plötzlich beugte sich sein Sohn zu ihm herüber und flüsterte ihm etwas zu. Kedar riss die Augen auf. Sein Gesicht wurde rot, und er holte Luft, um etwas zu rufen.

»Nein, Ihr gebt jetzt Ruhe! Zurück mit Euch!«, donnerte der Mönch. Der Vorsteher klappte seinen Mund zu, und Currann beeilte sich, Siri sicher an ihm vorbeizubringen.

Siri sank auf einen der Stühle, kaum dass die Tür hinter ihnen zugefallen war. »Siri, mein Kind..« Ihr Vater umarmte sie. Sie ließ es erschöpft über sich ergehen, erwiderte es jedoch nicht. Currann lehnte sich an die geschlossene Tür. Seine Wut war so plötzlich verraucht, wie sie hierhergelangt waren. Was hatte er da eigentlich vor? Noch dazu gehen ihren Willen? Und auf immer und ewig? Schmerzhaft kehrte er auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie wollte das alles nicht! Was sollte er tun? Er brauchte einen Moment, um in sich zu gehen, und verharrte mit geschlossenen Augen.

»Althan, was habt Ihr?«, fragte Peadar besorgt.

Sobald Currann die Augen öffnete, fand er Siris von ganz allein. Es war, als erhielte er einen Faustschlag in den Magen, so gebeugt, wie sie dort saß. Wie konnte er nur zweifeln? Ihre Sicherheit stand an erster Stelle. Er wollte sie vor ihren gewalttätigen Verwandten schützen, körperlich wie geistig, koste es, was es wolle. Es blieb keine Alternative. Warum hatte er dann so ein schlechtes Gewissen? Sie schien es zu bestätigen, so mutlos und geschlagen, wie sie ihn von der Seite ansah. »Willst du immer noch?«, fragte er. Er brauchte ihre Zusicherung, so unsicher war er sich mit einem Mal.

Siri atmete schwer. »Mir bleibt keine Wahl, das weißt du.« Sie streckte ganz langsam die Hand nach ihm aus. Currann löste sich von der Tür und ergriff sie vorsichtig. Es war das erste Mal hier in Branndar, dass er ihre bloße Hand bewusst berührte. Unglaublich schmal und eiskalt fühlte sie sich an, und sie war rau von der vielen Arbeit. Gleichzeitig jedoch verhieß sie eine ganz eigene Kraft, die ihn wie magisch anzog. Er wollte sie nicht mehr loslassen, bis sie im Fort und in Sicherheit war.

»Was soll das heißen?!?« Strahan starrte ungläubig zwischen ihnen hin und her. »Ihr beide..«

»Ihr habt euch den ganzen Winter über getroffen, nicht wahr?« Ein Funkeln war in Peadars Augen getreten. Sie nickten schweigend. Currann war fast geneigt zu glauben, er amüsiere sich, doch er tat den Gedanken als Hirngespinst ab. Nicht in dieser Lage. Oder etwa doch?

»Peadar, wovon redet Ihr?« Verwirrt blickte Strahan um sich.

»Es ist wahr, Vater«, sagte Siri. Sie nickte Peadar zu. »Ihr beobachtetet nachts manchmal die Sterne vom Turm des Tempels. Ich habe Euch gesehen und Ihr uns auch, ist es nicht so?«

»Aber.. aber..« Dem Schulmeister hatte es völlig die Sprache verschlagen.

»Tut mir leid, Vater.« Siris Hand klammerte sich an Curranns.

»Ich kenne Eure Tochter schon sehr lange und sie mich.«

»Das.. das glaube ich einfach nicht!« Strahan war aufgesprungen. Er wirkte zornig. Und enttäuscht. »Da versuchen wir, dich zu verbergen, und du bringst dich leichtsinnig in Gefahr, weil du dich mit diesem.. diesem..«

»Diesem was?«, fragte Currann gefährlich leise.

»Strahan, bitte, setzt Euch und hört die beiden an«, versuchte Peadar zu beschwichtigen.

»Ihr habt sie in Gefahr gebracht! Warum hast du mir nichts gesagt? Sirial! Warum nicht?« Strahan setzte sich schwer auf seinen Stuhl und rieb sich über das Gesicht.

»Vater, bitte!« Plötzlich liefen ihr die Tränen herunter. »Ich war bestimmt nicht in Gefahr.«

»Wir haben sie vom Fort aus beschützt.«

»Wir sind Freunde, Vater. Ich brauchte jemanden, mit dem ich reden konnte. Immer nur eingesperrt zu sein und nicht zu wissen, warum sie hier sind, nicht zu wissen, was geschehen war, das habe ich nicht ausgehalten.« Sie ließ Curranns Hand los, sprang auf und kniete sich vor ihren Vater. Sie nahm seine beiden Hände zwischen ihre. »Bitte, sei mir nicht böse. Ich hatte das Gefühl, ich werde noch wahnsinnig.«

»So ging es mir auch«, fuhr Currann rasch fort, bevor Strahan weiter protestieren konnte. »Wir wussten die ganze Zeit, dass es eine Lüge von Euch war zu behaupten, Siri sei in Nador. Wir haben sie gehört. Kiral vor allem. Und nach dem ersten Angriff ist sie dann zu mir gekommen.«

»Es hat mir gut getan, Vater, du ahnst gar nicht, wie gut.«

Strahan schloss einen kurzen Moment die Augen. Schließlich seufzte er. »Ich hätte es wissen müssen. Du hast ja schon in Gilda deine eigene Entscheidung getroffen, warum sollte es hier anders sein? Hab Nachsicht mit deinem alten Vater. Es fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen, dass du erwachsen geworden bist.« Sanft wischte er ihr die Tränen ab. Siri schmiegte ihre Wange an seine Hände.

»Ihr habt uns doch aus einem bestimmten Grund hergebeten, nicht wahr?«, fragte Peadar.

Siri richtete sich abrupt auf. Strahan zuckte zusammen. »Was hast du vor, Kind?« Er warf Currann einen misstrauischen Seitenblick zu.

»Ich glaube, dass die beiden sich zu einem Entschluss durchgerungen haben, Strahan. Nun, dann, erzählt uns, was ihr euch ausgedacht habt.« Der Mönch wies auffordernd auf die Stühle.

Siri ging zurück an Curranns Seite, doch seine Hand nahm sie nicht mehr, und sie blieben beide stehen, zu aufgewühlt waren sie. Siri blickte zu Boden, sodass es an Currann war, zu beginnen. »Ich.. nun..« Himmel, er stotterte ja. Prompt schoss ihm die Röte ins Gesicht.

»Fangt am besten von vorne an«, beruhigte ihn Peadar.

Currann musste tief Luft holen. »Also gut. Ich habe Siri versprochen, ihr zu helfen, wenn so etwas wie heute geschieht. Ich habe damit gerechnet, dass Kedar ihr Kind bestimmt nicht tolerieren würde, und es hat sich als wahr herausgestellt. Nur dass..« Er runzelte die Stirn, versuchte, die richtigen Worte zu finden.

»Nur dass die Dinge weitaus komplizierter liegen, als wir es vorher ahnen konnten«, ergänzte Siri leise. Sie beschloss weiterzusprechen: »Vater, wir haben einen Weg gefunden, wie ich nicht entehrt werde. Entehrt und aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen.«

»Was.. was für einen Weg?«, fragte der Schulmeister misstrauisch. Sofort legte ihm der Mönch beruhigend die Hand auf den Arm.

Currann geriet langsam in Panik. Er musste diesen Mann jetzt um die Hand seiner Tochter bitten. Wie sollte er das machen? Siedend heiß fielen ihm all die Hindernisse ein, die ihnen im Weg standen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Er war nicht alt genug. Und dann war da noch dieses kleine Problem mit seiner Herkunft und seinem falschen Namen.

»Wir..« ›Oh Siri, hilf mir!‹, flehte er innerlich und griff ihre Hand.

Sie schien verstanden zu haben. »Vater, der beste Schutz für mich ist eine Ehe.« Sie zögerte. »Er hat mich um meine Hand gebeten«, sagte sie schließlich.

»Waas?!« Strahan machte einen Satz in die Höhe. Er riss seine Tochter von dem Fremden fort. »Ja, Siri, bist du denn wahnsinnig? Du kannst doch nicht allen Ernstes wollen, seine Frau zu werden. In deiner Lage? Mit dem, was du erlebt hast? Kind, werde doch vernünftig!« Er warf einen finsteren Blick zu Currann herüber, als hätte dieser seine Tochter verhext.

Peadar dagegen betrachtete sie nachdenklich. Warum hatte Siri gezögert, seinen Namen auszusprechen? Sein Verdacht, dass sie hier einiges noch nicht wussten, erhärtete sich. Er beschloss einzugreifen, denn Siri weinte schon wieder. »Strahan, bitte. Sie werden sich etwas dabei gedacht haben. Hört sie doch wenigstens an.« Er fand den Vorschlag sogar einleuchtend, wäre da nicht Siris Erlebnis mit den Goi gewesen.

Mittlerweile hatte sich Currann soweit wieder im Griff, dass er die ganze Sache strategisch angehen konnte. Er schob alle Gedanken an Ehe und Treue und dergleichen beiseite und dachte einfach an ein Gefecht. Es half. »Seht, Kedar hat Euch in der Hand. Er kann dafür sorgen, dass Ihr von der Verteilung der Essensrationen ausgeschlossen werdet. Sicherlich, wir und andere würden Euch versorgen, das ist es nicht. Ich habe es Siri versprochen. Aber Euer Ruf und die Ehre Siris wären unweigerlich dahin. Ihr müsstet fort von hier. Und wer weiß, wo Ihr jemals wieder eine Anstellung fändet. Wenn Siri aber meine Frau wird und ich ihr Kind als das meine annehme, dann hat Kedar keine Macht mehr über sie. Und damit nicht über Euch.«

»Es ist die einzige Möglichkeit, Vater«, flüsterte Siri, die Stirn an seiner Schulter.

Er schloss sie schützend in die Arme. »Ich muss gestehen, das Ganze entbehrt nicht einer gewissen Logik. Aber Siri, es geht hier um dich. Nicht meine Ehre, nicht meine Zukunft, sondern allein um dich. Ich mache mir Sorgen. Bist du wirklich sicher, dass du das willst? Die Bewohner werden uns doch nicht im Stich lassen!«

»Das weißt du nicht. Bisher haben sie es nicht gewagt, Kedar wirklich die Stirn zu bieten, zumindest nicht direkt. Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen. Bitte, Vater! Ich will Schutz für mein Kind und für mich. Er kann mir das geben. Ja, ich will es. Ich muss.«

Currann fiel polternd ein Stein vom Herzen. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Nur, dass ihr keine Wahl blieb. »Darf.. darf ich Euch also um die Hand Eurer Tochter bitten?«

»Könnt Ihr das denn?«, fragte Peadar dazwischen. Er hatte beschlossen, dass es Zeit war, ein paar Wahrheiten einzufordern.

»Ja, wie alt seid Ihr eigentlich?«, fiel nun auch Strahan ein.

Siri machte sich von ihm los. »Aber Vater..«

»Nein, Kind, das ist wichtig. Ihr könnt nicht heiraten, wenn er nicht großjährig ist, denn dann bräuchte er die Zustimmung seiner Eltern. Seid Ihr großjährig?«

Siris Kopf fuhr in Curranns Richtung. Angst stand in ihren Augen. Er streckte die Hand nach ihr aus, sah sie so ruhig, wie er konnte, an, obwohl er innerlich fluchte. Das war eine der Schwierigkeiten, die er hatte. »Nein, ich bin es nicht«, erwiderte er, sobald er Siris Hand in seiner spürte. Er legte sie vorsichtig in seine Armbeuge, so wie damals in Gilda.

»Wie alt seid Ihr?«, fragte Peadar.

Currann kam sich langsam vor wie bei einem Verhör. Und bei Strahans Gesichtsausdruck wusste er, dass es bis zum Ende gehen würde, und er spürte, dass auch Siris dies ahnte. »Sechzehn.«

»So jung noch?!«, brach es aus Strahan hervor. »Ihr seid ja kaum erwachsen, geschweige denn großjährig! Und Ihr wollt Ehemann meiner Tochter werden und Vater meines Enkelkindes?«

»Vater, bitte..«, flehte Siri.

»Glaubt mir, ich musste sehr viel schneller erwachsen werden als die meisten anderen!«, erwiderte Currann schneidender, als er es beabsichtigt hatte.

Peadar trat ausgleichend zwischen sie. »Das haben wir alle gemerkt. Ich habe Euch auch für noch nicht großjährig gehalten, aber so jung.. das hätte ich niemals gedacht. Strahan meinte damit wohl, dass Ihr noch reichlich jung für diese Verantwortung seid. Aber dennoch müssen Eure Eltern dem hier zustimmen.«

Bei diesen Worten verkrampfte sich Siris Hand in seiner Armbeuge. Er legte seine beruhigend darüber. So ruhig er konnte, antwortete er: »Meine Eltern sind nicht.. in der Lage, das zu tun. Ich habe die nadorianischen Rechte studiert. Ich bitte Euch um das Patronat, Vater Peadar. Ihr wisst, dass ich dies tun kann, sodass Ihr an meines Vaters statt zustimmen könnt.«

»Ich sehe schon, Ihr bereitet Euch vor«, nickte der Mönch, nicht im Mindesten erstaunt.

Currann hob abwehrend die Hand. »Ich habe es nur nebenbei gelesen. Niemals hätte ich gedacht, dass ich das einmal brauchen würde. Wirklich nicht«, fügte er bekräftigend in Richtung des Schulmeisters hinzu, der ihn in steigendem Misstrauen ansah.

»Der Brautvater muss diesem natürlich zustimmen, das wisst Ihr. Strahan?« So langsam wurde sich Peadar der drängenden Zeit bewusst. Die Leute wurden sicherlich schon unruhig, und an Kedar mochte er nicht einmal denken.

»Siri..«

»Bitte, Vater..«

»Also gut.« Strahan sah, dass Althan kurz davor war, erleichtert die Augen zu schließen, und es gerade noch unterdrückte. Oh nein, so leicht wollte er es dem jungen Mann nicht machen. »Aber ich stelle drei Bedingungen.«

»Bedingungen?« Currann wurde heiß und kalt zugleich.

Siris Hand begann zu zittern. »Vater, bitte nicht!«

»Oh doch, das muss ich. Schließlich bin ich dein Vater. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ihr zwei dies nicht tut, um es Kedar mit gleicher Münze heimzuzahlen.«

»Dem entbehrt nicht eine gewisse Logik«, stimmte Peadar zu.

»Daher verlange ich diese drei Bedingungen. Die Erste hat meine Tochter bereits erfüllt. Sie muss es wollen.«

»Ja, das tue ich. Aber Vater..«

»Nein, sei still!« Strahan redete sich langsam in Rage. Er fühlte sich übergangen und von den Ereignissen überrollt. Dies war etwas, was er wie fast jeder Mensch auf den Tod nicht leiden konnte. Mit schneidender Stimme fuhr er fort: »Die zweite Bedingung ist, dass Ihr sie nicht zwingt, diese Ehe zu vollziehen.« Peadar zog scharf die Luft ein. Strahan fuhr zu ihm herum. »Dies ist der Bekenntnisraum, mein Freund. Nichts, was wir hier sagen, wird nach außen dringen. Daher spreche ich offen.«

Verblüfft starrte Currann ihn an. So hatte er den sanften, manchmal etwas kauzigen Schulmeister noch nie erlebt. Ihm ging auf, von wem Siri ihre manchmal sehr scharfe Zunge geerbt hatte. Bisher hatte er vermutet, es wäre allein Karya, doch nun.. der Schulmeister stieg noch weiter in seiner Achtung. »Das Versprechen kann ich Euch geben. Ich habe es Siri bereits geschworen, als ich sie um ihre Hand gebeten habe. Ich schwöre auf das rote Buch, wenn Ihr wollt.«

»Ja, bitte. Jetzt gleich«, nickte Strahan, nicht gewillt, ihm auch nur den Hauch einer Gelegenheit zu geben, diesem Versprechen zu entkommen. Peadar sah kurz von einem zum anderen und stand dann auf, um es zu holen.

Currann zögerte nicht. Er legte seine Hand darauf. »Ich schwöre bei unserem Einen Herrn, dass ich Siri nicht zwingen werde, die Ehe mit mir zu vollziehen.. es sei denn, sie will es«, fügte er schnell hinzu, bevor Peadar das rote Buch fortziehen konnte. Er wagte nicht, Siri anzublicken.

»Nun denn..« Der Mönch blickte unruhig von einem zum anderen. Strahan schien gewillt zu sein, den Schwur nicht anzuerkennen, doch schließlich nickte er. »Ich erkenne den Schwur an, auch wenn mir diese kleine Abwandlung überhaupt nicht gefällt. Gebt Euch bloß keinen Illusionen hin!«

»Nichts liegt mir ferner«, erwiderte Currann und wagte einen vorsichtigen Blick auf Siri. Sie hatte die Lippen zusammengepresst. Wieder meldete sich das schlechte Gewissen. Warum nur? Er wusste es nicht und konnte es jetzt nicht ergründen, denn Strahan fixierte ihn mit einem derartigen Blick, dass er sofort alarmiert war.

»Meine dritte Bedingung ist, dass ich wissen will, wen meine Tochter zum Mann nimmt.«

»Nein!« Siri schrak auf. »Vater, das darfst du nicht!«

»Warum nicht? Erkläre mir, warum! Warum darf ich nicht wissen, in welche Familie mein Mädchen einheiratet, ob sie den Sohn eines Bauern, eines Hirten, eines Kaufmannes, eines Soldaten oder eines Adeligen heiratet? Oder gar einen Verbrecher, wie mein geschätzter Herr Schwager vermutet?«

»Vater, bitte!«, rief Siri gequält aus.

»Warum nennst du ihn in unserer Gegenwart nicht bei seinem Namen?«, drängte Strahan weiter. Siri schüttelte abwehrend den Kopf.

»Weil Althan nicht Euer richtiger Name ist, ist es nicht so?«, fiel der Mönch ein.

»Dann weißt du seinen Namen, Siri? Du weißt, wer er ist? Sirial, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«

»Vater, bitte..« Sie konnte es nicht, sondern barg ihr Gesicht in den Händen.

Currann ging dazwischen: »Hört auf, sofort! Siri hat mit der ganzen Sache nichts zu tun. Quält sie nicht! Sie ist gänzlich unbeteiligt an den Ereignissen, die uns hergeführt haben. Sie hat mir lediglich versprochen, Stillschweigen zu bewahren.«

»Beim heiligen Urian, Ihr habt wirklich etwas mit dem Tod der Königskinder zu tun!« Peadar wich entsetzt zurück.

»Oh ja..«, setzte Currann an, doch Strahan rief dazwischen: »Ihr könnt nicht allen Ernstes von mir verlangen, dass ich Euch meine Tochter gebe! Einem..«

»Einem was?«, grollte Currann. Das war schon das zweite Mal, dass der Schulmeister ihn mit einem Schimpfnamen belegen wollte. Er richtete sich drohend auf, nicht gewillt, sich das bieten zu lassen.

»Bitte, nicht so laut!«, kam es erstickt von Siri. Sofort nahmen sich alle zusammen. »Sag es ihnen. Bitte!«, flehte sie Currann an. Er erkannte, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Es führte kein Weg daran vorbei.

Er holte tief Luft und maß beide Männer mit einem Blick, der sie erstarrten ließ. »Ich stelle Euch hiermit unter den Schweigeschwur. Kein Wort wird diesen Raum verlassen, weder von Euch, Vater Peadar, noch von Euch, Strahan. Wir werden nicht zögern, jeden zu töten, der uns verrät. Das meine ich ernst, und Ihr werdet auch gleich erfahren, warum.« Currann hatte sich, ohne es zu merken, von Siri entfernt und vor den beiden Männern aufgebaut. Sie wichen vor ihm zurück, aber nur solange, bis Currann zu sprechen begann.

»Die Königskinder sind nicht tot. Sie wurden in Sicherheit gebracht. Jemand hat versucht, die Königsfamilie auszulöschen.«

»Was sagt Ihr da?« Peadar rutschte das rote Buch aus den Händen. Es fiel mit einem lauten Knall zu Boden. Er starrte Currann fassungslos an.

»Es ist wahr.«

Strahan mochte ihm nicht glauben, obwohl sein Bruder in seinem Brief bereits so etwas angedeutet hatte. »Was habt Ihr mit der ganzen Sache zu tun?«

Currann wandte den Kopf in seine Richtung. »Wir haben ihre Flucht gedeckt. Ihre Verfolger stammten aus den Reihen des Einen Tempels, und wir haben sie besiegt. Deshalb suchen sie nach uns.« Die beiden Männer wechselten einen schnellen Blick. Wieder hatte Currann das Gefühl, dass auch sie einiges zu verbergen hatten. »Ich sehe, das überrascht Euch nicht«, beschloss er, offen zu sein.

»Nun ja..«

»Ihr werdet mir alles berichten, was Ihr darüber wisst«, unterbrach Currann sie bestimmt.

»Das geht doch etwas zu weit, junger Mann! Wer denkt Ihr eigentlich, wer Ihr seid?«, rief Strahan.

»Ich bin Soldat«, entgegnete Currann schneidend, »und meine Kameraden haben einen Eid geschworen. Sie werden alles tun, um die Königskinder weiter zu beschützen.« Plötzlich spürte er Siris raue schmale Hand in seiner. Sie sah zu ihm auf, ihr Blick war ernst. ›Nun sag es ihnen schon‹, schien sie zu drängen.

»Und Ihr, Ihr habt keinen Eid geschworen?« Die Fragen von Strahan wurden immer schärfer.

»Nein, das habe ich nicht. Ich brauchte es nicht.«

»Ihr brauchtet es nicht?! Ja, warum das denn nicht? Habt Ihr es nicht nötig oder..«

Currann hörte nicht weiter zu. Eine Bewegung lenkte ihn ab. Der Mönch war plötzlich bis an die Wand zurückgewichen. Sein Gesicht war bleich wie ein Leintuch, seine Augen geweitet, und ihm standen förmlich die wenigen verbliebenen Haare zu Berge. Currann nickte knapp. Peadar hatte die Wahrheit lange vor dem Schulmeister erkannt, der sich immer weiter in Rage redete. Ihm entfuhr ein erstickter Laut. »Der Himmel stehe uns bei!«

»Peadar, geht es Euch gut?« Strahan unterbrach seinen Redeschwall, um seinem Freund zu helfen. Dieser holte keuchend Luft. Er brachte keinen Ton heraus. »Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen.«

»D..das habe ich auch«, keuchte Peadar und rutschte an der Wand nach unten. Strahan war nun gänzlich verwirrt. Fragend drehte er sich zu seiner Tochter um.

»Currann, nun sag es ihm endlich«, flehte Siri.

Wie von einer Nadel gestochen fuhr Strahan auf. »Wie.. wie hast du ihn da gerade genannt?!«

»Sie haben den Eid mir geschworen, Strahan. Ich bin Currann. Und den Rest wisst Ihr.«

Strahan sagte nichts mehr. Er konnte nur noch starren. Dann verdrehte er die Augen und sank in sich zusammen. »Vater!« Siri schrie auf.

»Hol Karya!« Currann drehte den Schulmeister auf den Rücken. Siri riss die Tür auf und rief sie.

Das brachte den Mönch wieder zu sich. »Armer Strahan.« Er half ihm.

»Es tut mir leid. Ich wollte Euch gewiss nicht erschrecken, aber Ihr seht, wir hatten unsere Gründe zu schweigen«, flüsterte Currann eindringlich, denn hinter sich hörte er die erschrockenen Ausrufe der Leute und sah Karya mit wehenden Röcken den Gang heruntereilen. Er packte den Mönch am Arm. »Habe ich Euer Wort?«

»Selbstverständlich.. Hoheit.« Plötzlich schien Peadar vor unterdrückter Heiterkeit zu vibrieren. Er gluckste in sich hinein: »›Und da werden Bauern zu Königen und Könige zu Bauern, wenn das Ende der Welt naht und der Eine Herr Gericht hält über alle Sterblichen..‹ Heißt es nicht so im roten Buch?«

Currann überlief es kalt. »Was sagt Ihr da? Scherzt nicht darüber, Ihr wisst nicht, was geschehen ist.«

Peadars Heiterkeit verflog augenblicklich. Das Gesicht des jungen Mannes hatte sich zu einem Ausdruck verfinstert, der ihm einen kalten Schauder über den Rücken jagte. Er hatte da an etwas gerührt, das er nicht deuten konnte. So gleichmütig wie möglich sagte er: »Verzeiht mir, das war äußerst taktlos. Ah, Karya, kommt und helft uns! Euer Bruder hat wohl doch etwas mehr abbekommen, als wir dachten.« Siri schloss augenblicklich die Tür hinter ihnen und sperrte die Blicke der übrigen Bewohner aus.

»Du meine Güte, Strahan!« Karya wollte ihn untersuchen, doch da rührte sich der Schulmeister schon wieder.

Er setzte sich stöhnend auf. »Was.. was ist geschehen?« Er sah verwirrt um sich. Dann fiel sein Blick auf seine Tochter und den jungen Mann neben ihr. Ihm entfuhr ein Laut des Schreckens, und er zuckte zurück. Keuchend schüttelte er den Kopf.

»Vater, bitte..« Siri kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. Eindringlich sah sie ihn an. ›Verrate bloß nichts‹, flehte sie innerlich, laut sagte sie jedoch: »Was ist so schlimm daran?«

»Ich.. das..«

»Strahan, was geht hier vor?« Karya sah verständnislos von einem zum anderen.

»Althan hat um Siris Hand gebeten«, klärte Peadar sie auf, seinen Namen nachdrücklich betonend. Er half ihr, Strahan zu stützen, der keine Luft mehr zu bekommen schien.

Karya dagegen war nicht im Mindesten erstaunt. »Nuria hat so etwas schon geahnt. Ich halte es für klug, Kleines. Ihr seid doch Freunde, oder?«

»Ja, das sind wir.« Currann trat zu Siri, wagte sie aber nicht zu berühren. Sie sah ihn nicht an. »Es war für Strahan wohl etwas zu viel auf einmal.«

Strahan setzte zum Protest an, doch Karya schnitt ihm das Wort ab: »Vater Peadar, ein Schluck Eures kostbaren Weines wäre nicht schlecht, damit mein Bruder wieder zur Besinnung kommt. Hörst du, Strahan? Du willst doch nicht etwa ablehnen? Dies ist das Beste, was Siri passieren kann!«

»Ha, das Beste!«, keuchte Strahan, bekam einen Becher an die Lippen gesetzt und wurde gezwungen zu trinken. Er verschluckte sich, hustete, und dann war sein Blick plötzlich wieder klar. Er starrte Currann an, als hätte der sich soeben wirklich in einen Geist verwandelt.

»Es tut mir leid, Strahan. Ich wollte Euch gewiss nicht erschrecken, doch die Dinge sind nun einmal, wie sie sind. Bekomme ich nun Eure Erlaubnis, Siri zur Frau zu nehmen?«

Lange Zeit herrschte Stille. Niemand sagte etwas. Schließlich richtete sich Strahan auf. Er rieb sich über das Gesicht, warf Currann einen forschenden Blick zu, schüttelte immer noch ungläubig den Kopf. Karya stieß ihn an. »Nun mach schon, Bruder!«

»Wie.. wie könnte ich ablehnen? Das bringt sie in Sicherheit. Aber dann..« Er sann kurz über etwas nach und nickte schließlich. »Dann möchte ich aber auch, dass mein Enkel gleich getauft wird und Ihr nicht, wie bei den anderen Kindern, bis zur großen Versammlung im Frühjahr wartet. Damit es keinerlei Zweifel daran gibt, dass er bleiben wird.«

Currann nickte. »Einverstanden. Karya, würdet Ihr wohl Mari und den Kleinen nach vorne holen? Passt aber auf, dass Kedar nicht an ihn herankommt.«

»Natürlich. Eure Kameraden weichen uns nicht von der Seite. Komm, Strahan, steh auf. Das sollen sie nicht sehen.« Sie half ihrem Bruder auf den nächsten Stuhl und eilte hinaus.

Peadar hob unterdessen das rote Buch auf. Auch wenn er noch völlig fassungslos war, er ging das Ganze pragmatisch an und beschloss zu handeln. »Siri, hast du schon einen Namen für dein Kind?«

Sie atmete schwer aus. Jetzt war es wirklich soweit. Ein ganz kleiner Teil von ihr hatte immer noch gehofft, dass ihr Vater ablehnen würde. Das war reines Wunschdenken, und ihr Verstand sagte ihr, dass es so gewiss besser war, doch sie hatte Angst. Angst davor, ihr Zuhause aufzugeben, in eine fremde Umgebung zu gehen, mit Currann und seinen Kameraden allein zu sein.. »Ich.. wenn du nichts dagegen hast«, sie sah ihn kurz an, dann floh ihr Blick wieder zu Boden, »dann soll er Nathan heißen. Das bedeutet ›Geschenk Gottes‹.«

Currann zog die Augenbrauen hoch. Wenn das keine deutliche Aussage an Kedar war! »Der Name passt. Ich finde ihn sehr schön«, sagte er leise und hoffte, sie dadurch etwas zu ermutigen, doch sie blickte ihn nicht an.

»Es gibt da noch eine Frage zu klären, wenn Ihr erlaubt«, sagte Peadar, der sich über das rote Buch beugte und die letzten Seiten aufschlug. Dort wurden alle Geburten, Eheschließungen und Sterbefälle der Siedlung verzeichnet. »Wollt Ihr Siris Sohn als Ziehsohn annehmen oder gänzlich adoptieren?«

»Ja, ist denn das nicht dasselbe?«, fragte Siri verwirrt und setzte sich.

Currann tat es ihr nach. »Nein, ist es nicht. Wenn ich ihn adoptiere, wird er erbberechtigt. Die Vorform davon ist ein Ziehsohn. Was denkst du?« Das wollte er nicht allein entscheiden. Schließlich ging es hier um die Zukunft ihres Kindes.

Für Siri war es keine Frage: »Ich würde mich nicht wohlfühlen, wenn er etwas mit der Thronfolge zu tun hätte. Das würde danach aussehen, als hätten wir uns etwas erschlichen. Nein, bitte nimm ihn nur an, aber behandle ihn wie dein eigenes Kind. Willst du das tun?«

Currann schluckte. Er hatte überhaupt keine Ahnung, was da auf ihn zukam, doch um Siris Willen wollte er es tun. »Wenn dies dein Wunsch ist, werde ich dem entsprechen. Wir machen es so«, nickte er dem Mönch zu und hoffte, dass er mit dieser gewaltigen Aufgabe fertig werden würde.

Peadar sah sie beide ernst an. »Ich muss in diesem Buch Euren richtigen Namen vermerken, sonst ist die Eheschließung nicht gültig.«

Er wurde von Currann unterbrochen. »Aber müsst Ihr dann nicht auch im Tempel meinen richtigen Namen nennen? Und was ist, wenn dies jemand liest?«

Der Mönch lächelte leicht. »Das werde ich schon zu vermeiden wissen. Lasst mich nur machen. Bereit, meine Tochter?« Er hielt Siri die Hand hin. Sie starrte darauf und nickte schließlich kaum merklich.

Danach ging alles ganz schnell. Vor den ungläubigen, völlig erstarrt da stehenden Bewohnern wurden Currann und Siri zu Mann und Frau erklärt und ihr Sohn getauft. Currann kam es vor wie in einem Traum, einem Albtraum. Er fühlte sich wie von einem Sturm geschüttelt und mit unglaublicher Schnelligkeit gegen einen Felsen geschleudert. Und wie mochte es erst Siri ergehen? Bis auf das obligatorische ›Ja‹ hatte sie keinerlei Regung mehr gezeigt, ja, ihn nicht einmal angesehen.

Kaum dass sie es sich versahen, standen sie draußen vor dem Tempel in der kalten Wintersonne. Siri verließen nun endgültig die Kräfte. Sie begann zu schwanken. »Karya, helft mir!« Currann stützte sie, und Nuria nahm ihr schnell den Kleinen ab. »Sie muss schnellstens ins Warme und sich ausruhen. Bringt sie in die Schule.«

»Nein!« Siri hatte tatsächlich noch Kraft für einen Protest. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich will, dass es alles endgültig ist. Bringt mich bitte ins Fort. Vater, würdest du meine Sachen holen?«

»Aber Kind, das hat doch keine Eile..«

»Bitte, Vater. Keine halben Sachen mehr.«

»Strahan, nun mach schon«, drängte Karya. Sie konnte verstehen, was Siri empfand. Ihre Nichte wollte einen endgültigen Bruch, sowohl für sich als auch für die anderen, allen voran für Kedar.

»Evan wird Euch helfen«, sagte Nuria und sah ihren Mann auffordernd an. Dieser nahm den Schulmeister einfach mit sich, ohne auf dessen Proteste zu achten.

Die Kameraden sahen sprachlos zu. Auch sie waren völlig überrumpelt worden. Jetzt schlug die Erkenntnis mit voller Wucht durch, dass sie ab sofort eine junge Frau und ein kleines Kind bei sich haben würden.

»Himmel, das Feuer ist bestimmt aus. Es muss eiskalt dort oben sein!« Yemon rannte los.

»Und der Weg ist noch nicht richtig frei!« Auch Tamas ergriff die Flucht, etwas langsamer gefolgt von Ouray, der irgendetwas in sich hineinbrummte.

Sinan setzte sich auch in Bewegung. »Etwas zu essen wäre nicht schlecht..«

Siri starrte ihnen gelähmt hinterher. »Sie laufen vor mir davon«, flüsterte sie erstickt.

Currann wollte ihr sofort widersprechen, doch Kiral kam ihm zuvor. Er trat vor sie. »Nein, das tun sie nicht. Sie brauchen nur einen Moment, um das alles zu verarbeiten, und wollen dafür keine Zeugen. Denke das niemals, hörst du? Du bist uns willkommen.« Er hielt ihr seine großen, schlanken Hände hin.

Siri ergriff sie zögernd. »Ich.. ich danke dir.«

»Dann lass uns gehen.« Currann wollte Siri an Karyas statt beim Arm nehmen, doch sie zuckte so sehr zusammen, dass er es lieber bleiben ließ. Also ging er voraus, völlig verwirrt. Es war, als hätte sich von selbst eine Mauer zwischen ihnen errichtet. Und wieder meldete sich das schlechte Gewissen. Warum bloß?

Sie führten Siri langsam durch die Siedlung nach oben. Keinen Blick warf Currann zurück. Er wusste, dass die Bewohner nun langsam, ungläubig, auf den Tempelplatz strömten. Ihr Flüstern war in der winterlichen Stille zu hören wie ein Windhauch, der leise und doch eindringlich hinter ihnen herwehte. Und obwohl er sich nicht umsah, spürte er, wie Siri hinter ihm um jeden Schritt kämpfte und dass Karya äußerst besorgt um sie war.

Siris Kraft hielt solange an, bis sie in dem geräumten Durchgang im Schnee angekommen waren. Sobald sie außer Sicht der Häuser waren, brach sie einfach zusammen. Karya und Nuria vermochten sie nicht zu halten.

Currann schob die Frauen kurzerhand beiseite und hob sie auf seine Arme. »Kiral, lauf voraus und sag Yemon, er soll meine Kammer freimachen«, raunte er seinem Kameraden leise zu. Das war der einzige Ort, an dem er Siri und das Kind unterbringen mochte, warm und einigermaßen ungestört.

Kiral rannte schon los, bevor er überhaupt geendet hatte. Die Frauen folgten Currann langsam den Berg hinauf.

Kaum traten sie durch das große Tor, da schallten ihnen auch schon die erhobenen Stimmen von Sinan und Tamas entgegen: »..äußerst unklug, jetzt weiß er, dass du..« Currann räusperte sich. Sinan hielt inne, sich Tamas vorzuknöpfen, der mit dem Kopf in beide Hände gestützt am Tisch saß. Sobald er Currann und die drei Frauen bemerkte, sprang er auf, und Currann war sich sicher, dass er rot wurde, obwohl man das im Halbdunkel der Diele nicht sehen konnte. Sein Gesichtsausdruck sagte ihm alles.

Rasch machten die Kameraden den Weg frei. Yemon winkte schon. »Ich habe deine Sachen in den Kommandantenraum geräumt und noch ein paar Felle besorgt. Bring sie rein.«

Karya folgte ihm, sodass Nuria allein mit den Kameraden in der Diele zurückblieb. Sie sah sich erschrocken um. »Dass Ihr Euch überhaupt aus dem Schnee befreien konntet«, meinte sie leise zu Ouray und drückte das Kind schützend an sich.

»Gerade noch rechtzeitig«, sagte Currann, der mit finsterer Miene in die Diele zurückkehrte. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und barg den Kopf in den Händen, so, wie Tamas es eben noch getan hatte. Schweigend sahen seine Kameraden ihn an.

»Oh Mann!«, brach es schließlich aus Sinan stellvertretend für sie alle hervor.

»Ich glaube, ich hole uns allen erst einmal etwas zu trinken«, sagte Yemon und floh vor der Stimmung in die Küche.

»Für mich nicht. Ich gehe schaufeln.« Tamas stürmte förmlich aus der Diele.

Currann beobachtete es durch seine gespreizten Finger. Egal, was dort unten geschehen war, Mari würde dafür bezahlen müssen. Er wusste es wie alle anderen auch. Was hatte Tamas nur getan? Er würde mit ihm reden müssen, und dann.. seine Überlegungen wurden von Karya unterbrochen, die plötzlich hinter ihm in der Dielentür stand.

»Nuria, ich brauche meinen Medizinkasten, schnell!«

Currann fuhr herum. »Was ist mit ihr?« Karya schüttelte den Kopf, ignorierte seine Frage.

»Wenn Ihr erlaubt, begleite ich Euch, Nuria, nur falls Kedar Euch über den Weg läuft«, sagte Ouray.

Nuria dankte ihm mit einem erleichterten Lächeln. Sie wollte Karya den Kleinen in die Arme legen, doch ein Blick auf Althans Gesicht ließ sie sich spontan anders entscheiden. Dieser sollte sich ruhig schon mal an seine neue Aufgabe gewöhnen, dachte sie und ging auf ihn zu. »Hier, nehmt ihn und haltet ihn schön warm.«

»Aber..« Currann bekam den Kleinen so plötzlich in den Arm gedrückt, dass er sich völlig überrannt fühlte. Unbeholfen hielt er das kleine Bündel fest. Karya bekamt Mitleid und zeigte ihm, wie er das Kind halten musste. Es wirkte in seinen großen Händen einfach winzig. Und es bewegte sich! Er hörte, er spürte es atmen. Eine kleine Faust zuckte gegen den weichen Pelz. Currann war mit einem Mal so fasziniert, dass er Siri und seine Sorgen für einen Augenblick vollkommen vergaß. Vorsichtig schob er mit seinen viel zu großen Fingern die winzige Kapuze herunter und zog überrascht die Luft ein.

›Aber, das kann doch nicht sein!‹, war seine erste Regung. Der Junge sah ja genauso aus wie seine kleinen Geschwister und alle anderen kleinen Kinder, die er bisher gesehen hatte! Ein verkniffenes Gesichtchen, dunkle, flaumige Haare, und er zog unentwegt Grimassen, als würde er heftig träumen. Currann sah auf, eine Frage auf den Lippen, und begegnete Karyas wissendem Blick.

»Sieht gar nicht aus wie ein Goi, nicht wahr?«, lächelte sie.

»Nein, er sieht eher aus wie einer von uns.« Ein Schreck durchfuhr ihn. Siri! »Karya, was ist mit ihr?«

Karya sah die Augen aller auf sich gerichtet, doch dies ging nur den frisch gebackenen Ehegemahl etwas an. Daher nahm sie ihn mit in den Kommandantenraum und schloss leise die Tür. »Sie blutet.«

Ihm wurde kalt vor Angst. »Blutet?! Aber Karya..« Was wusste er schon von Geburten? Er wollte hilflos die Arme heben und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an das Bündel darin. So schüttelte er nur den Kopf.

Karya erklärte es ihm geduldig. »Ihr müsst Euch vorstellen, dass sie nach der Geburt eine große offene Wunde in ihrem Bauch hat, die nur langsam verheilt.«

»Stirbt sie?!« Currann konnte nicht mehr an sich halten und unterbrach sie.

»Nein, nein, ich kann etwas dagegen tun. Die Anstrengung war einfach zu viel für sie.«

»Darf.. darf ich sie sehen?«

Karya maß ihn mit einem halb belustigten, halb besorgten Blick. Warum fragte er denn? »Das dürft Ihr wohl, schließlich ist sie jetzt Eure Frau. Geht nur hinein.«