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Unaufhaltsam zieht sich die Schlinge des Feindes um die Menschen zu. Alle Zeichen stehen auf Sturm. Angesichts der drohenden Gefahr aus dem Norden beschließen die Völker des Westens, eine Versammlung abzuhalten, und rufen zu diesem Zweck alles zusammen, was Rang und Namen hat. Altheas sehnlichster Wunsch geht nun in Erfüllung. Endlich kann sie ihren lang entbehrten Phelan wiedersehen und erhält Unterstützung im Kampf gegen die Diener des Bösen. Doch beinahe unüberwindliche Hindernisse stellen sich ihnen entgegen. Noch immer gilt Phelan im Volk der ethenischen Sklaven als Mörder ihrer toten Priesterin, noch immer lastet auf ihm und Heerführer Bajan der Bann der Temorer. Nur wenn dieser aufgehoben wird und sie in der Lage sind, für ihr geknechtetes Volk den seit uralten Zeiten bestehenden Pakt einzugehen, ist die Versammlung nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Aber Althea weiß, die Mächtigen der Völker unterschätzen den Feind immer noch gewaltig, trauen ihren Träumen nicht, halten sie für einen verrückten Bastard. Nur wenn sie die immer noch im Volk lauernden Diener des Bösen findet, kann sie verhindern, dass ihre Pläne an den Feind verraten werden. So ist sie einmal mehr gezwungen, eigene Wege zu gehen. Auch wenn sie dafür ihre sichere Deckung verlassen, sich selbst in größere Gefahr als je zuvor bringen und alles aufgeben muss, was ihr lieb und teuer ist.
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Seitenzahl: 1581
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Lydie Man
Trägerin des Lichts
Verzeihen
Deutsche Erstausgabe im März 2013 als E-Book erschienen
Copyright Text und grafische Gestaltung:
© 2024 Lydie Man
Kontakt: [email protected]
Facebook: www.facebook.com/lydauthor
All rights reserved
Verlag: Inga Rieckmann alias Lydie Man
c/o Block Services
Stuttgarter Straße 106
70736 Fellbach
Veröffentlichung und Druck:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Unaufhaltsam zieht sich die Schlinge des Feindes um die Menschen zu. Alle Zeichen stehen auf Sturm.
Angesichts der drohenden Gefahr aus dem Norden beschließen die Völker des Westens, eine Versammlung abzuhalten, und rufen zu diesem Zweck alles zusammen, was Rang und Namen hat.
Altheas sehnlichster Wunsch geht nun in Erfüllung. Endlich kann sie ihren lang entbehrten Phelan wiedersehen und erhält Unterstützung im Kampf gegen die Diener des Bösen.
Doch beinahe unüberwindliche Hindernisse stellen sich ihnen entgegen. Noch immer gilt Phelan im Volk der ethenischen Sklaven als Mörder ihrer toten Priesterin, noch immer lastet auf ihm und Heerführer Bajan der Bann der Temorer. Nur wenn dieser aufgehoben wird und sie in der Lage sind, für ihr geknechtetes Volk den seit uralten Zeiten bestehenden Pakt einzugehen, ist die Versammlung nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
Aber Althea weiß, die Mächtigen der Völker unterschätzen den Feind immer noch gewaltig, trauen ihren Träumen nicht, halten sie für einen verrückten Bastard. Nur wenn sie die immer noch im Volk lauernden Diener des Bösen findet, kann sie verhindern, dass ihre Pläne an den Feind verraten werden.
So ist sie einmal mehr gezwungen, eigene Wege zu gehen. Auch wenn sie dafür ihre sichere Deckung verlassen, sich selbst in größere Gefahr als je zuvor bringen und alles aufgeben muss, was ihr lieb und teuer ist.
Im Verborgenen:
Currann, Thronfolger des Reiches
Phelan, sein jüngerer Bruder
Althea, ihre Cousine
Noemi, ihre treue taubstumme Freundin
Bajan, ehemaligerHeerführer
Sinan, der jüngere Bruder von Ratsherr Nestan
Tamas, Sohn von Tanaar, des Fürsten von Nador
Yemon, Sohn von Yenkal, des Fürsten von Mukanir
Ouray, Sohn von Orban, eines Siedlungsvorstehers
Kiral, ein Cerinn aus dem fernen Osten
Der Hofstaat
Aietan, König von Morann
Alia, seine mittlerweile verhasste Königin
Lelia, einzig verbliebenes Königskind bei Hofe
Nusair, oberster Mönch und religiöser Führer des Landes
Stiig, sein Schriftführer
Brida, Haushofmeisterin
Nestan, Ratsherr und rechte Hand Nusairs, Lelias Gemahl
Nelana (Nel), seine Schwester
Daria, Zofe und Nusairs Nichte
Vara, Zofe
Ciaban, Heerführer
Weitere Personen in Gilda und Morann:
Meda, inoffizielle ehrwürdige Mutter der Heilerinnen
Leanna, Lelias verschwundene Zwillingsschwester
Netis, eine Heilerin
Lina, eine Magd
Bayram und Tabea, Bajans Halbbruder und seine Frau
Ioanna, Medas kleine Tochter
Thorald, Altheas Vater in Gefangenschaft
Leviad, ein alter Freund Bajans
Nadim, ein Kundschafter Bajans
Orban, Siedlungsvorsteher und Vater von Curranns Kamerad Ouray
Tanaar, Fürst von Nador und Vater von Curranns Kamerad Tamas
Tavar, Tamas’ jüngerer Bruder
Tajaeh, ihr berüchtigter Onkel
Dagan, der Steuereintreiber von Fürst Tanaar
Eachan, Rittmeister von Fürst Tanaar
Rhiba, eine Rebellin in den Sümpfen
In Branndar:
Sirial (Siri), Curranns Frau
Nathan (Nat), ihr ältester Sohn
Farlan, ihr zweiter Sohn und Curranns Erstgeborener
Iovan, ihr dritter Sohn und Curranns Zweitgeborener
Strahan, ihr Vater, der Schulmeister
Peadar, der Mönch der Siedlung
Karya, Siris Tante, die Heilerin
Goran, ihr Sohn, Siris Cousin
Nuria, Siris Freundin
Belan, ihr Sohn
Evi, ihre Tochter
Yorran, der Schmied
Yassin und Ramon, zwei Jungen
Kjell und Rike,zwei von den Goi entführte Kinder aus Saran
In Temora:
Anwyll, Hohepriester von Temora
Aislinn, Altheas Großmutter und Priesterin im Rat Temoras
Mihal, Ratsmitglied und Anwylls Nachfolger
Halldor und Bendiks, zwei weitere Ratsmitglieder
Chaya, Ausgestoßene und Heilerin
Maret, Novizin
Emlyn, Novizin
Galvin und Gayle, Zwillinge und ebenfalls Novizen
Ragai, der gefangene Priesterkrieger
Mahin, Anführer einer Siedlung und Marets Bruder
Verna, seine Frau
Livie, ihre Tochter
Bryn, der saranische Schmied
Rana, seine Frau
Phelana, ihre kleine Tochter
Jorid, Jeldriks Schwester
Naja, Vernas Schwester, Novizin
Amin, Händler Temoras
Jesko, Clansführer und Amins Bruder
Taro, sein ältester Sohn
Taisto, sein jüngerer Sohn
In Saran
Regnar, Altheas Großvater und Seeräuber
Roar, Clansführer von Saran
Sylja, Herrin über Roars Haus
Sedat, Gesetzeshüter von Saran
Corin und Eryk, die Väter der entführten Kinder Kjell und Rike
Oren, ein Kamerad Jeldriks
Haldar, ein Kamerad Jeldriks
Widar, ermordeter Clansführer
Harcon, sein Bruder und Nachfolger
Gudrid, seine Tochter, Jeldriks mögliche Braut
Auf See
Jeldrik, Phelans bester Freund und Sohn von Clansführer Roar
Seeko, Widars Sohn und Phelans Feind
Bado, sein Kumpan, ein aus Saran Gebannter
Tzusa, eine Priesterin
Ohin, Vater von Jeldriks Kamerad Oren
In Mukanir
Naluri, die ehemalige Königin
Meno, ehemaliger Archivar Gildas und jetzt Schulmeister
Yola, Vertraute Naluris und seine Frau
Yenkal, Fürst von Mukanir und Vater von Curranns Kamerad Yemon
Die Insel
Sechstes Frühjahr nach der Flucht
»Kannst du nicht schlafen?«
»Nein. Ich dachte, ich bleibe lieber hier und halte Wache, damit wir morgen keine böse Überraschung erleben.«
»Fehlende Ladung oder ein Feuer? Oder gar ein ungebetener Gast an Bord?« Phelan hievte sich mit einem Ächzen über die Bordwand und ließ sich neben Jeldrik fallen. Er war ziemlich unsicher auf den Beinen, denn sie hatten ihre letzte Nacht auf der Insel kräftig gefeiert, sodass er lieber nicht über die wackelige Planke an Bord kam. Jeldrik reichte ihm seine Pfeife, und er nahm einen tiefen Zug. Es war dunkel und still im Hafen. In der Ferne hörten sie das Donnern der Brandung, kleine Wellen plätscherten gegen die Bordwand, die Segel und Seile knarrten in einer leichten Brise.. eine äußerst friedliche Nacht war das. Und dennoch, Phelan konnte nicht anders, als angespannt mit allen Sinnen in die Umgebung zu lauschen. Langsam blies er den Rauch aus und reichte Jeldrik die Pfeife zurück.
Es würde ihn nicht wundern, wenn im letzten Moment doch noch etwas geschah. Nicht, nachdem er eines Morgens mit einem Dolch in der Wand über seiner Liege aufgewacht war, gefährlich dicht neben seinem Kopf. Ob die Priesterin Tzusa oder die beiden Unholde Seeko und Bado, wer auch immer dafür verantwortlich gewesen war, deutlicher hatte die Warnung nicht sein können. Die Botschaft hatte ihr Ziel erreicht: Sie sollte sie verunsichern, sodass sie sich beinahe gänzlich selbst einsperren mussten mit ihren Wachen. Jeder noch so raffiniert angelegte Versuch, der Flüchtigen habhaft zu werden, war gescheitert. Mittlerweile glaubten die Männer, Saraner, Jäger wie Ethenier, dass es nicht mehr mit rechten Dingen zuging, und die Saraner waren froh, endlich fort zu können.
Ihre Schiffe waren bis oben hin beladen mit all den Vorräten, die sie im letzten Winter angelegt hatten. Waffen, Rüstungen und nicht zuletzt das Salz, Nahrung und Wasser für die Überfahrt, Futter für die Pferde.. selbst ihre Hütten, die Palisaden und die Katapulte hatten sie abgebaut und das Holz verladen. Sie wollten Seeko und Bado nichts zurücklassen, was diese beiden Unholde für eine Flucht nutzen könnten. Jeldriks Schiff, das sie auf den Namen ›Seeschlange‹ getauft hatten, lag so tief im Wasser, dass er seit Wochen Bedenken hatte, ob sie damit über die Felsenenge der Bucht hinwegkommen würden.
Nicht nur deswegen war Jeldrik nervös. Er würde sein Schiff selbst steuern, seine erste Bewährungsprobe als Schiffsführer, und das, was sie in Saran und Temora erwartete, das ließ auch Phelan keine Ruhe.
»Hast du..?«
»Ja doch! Es ist alles erledigt«, erwiderte Phelan.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es die richtige Strecke ist«, brummte Jeldrik leise hinter seiner Pfeife, unhörbar für die Männer, die nicht weit entfernt am Strand schliefen.
Phelan verdrehte die Augen. »Doch, bist du, und wenn du es nicht mehr wissen solltest, dann geh rein und ziehe deine Aufzeichnungen zurate. Und hör endlich auf, deine Hand zu quälen! Du brauchst sie morgen noch.« Er fasste zu und zerrte Jeldriks gesunde Hand von der versehrten fort. »Es wird schon gut gehen. Wie oft hat Ohin dich die Strecke herbeten lassen? Zwei Dutzend Mal? Drei Dutzend?«
»Mmpf!«, meinte Jeldrik dazu nur, entriss ihm seine Hand und sagte nichts mehr. Diese Verzagtheit war ganz und gar untypisch für ihn, aber bezeichnend für ihre ganze Lage. Sie wussten nicht, was auf sie zukam.
Würden ihre Verbündeten, die ehemaligen Gefangenen, gegen die Ragai bestehen und ihnen den Rücken frei halten? Vor ein paar Tagen waren sie davongesegelt, voller Hoffnung, ihre Familien lebend wiederzusehen. Würden sich die Bewohner der Insel an ihre Abmachungen halten? Und was war mit dem Feind im Norden, ganz zu schweigen von ihren persönlichen Problemen, die in Saran auf sie warteten?
Jeldrik kam die bevorstehende Auseinandersetzung mit seinem Vater wie ein tückisches Spiel vor. Er hatte nicht vor, sich den Plänen des Clansführers zu beugen, sprich, nach seinen Wünschen den Bund einzugehen. Er war Roars Köder für die anderen Clans, und als solcher würde er sich verhalten, mehr nicht. Phelan tat er leid. So oder so würde es für ihn eine Niederlage werden, und Jeldrik wusste das ganz genau. Entsprechend war seine Laune, sobald jemand auf Roars Pläne zu sprechen kam. Die Männer hatten gelernt, dieses Thema zu meiden, wie Phelan auch jeden Gedanken an seine bevorstehende Auseinandersetzung mit den Sklaven Sarans vermied. Sie hielten ihn immer noch für den Schänder und Mörder Yenis, ihrer toten Priesterin, und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
Im frühen Morgengrauen wurde Phelan durch einen unsanften Tritt geweckt. »Aufstehen, es geht los!«
Müde blinzelnd erhob er sich und spähte über die Bordwand. Die Männer packten ihre Habseligkeiten zusammen und trugen sie an Bord. Als die ersten Sonnenstrahlen die Bucht erhellten, versammelten sich sämtliche Bewohner der Insel zum Abschied am Strand.
»Mögen dir die Götter beistehen, Phelan von Morann«, sagte der Älteste der Jäger. Sie übereichten ihm ein ganzes Bündel Abschiedsgeschenke. Phelan war sprachlos. Er fand darin ein überaus kunstvoll gearbeitetes und verziertes Blasrohr, einen Beutel mit Pfeilen, einen Tiegel Jagdgift und eine kleine, aber mit äußerst scharfen Steinen besetzte Streitkeule.
»Dafür, dass du unser Volk in die Freiheit geführt hast«, sagte sein Freund und legte ihm die Hand auf den Arm. Alle anderen taten es ihm gleich. Phelan musste schlucken. Sicherlich, er hatte mit ihnen Freundschaft geschlossen, aber dass er einen solchen Stellenwert unter ihnen besaß und jetzt noch ihren Segen bekam, damit hatte er nicht gerechnet. Mit belegter Stimme dankte er ihnen und verabschiedete sich, nicht ohne vorher die Gaben mit großer Sorgfalt angelegt zu haben, der größte Dank, den es für sie gab.
Dann wandte er sich dem anderen Volk der Insel zu, das geduldig auf ihn wartete. Sie und die Saraner hatten sich nicht viel zu sagen. Ein kurzes Nicken, einige geknurrte Worte seitens der Männer, das war alles, trotz aller Friedensabkommen. Nur die Mädchen standen mit verweinten Gesichtern etwas abseits und hatten ihre Kinder dabei. Phelan mochte lieber nicht genau hinsehen und die möglichen Väter in ihren Zügen erraten. Stattdessen trat er auf den Stammesführer zu. Dessen Worte waren nicht herzlich, aber aufrecht. Nach einer kurzen Verabschiedung kletterte Phelan erleichtert an Bord von Jeldriks Schiff, wo schon alle ungeduldig warteten.
»Auf dass du dein Geburtsrecht zurückerhältst!«, rief der Älteste der Jäger. Alle Männer stießen ein schauriges Kriegsgeheul aus. Die Saraner stimmten auf ihre Weise mit ein. Sie hoben die Ruder und begannen mit kraftvollen Schlägen, ihre Schiffe aus der Bucht zu manövrieren.
Phelan stand neben Jeldrik am Heck und sah ohne Bedauern zurück, die Hand zum Abschied erhoben. »Endlich«, flüsterte er, übertönt von den Männern. Jeldrik übergab das Steuerruder einem anderen und lief mit einem Fadenmesser nach vorne, um sie durch die Engstelle zu leiten. Sein Gesicht war besorgt.
Zu Recht, wie sich herausstellte. Sie lagen wirklich tief im Wasser. Ihr Schiff traf mit einem Knall, der Phelan fast von den Füßen riss, auf die Felsen und rutschte mit einem schauderhaften Knirschen und Rumpeln darüber hinweg. Dann waren sie frei, und eine kurze Untersuchung ihres Laderaumes ergab, dass sie nicht leck geschlagen waren. Die Männer brachen in Jubel aus.
»Setzt die Segel!«, übertönte Jeldrik sie. Er verschloss die Planken wieder und kam zu Phelan herüber. »Das wäre geschafft! Alle anderen liegen nicht so tief im Wasser.« Die Erleichterung, dass er diese erste Feuerprobe bestanden hatte, war ihm deutlich anzuhören. Er dankte dem Mann am Steuerruder mit einem Schlag auf die Schulter und übernahm wieder. Die Segel fingen knallend Wind, ein Ruck ging durch das Schiff, sie nahmen Fahrt auf. Zufrieden holten die Männer die Ruder ein, verstauten sie und konnten nun einen geruhsamen Blick auf die Insel zurückwerfen, die ihnen im letzten Winter, vielen sogar einige Jahre Wohnstätte gewesen war.
Die Menschen am Strand wurden langsam zu kleinen, wuselnden Ameisen. Sie umrundeten die vorgelagerten Felsen, den darüber thronenden Steinkreis, dem Phelan keinen Blick mehr schenkte. Er wollte sich nach vorne begeben und vorausschauen.
»Phelan!« Ein alarmierter Ausruf seines Freundes ließ ihn herumfahren. Jeldrik deutete auf die Klippen, die blauen Augen angriffslustig verzogen.
Phelan brauchte eine Weile, um das Ziel seines Fingers zu finden, dann entdeckte auch er sie. Auf den Klippen unterhalb des Steinkreises stand eine einsame Gestalt. Er erkannte sie sofort. Die Priesterin. Er machte einen überraschten Schritt vorwärts und packte die Reling.
»Bei den Göttern!«, murmelte Jeldrik.
Phelan brachte nur ein leises Ächzen zustande. Tzusa war nicht allein. Sie hielt ein kleines Kind auf dem Arm, das Alter konnten sie auf diese Entfernung nicht schätzen. Das war auch nicht nötig.
»Deines?«, grollte Jeldrik leise.
»Nein!« Phelan entfuhr ein protestierender Laut. »Das kann nicht sein!« Oder doch? Warum sonst sollte sie zu ihm gekommen sein und ihn gezwungen haben? Ihm wurde übel. ›Ich bin nicht Mann und nicht Frau‹, hatte sie ihm einmal gesagt. Wer würde sich schon freiwillig mit ihr zusammentun? Die Gewissheit schlich sich hinterrücks heran. »Wessen sonst?«, flüsterte er hoffnungslos und musste sich mit aller Macht an der Reling festklammern, um nicht nach dem Bogen zu greifen. »Miststück! Verfluchtes Miststück!« Seine Stimme verriet die ganze Zerrissenheit, die so unaufhaltsam wieder in ihm hochkam, als hätte er nie versucht, sie zu verbergen. Am liebsten wäre er ins Wasser gesprungen und dann.. dann wusste er nicht.
Jeldrik packte ihn und zerrte ihn herum. »Sieh nicht mehr hin, das will sie doch!«, zischte er. »Geh nach vorne! Tu, als sei nichts geschehen!«
Und Phelan tat es, mit bleischweren und gleichzeitig butterweichen Knien. Er setzte sich vor die Bugfigur, eine Schlange, die dem Schiff seinen Namen gab. Jeldrik hatte sie eigenhändig so gestaltet, dass der zusammengeringelte Schwanz einen bequemen Sitz für ihn abgab. Dort saß er bis in die Nacht, den Blick auf die unendliche Weite gerichtet. Es half nicht viel. In ihm tobte ein Sturm aus Wut und Scham, der kaum zu ertragen war. Sie hatten ihn benutzt, Yeni, Tzusa, sogar die Enkeltochter des Stammesführers, davon war er in seinem Zorn fest überzeugt. Er fühlte sich beschmutzt, gedemütigt, all das, was er glaubte, längst hinter sich gelassen zu haben. Ihm dämmerte, dass dies genau Tzusas Absicht gewesen war. Das war ihre Rache, eine, auf die er nichts mehr erwidern konnte.
In dieser Nacht ertränkte er seine Gefühle im Met, hatte danach einige Tage übelste Laune, aber dann hatte er sich wieder gefangen, zumindest redete er sich das ein. Er verschloss diese Schmach tief in sich und wurde nach außen hin wieder der alte, fröhliche Phelan. Nur Jeldrik ertappte ihn manchmal dabei, wie er mit leerem Blick nach Südwesten, zurück zur Insel, sah.
Sie kamen gut voran, das Wetter blieb ihnen hold. Nicht ein Sturm, nur stetiger Westwind geleitete sie zurück in Jeldriks Heimat. In den Wochen der Reise fand Phelan langsam seine Fassung wieder. Was kümmerte ihn Tzusa, sagte er sich, er würde sie nie wiedersehen. Dass er möglicherweise ein Kind dort zurückließ, das niemals erfahren würde, wer sein Vater war, daran mochte er nicht denken.
Je näher sie den saranischen Landen kamen, desto rauer und kälter wurde es auf See. Phelan hatte sich bisher nie richtig bewusst gemacht, wie viel südlicher die Insel im Vergleich zu Saran liegen musste, dass man dort keinen richtigen Winter kannte. Neugierig geworden begann er, Jeldriks Aufzeichnungen zu studieren, und fand damit eine Beschäftigung, die seinen Geist ablenkte, etwas, das die körperliche Arbeit an Bord nicht vermochte. Auf diese Weise vergingen die Tage und Wochen ihrer Reise wie im Fluge. Jeldrik lenkte ihre kleine Schiffskarawane gekonnt durch sämtliche gefährlichen Riffe und kritischen Passagen und bewies damit, dass er keine von Ohins Lektionen vergessen hatte. Die Männer hätten es auch nicht anders erwartet. Sie lobten nicht – das wurde als Schwäche angesehen – sie befolgten Jeldriks Anweisungen, ohne ihm zu widersprechen. Das war Lob genug.
Schneller als erwartet fuhren sie wieder in bekannten Gestaden. Die Küste Sarans war in Nebel gehüllt, sodass Phelan beim besten Willen nicht sagen konnte, wo sie sich gerade befanden. Nur die Lebhaftigkeit, ja beinahe Übermut der Männer sagte ihm, dass sie sich ihrer Heimat näherten.
Irgendwann gab Jeldrik dann den Befehl, die Ruder auszulegen, und ließ die Segel einholen. Sie drehten gen Land und hinein in die undurchdringliche Nebelbank. Der eh schon kaum vorhandene Wind ließ nun gänzlich nach. Hinter ihnen klangen entfernt dieselben Befehle von den anderen Schiffen durch den Nebel.
Phelan hockte noch nervöser als sein Freund vorne auf seinem Aussichtsposten. Würde Jeldrik die Einfahrt zum Hafen Sarans in dem Nebel finden oder am Strand auf Grund laufen? Da lichtete sich plötzlich das Grau, und die Sonne drang fahl zu ihnen durch. Es war, als würde ein Vorhang zur Seite gezogen, ein großartiges Schauspiel. Die Männer vergaßen beinahe das Rudern, so sehr verrenkten sie die Köpfe.
»Seht!«
»Bei den Göttern..«
Phelan sprang auf, so schnell, dass er auf dem rutschigen Holz beinahe das Gleichgewicht verlor und ins Wasser fiel. Die Einfahrt zum Hafen wurde flankiert von zwei großen Wachtürmen, wahre Bollwerke vom Schiff aus gesehen. Sie schienen fast über den Nebelschwaden zu schweben. Die Wachen mussten ihre Ankunft schon lange gehört haben. Sie ließen nun die Bogen sinken und riefen ihnen einen freudigen Willkommensgruß zu. Eine Glocke wurde geläutet, dann schwangen zwei große Torflügel, die der Nebel bisher verborgen hatte, knarrend beiseite.
»Sie haben an alles gedacht«, murmelte Phelan beeindruckt, als sich vor ihm die von mächtigen Palisaden gesäumte Zufahrt zum Hafen auftat.
»Seht nur, sie haben sogar Katapulte!«, rief einer der Männer beim Anblick zweier verhüllter Ungeheuer. Es klang ein wenig enttäuscht, brachten sie doch ihre eigenen als große Errungenschaft mit nach Hause. Jeldrik dagegen nickte zufrieden. Sie hatten ihre Einfälle teilweise übernommen. Nur das Bollwerk trug so deutlich Bajans Handschrift, als reisten sie wieder durch Morann.
»Alle Achtung«, brummte der Mann neben ihm.
Das rief Jeldrik zu seinen Pflichten zurück. Sie verloren zu sehr an Fahrt! »Klappt eure Münder zu, es zieht!«, brüllte er. »Auf eure Posten. Hebt – die – Ruder! Und rein damit!«
»Und zieeeht!« Es klang aus vielen Kehlen. »Zieeht!«
»Das reicht!«, rief Jeldrik plötzlich nach ein paar Schlägen. Länger und schmaler gebaut als die restlichen Schiffe, wurde die Seeschlange zu schnell für die enge Durchfahrt und für möglicherweise im Hafen liegende Hindernisse. Nur dieses eine Mal murrten die Männer, brachte es sie doch um das Schauspiel einer lautstarken Heimkehr, das alle Saraner den Daheimgebliebenen stets mit Hingabe boten.
Während Jeldriks Schiff seinem Namen alle Ehre machte und ruhig wie eine Schlange durch den wieder dichter werdenden Nebel glitt, ließ Ohins Mannschaft sehr viel weiter hinten lautstark die Muskeln spielen. Unbemerkt von den im Hafen wartenden Menschen kam Jeldriks Schiff heran. Es ließ alle am Kai Wartenden einen erschrockenen Satz zurückmachen, als unerwartet vor ihnen die grausig aussehende Schlange aus dem Nebel glitt.
»Buh!«, rief einer der Männer, und alle brachen in schallendes Gelächter aus. So hatten sie dann doch noch ihren Spaß.
Phelan grinste auf seinem vorgelagerten Posten in sich hinein, als er die Blicke der Leute bemerkte. Neugier war gar kein Ausdruck. Am liebsten hätten sie ihn wohl von dort heruntergezerrt, ihm die fremdartigen Waffen abgenommen und alles ausgiebig begafft. Dass er selbst Gegenstand ihrer Neugier war, nicht seine Waffen, auf diesen Gedanken kam er nicht.
Langsam glitten sie an der Menschenmenge vorbei zu Roars Liegeplatz. Dort warteten sie alle: Roar und Bajan, Sylja, der Sedat und seine Schüler, Verwandte, Bekannte.. nur die Sklaven sah man nicht. Phelan wusste nicht, ob er erleichtert oder beunruhigt sein sollte. Man hatte sie fortgesperrt, seinetwegen. Es musste so sein, sonst warteten immer ganze Heerscharen, um beim Entladen der Schiffe zu helfen.
Jeldrik war das Lachen längst vergangen. Er musste sich seinen festen Vorsatz in Erinnerung rufen, seinem Vater gelassen und kühl entgegenzusehen. In aller Ruhe ließ er die Männer anlegen, die Ruder sichern, all diese Dinge, die am Abschluss einer langen Fahrt anstanden. Erst dann verließ er sein Schiff.
Phelan dagegen war längst heruntergesprungen, wurde zuerst von Sylja an ihre mütterliche Brust gedrückt und begrüßte dann verlegen die anderen.
»Gut, dass du sicher wieder hier bist, mein Junge«, sagte Bajan und klopfte ihm auf die Schulter. Phelan nickte nur und brachte kein Wort heraus. War er das letzte Mal bei Bajans Anblick schon ein wenig erschrocken gewesen, jetzt war er wirklich beunruhigt. Der Fürst war nicht mehr grau, sondern weiß. Die früher so ausdrucksvollen Augen lagen tief in schattigen Höhlen, und er war dünn, geradezu hager, sodass jeder Knochen und jede Sehne einzeln hervortrat.
»Fürst, geht es Euch gut?«, rutschte es Phelan unwillkürlich heraus, und er ärgerte sich sogleich darüber. Bajan knurrte nur etwas, das er in alldem Lärm nicht verstand, und winkte ab. Dies war wirklich nicht der Ort für solche Gespräche, verstand Phelan und ließ ihn zufrieden. Stattdessen beobachtete er, wie Jeldrik seinen Vater mit Handschlag und einem kühlen Nicken begrüßte und dann von Sylja mit Beschlag belegt wurde. Genauso verlegen wie Phelan ließ er es über sich ergehen, dann blickte er sich um, sah all die erwartungsvollen Mienen und fasste einen Entschluss. Er warf Phelan einen auffordernden Blick zu.
Phelan verstand und raunte Bajan zu: »Würdet Ihr wohl mit an Bord kommen, Fürst? Wir müssen Euch etwas zeigen.«
Verwundert folgte der Fürst ihm die Planke hinauf, gefolgt von dem nicht minder verwunderten Sedat und Roar, der ihnen notgedrungen hinterherkam. Jeldrik winkte ein paar Männer heran, die Abdeckung ihres Laderaumes zu entfernen. Darunter kamen prall gefüllte Säcke zum Vorschein.
Roar schwoll an. »Was soll das?«, blaffte er. »Was bringst du anstatt Waffen..?«
»Roar!« Die Stimme des Sedats war leise, aber gebieterisch und ließ ihn sofort verstummen. »Ich bin sicher, damit hat es eine besondere Bewandtnis. Was ist dort drin, junger Schiffsführer?«
Phelan sah sich unbehaglich um. Er glaubte geradezu zu sehen, wie die Ohren der Leute an Land immer länger wurden. Umso dankbarer war Jeldrik dem Sedat für sein Eingreifen. Er ignorierte den ungehaltenen Blick seines Vaters und kletterte in den Laderaum hinab. Die Männer hockten sich hin, damit sie seine leisen Worte verstehen konnten.
»Ich weiß zwar nicht, was ihr aus den Briefen von Phelans Cousin herausgelesen habt, aber wir beide haben entsprechend gehandelt.« Mit einer raschen Bewegung riss er einen Sack auf und enthüllte feines, weißes Pulver.
»Salz!« Roar entfuhr ein Knurren. Er kniff die Augen zusammen. Die des Sedats begannen belustigt zu funkeln, und neben Phelan stieß Bajan einen derartig erleichterten Laut aus, wie er ihn noch nie von dem Fürsten gehört hatte.
»Du kannst beruhigt sein, wir bringen mehr als genug Waffen mit und haben obendrein bereits eine Menge verkauft«, erwiderte Jeldrik kühl und schnürte den Sack wieder zu.
Roar schwoll an. »In die Halle, sofort!!«, knurrte er und stürmte vom Schiff.
Jeldrik blickte ihm nur mit einem leichten Kopfschütteln hinterher und tat nichts dergleichen, denn schließlich hatte er seine Pflichten. In aller Seelenruhe erteilte er Anweisungen. Gemeinsam mit Bajan und dem Sedat überwachte er das Entladen der Schiffe, ließ sich von ihnen die neuen Gebäude und Palisaden zeigen und berichten, was den letzten Winter alles geschehen war.
Sie hatten die Siedlungen in den Bergen geräumt und in die Felder um Saran verlagert. Ein kompliziertes System aus Wällen, Palisaden und natürlichen wie künstlichen Wasserläufen sicherte das so gewachsene Saran gegen den Einfall möglicher Feinde ab. Es waren zähe Verhandlungen nötig gewesen, bis es soweit war. Jeder Clan hatte auf sein Recht bestanden, wollte nicht benachteiligt werden. Es ging um Hütten, Weiden, Vieh, Liegeplätze.. die Liste der Zugeständnisse war schier endlos. Phelan, der den Männern wortlos wie ein Schatten folgte, konnte hören, wie anstrengend das für Bajan, aber auch für den alten Sedat gewesen sein musste. Doch schließlich hatten sie alle zufriedengestellt. Sämtliche Siedlungen an der Küste hatten eine Befestigung erhalten, derart, dass die Verteidigung auch durch die Frauen erfolgen konnte, wenn die Männer in den Krieg zogen.
Bajan führte sie auf einen der Wachtürme, von dem man die ganze Anlage am besten überblicken konnte. Beeindruckt sahen die beiden um sich. Saran wirkte wirklich wie eine weitläufige Festung. Jeldrik pfiff sogar durch die Zähne. »Da habt ihr einen arbeitsreichen Winter hinter euch. Das können doch nicht nur die Sklaven geschaffen haben.«
»Nein, alle mussten mit anfassen und haben es erstaunlicherweise getan«, brummte Bajan.
Der Sedat lachte heiser. »Ihr habt ihnen auch gehörig Bescheid gestoßen, Fürst«, gluckste er.
Bajan seufzte ungehalten. »Wohl wahr!« Schweigend betrachteten sie das Gewusel in der Siedlung. Eine solche Masse Menschen hatte es in der Geschichte Sarans noch nie gegeben, noch nicht einmal zu den Festen. In Phelan drängten sich jede Menge Fragen, die er jedoch beschloss, später zu stellen, wenn er mit dem Fürsten allein war.
Jeldrik musste einen ähnlichen Gedanken gehegt haben. Er wandte sich an den Sedat: »Nun, dann werde ich mal nach Vater sehen, sonst bekommt er noch einen Tobsuchtanfall. Wollt Ihr mich begleiten, Sedat?«
Endlich waren sie allein. Phelan holte Philine und sein Bündel vom Schiff, ignorierte alle mehr oder wenigen auffälligen Versuche, ihn in die nächste Schenke zu schleppen, und folgte Bajan in seine Hütte. Es war Abend geworden, Männer und Frauen strömten in die Schenken, um die Neuankömmlinge gebührend zu feiern und ihren Geschichten zu lauschen. Phelan war erleichtert, als er endlich die Tür der Hütte hinter sich schließen konnte.
»Fürst..« Etwas ratlos stand Phelan herum und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Ich weiß«, brummte Bajan. Er begann, Zunder und Feuerholz zu schichten und das Feuer zu entfachen. Ein Kessel für Tee wurde aufgesetzt, Essen herbei geholt.. alles beobachtet von Phelan, der erschrocken darüber war, wie müde und fahrig Bajans einst so präzise Bewegungen wirkten.
Langsam setzte er sich. »Fürst, seid Ihr krank gewesen?«, fragte er schließlich.
Bajan hielt mit seinen Verrichtungen inne und warf ihm einen undefinierbaren Blick zu. »Denkst du das?« Phelan hob nur die Schultern und sagte nichts. Da seufzte Bajan und setzte sich endlich. »Es geht mir immer noch nicht wieder gut, das stimmt.«
»Aber..«
Bajan hob die Hand. »Ich weiß nicht, was es ist, es gibt hier keine Heilerin mehr, die sich das anschauen kann. Ich werde warten müssen, bis wir in Temora sind und Althea sich der Sache annehmen kann.«
»Bis dahin ist es ja nicht mehr lang«, sagte Phelan. »Wie lange eigentlich genau? Ich habe irgendwie jedwedes Zeitgefühl verloren.«
»Etwas mehr als zwei Monate noch, dann können wir fahren. Es hat sich allerdings eine unerwartete Wendung ergeben.«
»Welche?« Phelan merkte auf.
»Die Temorer bitten uns, nur mit den Clansführern zu den Verhandlungen anzureisen«, berichtete Bajan und reichte Phelan Brot und Fleisch.
Der biss ab und runzelte kauend die Stirn. »Nur mit den Clansführern? Was hat das zu bedeuten?«
»Das haben wir uns auch gefragt. Die Botschaft kam zudem nicht von Meister Anwyll, sondern von Mihal.«
»Von Mihal?« Den hatte Phelan aus Altheas Briefen nicht in guter Erinnerung. »Wie kann er.. Moment, heißt das etwa, dass sie Meister Anwyll ausmanövriert haben? Thea hat so etwas schon angedeutet.«
Bajan nickte ihm anerkennend zu. »So sieht es aus. Klarheit erlangten wir erst vor ein paar Wochen, als uns ein Bote von Mahin erreichte. Er lässt uns eine Warnung zukommen. Er sagt, dass die Temorer Zugeständnisse an die örtlichen Clansführer machen mussten, damit sie gemeinsam mit ihnen gegen den vermeintlichen Feind vorgehen. Die Clansführer fürchten um ihre Vormachtstellung.«
»Bitte?!«, rief Phelan aus. »Wir werden bedroht von dem schlimmsten Feind aller Zeiten, und sie fürchten nichts mehr als..« Ihm fehlten die Worte.
»Das ist das Wesen und der Kern jeder Politik, Phelan. So ist es nun einmal.«
»Und was werdet Ihr auf diese Politik antworten?«, fragte Phelan erbost.
Bajan spreizte seine Hände, und für einen Moment bekamen seine Augen den alten, kraftvollen Ausdruck zurück. Sie funkelten. »Wir haben ihrem Wunsch entsprochen und zugesagt, nur mit den Clansführern und deren Nachfolgern zu den Verhandlungen anzureisen. Allerdings.. das Einheitsfest ist immer noch frei, es kann kommen, wer will. Wenn also jemand seinen Sohn oder seine Tochter dort vorstellen will.. wer will das verhindern?«
Phelans besorgte Miene erhellte sich. »Wie viele wollen denn ihre Söhne und Töchter dort vorstellen?«
»Es sind zwar längst nicht alle, aber dennoch mehr, als ich gehofft hatte«, berichtete Bajan. »Jeldriks angekündigte Vorstellung hat den gewünschten Erfolg erzielt. Alle wichtigen Familien sind dabei.«
»Damit legt Ihr sie richtig schön herein«, stellte Phelan voller Genugtuung fest. »Das wird den Temorern nicht schmecken.«
»Es wird sie lehren, dass sich eine derartige Schwäche rächt, egal wie«, sagte Bajan. »Jahrelang haben sie tatenlos zugesehen und sich ausgegrenzt. Sie werden von ihrem Felsen herunterkommen müssen, ob es ihnen nun passt oder nicht.«
»Werden sie Euch akzeptieren?«, fragte Phelan vorsichtig.
»Das ist mir gleich«, brummte Bajan ungehalten. Dann seufzte er. »Ich komme als Berater Roars mit, und dann werden wir sehen. Mahin hat dich und mich eingeladen, bei ihm zu wohnen und von dort aus die Verhandlungen zu verfolgen, damit wir nicht gleich wieder gegen ein Tabu verstoßen. Denn Temora betreten dürfen wir nach wie vor nicht. Nach ihrem Brauch könnten wir uns offiziell auf dem Einheitsfest entschuldigen und um eine Begnadigung ersuchen.«
»Betteln, meint Ihr wohl!«, spie Phelan aus.
»Das werde ich auf keinen Fall tun, nicht für Anwyll und nicht für Roar, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen. Und du auch nicht.«
»Nein, ganz sicher nicht!«
»Deine Anwesenheit als Sohn des Königs von Gilda ist jedenfalls unabdingbar, egal, ob du Temora betreten darfst oder nicht.« Bajan sah ihn ernst an. »Wenn es dazu kommt, dann musst du den Pakt für die Völker Moranns ausrufen.«
Phelan seufzte ungehalten. »Ich weiß! Fürst, hat der Bote noch etwas gesagt?«
»Zu Althea und Noemi? Nein, hat er nicht.«
»Hat er Briefe von ihnen mitgebracht?«
»Natürlich, dort hinten liegen sie. Mir hat sie nichts geschrieben, außer, dass alles in deinem Brief steht. Sie fürchtet die versteckten Diener und denkt, dass es so sicherer ist. Ich teile ihre Einschätzung. Der Bote sagte mir, dass sie außer Bryn noch zwei andere Diener ausfindig gemacht und in Temora geheilt haben.«
»Sprich, Thea hat sich ihrer angenommen. Himmel, so langsam wird es gefährlich für sie! Fürst, Ihr entschuldigt mich..« Die wartenden Briefe drängten alle anderen Fragen über die Clansführer und die möglicherweise auf ihn lauernden Sklaven in den Hintergrund.
»Ja, lies nur. Ich lasse dich allein«, antwortete Bajan, doch Phelan hörte ihn nicht mehr.
Gierig begann er, Altheas Worte zu verschlingen, und musste schon bald an sich halten, um nicht in lautes Fluchen auszubrechen. Sie suchte allein die Siedlungen auf, um die Diener aufzuspüren? Wie konnten die anderen das nur zulassen! Doch da fand er im nächsten Satz schon sich selbst wieder. Sie wusste genau, dass er so reagieren würde.
›Versteh doch, ich muss es allein tun, sonst lassen sich Rückschlüsse über meinen Aufenthaltsort ziehen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich bewege mich auf versteckten Pfaden, und wenn ich doch einmal die Straße benutzen muss, tue ich es als Althan Thoraldsfalir. Die Siedlungen betrete ich zu Fuß als Thea, die Heilerin. Niemand wird mich so erkennen, da kannst du sicher sein.‹
»Aber nach Temora musst du trotzdem, um die Diener zu befreien«, wandte er laut ein und lachte auf, als er gleich darauf ihre Antwort fand. Es war fast so, als säße sie ihm gegenüber und unterhielte sich mit ihm, dachte er. Ihm wurde ganz warm vor Freude.
›Du wirst sicherlich einwenden, dass ich trotzdem nach Temora muss, um die Diener von der bösen Macht zu heilen. Dafür hat sich eine ganz einfache Lösung ergeben. Gayle hatte wieder einmal einen ihrer genialen Einfälle. Erinnerst du dich, wie wir Meister Anwyll wieder wach bekommen haben, nachdem ich die Diener in Temora befreit hatte? Wir gaben ihm den heiligen Kelch in die Hand. Das brachte Gayle auf den Einfall, es auch bei den Dienern zu versuchen. Stell dir vor, es funktioniert! Die geballte Macht der Wächter hat eine ähnliche Wirkung wie mein Licht. Sie haben die Diener von der dunklen Macht befreit, es ging ganz einfach. Ich fürchte nur, die Wächter könnten Schaden davon nehmen. Verbraucht sich irgendwann ihre Kraft? Sie wirken jedes Mal wacher als vorher, so, als wecke man sie aus jahrhundertealtem Schlaf.‹
Atemlos las er weiter und hörte nicht auf, bis er das letzte Wort verschlungen hatte. Dann nahm er Noemis Brief zur Hand, merkwürdig zögerlich diesmal. Dieses Gefühl kannte er schon, er begrüßte es geradezu. Es war wie vor einem tiefen, sehr schmerzhaften und gleichzeitig unheimlich freudigen Stich. Man spürte ihn kommen, wich ihm aber nicht aus, sondern stürzte sich in vollem Bewusstsein hinein. Er belächelte sich selbst, strich behutsam die Seiten auseinander und begann zu lesen.
Mit seiner Konzentration war es jedoch bald vorbei. Bajan kehrte zurück. Phelans Blick irrte immer wieder von Noemis Brief zu ihm herüber. ›Er ist todkrank‹, erkannte Phelan, als er Bajan dabei beobachtete, wie dieser eine klare Flüssigkeit schluckte und erschöpft ein wenig ruhte. Etwas gegen Schmerzen? Phelan wurde übel, er konnte sich auf Noemis Brief nicht mehr richtig konzentrieren.
Ein Geräusch lenkte ihn jedoch ab. Jeldrik schlüpfte herein. Phelan sah gleich an seiner Miene, dass die Stunden bei seinem Vater nicht glimpflich verlaufen waren. »Und?«
Jeldrik winkte knurrend ab. »Der Sedat teilt unsere Einschätzung bezüglich des Salzes wie Bajan auch, nur Vater nicht. Es ist, wie wir schon vermutet haben, er misstraut allem, was aus Temora kommt. Sie haben ihn wochenlang bearbeitet, doch noch Schiffe nach Ethenien zu senden und unsere Salzvorräte aufzustocken. Er hat es abgelehnt, es für Spinnerei erklärt, bei den Göttern!«
Phelan hob die Pergamente an. »Althan schreibt noch mehr. Er warnt uns, nur mit wenigen Leuten anzureisen, er fürchtet, der Feind könnte sich unmittelbar nördlich des Lir-Deltas auf die Lauer legen. Ein Diener war bei den Beratungen der Temorer und der dortigen Anführer anwesend und hat IHM alles weitergetragen. Sie haben ihn noch nicht gefunden.«
Jeldrik stieß einen leisen Fluch aus. »Vater traut ihm nicht, nennt ihn ›Regnars verrückten Bastard‹..«
»Waas!?« Phelan fuhr zornig auf. »Wie kann er nur!«, zischte er, sich gerade noch in Erinnerung rufend, dass Bajan neben ihnen schlief. »Komm, lass uns in den Stall gehen, da stören wir den Fürsten nicht.«
»Was ist denn mit ihm los? Er sieht schlimm aus«, flüsterte Jeldrik leise.
»Gesagt hat er nichts, aber ich glaube.. Jeldrik, er schluckt etwas gegen starke Schmerzen. Er muss so schnell wie möglich nach Temora. Nur dort kann man ihm helfen.« Phelan stellte eine kleine Lampe in sicherer Entfernung zum Stroh auf und wandte sich zu ihm um. »Ich glaube, er ist todkrank.«
Erschrocken stützte sich Jeldrik an der Wand ab. »Deswegen waren alle so komisch, als ich darauf zu sprechen kam. Niemand wollte so recht mit der Sprache herausrücken, Vater hat nicht einmal geduldet, dass ich seine Person als solche erwähne.«
»Warum das?« Phelan verstand es nicht.
»Sylja hat mir hinterher erzählt, dass sie einige harte Auseinandersetzungen miteinander hatten und dass oben in den Wäldern etwas passiert sein muss, das Bajan so.. angeschlagen hat werden lassen. Es passt Vater nicht, dass die Männer mehr und mehr auf Bajans Rat hören. Sie befürchtet, er denkt darüber nach, fortzugehen, wenn das hier vorbei ist.«
Phelan zuckte zusammen. »Fort?« In ihm kam ein ganz und gar ungutes Gefühl hoch. Bajan würde niemals seine Pflichten vernachlässigen. Das klang ja eher, als rechne er damit, nicht mehr zurückzukehren.. rasch schüttelte er den Gedanken ab. »Hat sie gesagt, was dort geschehen ist?«
Jeldrik schüttelte den Kopf. »Nicht direkt, nur, dass es etwas mit der Behandlung der Sklaven zu tun hatte. Vater und viele andere auch haben sie ihre ganze Härte spüren lassen, aus Zorn über ihren Aufstand.«
»Aber der ist doch schon Jahre her!« Phelan verstand es nicht.
»Nicht deswegen, das ist in der Tat lange her und war selbst in den Augen vieler unserer Leute begründet. Nein, als die Sklaven im Herbst hörten, dass du zurückkommen würdest, gab es Unruhen. Sie haben versucht, sich zusammenzurotten und davonzulaufen. Sie glauben nicht, dass du der Sohn eines Königs bist, sie denken, das sei eine List von Vater, sie ruhigzustellen.«
Phelan war bleich geworden. »Alles wegen mir!«, presste er hervor und rang mit sich. Wie lange sollte das noch so gehen? Bis es zu einem großen Unglück kam? »Hat sie gesagt, wo die Sklaven jetzt sind?«
»Ja, sie sind..« Jeldrik stutzte. »Moment mal, du willst doch nicht etwa..?!«
Phelan sprang kurz entschlossen auf. »Besser heute Nacht als nie, bevor die anderen etwas mitbekommen und versuchen, mich daran zu hindern. Sie sollen nicht denken, Roar schicke mich, verstehst du? Also, wo sind sie?«
»Du.. du bist verrückt!«, protestierte Jeldrik. »Du kannst doch nicht allen Ernstes allein dort hinein..«
»Wo hinein? Sag es mir!«, forderte Phelan, während er sich seinen Schwertgurt umband und überlegte, ob er sonst noch irgendwelche Waffen mitnehmen sollte.
Jeldrik sah ein, dass nichts außer Gewalt seinen Freund aufhalten konnte, und den Schritt wollte er nicht gehen. »Ich bringe dich hin. Sie haben ihnen ein eigenes, umzäuntes Areal unweit der großen Halle zugewiesen. Es wird streng bewacht.«
»Komme ich trotzdem hinein? Jeldrik!«, forderte Phelan vehement.
»Ich werde einen Weg finden. Aber soll ich nicht doch..«
»Nein! Komm jetzt!« Phelan zerrte ihn einfach mit sich, bevor ihn sein Mut wieder verließ.
Jeldrik führte seinen Freund mit einem mehr als unguten Gefühl zu der Stelle, wo ein großes Tor den Eingang zu dem Sklavenviertel markierte. Anders mochte Phelan es nicht bezeichnen, bevor er sich mit Jeldrik auf einen der Wachtürme begab, um von dort aus die Lage zu erspähen.
Der Wachhabende grüßte verwundert. »Nanu, Jeldrik Roarsfalir, was lockt dich hierher? Hast du an dem Abend der Heimkehr nichts anderes zu tun? Und wen hast du da..« Er brach ab, als er Phelan erblickte. »Bei den Göttern!«, entfuhr es ihm, und er ließ dabei offen, ob er Phelans Aussehen oder seine Anwesenheit hier meinte.
»Sei bloß still!«, fuhr Jeldrik ihn an.
Phelan trat nach vorne und warf einen Blick nach unten. Überrascht beugte er sich vor. Statt der erwarteten vielen Hütten und Verschläge, Feuer und Menschen war es still und dunkel unter ihm. Er sah lediglich ein umfangreiches, kahles Stück Land mit dem Umriss eines großen, windschiefen Gebäudes in der Mitte. Es war ein ehemaliges Lagerhaus, wie es aussah. »Wo sind sie denn? Sie schlafen doch nicht etwa alle da drin?«
Die Wache schnaubte verächtlich. »Doch, tun sie, wie auch immer sie alle da hineinpassen. Sie haben sich geweigert, Hütten zu bauen. Vielleicht dachten sie, wir würden sie wieder in die Clans zurückkehren lassen, wenn das Ding zusammenfällt?« In seiner Stimme schwang die ganze Verachtung der Saraner für die ethenischen Sklaven mit.
»Es sieht aus, als müsste ich nur dagegenpusten und es stürzt ein«, sagte Jeldrik leise. Er beobachtete Phelan, der die Brüstung umklammert hielt. »Willst du immer noch..?«
»Ja! Wie komme ich dort hinein, ohne das große Tor öffnen zu müssen?«
»Waas?!«, entfuhr es dem Wächter.
»Sei doch still!«, fuhren sie ihn beide gleichzeitig an.
»Also, wie kommt ihr im Notfall schnell hinein?«, zischte Phelan. Der Wächter wies nur stumm auf die Wand seines Turmes. Sie war klappbar, man konnte sie bis auf die Palisade herablassen. Ohne ein weiteres Wort griffen sie nach den Seilen und ließen sie herab.
»Warte!« Jeldrik hielt ihn fest. »Soll ich nicht doch mitkommen oder die anderen..?«
»Nein!« Phelan spähte angespannt zu dem Lagerhaus hinüber, aber dort rührte sich nichts. »Lenke die anderen Wachen ab. Wenn ich beim Morgengrauen nicht herauskomme, dann könnt ihr mich holen.«
»Aber Phelan..«
»Tu es einfach!« Phelan atmete tief durch und musste hart schlucken. Das, was er im Begriff war zu tun, war vollkommen verrückt. Warum tat er das? Die Antwort war einfach: Weil er einem Teil von sich Frieden bringen wollte. Um seiner und um Yenis willen. All die Jahre hatte ihn belastet, was die ethenischen Sklaven ihm vorwarfen, und er wollte es ein für alle Mal aus der Welt haben.
Entschlossen streifte er sein helles Hemd ab, das beinahe wie eine Fackel im Dunkeln leuchtete, ganz anders als die alten ledernen Beinlinge, die vom vielen Tragen beinahe schwarz waren. Nach kurzer Überlegung legte er auch sein Messer ab. Das sollten sie nicht bekommen. Jeldrik sah, dass es keinen Zweck hatte, weiter auf ihn einzureden. Er stieß eine leise Verwünschung aus und verschwand in Richtung der anderen Türme. Phelan wartete, bis die Schatten der dortigen Wachen verschwunden waren, dann kletterte er hinüber. Nach einem kurzen Blick, ob die Luft rein war, sprang er und kam leichtfüßig unten auf.
Phelan wusste, die Zeit drängte. Lautlos rannte er zu dem alten Lagerhaus. Er presste sich an das raue Holz, um möglichst mit dem Schatten zu verschmelzen. Selbst in der Dunkelheit konnte er erahnen, wie löchrig es war. Von innen drang ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein durch die Lücken, es war der Schein eines glimmenden Feuers. Da konnten sie ja gleich im Freien schlafen, so zugig, wie dieser Schuppen war, dachte er grimmig. Es war ihre Form der Rebellion, nachdem alles andere gescheitert war, das ahnte er. Langsam schob er sich an der Wand entlang auf der Suche nach einem Tor oder einer Tür. Er fand sie überraschend schnell. Seine Hand fasste in etwas Weiches, ein Fell, das notdürftig eine größere Öffnung verdeckte.
Vorsichtig, um ja keinen Laut zu verursachen, zog er sein Schwert. Mit der freien Hand schob er das Fell ein wenig zur Seite und spähte hinein. Im schwachen Glimmen des Feuers konnte er eine Menge unregelmäßiger Haufen sehen, Decken und Felle. Erst langsam schälten sich Gestalten heraus. Sie lagen dicht an dicht im Stroh, eine ungeheure Masse Menschen. Der Gestank, der ihm schon hier in der Tür entgegenschlug, nahm ihm fast den Atem.
In diesem Moment bekam Phelan Angst vor seinem eigenen Mut. Sie würden ihn zerfleischen wie eine wütende Hundemeute. Sollte er nicht doch lieber.. aber dann würde über kurz oder lang dasselbe geschehen, nur mit dem Unterschied, dass die Saraner sich rächen würden, mit furchtbaren Folgen. Wer weiß, wie viele bereits umgekommen waren. Er wollte nicht für den Tod von noch mehr Menschen verantwortlich sein.
Blitzschnell entschied er über die Möglichkeiten, die ihm blieben. Wenn er sie nur davon überzeugen konnte, dass er der Sohn eines Königs war, dann wäre er für sie unantastbar. Die ethenischen Gesetze galten auch hier. Er musste die Überraschung nutzen, so viel war klar, sonst hätten sie ihn niedergemacht, bevor er ein vernünftiges Wort herausgebracht hatte. Konnte er unbemerkt bis zum Feuer gelangen? Bei der Dunkelheit ja, und wenn er dort war.. eine Erinnerung stieg in ihm hoch. Bajan über einem unheimlichen Gemisch aus Feuer, Rauch und Dampf.. Phelan steckte entschlossen sein Schwert wieder fort.
›Wenn das nur gut geht‹, dachte er und schlüpfte durch das Fell. Innen verharrte er angespannt. Hatte ihn jemand bemerkt? Nein, er hörte nur das unruhige Schlafen von Menschen. Schnarchen, Husten, das eine oder andere Stöhnen.. Mit der Fußspitze prüfte er das Stroh auf dem Boden. Es schien einigermaßen trocken zu sein.
›Gut!‹, dachte er, bückte sich und raffte einen Armvoll davon zusammen. Mit hämmerndem Herzen, die Sinne aufs Äußerste angespannt, bewegte er sich lautlos auf das glimmende Feuer in der Mitte zu. Niemand bemerkte ihn, und wenn doch, dann war er nur ein Schatten unter vielen. Einen winzigen Augenblick verharrte er unschlüssig vor dem Feuer. Einfach draufwerfen? Nein, das würde das Feuer ersticken. Phelan überlegte nicht länger, stattdessen warf er das Stroh hoch in die Luft, bevor er es sich noch anders überlegen und einen Rückzieher machen konnte.
Die Wirkung war selbst für ihn überraschend verheerend. Zischend schoss eine riesige Flamme bis zur Decke hoch. Die Menschen um ihn herum fuhren verwirrt aus ihrem Schlaf. Einige wichen mit einem Aufschrei zurück, die meisten jedoch verharrten fassungslos, als sie den Fremden in ihrer Mitte erblickten.
Ohne dass er es bewusst merkte, schob Phelan mit dem Fuß noch mehr Stroh ins Feuer. Ganz bewusst dagegen zog er sein Schwert. Die Stille wandelte sich in ein bedrohliches Zischen. Phelan wusste, er musste jetzt handeln, denn wenn sich ihr Zorn erst einmal entfesselte, war es zu spät. Daher tat er etwas Überraschendes: Er streckte die Klinge in die Erde dicht beim Feuer, sodass die Flammen gleißende Reflexe in die Menge sandten, kniete sich nieder und neigte das Haupt. »Wer Rache an mir nehmen will, der hat hier und jetzt Gelegenheit dazu«, sagte er laut in ihrer Sprache.
Es wurde totenstill. Phelan streckte die Arme zu beiden Seiten aus, eine auffordernde Geste. Gleichzeitig ließ er die Krallen seiner Katze tanzen und hoffte, dass dies seine Wirkung nicht verfehlte. Er täuschte sich nicht. Die Sklaven zu seiner Rechten wichen erschrocken davor zurück, sie stolperten gegen die hinter ihnen Stehenden. Eine Anzahl Männer schob sich nach vorne durch, einer hatte einen langen Knüppel in der Hand.
Diesen fixierte Phelan sofort und ließ ihn nicht aus den Augen. »Nun mach schon, schlag zu! Schlag zu und vergehe dich an mir, der ich von eurer Yenene erwählt worden bin!«
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Überraschung, Wut und Empörung war zur hören. »Mörder!«, schrie der Knüppelträger und holte aus.
»Neeeiiin!«
Noch bevor es Phelan gelang, warf sich eine Frau dazwischen. Sie riss den Angreifer von den Füßen und prallte hart zwischen ihnen auf. Phelan war ebenso verblüfft wie die anderen Männer. Er erkannte sie sofort. Es war die Frau, die ihm damals mit Rana und auch mit Yeni geholfen hatte. Sie rollte herum und sah ihn in einer Mischung aus Furcht und verzweifelter Hoffnung an. »Lasst ihn sprechen! Er ist nicht umsonst allein gekommen. Egal, was ihr ihm zur Last legt, lasst ihn sprechen!«
»Nein!«, rief der Knüppelträger und packte sie, um sie aus dem Weg zu zerren. »Er wird heute Nacht sterben, Frau!«
Phelan brauchte nur eine leichte Bewegung mit seiner Krallenhand in ihre Richtung machen, und der Mann ließ sie sofort los. »Für welche Tat soll ich sterben?«, fragte Phelan scharf. »Sagt es mir!«
»Schänder!«, zischte es aus ihren Reihen.
Phelan richtete sich langsam auf, er war auf der Hut. Es genügte nur noch ein Funke, und sie würden auf ihn losgehen. »Wie kann ich ein Schänder sein von jemandem, der mich erwählt hat?« Langsam näherte er sich dem Mann. Der schluckte hart und hob den Knüppel. Phelan dagegen schärfte eine andere Waffe, seine Stimme. »WAS maßt du dir an?! DU!« Die Kralle schnellte vor. »DU richtest über die Entscheidung eurer Yenene! Wer bist du, dass du dir das erlauben kannst? Und wer bist du, dass du es wagst, den Sohn eines Königs anzugreifen?«
Noch während er sprach, sah er, dass alle vor Schreck erstarrten. Er nutzte es, um seinen Gegner mit einer beiläufigen Bewegung zu entwaffnen. In hohem Bogen flog der Knüppel ins Feuer. Phelan trat ihm die Beine weg, beugte sich zu ihm und packte ihn am Kragen seines fadenscheinigen Hemdes.
Doch da nahm die Frau ihren ganzen Mut zusammen und hielt ihn zurück. »Sag uns, bist du wirklich der Sohn eines Königs?«
Phelan ließ seinen Gegner los und richtete sich auf. Er sah in die Masse der angespannten Gesichter. »Ja, ich bin der Sohn von König Aietan von Morann.«
»Das glaube ich nicht!«, rief der Mann am Boden. Andere zischten bedrohlich.
»Warum? Warum glaubst du das nicht?«, fragte Phelan scharf.
»Das ist nur eine List der Saraner!«, rief jemand.
»Ja, eine Lüge!«
»Wir sollen uns nicht erheben!«
Phelan spürte, wie die Stimmung immer gefährlicher wurde. »Unabhängig davon, ob ich nun hier bin oder nicht, hättet ihr das im Frühjahr eh versucht, habe ich recht? HABE ICH RECHT?«
Niemand sagte etwas. Phelan schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ach kommt schon, was soll das? Euch dürfte nicht verborgen geblieben sein, was die Saraner mit dieser ganzen Festung bezwecken. Ist es nicht so?«
Die Männer verschränkten die Arme. Noch immer sagte keiner etwas. Phelan nickte verstehend. »Ihr habt es schon geplant, nicht wahr? Nun, es mag euch gelingen, wenn die Saraner wirklich mit allen Männern in den Krieg ziehen, wenn nur die Frauen und Kinder hierbleiben. Es wird euch nur nichts nützen. Denn wenn dieser Feldzug wirklich stattfinden sollte und scheitert, dann wird der Feind alle Völker überrennen und vernichten. Eures auch. Ihr wisst nicht, womit ihr es in Wahrheit zu tun habt.« Er machte eine lange Pause. Noch immer sagte niemand etwas.
Phelan senkte seine Stimme, wie er es schon so oft beim Sedat und Bajan gehört hatte. »Es ist eine uralte, grausame Macht, die wieder auferstanden ist. Gegen sie gibt es seit Ewigkeiten einen Pakt zwischen Temorern und dem Volke Moranns, einen, der in meiner Heimat nur vom König an seine Söhne weitergegeben worden ist. Also an mich. Ich bin gekommen, um für mein Volk den Pakt einzugehen, wenn sie ihn einfordern.« Er ließ seine Worte wirken. Niemand unterbrach ihn. Er fuhr fort: »Jeder, der etwas über unseren Feind und über den Pakt weiß, ist in Gefahr. Die Königskinder Moranns, meine Geschwister und ich, mussten fliehen und sich verbergen. All diejenigen, die den Feind spüren können, schweben in höchster Gefahr. Priester, Seher, Gelehrte.. deswegen musste eure Yenene sterben. Sie hat es gewusst. Kurz vor ihrem Tod bat sie mich, mit ihr ein Ritual zu vollziehen.«
In den Reihen der Ethenier wurde es unruhig. Unbewusst rückten alle näher heran. Phelans Worte begannen Wirkung zu zeigen. »Ich wusste damals nicht, warum sie das tat, bis ich auf den Inseln eine andere Yenene traf, die es mir erklärte, und ich..«
»Das war ihr nicht erlaubt!«, rief der Mann am Boden.
»Es ist ihr erlaubt, gegenüber dem Sohn eines Königs offen zu sprechen!«, rief Phelan, zornig über diese Unterbrechung. Gerade hatte er sie soweit, dass sie ihm zuhörten, und dann das! Er ließ sein Gegenüber nicht mehr zu Wort kommen. »Wer bist du, dass du sie richtest?« Das brachte den Mann zur Besinnung. Er schluckte und senkte den Kopf.
»Sie wusste, dass sie sterben würde«, wiederholte Phelan eindringlich, »und sie wollte als vollständige Priesterin in den Tod gehen. Wie konnte ich ihr diesen Wunsch verweigern? Als ihr Mörder uns fand, hat er nicht nur sie getötet, sondern auch mich und Jeldrik, Bryn und Rana angegriffen und verletzt. Aber das wisst ihr sicherlich«, riet er aufs Geradewohl. Sein Verdacht wurde bestätigt. Stummes Kopfschütteln rings um ihn herum. ›Oh Roar‹, dachte er, ›was hättest du alles verhindern können, wenn du nur ein paar Gerüchte gestreut hättest?‹
Phelan warf einen vorwurfsvollen Blick in die Runde. »Bajan wollte es euch erklären, schon gleich zu Anfang. Er ist einer der wenigen Fürsprecher, die ihr in diesem Lande habt, und was tatet ihr? Ihr habt ihn beinahe umgebracht. Das war töricht, äußerst töricht.« Nicht nur einer senkte beschämt den Kopf bei diesen Worten. »Ich halte euch zugute, dass ihr voller Zorn über den Tod eurer Yenene und in Unkenntnis Lage wart. Also, was ist? Soll ich das ändern und euch alles berichten, oder wollt ihr mich immer noch umbringen?«
»Nein!«, kam es aus verschiedenen Ecken, hauptsächlich von den Frauen. Der Knüppelträger sah zu ihm auf, dann auf seine schwelende Waffe und machte ein finsteres Gesicht. Die anderen Männer wirkten unschlüssig.
»Ich will es hören«, sagte Phelans Verteidigerin.
»Ich auch..«
»Ich auch..«
Phelan sah auf seinen Angreifer herab. »Was denkst du?«, fragte er. Langsam streckte er ihm die krallenbewehrte Hand entgegen.
»Das gefällt mir nicht«, knurrte die Wache wohl zum hundertsten Mal in dieser Nacht.
Jeldrik auch nicht, aber er sparte es sich, darauf zu antworten. Am liebsten hätte er Phelan dort herausgezerrt und eigenhändig umgebracht. Er verging fast vor Sorge um seinen Freund und hatte ein schlechtes Gewissen, nichts getan zu haben, als die Schreie aus dem Lagerhaus gedrungen waren. Doch dann war es überraschend schnell ruhig geworden, und nur ein heller Feuerschein verriet, dass dort nicht geschlafen wurde. Die schlimmsten Bilder geisterten Jeldrik durch den Kopf: Phelan gebunden und irgendeinem scheußlichen Ritual unterworfen oder sein blutig geschlagener Körper gefesselt an einem Pfahl.. Jeldrik glaubte noch verrückt zu werden.
Immer wieder schielte er gen Osten, wo sich das erste Licht am Horizont zeigen würde. ›Hell‹ war ein dehnbarer Begriff. Er dachte gar nicht daran zu warten, bis sich die Sonne zeigte, sondern wartete exakt, bis er seine Hand vor Augen erkennen konnte. Dann zog er finster entschlossen sein Schwert. »Ich gehe rein.«
»Sollen wir nicht die anderen..«
»Nein, sichere mich mit dem Bogen, falls sie auf mich losgehen.«
Jeldrik öffnete selbst das große Tor. Niemand zeigte sich, als es knarrend aufschwang. Lautlos schlich er sich an das Lagerhaus heran. An der Tür blieb er stehen und lauschte. Leises Gemurmel drang nach draußen, mehr nicht. Sie waren also wirklich wach. Jeldrik drückte ganz langsam das Fell beiseite und spähte hinein. Erst erkannte er nichts, aber was er dann sah, ließ ihn vor Erleichterung gegen die Öffnung sinken.
Phelan stand am Feuer und erzählte mit den für ihn so typischen beredten Gesten, wenn er sich in einer fremden Sprache ausdrücken musste. Um ihn herum saßen die Sklaven, die Kinder ganz vorne, dann die Frauen, und hinten reckten die Männer ihre Hälse, um ja nichts zu verpassen. Nicht einer hatte einen drohenden Gesichtsausdruck, sondern sie waren eher fasziniert. Erleichtert zog sich Jeldrik zurück. Es sah aus, als bräuchte Phelan seine Hilfe nicht.
»Du hast waaas?!«
Selbst Sylja, die ja sonst nichts so leicht erschüttern konnte, fielen fast die übervollen Bretter aus der Hand, die sie den Männern gerade zum Frühmahl hinstellen wollte. Roar war aufgesprungen, Bajan bleich geworden. Der Sedat hatte die Augen zusammengekniffen.
Phelan schloss mit einem energischen Ruck die Tür hinter sich und sah Jeldrik fragend an. Der schüttelte unmerklich den Kopf. Er hatte nichts gesagt. Gut so, dachte Phelan und setzte sich ungerührt hin. Nur langsam folgten ihm die anderen, und auch Sylja besann sich und deckte ihnen auf. Phelan zog sich sofort ein Brett heran und begann hungrig zu essen. Zwischen den einzelnen Bissen erklärte er den anderen, was er getan hatte.
Den Männern blieb die Sprache weg, selbst Roar, dem allmählich der Hals schwoll. Jeldrik kannte die Anzeichen nur zu gut und stieß Phelan unter dem Tisch warnend an, doch es war zu spät. »Ich glaube es nicht!!!« Roar packte zu, erwischte aber statt Phelans Kragen nur das Brett, das in hohem Bogen gegen die Wand krachte und das Essen in alle Richtungen verteilte. Phelan hatte sich mit einem Satz hinter seinen Stuhl in Sicherheit gebracht.
»Roar!« Leise, aber scharf ging der Sedat dazwischen. Er war der Einzige, der dem wütenden Clansführer Einhalt gebieten konnte, das wussten alle und hielten sich zurück. Der Sedat sah Phelan streng an. »Das erklärt aber noch nicht, warum du es getan hast. Warum hast du dich in eine derartige Gefahr begeben? Das war äußerst leichtsinnig.«
Phelans fand, die Männer gingen seine Schuldgefühle zu Yenis Tod nichts an. Also gab er ihnen eine andere, nicht minder gewichtige Erklärung: »Wenn ihr dabei gewesen wäret, dann hätten sie mir niemals zugehört. Jetzt aber haben sie es getan. Wir werden alle unsere Kräfte brauchen, um gegen den Feind zu bestehen, denn siegen wir nicht, sind die Völker dem Untergang geweiht. Ich habe ihnen klargemacht, dass sie mit ihrer Unruhe nur eines erreichen: Dass ihr gezwungen sein werdet, einen Teil eurer Kämpfer zu ihrer Bewachung hierzulassen, und sie damit ihren eigenen Untergang einleiten. Und ich habe ihnen gesagt, dass sie, anstatt euch zu bekämpfen, lieber mit euch kämpfen sollten, um ihr eigenes Volk zu beschützen.«
»Jetzt gehst du zu weit!«, grollte Roar gefährlich leise, zerrte Phelan hinter seinem Stuhl hervor und drückte ihn gegen die Wand. »Was fällt dir ein, ihnen eine Bewaffnung in Aussicht zu stellen?!«
»Vater..« Jeldrik erhob sich halb.
»Nichts dergleichen habe ich getan«, erwiderte Phelan gelassen. »Lass mich los und hör mir zu.« War es, dass Roars Gehabe ihn nicht im Mindesten beeindruckte? Phelan wurde abrupt losgelassen, und der Clansführer verschränkte die Arme. Ungerührt hob Phelan sein Brett auf, putzte es mit seinem Ärmel sauber und setzte sich dann demonstrativ ruhig wieder hin. Roar beobachtete ihn mit finsterer Miene.
»Erkläre das«, forderte der Sedat.
»Nun«, Phelan nahm sich etwas zu essen und schluckte herunter, »ich habe ihnen gesagt, dass wir eine Waffe gegen den Feind gefunden haben, aber nicht, welche. Da du ja Althans Worten keinen Glauben schenkst, Roar, könntest du ihnen getrost den einen oder anderen Sack Salz überlassen, nicht wahr?«
Bajan konnte nicht mehr anders, nach dem ersten Schrecken amüsierte er sich köstlich. »Setz dich hin und mach nicht so ein finsteres Gesicht, Roar!«, brummte er. »Und, Phelan, du hast das doch sicherlich nicht einfach so preisgegeben?«
War das eine Prüfung? Es schien so, denn der Sedat schaute auf einmal sehr wachsam. Phelan zuckte mit den Schultern. »Nein, habe ich nicht. Ich habe ihnen das Versprechen abgenommen, ab sofort Frieden zu halten, und ich denke, Sedat, ich könnte mit ihnen ein Abkommen aushandeln. Als Königssohn bin ich für sie unantastbar, und da ich mittlerweile fließend ihre Sprache spreche, sind sie meinen Worten sehr viel zugänglicher.«
Der Sedat nickte verstehend. »Das wäre ein wirklich ungewöhnlicher Schritt, wie er für dich bezeichnend ist, Phelan Aietansfalir, denn die Sklaven sind eigentlich nicht in der Stellung, Verhandlungen zu führen. Aber ich verstehe deine Beweggründe und sehe auch, welche Vorteile uns das bringen könnte. Wir sollten das ausführlich beraten, Roar, auch im Kreise der Clansführer. Niemand ist mit der derzeitigen Lage wirklich zufrieden. Dies könnte ein Ausweg sein.«
»Wie gut, dass sie heute Abend alle hier sein werden!«, knurrte Roar ungehalten.
»Ich habe nicht..«, protestierte Phelan und wurde vom Sedat unterbrochen:
»In der Tat, in der Tat. Nun denn, bereiten wir uns darauf vor. Aber um eines muss ich dich ausdrücklich ermahnen, Phelan Aietansfalir.« Er fixierte Phelan in aller Strenge, und der versteifte sich unmerklich »Du wirst nie wieder ohne vorherige Absprache solche Dinge wagen. Dafür hast du in diesem Land nicht die Stellung. Verstanden?«
Phelan schluckte herunter und nickte. »Ich habe verstanden, Sedat.« Mit so etwas hatte er schon gerechnet, und er war nicht überrascht, als der alte Mann sich erhob und damit das Frühmahl in der gewohnten saranischen Manier für beendet erklärte, obwohl sie alle kaum etwas gegessen hatten.
Jeldrik ruckte mit dem Kopf in Richtung Tür, doch wenn er gedacht hätte, er käme so einfach davon, dann hatte er sich getäuscht. Sein Vater hielt ihn zurück. »Du wirst heute Abend anwesend sein. Wir haben noch einiges mit dem Vater deiner Braut zu verhandeln.«
Jeldriks Miene erstarrte zu Eis. »Bevor es soweit kommt, will ich sie erst einmal kennenlernen«, widersprach er heftig und ließ seinen Vater stehen.
Wütend über sich selbst, weil er nicht so gelassen reagiert hatte wie vorgenommen, stürmte Jeldrik aus der großen Halle. Phelan hatte Mühe, ihm zu folgen. »He, nun warte doch mal!«
»Gar nichts werde ich tun!«, knurrte Jeldrik und meinte damit nicht Phelan. »Die schaffen es noch, es über unsere Köpfe hinweg zu beschließen und uns vor vollendete Tatsachen..«
»Vielleicht solltest du sie von dir aus aufsuchen und sie fragen, wie sie.. Jeldrik, warte! Wo willst du hin?«
»Zu meinem Schiff, ich muss mich darum kümmern.« Jeldrik blieb schnaubend vor Wut stehen. »Du kannst mitkommen und mir helfen, oder du lässt es bleiben, ganz wie du willst. Nur verschone mich mit deinen Weisheiten!«
Phelan sah ein, dass Jeldrik momentan nicht für Argumente zugänglich war. Daher schwieg er, und weil er nichts weiter zu tun hatte, ging er mit ihm, eine gute Entscheidung, wie sich später herausstellte. Obwohl es noch frühmorgens war, herrschte im Hafen bereits lebhafter Betrieb. Auf dem Weg zum Schiff trafen sie allerlei Bekannte und Freunde, und wer sie nicht kannte, der sorgte dafür, dass sich das änderte. Ihr Ruf eilte ihnen voraus. So dauerte es eine Weile, bis sie endlich an Jeldriks Liegeplatz ankamen.
Jeldrik hatte das Schiff zwar entladen lassen, aber für mehr war am gestrigen Tag keine Zeit geblieben. Er wollte es auf Schäden untersuchen und hatte dazu ihre Schiffszimmerleute von der Insel bestellt. Ziemlich brummig erschienen sie etwas später mit dicken Schädeln von der nächtlichen Feierei.
Sie machten sich daran, das Schiff gründlich zu untersuchen, denn es war nicht klar, wie dieser neue Schiffsbau die Überfahrt überstanden hatte. Sehr schnell fanden sie heraus, dass die Unterseite beim Zusammenstoß mit der Felsenbarriere doch etwas abbekommen haben musste. Es stand etwas Wasser im Rumpf, noch nicht besorgniserregend viel, aber: »Du wirst es hochnehmen müssen, sicher ist sicher«, sagte einer der Zimmerleute. Die anderen brummten zustimmend. »Tust du es nicht und versuchst, es nur von innen zu flicken, kann es sich über kurz oder lang zu einem gefährlichen Leck erweitern.«
Jeldrik hatte mit besorgter Miene zugehört. Das ›Hochnehmen‹ war nicht einfach und mit erheblichem Aufwand verbunden. Er seufzte. »Dann besser jetzt, als wenn es zu spät ist. Ist einer der Plätze frei? Die Flut erreicht bald ihren höchsten Stand.«
Phelan beobachtete es ebenso neugierig wie die immer größer werdende Zahl der Zuschauer. Wenn ein Schiff hochgenommen wurde, ruderte man es bei Flut zwischen einen Rahmen aus massiven Holzbalken. Setzte die Ebbe ein, senkte sich das Schiff zwischen die Balken und bockte sich dazwischen auf. Man konnte es dann samt Rahmen über eine Bahn aus glattem Lehmboden an Land ziehen. Phelan hatte dies zwar schon oft gesehen, aber auch er war gespannt, welche Schäden ihr neues Schiff davongetragen hatte. Mit vereinten Kräften und unter Zuhilfenahme vieler Ochsen und Pferde gelang es ihnen. Dann machten sich alle von der Insel Heimgekehrten daran, die Schäden zu beseitigen. Phelan beobachtete amüsiert aus sicherer Entfernung, wie sie sich dabei aufplusterten und wichtig taten, sich eben richtig saranisch verhielten. Sollte es ihnen gegönnt sein, sie waren schließlich lange genug der Heimat fortgeblieben. Bald waren sie umringt von Zuschauern, die das neuartige Schiff beäugen wollten.
Phelan konnte ihnen bei der Arbeit nicht wirklich helfen, also tat er es auf eine andere Weise. Er hielt die Neugierigen fern, die Jeldrik schon bald den Nerv raubten, beantwortete Fragen über Fragen, so gut er es vermochte, und erzählte die eine oder andere Geschichte aus ihrer Zeit auf der Insel. Dass er selbst nicht weniger Gegenstand ihrer Neugier war, bemerkte er wieder einmal nicht, und deshalb war er auch wirklich überrascht, als er sich plötzlich einer Gruppe kichernder Mädchen gegenüber fand.
»Zeigst du es uns einmal ganz, Phelan Aietansfalir?«, fragte eines von ihnen und machte Anstalten, ihn an der Schläfe zu berühren.
Phelan machte einen hastigen Schritt zurück. »Ganz sicher nicht!«, entfuhr es ihm, was die Mädchen in Gelächter ausbrechen ließ.
»Warum? Traust du dich nicht?«, spotteten sie.
Phelan musterte sie alle kalt, sodass ihnen das Lachen gleich verging. »Es liegt nicht in der Art der Gildaer, sich zu entblößen«, sagte er steif.
»Ha, deswegen nennt man dich ›Die Jungfrau‹«, riefen sie. »Da haben wir aber etwas ganz anderes gehört!« Unter viel Gelächter und spöttischen Blicken machten sie sich davon.
Phelan brummte etwas in sich hinein, das ihnen gewiss nicht gefallen hätte, und wandte sich wieder dem Schiff zu. Dabei fiel sein Blick auf eine junge Frau, die an einer Hüttenwand hinter der Gruppe gelehnt und sie beobachtet hatte. »Was ist?«, rief er sie nicht eben freundlich an. »Willst du dich auch über mich lustig machen?«
Sie sah zum Schiff, dann wieder zu ihm, und kam schließlich auf ihn zu. »Nein. Ich will dich etwas fragen.«
Phelan verschränkte die Arme. »Und was?«
Sie zögerte, sah wieder unsicher zum Schiff hinüber. »Du bist doch Jeldrik Roarsfalirs bester Freund, oder?«
»Fragt wer?«, verlangte Phelan zu wissen. Er fand, dass sie sich nicht wie die anderen Mädchen verhielt. Diese Unsicherheit passte nicht zu einer Saranerin, einer solchen schon gar nicht. Sie war groß und hübsch, mit klaren, meergrünen Augen und blonden Haaren, die eine ganze Reihe Schattierungen dunkler waren als die üblichen weißblonden Haare der Saraner. Temorischer Einschlag?, fragte er sich.
»Ich bin Gudrid Harconsfalan«, stellte sie sich vor.
»Oh.« Das war also Jeldriks Braut. Phelan sah schnell zum Schiff hinüber, wie sie es eben getan hatte. »Warum fragst du mich das?«
»Ich möchte wissen, wie er so ist.«
»Er ist mein Freund.«
»Das meine ich nicht, und das weißt du genau!«, zischte sie erbost.
Phelan musste über ihre böse funkelnden Augen grinsen. »Nein, das weiß ich, aber auch deine Frage war nicht annähernd das, was du eigentlich erfahren möchtest. Also, sprich offen: Was möchtest du, und wie kann ich dir helfen? Denn ich werde es auf jeden Fall tun, weißt du, um seinetwillen«, fügte er hinzu und sah sie offen an.
Sie biss sich auf die Unterlippe, schien mit sich zu ringen. Dann gab sie sich einen Ruck. »Also gut. Können wir hier irgendwo ungestört reden? Wo uns niemand sieht?«
»Regnars Liegeplatz«, fiel ihm nur spontan ein.
Gudrid riss die Augen auf. »Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch, ist es. Er ist mein Großonkel, wie du vielleicht weißt, und dort stört uns sicherlich niemand. Also, was ist?« Er machte eine einladende Handbewegung. »Es erfährt doch niemand, und bis Regnar zurück ist, bin ich längst in Temora.«