Transite kleiner Welten - Demian Cornu - E-Book

Transite kleiner Welten E-Book

Demian Cornu

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Beschreibung

Ob in einer Sozialwohnung in Bern, auf einem Schlauchboot im Mittelmeer oder in einem Slum der Kairoer Friedhofstadt: Die sieben Protagonisten sind auf der Durchreise. Sie hoffen auf ein Ankommen, ein neues Zuhause, Akzeptanz oder Ruhe. Die in dem Roman verwobenen Geschichten zeigen, dass es in jeder Lebenssituation um Liebe geht. Sogar bei der Flucht vor Krieg, Zwangsheirat, schmerzhaften Erinnerungen und dem Druck der Selbstverwirklichung. Demian Cornus Debüt handelt vom Aufbruch und von der Hoffnung, irgendwann an dem Ort anzukommen, an den man sich vielleicht schon immer erinnert hat, ohne ihn davor gesehen zu haben.

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Seitenzahl: 423

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1. Auflage

© 2022 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte vorbehalten.

Der Autor dankt der Burgergemeinde Bern für die finanzielle Unterstützung.

Lektorat: Barbara Raschig

Korrektorat: Patrick Schär, torat.ch

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Landkarte: Daniel Zollinger

Druck: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-905574-92-0

eISBN 978-3-905574-10-4

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Demian CornuTransite kleiner Welten

Für meine liebe Freundin Heide Kässer,die mit ihrem unermüdlichen Einsatz vielenjungen Frauen eine Stimme gab.

Und für alle, die so beherzt sind wie Hani undvon ihrer Stimme Gebrauch machen,um ihre eigene und die kleinen Welten ihrerMitmenschen ein wenig zu verschönern.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Danksagung

Glossar

Über den Autor

»Die ganze Vielfalt, der ganze Reiz,die ganze Schönheit des Lebens besteht ausSchatten und Licht.«

— Lew Tolstoi, Anna Karenina

1

Freitag, 19. März 2010.

Bern, Schweiz.

»Weißt du, was mal auf deinem Grabstein stehen wird, wenn du so weitermachst?«, fragt Yordanos. »Er hatte Potenzial!«

Nicola schüttelt den Kopf. Er kennt ihre provokanten Bemerkungen und ungebetenen Ratschläge. Sie meint es gut mit ihm, scheut sich nicht und nimmt kein Blatt vor den Mund. Verlegen lächelnd gibt er zu verstehen, dass sie recht hat.

Yordanos fügt nachdrücklich hinzu: »Mach endlich was aus dir! Ich kann dieses traurige Schauspiel nicht mehr mit ansehen.«

Nicola sieht sich unruhig im winzigen Lokal um. Die Zsa Zsa Bar ist an diesem schönen Frühlingsabend fast leer, aus dem Hintergrund erklingt Depeche Mode, während die drei anderen Gäste lebhaft diskutieren. Nicola versinkt in der gemütlichen Eckcouch und umklammert seine Bierflasche. »Was stimmt denn nicht mit meinem Leben?«, murmelt er.

»Du weißt genau, was schiefläuft«, sagt Yordanos energisch. »Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Du bist für mich wie ein Bruder. Ich höre mir deine Geschichten an, stehe hinter dir und unterstütze dich, wo ich kann. Sei es eine deiner neuen Ideen, flüchtigen Bekanntschaften oder dass du wieder einmal an allem zweifelst. Ernsthaft? Manchmal frage ich mich, ob ich dich damit in deiner fatalistischen Haltung noch bestärke.«

»Jetzt übertreibe mal nicht«, blockt Nicola ab. »Jeder ist selbst für sein Unglück verantwortlich.« Seine Aussage klingt auch für ihn lächerlich, dennoch findet er Gefallen daran.

»Für sein Unglück verantwortlich! Schwachsinn!« Yordanos’ Stimme wird lauter. Genervt erklärt sie: »Seit Jahren flüchtest du vor dir selbst und stürzt dich in Abenteuer, die dich vorübergehend antreiben, obwohl du ganz genau weißt, dass dich diese Ausweichtaktik kein bisschen weiterbringt. Was versprichst du dir von all deinen Affären? Soll ich dir sagen, weshalb sie dich langweilen? Weil du dich selbst satthast. Sie dienen dir lediglich als Ablenkung, damit du dich deinen wirklichen Herausforderungen nicht stellen musst.«

Bang! Angestaute, gegen sich selbst gerichtete Gefühle kommen in ihm hoch. »Ich beschäftige mich doch mit meinen Themen, seit ich denken kann!«, wehrt er ab und glaubt seine Worte selbst nicht wirklich. »Vielleicht habe ich nun mal nicht die gleichen Vorstellungen von einem erfüllten Leben wie du.« Yordanos’ entschlossener, leicht wütender Blick erinnert Nicola an die sambische Underdog-Boxerin, über die er eine Reportage gelesen hat: unerschrocken und bereit, mit ihren Fäusten die bestehende Ordnung zu zerschlagen, um eine neue zu schaffen.

»Du bist jung, intelligent und siehst gut aus!«, provoziert sie. »Du könntest verdammt noch mal die Welt erobern! Aber nein, du hältst dich mit deinem erbärmlichen Job als Straßenhändler über Wasser.«

Nicola hält dem Blick der Boxerin nicht stand und weicht noch mehr in die Ecke aus. Ja, die Welt erobern, das wollte er irgendwann mal. Als Jugendlicher interessierte er sich sehr fürs Weltgeschehen. Regelmäßig Zeitung lesen, sich in Bücher vertiefen; sein Wissensdurst war unermüdlich. Er erinnert sich, als er kurz vor der Maturitätsprüfung das Gymnasium abgebrochen hatte; nicht aufgrund mangelnder Leistung, sondern weil er nach dem Tod seiner Mutter von zu Hause ausgezogen war und zu Geld kommen musste. Ja, deshalb verdient er heute seinen Lebensunterhalt als Tickethändler auf dem Schwarzmarkt. Gerade will er sich damit rechtfertigen, sieht aber ein, dass er es sich zu einfach machen würde. So leicht kann er sich nicht aus der Verantwortung ziehen. Es gab auch andere Gründe, weshalb er sich dazu entschieden hat. Er konnte die besserwisserischen Lehrer nicht mehr hören, die versuchten, ihm die Welt zu erklären. Er wollte sich die Welt selbst erklären. Doch je mehr Einsichten er gewann, desto sinnloser erschien ihm das alles.

Yordanos wickelt sich ihre Haarsträhnen um den rechten Zeigefinger und wartet geduldig auf seine Antwort, während Nicola sich immer noch mit beiden Händen an seiner Bierflasche festhält, als sei sie die einzige Verankerung im Hier und Jetzt. Björks unverkennbare Stimme ist zu hören, untermalt von einem treibenden Beat und kräftigen Bässen. Ihre Worte klingen für ihn fast schon ermahnend: You’re alright. There’s nothing wrong. Self sufficiency please!

Die anderen Gäste gehen. Einer zückt seinen Geldbeutel und sieht nach dem Barkeeper, der seit einiger Zeit draußen auf der Straße telefoniert, die anderen beiden ziehen ihre Jacken über und folgen ihm. Es ist spät.

Nicola stellt die Flasche auf den Tisch. Entschlossen, innerlich jedoch nicht ganz überzeugt, sagt er: »Und wenn ich die Welt gar nicht erobern will? Unser Theaterstück hat den letzten Akt erreicht, und kein Mensch hat ein Interesse daran, das Drehbuch umzuschreiben. Vielleicht will ich das auch nicht mehr?« Das gesamte Leid der Welt und eine gewaltige Aussichtslosigkeit scheinen ihm manchmal die Luft zu nehmen. Gleichzeitig genießt er die dabei entstehende Schwere. Sie belebt ihn und vermittelt ihm das Gefühl von Verbundenheit, nach dem er sich so sehr sehnt. »Vielleicht bin ich ja auch glücklich so. Das Leben ist paradox.«

Yordanos möchte dem zelebrierten Selbstmitleid nicht noch neuen Nährboden geben. Nach einem kräftigen Schluck von ihrem Mojito antwortet sie: »Nein, du willst die Welt nicht erobern. Soll ich dir sagen, weshalb du keinen anständigen Job hast, stattdessen in der ganzen Schweiz herumfährst, um hier und da ein paar Hundert Franken zu verdienen? Weshalb du Frauen nur zum Ficken triffst, dich nicht binden kannst und vor dir selbst fliehst? Weil du ganz genau weißt, was schiefläuft, und das Potenzial hättest, etwas dagegen zu unternehmen. Insgeheim möchtest du die Welt retten und selbst daran zugrunde gehen.«

Mit einem befangenen Schmunzeln zeigt Nicola, dass er Yordanos nicht widersprechen will. Dennoch missfällt ihm ihre scheinbar überlegene Art. Gerne würde er ihr entgegenhalten, dass auch in ihrem Leben längst nicht alles in Ordnung ist. Sie wirkt stets reif und abgeklärt, doch beide wissen sie vom Schmerz, der sich hinter ihrem kontrollierten Auftreten verbirgt. Nach kurzem Zögern entschließt Nicola sich, nicht zum Gegenangriff auszuholen. Eigentlich gefällt er sich ja auch ganz gut in der Rolle, in die er hineingeraten ist.

»Aber die Welt wartet nicht auf den kleinen Märtyrer«, provoziert Yordanos. »Sie wartet auf den intelligenten jungen Mann, der endlich Farbe bekennt, der etwas leistet, sich engagiert. Wofür stehst du ein, Nicola? Woran soll sich die Nachwelt erinnern?«

Es ist keine Musik mehr zu hören, in der Bar ist es still. Nicola starrt Löcher in die Luft und fingert an seiner Bierflasche herum. Als er das Etikett fast gänzlich vom Glas gelöst, in kleine Stücke zerrissen und diese zwischen Daumen und Zeigefinger zu Bällchen gerollt hat, blickt er erleichtert zur Tür.

Der Barkeeper kommt wieder herein. »Sorry, war was Dringendes, meine Frau. Das Leben spielt so seine Geschichten, und manchmal spielt man besser mit«, grinst er. »Habt ihr noch einen Wunsch?«

»Zwei Single Malt, pur, ungekühlt, und etwas Musik, dann lässt es sich besser mitspielen«, sagt Yordanos mit einem Gesichtsausdruck, der nicht eindeutig auf eine scherzhafte Bemerkung schließen lässt.

»Klar.« Der Barkeeper macht die Musik wieder an und gibt den Lagavulin in die bauchigen Nosing-Gläser. Nachdem er den Whisky serviert hat, verschwindet er erneut auf die Straße.

Nicola hebt sein Glas an, will etwas sagen und stellt das Glas wieder auf den Tisch. »Weißt du, meine Eltern haben mich bei allem, was ich tat, unterstützt. Sie haben mir zugetraut, was sie sich selbst nie zugetraut hätten. Aber trotz dieses blinden Vertrauens fehlte mir was.« Er sieht sich als Jugendlicher, wie er mit seinen Eltern am Küchentisch sitzt. Einige Tage zuvor sind die Anschläge auf das World Trade Center in New York verübt worden. Er hat sich eingehend mit den Hintergründen auseinandergesetzt und will darüber diskutieren. Als aus dem Gespräch ein Monolog wird, unterbricht ihn seine Mutter und staunt darüber, was er in seinem Alter schon alles weiß. Die Anerkennung tut ihm gut, aber er kann kein ehrliches Interesse an seinem Wissen spüren. »Sie haben mich losgeschickt, die Welt zu erobern, und als ich wieder nach Hause zurückkehrte, kannten sie die Länder nicht, die ich erobert hatte. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja«, sagt Yordanos. »Aber hey«, sie trinkt einen Schluck Whisky, »du solltest stolz sein auf das, was du erreicht hast! Schau mal, wo wir aufgewachsen sind! Alte Leute, Alkoholiker, Sozialfälle und Ausländer – wie ich«, lacht sie. »Du warst immer einer der Besten in der Schule, mit deiner Bildung waren deine Eltern schnell überfordert. Ich erinnere mich noch, wie du als Zehnjähriger meinen Vater gefragt hast, ob er dir ein paar Bücher ausleiht, weil du die wenigen, die deine Eltern besaßen, alle gelesen hattest. Du warst immer neugierig. Weißt du noch, was damals dein großer Traum war?«

Just like a movie. Life doesn’t move me. Im Hintergrund läuft Bury the evidence. In den Lyrics von Tricky liegen Wut und Trauer. Sie wirken auf Nicola wie ein Mantra des Schmerzes. Ja, er weiß, worauf Yordanos anspielt. Er hatte den Traum irgendwann aufgegeben, weil er die Themen, die ihn bewegten, nicht mit der Realität seiner Eltern verbinden konnte. Wenn sein Vater müde von der Baustelle zurückkehrte, setzte er sich vor den Fernseher und fluchte über seine Arbeitskollegen, die alle faul und unfähig sein mussten. Da er nicht viel vom Lesen hielt und seinen Sohn manchmal spöttisch als Besserwisser bezeichnete, fragte sich Nicola, ob er in ihm vielleicht ebenfalls einen Nichtsnutz sah. Seine Mutter arbeitete Teilzeit im Verkauf und machte den Haushalt. Zu Hause umsorgte sie ihn liebevoll, war aber auch nicht die Gesprächspartnerin, die er gebraucht hätte. »Ja«, sagt Nicola herunterspielend, »ich wollte Reporter des GEO-Magazins werden.« Das Leuchten in seinen Augen verrät, dass der Wunsch noch nachwirkt.

»Genau! Du wolltest über ferne Länder und fremde Kulturen berichten. Ich bin überzeugt, dass du ein guter Reporter wärst. Du hast ein sehr kritisches Auge und kannst die Dinge betrachten und auseinandernehmen wie kein anderer.«

Der Barkeeper steht inzwischen wieder hinter der Theke und daddelt auf seinem Handy herum. Nach einer Weile sagt er: »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber es ist ziemlich spät, und ich würde gerne schließen.«

Yordanos blickt auf die Uhr und erschrickt: »Oh ja, in fünf Stunden muss ich bereits bei der Arbeit sein!« In Gedanken geht sie den morgigen Tag durch: Haare waschen, arbeiten im Café, kleine Einkäufe, Apéro mit einer Freundin und abends Literaturrecherche für eine Seminararbeit. Sie bedankt sich und begleicht die Rechnung.

Die beiden treten auf die spärlich beleuchtete, menschenleere Straße hinaus, nur eine Katze huscht über die Pflastersteine und verschwindet unter einem geparkten Auto.

Nicola hängt den Worten des Barkeepers nach. Spielt das Leben unsere Geschichten, oder spielen wir sie selbst?

2

Freitag, 2. April 2010.

Dadaab, Kenia.

Mit ihren Gedanken ist Raxma weit fort von dem sandigen Weg, der sie ins kenianische Flüchtlingslager führen soll. Sie will sich nichts mehr vorstellen, nichts mehr herbeisehnen, weil sie nicht wieder enttäuscht werden will. Der Traum von einer Familie war bereits geplatzt, bevor sie das Bedürfnis hierfür überhaupt formulieren konnte. Sie war gerade mal drei Jahre alt, als ihr Papa Suleyman gezwungen war, seine Frau zu verstoßen. Über die Hintergründe weiß Raxma wenig. Ihre Mutter gehörte nicht dem Clan der Jiroon an. Sie war eine Madhibaan, eine Minderheit, die von anderen Clans als unrein betrachtet wird, jedoch unter dem Diktator Siad Barre einen gewissen Schutz genoss. Nachdem dieser 1991 gestürzt worden war, geriet die Mischehe unter Beschuss. Als angesehener Verwaltungsbeamter der Distrikthauptstadt Waajid konnte Suleyman dem Druck seines Clans nicht standhalten. Soviel Raxma weiß, schickte er ihre Mutter in ihre Heimatregion zurück und heiratete kurz darauf eine Jiroon. Viele Fragen sind für Raxma unbeantwortet geblieben. Wie konnte ein starker und selbständig denkender Mann wie er dem Druck der Gesellschaft nachgeben? Sie wünschte sich, sie wäre damals älter gewesen. Ohne die kulturellen Zwänge zu verstehen, denen ihr Vater ausgesetzt war, hat sie sich bereits als kleines Mädchen geschworen, es mit ihrer eigenen Familie anders zu machen. Ihren Kindern würde sie die Geborgenheit geben, nach der sie sich selbst gesehnt hat.

Raxma bleibt stehen. Sie schaut zurück, auf die eigenen Spuren im Sand, in Richtung der Heimat und der verlorenen Familie.

An ihre Mutter hat sie nur vage Erinnerungen. Suleymans zweite Frau verstarb bei der Geburt ihres Sohnes, und Raxma lebte fortan mit Vater, Halbbruder und Großmutter, bis ihr Leben vor zwei Jahren erneut erschüttert wurde. Eines Tages tauchten vermummte Kämpfer von Al-Shabaab in der Gegend auf. Sie stießen auf den Widerstand der lokalen Milizen, zu denen auch Suleyman gehörte. Bei einem Gefecht wurde er getötet. Raxma hatte ihren geliebten Vater und mit ihm die ausbleibenden Antworten auf viele Fragen verloren. Vieles veränderte sich in Waajid. Al-Shabaab übernahm die totale Kontrolle. Zwar garantierten die Islamisten Sicherheit und bekämpften die Willkür der Clanmilizen, doch sie führten strenge, vom saudischen Wahhabismus geprägte Regeln ein und setzten diese mit Gewalt durch. Viele junge Männer schlossen sich ihnen an, so auch Raxmas Halbbruder Dalmar. Raxma und ihre Großmutter Sabira fühlten sich nicht mehr sicher. Sie entschieden sich für die Flucht ins Ausland; kein einfaches Unterfangen, da Al-Shabaab niemanden grundlos ausreisen ließ. Sabira gab vor, sie müsse sich wegen Herzproblemen in Kenia medizinisch behandeln lassen. So konnten sie aus Waajid entkommen.

Das alles ist nun Vergangenheit. Der Wind verweht Raxmas Spuren, und es fühlt sich tröstlich an. Die Zukunft liegt vor ihr, wenn sie auch ungewiss ist.

»Ayeeyo, denkst du, dass das Leben dort besser sein wird?«, fragt sie.

»Das Leben ist nirgends einfach«, sagt Sabira trocken. »An Enttäuschungen musst du dich gewöhnen.« In gleichmäßigem Rhythmus marschiert sie weiter, dem Flüchtlingslager entgegen, das gemäß der Einschätzung des Lkw-Fahrers noch vor der Abenddämmerung zu erreichen sein dürfte.

Raxma hätte sich etwas mehr Zuspruch von ihrer Großmutter gewünscht, doch das wäre nicht Sabiras Art gewesen. Nicht einmal beim Tod des Vaters wurde sie von ihr in den Arm genommen. Raxma kennt ihre Großmutter als nüchterne Frau, die sich davor hütet, über ihre Gefühle zu sprechen. Im Laufe der Jahre eignete sie sich diese kühl-distanzierte Art an, um sich vor Verletzungen zu schützen; eine Überlebensstrategie, die sich bewährt hat. Menschen sind nun mal verschieden, denkt Raxma und weiß, dass ihre ayeeyo für sie ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen würde. Besonders die schwierige Zeit nach Suleymans Tod und der Machtübernahme von Al-Shabaab hatte die beiden Frauen zusammengeschweißt. Sabira hasste die Islamisten vom ersten Tag an und machte keinen Hehl daraus. Anfänglich weigerte sie sich, den neu geltenden Regeln zu folgen, und musste am eigenen Leib erfahren, wie erbarmungslos diese Männer sind. Al-Shabaab stellte die Forderung, dass alle Frauen den neu eingeführten Schleier tragen müssen. Da dieser aus einem ganz bestimmten schwarzen Stoff sein musste, kam es zu Lieferengpässen. Nicht alle Frauen konnten sich die teure Neuanschaffung leisten. So teilte Sabira für einige Zeit einen Schleier mit ihrer Enkelin. Als sie eines Tages mit einem traditionellen farbigen Kopftuch auf den Markt ging, während Raxma bei einer Freundin war, wurde sie auf der Straße angehalten und mit Schlägen dafür bestraft. Raxma erinnert sich noch gut an jenen Abend und bewundert Sabira für ihren Mut. Trotz der Demütigung und des Schmerzes ließ sich die Großmutter von den neuen Machthabern nicht unterkriegen und war mit entschlossener Miene an Raxma herangetreten. Von dieser Verbrecherbande lasse sie sich nichts diktieren. Sie werde sich wehren, genau wie ihr Sohn sich gegen sie gewehrt habe. Aber sie haben ihn getötet, diese Männer sind doch gefährlich, hatte Raxma besorgt eingeworfen. Davon wollte Sabira nichts wissen. Mein Sohn hat gekämpft bis zum letzten Tropfen Blut, sagte sie, ohne ihren Stolz zu verbergen. Aus Liebe zu seinem Land und seiner Familie. Ich akzeptiere es nicht, dass diese Kriminellen von einem Tag auf den anderen mein ganzes Leben auf den Kopf stellen. Wie recht sie hatte! Raxma musste sogar ihre Arbeit in der Lebensmittelverteilung für Action contre la faim aufgeben, weil Al-Shabaab den Frauen fast alle Tätigkeiten verboten hatte. Sie hatte ihren Job geliebt, und mit ihren Kolleginnen war sie gut befreundet. Sie trafen sich auch an Wochenenden, unternahmen gemeinsame Ausflüge und hatten jede Menge Spaß zusammen. In diesen Freundschaften hatte Raxma endlich die Zusammengehörigkeit gefunden, die ihr in der Familie fehlte.

Erschöpft und in ihre eigenen Gedanken versunken, gehen die beiden Frauen nebeneinander her. Die Blasen an Raxmas Füßen machen jeden Schritt zur Qual. Von der Seite betrachtet sie Sabira, die auf ihren knochigen Beinen unbeirrt dem immer noch außer Sichtweite liegenden Flüchtlingslager entgegenschreitet. Was für eine starke Frau sie ist, denkt Raxma voller Bewunderung.

»Da!«, ruft Sabira und weist mit dem Finger in die Ferne. »Siehst du das? Dort werden wir eine Rast einlegen.«

Inmitten der Wüste kann Raxma einzelne Menschen und Zelte erkennen. Das müssen die äußersten Siedlungen von Dadaab sein. Hier hat das UNHCR mehrere Flüchtlingslager errichtet. Über dreihunderttausend Somalier sollen sie beherbergen. Viele seien hier geboren, und täglich kommen neue dazu. Jetzt ist auch sie eine davon. »Haben wir es geschafft?«, seufzt Raxma auf. Mit dem greifbaren Ziel vor Augen spürt sie, dass sie am Ende ihrer Kräfte ist. Diesen letzten Abschnitt wird sie noch in Angriff nehmen, dann ist Schluss. Ihre müden Beine würden sie kein Stück weiter tragen. Ein Siegesgefühl rieselt durch ihren ganzen Körper und löst einen rauschartigen Zustand aus. So muss sich eine Marathonläuferin auf dem letzten Kilometer fühlen. Ein Gefühl zwischen Todeskampf und absolutem Glück. »Ob Dalmar es auch geschafft hat?«, sagt sie mehr zu sich selbst, aber laut genug, dass die Bemerkung auch Sabira nicht entgangen ist.

Eine Woche nachdem sich ihr Bruder Al-Shabaab angeschlossen hatte, kam er auf einmal nicht mehr nach Hause. Seither hat Raxma nichts mehr von ihm gehört. Sie stellte sich vor, wie er in einem sinnlosen Krieg kämpft. Manchmal sah sie sogar, wie er dabei getötet wird. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Dalmar sich stark verändert. Er entfaltete einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, der bald zu einer bevormundenden Arroganz wurde. Vor allem Raxma gegenüber stellte er plötzlich neue Forderungen. Lange missachtete sie die alarmierenden Zeichen, obwohl Sabira sie mit Nachdruck darauf aufmerksam machte. Heute verurteilt sie ihn zwar für sein Verhalten, trotzdem ist er immer noch ihr kleiner Bruder.

»Was interessiert mich dieser Versager?«, flucht Sabira. Beim Gedanken an Dalmar gerät sie in Rage. »Mein Sohn erwies seinem Clan alle Ehre und verteidigte unsere Heimat vor diesen Barbaren. Doch deinem Bruder fällt nichts Besseres ein, als sich den Mördern seines Vaters anzuschließen und mit ihnen in den Kampf zu ziehen. Und mich, seine eigene Großmutter, lässt er im Stich. In der Hölle schmoren soll er!« Sabira hat sich so ereifert, dass es ihr fast den Atem verschlägt. Keuchend und hustend schreitet sie den Zelten entgegen, von denen sie nur noch einen Steinwurf entfernt zu sein scheinen.

Raxma versteht den Zorn ihrer Großmutter. Dennoch hat sie Erbarmen mit ihrem Bruder und wünscht sich insgeheim, dass er an einem friedlichen Ort ein neues Leben führt. Lange kreisen ihre Gedanken noch um ihn.

Der letzte Wegabschnitt zieht sich in die Länge. Als die beiden Frauen endlich die ersten Menschen und vereinzelte Zelte erreichen, beschließen sie, sich vorübergehend niederzulassen. Zwischen Sträuchern und dürren Grasbüscheln rollt Sabira ihre Matte aus und legt sich hin. Raxma baut aus den wenigen auffindbaren Ästen und herumliegenden Plastikplanen einen Unterschlupf.

»Ayeeyo, hast du dir Kenia so vorgestellt?«, fragt sie und schaut sich entmutigt um.

»Kümmere du dich jetzt um unser Zelt«, erwidert Sabira emotionslos, »so haben wir in der Nacht Schutz vor dem Wind. Morgen schauen wir weiter, so Gott will.«

Als Raxma den improvisierten Schlafplatz fast fertiggestellt hat, hüpft ein Mädchen herbei.

»Meine Mutter sagt, ich soll euch einen Kanister bringen, damit ihr nicht mehr bis zur Wasserstelle gehen müsst. Die ist nämlich sehr weit weg von hier.«

Von der großen Güte überwältigt, bringt Raxma nicht mehr als ein müdes Danke über die Lippen.

»Es soll alles besser werden«, fährt das Mädchen fort. »In einem großen Zelt dort drüben müssen wir ihnen unsere Namen sagen. Dann kriegen wir etwas zu essen und richtige Zelte. Vielleicht gibt es dort auch einen Arzt. Meine Mutter ist nämlich krank und braucht dringend Hilfe. Ich wünsche euch alles Gute!« So schnell, wie die Kleine gekommen ist, verschwindet sie wieder.

Raxma sitzt vor dem Unterschlupf auf dem sandigen Boden. Erst als sie Sabira schnarchen hört, lässt sie ihre überwältigenden Gefühle zu. Die rührende Geste des Mädchens hat all das verkörpert, wonach sie sich in diesem Moment gesehnt hat. Grenzenlose Liebe und tiefer Schmerz vereinen sich in ihr. Sie weint, hemmungslos. Der Wind trägt das Weinen fort.

3

Dienstag, 11. Mai 2010.

Bern, Schweiz.

Es knallt laut. Luigi schreckt auf und hört das Geschrei von Menschen. Der Fernseher. Die Nachrichten zeigen einen Krieg, irgendwo draußen in der Welt. Nicht in Luigis Welt. Sein Leben spielt sich in seinem dunklen Wohnzimmer ab, hinter verschlossenen Fensterläden. Vor einigen Monaten hat er sie mit einer Schnur zusammengebunden, weil er die verrosteten Scharniere, an denen sie hängen, nicht ersetzen lassen wollte. Im kalten Licht des Fernsehers stehen eine halb leere Flasche Schnaps und ein Teller Spaghetti auf dem Glastisch. Er muss eingeschlafen sein. Sein Nacken schmerzt.

Luigi hustet. Angestrengt verrenkt er sich, um nach der Packung Mary Long Doppelfilter zu greifen, die halb geöffnet am Boden liegt. Er zündet sich eine Kippe an. Das Display der Stereoanlage zeigt halb neun. Ein kühles Bier. Er erhebt sich mühevoll und steuert auf die Küche zu. »Scheiße!« Luigi ist gestolpert und taumelt. Einen Moment lang sieht es aus, als könnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Nachdem es ihm gelingt, sich mit einer Hand am Türrahmen festzuhalten, harrt er aus, bis das Schwindelgefühl nachlässt. Auf dem Fußboden im Flur liegen seine Pantoffeln.

Sandra hatte sie ihm in einem jener kalten Winter vor vielen Jahren geschenkt. Er trug damals ständig zerlöcherte weiße Socken und machte keine Anstalten, sich neue zu besorgen. Weil Sandra sich daran störte, kaufte sie ihm drei Paar. Als er eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, fand er auf dem Küchentisch neben seiner Briefpost die neuen Socken und ein kleines blaues Paket vor. Er war überrascht und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Geschenke bedeuteten ja, dass jemand an ihn gedacht hatte, und das war ihm meistens unangenehm. Er öffnete das Paket, während Sandra hinter der hölzernen Küchenzeile stand, Gemüse schnitt und ihn erwartungsvoll aus den Augenwinkeln beobachtete. Die Filzpantoffeln gefielen ihm nicht, aber praktisch waren sie. Verlegen bedankte er sich bei seiner Frau. Seither trug er die Pantoffeln jeden Tag.

Jetzt sind die Erinnerungen wieder da, an Sandra, an Nicola – an seine kleine Familie, die es nicht mehr gibt. Seine sichere und stabile Welt ist durcheinandergeraten. Die Familie hatte sein Leben mit Sinn erfüllt. Sie war für ihn der Grund, morgens aufzustehen. Und wenn er nach der Arbeit erschöpft nach Hause kam, war er stolz und zufrieden. »Alles weg!«

Luigi öffnet den Kühlschrank, nimmt ein Bier heraus und knallt die Tür zu. Er trinkt die Dose in einem Zug leer und wirft sie in die Spüle. Ein schaler Geruch nach abgestandenen Essensresten schlägt ihm entgegen. Bevor er wieder die Couch anpeilt, holt er eine weitere Dose aus dem Kühlschrank. Im Flur versetzt er einem der herumliegenden Pantoffeln einen Tritt und schleudert ihn in hohem Bogen gegen die Wand. Er lässt sich auf das durchgesessene Polster fallen und zündet sich eine neue Kippe an.

Im Fernsehen läuft eine Sendung über Obdachlose. Der neunzehnjährige Timo sitzt am Tisch in einer Notunterkunft und trocknet Geschirr. Die Reporterin will wissen, wie er auf der Straße gelandet sei. Timo legt das Handtuch auf den Tisch und kratzt sich am Kopf. Mit leerem Blick beginnt er zu erzählen.

Wütend knallt Luigi die Fernbedienung gegen den Fernseher und flucht: »Abgehauen aus der Privatschule! Pah! Verwöhntes Arschloch! Keinen Tag würde der durchhalten, wenn er richtig arbeiten müsste.«

Die Szene erinnert ihn an einen Abend, als er Sandra gegenüber laut wurde. Gewöhnlich überließ er Erziehungsfragen seiner Frau, weil er der Meinung war, dass sie besser wisse, was für Nicola das Richtige sei. Nicht so an jenem Abend. Nicola war gerade sechzehn geworden und besuchte das Gymnasium. In den Sommerferien wollte er mit ein paar Freunden einen Interrail-Trip quer durch Europa machen. Beim Abendessen erfuhr Luigi, dass Sandra ihrem Sohn in Aussicht gestellt hatte, die Kosten für die Reise zu übernehmen. Wie soll Nicola denn da lernen, dass nichts im Leben umsonst ist, fuhr Luigi Sandra an. Aber er hat doch hart gearbeitet, etwas Erholung tut ihm gut, versuchte Sandra Luigi zu beschwichtigen. Als ob man sich von der Arbeit am Schreibtisch erholen muss, spottete Luigi. Er hört Sandras Stimme, als wäre es gestern gewesen: Sturer Esel, unverbesserlich. Darauf er: Macht doch, was ihr wollt! Wenn Nicola ein Weichling wird, ist es nicht mein Problem.

Luigi will sich nicht daran erinnern. Sandra ist tot. Er entsorgt die längst heruntergebrannte Kippe in der leeren Bierdose. Es zischt kurz. Luigi schleppt sich zum Fernseher und macht ihn aus. Ja, er hat Fehler gemacht, sie mit ihrer Krankheit alleingelassen. Dabei hat er ja versucht, sie aufzuheitern, und ihr lustige Anekdoten aus seinem Alltag erzählt, doch sie hätte etwas anderes gebraucht.

Es klingelt an der Tür.

»Was zum Teufel …? Herein!«

Luigis Tür ist nie abgeschlossen, er hat nichts zu verbergen. Es gibt nur wenige Menschen, die ihn besuchen. Vermutlich sind dem Junkie aus dem Erdgeschoss die Kippen ausgegangen, denkt er.

Die Klingel. Ein zweites Mal.

Er brüllt: »Herein!«

Nicola wird es nicht sein, er war gerade vor einer Woche hier. Bei seinem letzten Besuch war er besonders hartnäckig. Luigi solle doch in die Heimat seiner Eltern ziehen, la dolce vita genießen, vielleicht erneut heiraten. Was Nicola sich wohl darunter vorstellt, fragt sich Luigi. Dass er sich ein blondiertes Rai-Uno-Püppchen angelt und auf einem Weingut seinen Lebensabend verbringt? Alter Träumer!

Mit einem unverständlichen Raunen macht er seinem Unmut Luft.

»Luigi, bist du wach? Darf ich reinkommen?«, hört er eine vertraute Stimme.

Fadumo. Es ist fünf Jahre her, dass er sie kennenlernte. Gerade hatte er den ersten Winter in seiner neuen Wohnung überstanden. Es war hart gewesen, denn er hatte es verpasst, Brennholz für die Heizung zu bestellen. Mit mehreren Trainerpullis und einem konstant hohen Alkoholpegel kämpfte er gegen die kalten Temperaturen an. Seit er eingezogen war, hatte die zweite Wohnung auf seinem Stockwerk leer gestanden. Eines Tages begegnete er im Treppenhaus seiner neuen Nachbarin. Die freundliche dunkelhäutige Frau trug ein farbiges Kleid und war etwas zu gesprächig für seinen Geschmack. Luigi vermutet, dass sie um einige Jahre jünger ist. Geht mich nichts an, sagt er sich stets. Sollte sie etwas über sich erzählen wollen, würde sie es bestimmt tun. In ihrer Anwesenheit fühlt er sich manchmal etwas besser.

Fadumo hat die Tür einen Spalt weit geöffnet und bleibt stehen.

Luigi schämt sich einen Moment lang für seine Erscheinung und die Unordnung in seiner Wohnung. Ach, was soll’s. »Mein Zuhause ist dein Zuhause«, sagt er in heiterem Ton und merkt selbst, dass es sich irgendwie bemüht und albern anhört. »Pass auf, dass du nicht stolperst!«

»Ich bin vorsichtig. Bist du angezogen?«, fragt sie. Luigi hat sie auch schon mal hereingebeten, obwohl er in der Unterhose auf der Couch lag.

»Klar, komm rein!«

Mit einem prächtigen Blumenstrauß in der Hand betritt Fadumo die Wohnung. Ihr buntes Stoffgewand passt zum frühlingshaften Wetter, das Luigi entgeht. Vom muffigen Geruch aus der Küche lässt sie sich nicht beirren. Sie ist gut gelaunt. Flink bewegt sie sich zwischen ungeöffneten Briefumschlägen, sich türmenden Zeitungen und leeren Bierdosen hindurch. Mit einer Handbewegung deutet Fadumo an, ihm die Blumen überreichen zu wollen. Freudig sagt sie: »Herzlichen Glückwunsch!«

»Ach! Schon wieder!«, entweicht es ihm. »Mein letzter Geburtstag war doch gerade erst.« Er steht auf und nimmt die Blumen entgegen. Unbeholfen hält er sich am Strauß fest.

»Oh, warte«, sagt Fadumo, die vermutet, dass sie in Luigis Haushalt kein passendes Gefäß findet, »ich hole dir eine Vase.«

Als sie den Raum verlässt, folgt Luigis Blick ihr. Er ist beeindruckt von der natürlichen Leichtigkeit ihrer Bewegungen. Sie ist die einzige Person, mit der er es aushält. »Ach was!«, lacht er verzweifelt. Er hatte seit acht Jahren keinen Sex mehr. Wen wundert’s, dass er sich mit dieser reizenden Frau versteht?

Fadumo kommt zurück. In der Hand hält sie eine mit Ornamenten verzierte Messingvase. Sie erlöst Luigi von dem Strauß und stellt die Vase mit den Blumen auf den Glastisch. Als hätte sie eine Ansprache vorbereitet, stellt sich Fadumo vor ihn hin und sagt: »Luigi, du wirst heute fünfzig Jahre alt. Eine schöne, runde Zahl.« Sie hält inne. Dann fährt sie mit strahlenden Augen fort: »Du hast einen gesunden Jungen, der dich mit Stolz erfüllt. Er ist jetzt groß und geht seinen eigenen Weg. Vielleicht wird er selbst einmal einen hübschen kleinen Jungen haben.« Jetzt gerät sie ins Stocken und schluckt.

Ist sie traurig? Luigi weiß nicht, wie er auf ihre Worte reagieren soll, und ist froh, als sie weiterspricht.

»Auch wenn wir von unseren Kindern getrennt leben, soll die Sonne weiter für uns scheinen.« Sie zieht eine Halskette aus ihrem Gewand hervor und legt sie Luigi um den Hals. An der Kette hängt eine kleine goldene Sonne. »Dein Leben soll wieder mit Licht erfüllt sein!«

4

Sonntag, 23. Mai 2010.

Bern, Schweiz.

Nach einem erfrischenden Bad im Fluss sitzen Yordanos und Nicola gemütlich vor dem Haus in der unteren Altstadt, in dem Nicola seit seinem Auszug vor bald acht Jahren ein kleines Studio mietet.

Der erhöht gelegene Sitzplatz unter dem alten Laubenbogen ist ein beliebter Treffpunkt der ganzen Nachbarschaft. Sie essen und trinken dort gemeinsam, spielen, diskutieren und feiern, häufig bis spät in die Nacht. Bis jetzt sind Nicola und Yordanos die einzigen am großen Holztisch. Auf dem Grill liegen Pilze, grüner Spargel, mit Honig und Thymian gewürzte Zwiebeln, Zucchini- und Auberginenscheiben.

»Ich liebe es, hier oben zu sitzen und dem Treiben in der Stadt zuzusehen.« Nicola lehnt sich an das Geländer und schaut auf die Straße hinunter. »Man ist zwar mitten im Geschehen und doch nur Beobachter.«

»Ein Sinnbild für dein Leben«, spöttelt Yordanos und lacht. »Auf allen Hochzeiten tanzen, nichts verpassen und sich zu nichts verpflichtet fühlen.«

Nicola zieht eine selbst gedrehte Zigarette hinter seinem Ohr hervor, zündet sie an und tritt an den Grill heran, um die Zucchini und Auberginen zu wenden. »Okay, das war fies.« Die Zigarette im Mundwinkel, wendet er sich dem Gemüse zu und sagt beiläufig: »Und du? Vergisst vor lauter Verpflichtung zu tanzen?« Dann blickt er auf und sieht Yordanos lange an. Sie sitzt am Tisch und schneidet das Olivenbrot in gleichmäßige Scheiben. Seine Bemerkung ignoriert sie gekonnt. Er fragt sich, was aus dem feinfühligen Mädchen geworden ist, das sie einst war. Schon damals haftete ihr mit ihrem ernsten Blick und den beiden nach außen geflochtenen Zöpfen etwas Strenges an, und manchmal wirkte sie verträumt, als würde sie in andere Welten eintauchen. Hin und wieder war sie hellsichtig, doch es fiel ihr schwer, mit anderen darüber zu reden. Nicola war der Einzige, dem sie sich anvertraute. »Hast du diese Vorahnungen noch?«, fragt er interessiert.

Die Frage überrascht sie.

Nicola fährt fort: »Deine Eltern bezeichneten sie immer als Hirngespinste. Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als du die Überschwemmung da unten in der Matte vorausgesehen hast. Siebte Klasse. Bereits im Winter hast du mir von den Bildern erzählt, und im Mai stand das ganze Viertel unter Wasser.«

»Das war früher«, blockt Yordanos ab. Ohne aufzublicken, legt sie konzentriert die Brotscheiben in den Korb.

Die Eingebungen hat sie tatsächlich nur noch selten. Von ihren Eltern lernte sie schon früh, dass Probleme mit dem Kopf gelöst werden. So nahm sie ihre Vorahnungen bereits als Kind so lange auseinander, bis sie lauter sezierte Einzelteile vor sich hatte, die, für sich allein stehend, erklärbar waren. Sobald alle Elemente geordnet an ihrem Platz waren, konnte sie damit Frieden schließen.

»Früher hast du oft von deinen Träumen und Gefühlen gesprochen. Das machst du seit Jahren nicht mehr. Manchmal habe ich den Eindruck, als hättest du dir unbewusst eine Strategie angeeignet, um mit deiner starken Intuition keinen Schaden anzurichten«, sagt Nicola.

»Das ist doch Quatsch!« Mit einem durchdringenden Blick gibt Yordanos ihm zu verstehen, dass sie nicht weiter darüber reden möchte.

Aber er lässt nicht locker. »Du bist eine starke und ehrgeizige Frau. Du führst im Gegensatz zu mir ein beständiges Leben, hast klare Prinzipien und bist verdammt geduldig. Dafür bewundere ich dich. Aber ich frage mich, ob du manchmal auch Spaß hast. Gut, da war dieser Patrick, den ich übrigens nicht ausstehen konnte. Fünf Jahre ist das her. Dann diese …«

»Hör auf!«, zischt Yordanos, die sofort versteht, worauf er hinauswill.

Er weiß, dass er sich mit der Geschichte, die zum Bruch mit ihren Eltern geführt hat, auf dünnes Eis begibt, sie spricht nicht gerne darüber. Vor zwei Jahren packte sie ihre Sachen, in der Überzeugung, ihre Eltern damit zu schützen. Seither hat sie keinen Kontakt mehr zu ihnen. »Mir fiel auf«, sagt Nicola, »dass du nach ihm keine Beziehung hattest und nie irgendeine Affäre erwähnt hast. Amüsierst du dich genug?«

»Weil ich nicht in der Welt herumvögle wie du? Das ist doch lächerlich!«

»Es geht ja nicht nur um Sex«, versucht Nicola seine Aussage zu relativieren. »Ich spreche von der Leichtigkeit.«

»Meine leichte Seite?«, reagiert Yordanos gereizt. Sie öffnet eine Flasche Douro. Gedankenversunken schenkt sie den Wein ein und schweigt.

Nicola nimmt das Gemüse vom Rost, verteilt es auf die Teller und setzt sich an den Tisch.

Yordanos blickt auf: »Vielleicht war ich früher tatsächlich unbeschwerter. Ich habe mir gewünscht, auch mal in den Arm genommen zu werden. So was hatte aber bei meinen Eltern keinen Platz. Wer weiß, ob aus mir dann auch eine kleine Träumerin hätte werden können«, lacht sie und schaut Nicola kurz direkt in die Augen, um sich zu vergewissern, dass der Seitenhieb angekommen ist. »Die Nachmittage bei dir zu Hause hatten für mich immer etwas Leichtes. Deine Mutter hat mir gegeben, wozu meine Eltern nicht fähig waren. Ich habe mich von Sandra geliebt und verstanden gefühlt. Manchmal hat mich ihre Zuneigung sogar etwas überfordert, ich habe nicht wirklich gelernt, mit so viel davon umzugehen.«

Nicolas Gesichtsausdruck verfinstert sich. Nie wird er den Tag vergessen, als seine Mutter ihm mitteilte, dass die Ärzte Brustkrebs diagnostiziert hatten. Da die Erkrankung sehr spät erkannt worden war und sich schon etliche Metastasen gebildet hatten, konnte auch mit der angeordneten Chemotherapie nichts mehr erreicht werden. Sandra wurde innerhalb kürzester Zeit immer schwächer und starb ein paar Monate später. Nach ihrem Tod fühlte sich Nicola endlos leer, und sein Vater ließ ihn im Stich. Nach einer Weile sagt er leise: »Ich finde schön, was du über sie gesagt hast.« Dann fügt er an: »Lass uns jetzt essen! Das Gemüse wird sonst kalt.« Er erhebt sein Glas und streckt es Yordanos entgegen: »Auf das Leben!«

Sie beginnen mit dem Essen und schweigen sich an, bis Nicola mit halb vollem Mund völlig unerwartet die Stille durchbricht. »Weißt du, sosehr ich meine Mutter vermisse, hätte ich mir manchmal deine Eltern gewünscht.« Seine Ehrlichkeit überrascht ihn selbst. Die Bemerkung ist irgendwie falsch rübergekommen. Er kaut hastig fertig und schluckt herunter. »Ich meine, schau dir deine Mutter an! Sie wollte mit dir Hegel und Marx lesen, als deine Freundinnen noch mit Puppen gespielt haben, und meine …«

»Nicola, bitte!«, unterbricht ihn Yordanos. »Meine Eltern sind gebildet und belesen, ja. So konnten sie mich bei meinen Hausaufgaben unterstützen. Aber das war nicht nur angenehm. Wenn ich mal was nicht auf Anhieb verstanden habe, schnauzte mich mein Vater an.« Sie nimmt einen Schluck und hält kurz inne. Dann sagt sie: »Unsere Eltern sind verschieden. Etwas haben wir gemeinsam: Wir beide hätten Dinge gebraucht, die wir von unseren Eltern nicht bekommen haben. Aber wir haben auch aus unseren Erfahrungen gelernt, sind gerade einmal Mitte zwanzig und haben das Leben noch vor uns.«

»Da hast du recht«, pflichtet ihr Nicola bei. »Vielleicht haben wir uns genau deshalb gefunden.«

Das aufgebrachte Thema hat Yordanos nachdenklich gestimmt. Plötzlich sagt sie: »Nicola, etwas ganz anderes. Wie geht es Luigi?«

Seit Sandras Tod steckt Nicolas Vater in einer Depression. Seine beständige Welt fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Yordanos erinnert sich an die schwierige Zeit, als Nicola, obwohl in Trauer wegen seiner Mutter, auch noch mit ansehen musste, wie sein Vater sich aufgab und seinen Schmerz in Alkohol ertränkte. Um sich selbst zu schützen, zog er von zu Hause aus, worauf Luigi noch tiefer in sein Loch fiel. Nicola besuchte ihn fast täglich, kochte für ihn und versuchte, ihn zu unterstützen. Auch Yordanos kam häufig mit. Bald wurde die gedrückte Stimmung allen zu viel, die Besuche wurden seltener, und Yordanos musste einsehen, dass sie mit ihrer Hilfe nicht viel bewirken konnte.

»Es hat sich nichts verändert, seit du das letzte Mal mit dabei warst«, sagt Nicola frustriert. »Nur, dass er jetzt noch mehr trinkt.«

Kurz nach Yordanos’ letztem Besuch verlor Luigi seinen Job, weil er vermehrt zu spät zur Arbeit erschienen war und nicht mehr die gleichen Leistungen erbracht hatte wie früher. Bei der Arbeitsvermittlung verpasste er regelmäßig die Termine, schrieb kaum Bewerbungen und wurde nach zwei Jahren zum Sozialfall. Dann wiesen ihm die Behörden eine günstige Zweizimmerwohnung in einem renovierungsbedürftigen Haus zu, wo er seit bald sechs Jahren wohnt.

»Vor ein paar Wochen war ich dort«, sagt Nicola. »Sein Zustand macht mich fertig. Dieses traurige Schauspiel möchte ich dir nicht zumuten, ganz ehrlich. Vielleicht werde ich es bald wieder versuchen.«

5

Montag, 31. Mai 2010.

Dadaab, Kenia.

»An wen soll ich mich denn wenden, wenn mir nicht einmal mein Clan zur Seite steht?«, fragt Sagaal in die Runde.

Die Gruppenleiterin Yasmin antwortet in ruhigem Tonfall: »Genau deshalb sind wir hier. Wir nehmen uns der Probleme an, um die sich die Verantwortlichen nicht kümmern.«

Bereits nach wenigen Wochen hat Raxma mit dem Netzwerk der Vergessenen Bekanntschaft gemacht, einer von somalischen Flüchtlingen gegründeten Frauenorganisation, die vor allem in Dagahaley aktiv ist, einem der Lager Dadaabs, in dem viele ärmere Somalier aus ländlichen Gebieten leben.

»Erzähle uns bitte die ganze Geschichte, Sagaal«, sagt Yasmin.

»Ich war unterwegs nach Hagadera, weil ich eine Freundin besuchen wollte«, erzählt die junge Frau stockend. »Es war schon spät. Auf halber Strecke baute sich ein Mann vor mir auf.« Sie wendet ihren Blick ab. »Als er fertig war, ließ er mich da liegen und machte sich aus dem Staub. Der Flüchtlingshelfer, der mich gefunden hat, fuhr mich dann nach Dagahaley zurück.«

»Hast du dem Mann denn gar nichts erzählt? Wäre er mit dir zur Polizei gegangen, hätte die vielleicht etwas unternommen.« Yasmin weiß, wie schwierig es ist, einen Täter vor Gericht zu bringen, und sieht gerade eine einmalige Chance vor sich. Da das soziale Stigma zu groß ist, werden die wenigsten Fälle gemeldet. Leider. Immer wieder versucht sie, den Frauen dies vor Augen zu führen.

Raxma bewundert die charismatische Leiterin, die sich trotz der aussichtslosen Lage und des hohen Risikos für die Rechte der Frauen einsetzt. Sie habe sich viele Feinde gemacht, einige wünschten sich ihren Tod, vertraute ihr Yasmin einmal an. Zu ihrer eigenen Sicherheit zeigt sich die unverheiratete Frau nur im schwarzen Niqab. Nicht nur den Männern ist sie ein Dorn im Auge. Gerade mit dem Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung, die immer noch weit verbreitet ist, stößt das Netzwerk in der ganzen Bevölkerung auf starken Widerstand. Dass viele ältere Frauen in dieser Hinsicht äußerst konservativ denken, hat Raxma am eigenen Leib erfahren. Nie wird sie vergessen, wie ihr Vater seine Mutter verfluchte, als er erfuhr, dass Sabira die kleine Raxma heimlich in ihr Heimatdorf gebracht hatte, um sie von einer alten Hebamme beschneiden zu lassen.

Ob diese Arbeit nicht frustrierend sei, fragte Raxma Yasmin eines Nachmittags nach einer Sitzung. Sie habe gelernt, sich auch mit kleinen Erfolgen zufriedenzugeben, antwortete die Kämpferin entschlossen. Mit ihrer herzlichen Art versteht sie es, andere Frauen zu bestärken, schreckt aber, wie heute, auch nicht davor zurück, sie zu tadeln.

Sagaal versteht Yasmins Ärger. Verzweifelt sagt sie: »Was hätte ich denn tun sollen? Er hat doch die Flecken auf meinem Rock gesehen. Vermutlich hatte er Feierabend und wollte nicht noch mehr Probleme.«

Jetzt wendet sich Yasmin an alle anwesenden Frauen: »Sagaal hat recht. Vielleicht hätte er ihr geraten, sich an die Blockleiterin zu wenden.«

Die Frauen kennen das Prozedere. Die Blockleiterin hätte sich an den Clanchef gewandt, wäre es ausnahmsweise zu keiner finanziellen Einigung zwischen den beiden Clans gekommen, hätten sie die Ursache des Problems im besten Fall der Polizei gemeldet, die dann vom Täterclan bestochen worden wäre, womit sich die Sache wie von selbst erledigt hätte.

Jetzt wird Yasmins Stimme energischer. »Hört mir zu! Genau in solchen Fällen müssen wir darauf beharren, dass ein Verfahren eingeleitet und das Schwein verurteilt wird. Und wenn der betreffende Mitarbeiter gerade keine Lust hat, sich des Falles anzunehmen, dann informieren wir seinen Vorgesetzten. Sagaal, kannst du den Täter beschreiben? Und weißt du, wie der Mann vom UNHCR heißt?«

Als Raxma das Treffen verlässt, brennt die Mittagssonne auf die karge, trockene Landschaft. In ihren Sandalen stampft sie durch den Sand, unterwegs zu Sabira, mit der sie inzwischen ein Lagerzelt teilt. Ihre Gedanken kreisen um die Gespräche beim Netzwerk.

Was für ein hilfloses Wesen der Mensch doch ist! Was wäre ein Säugling ohne den Schutz seiner Mutter? Unfähig, sich selbst in der Welt zu behaupten. Was ist mit ihrem Bruder, der seine Mutter nie gekannt hat? Jetzt fühlt er sich bei Al-Shabaab aufgehoben. Verwechselt er den Zusammenhalt in der Gruppe mit der Geborgenheit, die er als kleiner Junge benötigt hätte? Ein Bild geht Raxma nicht aus dem Kopf: Dalmar öffnet die Tür, ein Gewehr umgehängt, und verkündet stolz, dass er in den Krieg gegen die Ungläubigen zieht. Sie schaut ihn an und sieht, wie unsicher er ist. Die Verletzlichkeit in seinen Augen erinnert sie an den kleinen Jungen, der er einmal war.

Einige Schüler kreuzen Raxmas Weg, ihre bunten Hefte wie wertvolle Schätze in den Armen haltend. In einem Jungen vermutet sie den Anführer der Gruppe. Überheblich geht er voraus und spielt sich auf, klopft coole Sprüche. Die weniger selbstbewussten Jungs bemühen sich um seine Gunst, aus Angst. Sie lachen über seine abschätzigen Bemerkungen und setzen mit fiesen Sticheleien noch eins obendrauf. Raxma fällt ein Mädchen auf, das sich durch seine Zurückhaltung von den anderen abhebt, aber nicht aus Feigheit, so scheint es Raxma, sondern weil sie erkannt hat, nicht auf den Respekt dieses Angebers angewiesen zu sein.

Raxma fragt sich, ob sie selbst stark und unabhängig genug ist. Oder hätte sie, wie Dalmar, ebenfalls Gefahr laufen können, sich einer gefährlichen Ideologie zu verschreiben? Geht es ihr bei den Treffen des Netzwerks wirklich um die Rechte der anderen Frauen oder vielleicht doch um das Zusammengehörigkeitsgefühl? Was er bei den Islamisten sucht, findet sie bei den vergessenen Frauen – eine Familie. Am Ende wollen alle nur geliebt werden und fürchten sich davor, eines Tages allein dazustehen. Klein und hilflos sind wir alle.

Raxma wird von lautem Geschrei aus ihren Gedanken gerissen. Zwei Frauen streiten sich um einen Wasserkanister. Mehrere Jugendliche eilen herbei und mischen sich ein. Kampfbereit stehen sie den Frauen zur Seite, einige bereits mit Stöcken bewaffnet. Einer der Jugendlichen provoziert einen Gleichaltrigen, der das Pöbeln zunächst ignoriert. Aber als der Angreifer eine abschätzige Bemerkung über die Frau macht, die den Kanister in der Hand hält und offenbar die Mutter des Jungen ist, schlägt er auf ihn ein, worauf sofort mehrere Anwesende eingreifen und eine Rauferei beginnt. Drei Clanälteste erreichen den Schauplatz zu spät und können die aufgebrachte Menge nicht mehr besänftigen. Ihre ermahnenden Rufe gehen im Lärm unter. Einige Jugendliche bluten bereits. Immer mehr Menschen strömen herbei und beteiligen sich an der Schlägerei. Kinder schauen dem Spektakel aus einiger Entfernung zu. Raxma kann nicht verstehen, weshalb dieser unbedeutende Konflikt nicht mit Worten zu lösen ist.

Bürgerkriege entstehen dann, wenn wir nicht fähig sind, in der eigenen Familie für Frieden zu sorgen, pflegte ihr Vater stets zu sagen. Wie recht er hatte!

Noch bevor die kenianische Polizei aufkreuzt und dem Streit mit Waffen ein Ende setzt, geht Raxma ihres Weges.

Im Zelt erwartet sie Sabira mit offenen Armen und strahlt über das ganze Gesicht. »Wo hast du so lange gesteckt? Ich habe gute Neuigkeiten für dich, mein Kind!«

»Was denn?«, fragt Raxma neugierig.

»Du wirst bald heiraten!«

Raxmas Puls beschleunigt sich. »Wie bitte, ayeeyo? Wie meinst du das?«

»Er hat heute um deine Hand angehalten. Übermorgen kommt er wieder. Er will mit dir sprechen und bleibt nicht lange. Deshalb müssen wir schnell alles für das Treffen vorbereiten. Er wird dir gefallen, mein Kind …«

»Aber ayeeyo …«

»Sei jetzt nicht ungeduldig. Er ist ein erfolgreicher, gutaussehender Mann mit schönen weißen Zähnen, und wie dein Vater ein Jiroon. Er lebt in Kanada und arbeitet dort für die Regierung.«

Für einen kurzen Moment sieht Raxma eine einzigartige Chance, dem perspektivlosen Leben in Dadaab zu entkommen, eine Zukunft jenseits der deprimierenden Zeltstadt, die seit zwei Monaten ihre einzige Realität darstellt, weit weg von sinnlosen Auseinandersetzungen und stundenlangem Warten auf knappe Essensrationen. Sie sieht sich an der Seite ihres liebevollen Ehemannes, sie in einem luftigen blauen Kleid, das fröhlich im Wind flattert, er in einem schicken Anzug. Sie wäre schwanger, im dritten Monat, sodass man den Babybauch erst erahnen könnte. Er würde sie fragen, ob sie sich für das Pistazienoder das Himbeereis entscheiden würde.

Da wird sie von Sabira aus ihrer Träumerei gerissen. »Er ist nach Dadaab gekommen, um Verwandte zu besuchen und eine anständige Ehefrau zu finden. Er meint, in Kanada seien unsere Frauen vom richtigen Weg abgekommen, würden Alkohol trinken, in Jeans herumlaufen und an Orten verkehren, von denen ich mit meinen sechzig Jahren noch nie gehört habe. Gestern hat er dich beim Ärzte-Zelt gesehen, als er eine Tante zu einer Kontrolle begleitete. Er hat sofort gewusst, dass er dich will. Ich habe heute bereits mit dem Clanältesten gesprochen, auch er unterstützt die Entscheidung. Dieser Mann ist eine gute Partie für uns alle. Du wirst deinem Clan alle Ehre erweisen, mein Kind.«

Sabiras Worte holen Raxma auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Traumbilder verpuffen, und übrig bleibt das beklemmende Gefühl des Gefangenseins. Lieber stellt Raxma sich weiterhin in den vergitterten Gängen der trostlosen Ausgabezentren für Weizenmehl und Mais an, als dass sie ihrem Clan diese Ehre erweist. Auf das Pistazieneis, für das sie sich entschieden hätte, verzichtet sie gerne. Es gibt eben Dinge, die ihr nicht zustehen, und ungeschriebene Gesetze, die die einen dazu bevollmächtigen, über das Leben der anderen zu entscheiden. Sie zählt zu jenen, über die entschieden wird. Die getroffene Entscheidung besitzt für alle Beteiligten ihre Gültigkeit.

Sabira wirft Raxma einen prüfenden Blick zu. Sie dachte, ihre Enkelin würde sich über die Neuigkeiten freuen. Besänftigend sagt sie: »Du wirst noch alle Zeit der Welt haben, um dich mit den Vorzügen deines zukünftigen Mannes vertraut zu machen.«

Fassungslos betrachtet Raxma ihre Großmutter; eine Frau aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit und mit anderen Vorstellungen. Raxma spürt, wie sie mit dieser Erkenntnis gerade die letzte Verankerung in der beschützenden Familie verliert, die für sie so wichtig war. Als sie realisiert, dass sie von nun an auf sich allein gestellt ist, überkommt sie panische Angst. Trotz der Hitze im stickigen Zelt fröstelt sie, die Brust wird ihr eng. »Ayeeyo, ich kann das nicht.« Sie wendet ihren Blick ab, um das Unumgängliche nicht noch schmerzvoller zu machen. »Es tut mir leid …«

Raxma eilt nach draußen und läuft los. Wohin weiß sie nicht. Sie läuft. Die Menschen, an denen sie vorbeirennt, nimmt sie nicht mehr wahr. Zelte, Menschen, Esel, Sträucher, alles verschwimmt ineinander. Ihr Herz pocht, sie spürt nur noch den harten Boden unter ihren Füßen, die Orientierung hat sie längst verloren. Mit dem aufgewirbelten Sand hüllt sie alles ein, was sie zurücklässt. Sie keucht, stöhnt und läuft planlos weiter, bis sie an einem Dornengestrüpp hängen bleibt und stolpert. Erschöpft bleibt sie liegen, blickt zurück, sieht einzelne Zelte und ein paar streunende Hunde. In der Ferne weidet eine Giraffe die Blätter einer Akazie ab. Raxma ist in Gedanken bei ihrem Papa. Bei ihm sucht sie Trost.

Wäre er nur bei ihr geblieben. Ihr Vater, der Sohn einfacher Bauern, der sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hatte. Der zu den größten Kritikern des Clanwesens gehörte, dennoch nicht auf die Propaganda der Islamisten hereinfiel und diese noch vehementer bekämpfte als die veralteten Clanstrukturen. Er lehnte die Religion nicht grundsätzlich ab, holte sich regelmäßig Ratschläge von einem Sufi-Scheich und hinterfragte diese im Anschluss kritisch. Ja, ihr Vater, der von einem Somalia träumte, das auf einem – wie er es nannte – föderalistischen System beruht, in dem sich ethnische Minderheiten einbringen können und Frauen dieselben Rechte haben wie Männer. Ihr Vater, der sich bis zum Tod dafür verurteilte, sich nicht mit allen Mitteln für seine Ehe eingesetzt und dem Druck des Clans widerstanden zu haben. Ihr lieber Vater, der sie zu selbständigem Denken erzogen und über alles geliebt hatte.

Verzweifelt schlägt Raxma den Kopf gegen den Boden. Sie zittert am ganzen Körper und wimmert.

6

Donnerstag, 3. Juni 2010.

Bern, Schweiz.

Fadumo hat den Kassenbestand gezählt und ausgestempelt. Sie hatte Frühschicht im Supermarkt. Es war ein guter Tag. Ein sportlicher Mann mittleren Alters sagte ihr sogar, sie sehe heute bezaubernd aus. Das Kompliment schmeichelte ihr, sie bedankte sich höflich und wünschte ihm alles Gute. Fadumo tritt auf die belebte Straße hinaus und erfreut sich am schönen Wetter. Große Pläne hat sie nicht; duschen, etwas Leichtes anziehen, vielleicht ein wenig spazieren oder in der Abendsonne auf dem Balkon ein Buch lesen. Spannende Krimis mag sie am liebsten. Dank der Lektüre kann sie ihr Deutsch verbessern, ihren Wortschatz laufend erweitern.