Transkulturelle Kommunikation - Sabine Dengscherz - E-Book

Transkulturelle Kommunikation E-Book

Sabine Dengscherz

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Beschreibung

Was haben Ampelfiguren, ein Hase oder ein "Speibsackerl" mit Transkultureller Kommunikation zu tun? Was spielt alles mit in einer Kommunikationssituation und was macht professionelle Transkulturelle Kommunikation aus? Warum braucht es ein differenziertes Kulturverständnis ohne Simplifizierung und Zuschreibungen? Mit diesen und vielen weiteren Fragen der Transkulturellen Kommunikation setzt sich diese interdisziplinäre Einführung auseinander. Das Buch richtet sich an Studierende, an Lehrende der Kultur- und Kommunikationswissenschaften sowie an alle an Kommunikation Interessierten. "Wir laden Sie ein, mit uns zu überlegen, wie kommunikative Expertise durch Wissen, Erfahrung und Reflexion aufgebaut werden kann, und schaffen einen Raum, in dem Sie an persönliche Erfahrungen anknüpfen und informierte eigene Positionen beziehen können." Sabine Dengscherz und Michèle Cooke

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Seitenzahl: 315

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Dr. Sabine Dengscherz / Prof. Dr. Michèle Cooke

Transkulturelle Kommunikation

Verstehen – Vertiefen – Weiterdenken

UVK Verlag · München

  

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

© UVK Verlag 2020 – ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGNymphenburger Straße 48 · 80335 Münchenwww.uvk.de

 

Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · 72070 Tü[email protected] | www.narr.de

  

ISBN 978-3-8252-5319-6 (Print)ISBN 978-3-8463-5319-6 (ePub)

Inhalt

Transkulturelle Kommunikation: Was ist das?Hinweis zu genderbewusster SpracheI Kommunikation1 Was ist Kommunikation?Warum kommunizieren wir?Wie kommunizieren wir?Kommunikation und VerstehenVerstehen und InterpretierenVerstehen als Beziehung2 Kommunikationssituationen und ihre Dimensionen3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz4 Professionelle Kommunikation: Was ist das?5 Was ist Translation?Translation ohne „Original“?PerspektivenwechselIch sehe was, das du nicht siehstQuellenII Kultur und Kommunikation1 Was ist Kultur?2 Kultur, Sprache, Diskurs3 Kulturelle Schichten, Überlappungen, KonstruktionenInhaltliche Dimension: Was gehört dazu?Kollektive Dimension: Wer sind die Kulturträger*innen?4 Bedeutung von Kultur in der Kommunikation5 Transkulturelle Kommunikation6 Kultur – Politische Verhältnisse – MachtQuellenIII Text und Kommunikation1 Texte, Muster, WirkungenTextsortenUmgang mit KonventionenDomänenMedienTextwirkung2 Text und Interpretation3 Texten als Transkulturelle Kommunikation4 Texte als Kommunikation im aktuellen sozio-politischen GefügeQuellenIV Sozialkompetenz und Kommunikation1 Kommunikation als BeziehungEmpathie und PerspektivitätKommunikationssituationen und kommunikative Bedürfnisse2 Sprache und Sprachen im öffentlichen RaumQuellenV Selbstreflexion und Kommunikation1 Sprachliche Repertoires reflektieren2 Mehrsprachigkeit3 Kultur und Identität4 Das eigene Kommunikationsrepertoire reflektieren5 Transkulturelle Kommunikation, Studium und BerufQuellenSchlüsselbegriffe

Transkulturelle Kommunikation: Was ist das?

Zu Beginn möchten wir Sie mit einem der wichtigsten Aspekte der Transkulturellen Kommunikation bekannt machen:

Abb. 1:

Ein Hase? (Foto: pixabay)

Der Hase steht für viele der Fragen, die wir uns stellen, wenn wir uns mit Transkultureller Kommunikation beschäftigen. Er deutet gleichzeitig verschiedene mögliche Antworten auf diese Fragen an.

Eine Frage könnte lauten: Ist das wirklich ein Hase? Was denn sonst, werden Sie vielleicht meinen. Nun, wie bei sehr vielen Fragen, die wir uns im Laufe unseres Lebens stellen, lautet die Antwort: Es kommt darauf an.

Worauf kommt es denn an? Es kommt zum Beispiel darauf an, ob der Hase ein „deutschsprachiger“ oder ein „englischsprachiger“ Hase ist. Aber Hasen sprechen doch weder Deutsch noch Englisch, werden Sie einwenden. Stimmt. Eigentlich geht es darum, ob die Menschen, die den Hasen sehen (also auch Sie) auf Deutsch oder Englisch gelernt haben, sich einen Hasen vorzustellen.

Was sehen Sie denn in dem Bild? Sehen Sie ein „wild lebendes Nagetier“? Vermutlich nicht, oder nicht auf den ersten Blick. Sie sehen wahrscheinlich vor allem ein niedliches Tierchen, das kuschelig und „lieb“ wirkt. Auch wenn Sie das Wort Hase nur hören, werden wahrscheinlich solche Bilder bei Ihnen aktiviert. Wörter wie Osterhase, Kuschelhase, Skihase, … auch Häschen oder Hasi als Kosenamen deuten auf das Image von Hasen auf Deutsch.

Zurück zur ersten Frage: Ist das wirklich ein Hase? Ja. Und nein. Kulturell gesehen, also in den Vorstellungen der meisten Menschen, die das obige Bild ansehen oder das Wort „Hase“ hören, sieht ein Hase so aus: kuschelig und lieb.

Zoologisch gesehen aber handelt es sich um ein Kaninchen. „Zoologische Hasen“ oder „eigentliche“ Hasen (im Gegensatz zu „vorgestellten“ oder kulturellen Hasen) sind dünner, haben längere Beine und Ohren, ein länger gezogenes Gesicht als Kaninchen und wirken, wie wir im folgenden Bild sehen, insgesamt viel weniger niedlich als Kaninchen.

Abb. 2:

Ein „zoologischer“ Hase (Foto: pixabay)

Nun, das stimmt. Und stimmt auch nicht. Denn auch im englischsprachigen Kontext hat der „zoologische“ hare ein viel weniger kuscheliges Image als zum Beispiel ein rabbit oder bunny. Als Haustier hält man rabbits und nicht hares, also Kaninchen und nicht Hasen. Der Osterhase ist der Easter Bunny und bestimmt kein Easter Hare. Wie sagt man dann Hase auf Englisch? Es kommt darauf an …

Was ist denn im ersten Bild wirklich zu sehen? Es kommt eben darauf an, aus welchem Blickwinkel wir es betrachten. Es kommt auch darauf an, wer wir sind: Zoolog*innen? Kinder? Koch? Kunsthistorikerin? …?

Je nachdem, wie wir gelernt haben, an Hasen (oder Kaninchen?) zu denken, wird das Bild unterschiedliche Gefühle und Gedanken in uns wecken.

Abb. 3:

„Feldhase“ von Albrecht Dürer (Abbildung: Wikipedia)

Ist die übliche englische Übersetzung des Titels von Dürers Bild – „Young Hare“ – richtig? Warum zum Beispiel „young“ hare, wenn es auf Deutsch ja „Feld“hase heißt? Vielleicht deswegen, weil „field“ hare nicht so üblich ist im Englischen? Oder weil „young“ hare hier etwas sympathischer wirkt? Oder wegen des Wortrhythmus? Oder aus allen drei Gründen? Es kommt nicht nur darauf an, wie man das Bild interpretiert, sondern auch darauf, welche Aspekte oder Eigenschaften des Bildes hervorgerufen werden sollen. Manche Kunstexpert*innen vertreten die Meinung, es sei gar kein junger Hase, der hier abgebildet wird, sondern ein erwachsener. Manche Übersetzungen lauten dementsprechend Hare oder Wild Hare ohne Hinweis auf das Alter. Alle angebotenen Übersetzungen wären als „richtig“ zu bezeichnen. Es kommt eben darauf an. Wie wir über etwas sprechen, etwas bezeichnen, etwas verstehen, hängt von unserem Standpunkt ab. Es hängt davon ab, wer wir sind, wo wir leben oder gelebt haben, wie wir leben etc. Es hängt eben von vielen unterschiedlichen Faktoren ab.

Während Sie die vielen Dimensionen der Transkulturellen Kommunikation kennenlernen, werden Sie auch lernen, worauf es ankommt. Welche Kriterien sind für die Analyse einer bestimmten Kommunikation relevant? Für die Lösung eines kommunikativen Problems? Für die Bezeichnung eines Gegenstands?

Worauf es ankommt, wird von Mal zu Mal, von Situation zu Situation anders sein. Menschliche Kommunikation ist nicht nur vielfältig, sie ist auch nicht vor­aussehbar. Jede Kommunikationssituation ist einmalig. Jeder Kommunikationsakt ist einzigartig. Jedes Mal, wenn Menschen sich äußern, einander wahrnehmen und einander verstehen (oder auch missverstehen) wollen, ist eine neue Konstellation von Gedanken, Gefühlen, gesellschaftlichen und politischen Faktoren im Spiel, die unsere Verstehensbereitschaft und unser Verstehensvermögen formt und beeinflusst. Mit dieser komplexen und gleichzeitig spannenden Tatsache umgehen zu können, gehört zur Expertise der Transkulturellen Kommunikation.

Denn auch wenn wir nicht voraussagen können, was die Leute sagen, schreiben, denken oder meinen werden in all den unzählbaren Situationen, in denen wir Menschen kommunizieren, ist es doch möglich, etwas daraus zu lernen. Wir können gewisse Regelmäßigkeiten feststellen: Verhaltensweisen und Reaktionen erkennen, die immer wieder vorkommen, wenn auch nicht unbedingt in der ganz gleichen Form.

Wir lernen, die Ungenauigkeit, Unvorhersagbarkeit, die komplexe und faszinierende Problematik der menschlichen Kommunikation als Teil unseres Know-hows zu akzeptieren. Denn das macht unser Fachwissen aus: das Erkennen der Probleme, die entstehen, wenn Menschen miteinander umgehen.

Letztlich: Wenn es keine Probleme gäbe, würde man keine Kommunikationsexpert*innen brauchen. Wenn alle dieselbe Sprache sprechen würden, alle einander verstehen würden und das ausdrücken könnten, was sie „eigentlich“ meinen, gäbe es keinen Bedarf an Kommunikationsexpert*innen. Ein Studium der Transkulturellen Kommunikation, also eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Transkultureller Kommunikation, verlangt von uns, Kommunikationsprobleme zu identifizieren, und auch, die passenden Fragen stellen zu können, um Lösungen für diese schon bekannten und doch immer einzigartigen Probleme zu finden.

Was ist also der „Inhalt“ einer Einführung in die Transkulturelle Kommunikation? Kurz gesagt: Es geht darum, wie Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen und Kulturen einander verstehen und warum sie einander auch missverstehen. Ein relativ kurzer Satz, aber mit sehr viel Inhalt. Es gibt kaum etwas, das nicht Gegenstand der menschlichen Kommunikation ist oder sein kann. Unsere Sprachen können potentiell alles besprechen – auch das, worüber wir nicht oder noch nicht sprechen. Vor 20 Jahren hat niemand die Anzahl der „Facebook-Friends“ gezählt oder von „googeln“ gesprochen. „LGBTIQ+“ war kein gängiger Begriff und niemand hat auf Deutsch „gechillt“ oder war „couchsurfen“. Wir haben es klarerweise getan, aber die Verwendung der „englischen“ Ausdrücke verleiht den Handlungen einen anderen Geschmack als zum Beispiel „sich entspannen“ oder „bei jemandem übernachten“.

Wie wir am Beispiel des Hasen gesehen haben, umfasst die Kommunikation nicht nur Sprache, sondern vieles mehr: Alles, worüber und womit Menschen sich verständigen, ist Gegenstand der Kommunikation oder kann es werden. Unser „Stoff“ ist also potentiell die ganze Welt. Oder schlichtweg: das ganze Leben.

Auch ein anscheinend banaler Alltagsgegenstand wie ein Fenster ist im Kontext der Transkulturellen Kommunikation alles andere als selbstverständlich. Was ist die Funktion eines Fensters? Auch hier lautet die Antwort: Es kommt darauf an.

Es kommt zum Beispiel darauf an, ob wir von einem „westlichen“ Fenster oder von einem Fenster in der Tradition der islamischen Architektur sprechen. In der sogenannten „westlichen“ Tradition dient ein Fenster zwar dazu, Licht in einen Raum zu lassen, es wurde aber im Laufe der Jahrhunderte auch immer mehr als Möglichkeit verstanden, hinauszuschauen und gesehen zu werden oder das „Außen“ nach innen zu bringen (siehe Abbildungen 4, 5 und 6).

Abb. 4:

Fenster (Foto: pixabay)

Abb. 5:

Fenster (Foto: pixabay)

Abb. 6:

Fenster (Foto: pixabay)

Das „islamische“ Fenster hingegen soll das Licht so in den Raum filtern, dass es gemäß den ästhetischen Ansprüchen des Korans wirkt. Das Fenster soll nicht in erster Linie nach außen wirken, sondern den Blick nach innen lenken (siehe Abbildungen 7 und 8).

Sprechen wir dann vom „gleichen“ Gegenstand? Ja. Und nein. Je nach Tradition, nach Kultur und schließlich nach unserer Perspektive verstehen wir ein Fenster als etwas anderes.

Es kann also wirklich alles Gegenstand unseres Fachs werden. Das ist die große Herausforderung – und gleichzeitig die große Faszination.

Abb. 7:

Fenster (Foto: „Painted Mosque“ von Jocelyn Erskine-Kellie, flickr.com, CC-BY 2.0)

Abb. 8:

Fenster (Foto: pixabay)

Wir lernen nie aus, weil sich die Welt ständig ändert. Etwas, das uns heute unwichtig erscheint, kann morgen oder für eine andere Person, für Menschen in einem anderen Land oder in einer anderen sozialen Gruppe von großer Bedeutung sein. Kann heiß umstritten werden, wie zum Beispiel das Bienensterben, der Klimawandel oder das Verbot von Kopftüchern in säkularen Schulen. Oder kann auch gefeiert (und gleichzeitig umstritten!) werden, wie der Weltfrauentag. Kann eine großartige Entdeckung darstellen oder eine gefährliche Bedrohung. Die Menschen werden darüber reden wollen, davon schreiben, miteinander diskutieren und verstehen wollen, wie denn „die anderen“ das sehen.

Und wir, wenn wir gelernt haben, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, können sie dabei unterstützen.

Bei allem technologischen Fortschritt werden Menschen nie aufhören, miteinander zu kommunizieren. Der „Stoff“ der Transkulturellen Kommunikation ist nie erschöpft. Und damit bleibt auch der Bedarf an Kommunikationsexpert*innen immer gegeben: Menschen, die gelernt haben, die Kommunikation zwischen Menschen und Kulturen zu fördern. Wir leben zwar in einer „globalisierten“ Welt, in der viele Unterschiede geglättet oder kleiner werden. Es entstehen aber gleichzeitig neue Unterschiede, neue Sichtweisen und neue Perspektiven, die neue Verständnishürden errichten und alte untermauern. Auch im sogenannten „globalen Dorf“ entstehen immer neue Möglichkeiten, einander zu verstehen und misszuverstehen. Auch das Englisch, das so viele sprechen, ist alles andere als „global“; es ist vielmehr ein Ausdrucksmittel für lokale Interessen und kulturell bedingte Anliegen. Englisch ist nicht mehr nur „englisch“, sondern die Sprache vieler Kulturen mit ebenso vielen Dimensionen und Bedeutungen. Im transkulturellen Rahmen dieser angeblichen Lingua franca sprechen nicht alle die gleiche Sprache. Auch hier ist gegenseitiges Verstehen nicht selbstverständlich.

Auf Transkulturelle Kommunikation können wir nicht verzichten. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kommunikationsprozessen hilft uns, sie besser zu verstehen und bewusst mit ihnen umzugehen.

Hinweis zu genderbewusster Sprache

Wie wir in diesem Buch noch ausführlicher diskutieren werden, ist (unsere) Sprache – das, was wir sagen und ausdrücken – nie neutral. Alles, was wir sagen, könnte auch auf unzählige andere Arten gesagt werden. Deswegen ist es wichtig, dass wir darüber nachdenken, wie wir etwas sagen (wollen), um zu einer bewussten Entscheidung zu finden, die am besten ausdrückt, wie wir die Welt sehen.

Eine dieser bewussten Entscheidungen für dieses Buch ist, dass wir bei genderspezifischen Bezeichnungen für Personen eine Mischform aus grammatisch männlichen und grammatisch weiblichen Formen verwenden und einen Asterisken (*) hinzufügen – „Übersetzer*innen“, „ein*e beste*r Freund*in“, „jede*r von uns“ – wobei in manchen Fällen eine grammatisch männliche Endung wegfällt (zum Beispiel in „das Verhalten Ihres*r Freund*in“).

Wir haben uns für diese Variante – und damit bewusst gegen andere Formen wie zum Beispiel die rein maskuline Form („Übersetzer, jeder“) oder Formen mit Binnen- bzw. End-Majuskeln („ÜbersetzerInnen, jedeR“) vor allem aus den folgenden zwei Gründen entschieden:

Zum einen wollen wir damit Raum schaffen – orthografisch, sprachlich und (somit auch) gedanklich – für Geschlechtsidentitäten, die nicht in die starre/erstarrte Dichotomie Mann-Frau passen. Wir sehen den Asterisken als Anerkennung, Einladung und Versuch der Sichtbarmachung von Menschen, die sich nicht (nur) als „Mann“ bzw. „Frau“ identifizieren bzw. identifizieren können oder/und wollen – darunter intergeschlechtliche Personen, Transgender-Personen, Personen mit nichtbinärer Geschlechteridentität, genderqueere Personen und andere. Die Inhalte, die wir in diesem Buch besprechen, betreffen alle Menschen unabhängig ihres Geschlechts.

Zum anderen wollen wir damit auf die diskursive – das heißt, sprachliche und soziale – Konstruiertheit von allen solchen Bezeichnungen generell hinweisen. Menschengruppen wie „Frauen“, „Männer“, „Übersetzerinnen“, „Deutsche“, „Europäer*innen“ etc. sind nicht „einfach so“ in der Welt „natürlich“ vorhanden. Stattdessen werden sie immer wieder aufs Neue als Gruppe konstruiert und gefestigt, unter anderem auch durch die automatisierte Verwendung ihrer Bezeichnungen. (Mehr zum Begriff Diskurs und seinen Wechselwirkungen mit Gesellschaft und Macht werden wir in den folgenden Kapiteln besprechen.) Der Asterisk soll also auch als Erinnerung daran dienen, dass unsere Sprache Realität schafft, diese aber nie die einzig mögliche oder einzig gültige Art ist, die Welt zu verstehen. Dies gilt nicht nur in der Transkulturellen Kommunikation, sondern in jeder Form der Sprachverwendung.

Quellennachweis

BELTING, Hans (2008): Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: C. H. Beck.

IKommunikation

1Was ist Kommunikation?

Abb. 9:

Frauen im Gespräch (Foto: Carol Mitchell, flickr.com, CC-BY-ND 2.0)

Die Frauen in diesem Bild tun etwas, das wir alle tun können: Sie sehen einander an, lächeln, nehmen einander als Menschen wahr. Manche sprechen auch miteinander. Wenn wir uns das Bild ansehen, erkennen wir, dass hier Menschen zu sehen sind, und ziehen bestimmte Schlüsse aus der Art und Weise, wie sie gruppiert sind, wie nah sie nebeneinander sitzen, was sie mit den Händen tun und auch, wie sie aussehen.

Wir nehmen zum Beispiel an, dass die weißhaarige Frau älter ist als die anderen. Die Frau, die etwas abseits von den anderen sitzenden Frauen sitzt, scheint das Gespräch zu führen. Das schließen wir aus der Körperhaltung der drei Frauen, die sich zu ihr drehen und ihr anscheinend zuhören. Eine Frau hebt die Hand, vielleicht in Ablehnung? Oder Zustimmung? Jedenfalls wirkt sie aufgeregter als die anderen zwei.

Die Frau zur linken Seite scheint aber mehr mit ihrer Kopfbedeckung beschäftigt zu sein als mit der Unterhaltung der restlichen vier Frauen. Oder denkt sie über die Unterhaltung nach? All das und vieles mehr entnehmen wir dem Bild auf einen Blick.

Was diese Frauen miteinander – und auch mit uns durch das Bild – verbindet, heißt Kommunikation. Durch ihre bloße Anwesenheit und gegenseitige Wahrnehmung teilen sie einander (und auch uns) etwas mit: Ich höre dir zu; ich bin nicht damit einverstanden; mich interessiert es nicht, was du zu sagen hast … Je nachdem, wie sie zueinander stehen, werden sie das jeweilige körperliche und sprachliche Verhalten anders interpretieren.

Auch wir, wenn wir Schlüsse ziehen wie „Die Frau links ist desinteressiert“ oder „Sie denkt nach“, interpretieren, was sie tut, wie sie steht, ihren Gesichtsausdruck und vieles mehr.

Das tun wir alle „automatisch“ – manche würden sagen „instinktiv“ –, ohne es in der Schule gelernt zu haben, auch ohne viel darüber nachdenken zu müssen.

Alle Menschen können kommunizieren. Jede*r kommuniziert auf eine ganz eigene Art und Weise. Wir erkennen die Stimme und sogar den Schritt einer uns bekannten Person unter den vielen hunderten Personen, denen wir im Laufe eines Lebens begegnet sind. Dabei muss die Person uns nicht unbedingt nahestehen. Den Schritt der Lehrerin, die uns seit der ersten Klasse begleitet hat, oder der Arbeitskollegin, die seit fünf Jahren im Nebenzimmer sitzt, werden wir vermutlich so schnell identifizieren wie den Schritt unserer Eltern oder unserer besten Freund*innen.

Warum kommunizieren wir?

So einzigartig aber jedes Kommunikationsverhalten sein mag, die Fähigkeit zu kommunizieren ist uns allen gegeben. Mehr noch: Wir können gar nicht anders.

Nicht nur können wir alle kommunizieren – wir müssen. Sobald wir auf die Welt kommen (manche meinen, bereits vor der Geburt), werden wir von mindestens einem Menschen wahrgenommen, gehalten, angesehen. Und auch Säuglinge kommunizieren, ohne es zu wissen, weil sie es einfach müssen: Der erste Schrei kommuniziert, dass das Kind atmet, am Leben ist. Weitere Schreie signalisieren Hunger oder das Bedürfnis nach Körpernähe oder Wärme. Die Pflegepersonen lernen langsam, diese Signale des Kindes zu interpretieren und durch einen Prozess von Versuch und Irrtum dem Kind (meistens!) das zu geben, was es braucht. Auch das Kind lernt allmählich, dass sein Schreien oder Lächeln bestimmte Auswirkungen darauf hat, wie die Menschen in seiner Umgebung reagieren. Es lernt eben, dass sein Verhalten einen Einfluss auf das Verhalten anderer Personen ausüben kann. So lernen wir alle, mit unseren Mitmenschen zu interagieren.

Ohne die zwischenmenschliche Interaktion, die wir Kommunikation nennen, wären wir nicht nur sehr einsam. Wir würden nicht überleben.

Die Gegenwart anderer Menschen ist unvermeidlich mit dem Leben verbunden. Sogar ein*e Einsiedler*in kann sich nur so bezeichnen, weil er*sie sich bewusst den Menschen entzogen hat. So lange aber die Möglichkeit besteht, zur Gemeinschaft zurückzukehren, bleibt auch der Entzug ein Akt der Kommunikation. Wer „ich will nicht“ sagt, sagt noch immer jemandem etwas.

Das Kommunikationspotenzial ist immer vorhanden. In diesem Sinne ist der wohlbekannte Satz von Paul Watzlawick zu verstehen: Man kann nicht nicht kommunizieren.

Die Umkehrung dieses Grundsatzes der Kommunikationslehre lautet: Wir sind alle zur Kommunikation gezwungen.

Das ist auch der Grund, warum wir alle kommunizieren können.

Wie kommunizieren wir?

Manche Menschen (darunter auch manche Wissenschaftler*innen) vertreten die Meinung, Kommunikation sei nur das, was wir bewusst mitteilen wollen. Mit anderen Worten, der Ausdruck Kommunikation bezeichne nur eine intentional (beabsichtigt) gesetzte Handlung, die einen bestimmten Zweck erfüllen soll. Wir gehen aber hier davon aus, dass Kommunikation alles umfasst, was Menschen einander mitteilen, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt. Mehr noch: Wir vertreten die Ansicht, dass alles, was wir anderen Menschen mitteilen, ob in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, ob ohne ein Wort oder gar ohne etwas zu „tun“, als Kommunikation gilt.

Wir könnten also sagen: Kommunikation ist jede Art von menschlichem Verhalten, das von (einem) anderen Menschen wahrgenommen wird. Wir können also das Prinzip „Man kann nicht nicht kommunizieren“ um eine Einsicht ergänzen: Wir können uns nicht nicht verhalten.

Kommunikation und Verstehen

An unserer Reaktion auf das obige Bild haben wir festgestellt, dass das Bild uns „etwas sagt“, ohne dass wir ein Wort gehört oder eine Bewegung gesehen hätten. Wir sehen Menschen und „denken uns etwas“. Sie teilen uns etwas mit, weil es uns Menschen nicht möglich ist, etwas zu sehen (oder zu hören oder zu spüren oder …), ohne wissen zu wollen, was es ist. Wir wollen uns auskennen. Wir wollen uns orientieren können. Vor allem bei anderen Menschen. Wir könnten auch sagen: Wir wollen verstehen.

Genau wie das Kommunizieren-Müssen ist auch das Verstehen-Wollen ein Grundbedürfnis des Menschseins. Eigentlich handelt es sich um ein Grundbedürfnis aller Organismen: Jedes Lebewesen muss sich in seinem Weltteil (in seiner Nische) auskennen, um sich zurechtzufinden. Es muss wissen, wer oder was freundlich oder feindlich gesinnt ist, was ihm guttut und was gefährlich ist, etc.

Ebenso geht es uns Menschen. Wir sind auf das Verstehen angewiesen. Niemand hat es gerne, wenn er*sie „die Welt nicht versteht“. Wir mögen es nicht, wenn wir einen anderen Menschen nicht verstehen. Probieren Sie es aus: Sagen Sie „Ich kenne mich bei ihm nicht aus“ oder „Ich verstehe sie einfach nicht“ und versuchen Sie, dabei zu lächeln oder glücklich zu wirken. Das fällt den meisten von uns schwer. Üblicherweise runzeln wir die Stirn und/oder sind irritiert, wenn wir etwas nicht verstehen.

Verstehen und Interpretieren

Wir sind deswegen irritiert, weil das Nicht-Verstehen ein Nicht-einordnen-Können bedeutet. Wenn wir etwas nicht verstehen, können wir „nichts damit anfangen“. Wir kennen uns nicht aus, wissen nicht, woran wir sind. Wir können uns nicht orientieren. In vielen Varianten des Englischen sagen wir, wenn wir etwas nicht verstehen: I can’t make sense of it. (Etwa: Ich sehe keinen Sinn darin. Das ergibt für mich keinen Sinn.) Und dieses Gefühl ist für niemanden angenehm.

Wir umgehen dieses Problem (oder versuchen, es zu lösen), indem wir die Welt um uns mit Bedeutung versehen. Wir sehen Sinn in unserer Um-Welt. Und was wir darin sehen, ist etwas, das für uns Sinn macht.

Wir wollen also verstehen. Auch wenn wir meinen, nicht verstehen zu wollen, geben wir dem Verhalten, den Äußerungen einer anderen Person irgendeinen Sinn. Wenn wir „nicht verstehen wollen“ bedeutet das meistens, dass wir die Meinung der anderen Person nicht akzeptieren wollen oder ihre Perspektive nicht einnehmen wollen. Es geht dann meist darum, auf die eigene Sichtweise zu pochen, weil ein anderer Sinn uns stören würde. Auch wenn wir nicht verstehen, verstehen wir also etwas. Dies wird oft Missverstehen genannt. Missverstehen fällt auch unter das Verstehen-wollen-Prinzip: Wir verstehen dann eben in unserem Sinne.

Mit anderen Worten: Wir interpretieren, was um uns geschieht. Dazu gehört auch das Verhalten anderer Menschen. Es kommt also eine weitere Einsicht zum Grundprinzip der Kommunikation hinzu: Wir können nicht nicht interpretieren.

Verstehen als Beziehung

Wie verstehen Sie dieses Bild?

Abb. 10:

Vögel (Foto: pixabay)

Oder anders gesagt: Was verstehen Sie an diesem Bild? Das oben erwähnte Verstehensbedürfnis ist so zwingend, dass wir auch „automatisch“ die Kommunikation zwischen anderen Lebewesen interpretieren. Und dies erfolgt klarerweise von unserer, der menschlichen Perspektive aus. Bei allen Bemühungen, eine anthropomorphe (menschenzentrierte) Sichtweise zu vermeiden, wird es uns schwer gelingen, einen Vogel aus der Perspektive eines Vogels zu betrachten. Wir nehmen zwangsläufig den menschlichen Standpunkt ein.

Diese menschliche Sicht der Vögel im obigen Bild beeinflusst, wie wir das Verhalten der Vögel interpretieren. Wir deuten ihre Körpersprache, die Nähe oder Distanz, die sie zueinander halten, nach menschlichen Kriterien.

Der Vogel links im Bild zum Beispiel steht etwas abseits und nimmt dadurch eine stärkere Position ein als die anderen drei, die als Gruppe ihm zuzuhören scheinen. Auch die Kopfhaltung des links stehenden Vogels – nach oben gerichtet – wirkt bestimmt und sogar leicht überheblich.

Natürlich könnte man viel mehr aus diesem Bild lesen. Allein diese kurze Beschreibung zeigt aber, wie sehr unsere Auffassung des „Inhalts“ eines Bildes oder eines Verhaltens mit dem eigenen Standpunkt zusammenhängt.

Wir sehen auch, dass wir eine Beziehung zwischen den Vögeln annehmen und daraus eine Interpretation ableiten: Die körperliche Nähe (oder Distanz) deutet auf die innerliche (emotionale) Beziehung zueinander hin.

Kommunikation ist in der Tat nicht möglich ohne Beziehung – ohne sich aufeinander zu beziehen. Wenn wir eine Person (oder etwas) wahrnehmen, beziehen wir uns auf sie (bzw. darauf). Wir beginnen, sie (oder es) einzuordnen: Wer ist das? Wie gut kennen wir uns? Ist sie mir sympathisch? etc. In den meisten Fällen erfolgt diese Einordnung unbewusst oder automatisch. Bei Eltern oder Freund*innen zum Beispiel müssen wir uns nicht mehr fragen, wer sie sind oder ob wir sie gernhaben: Wir wissen „automatisch“, wie wir zu ihnen stehen. Und wie wir zueinander stehen, beeinflusst wesentlich die Interpretation des gegenseitigen Verhaltens.

Ein Kind, das seinen Eltern vorschreibt, nicht nach Mitternacht nach Hause zu kommen, wird höchstwahrscheinlich als frech gelten. Die meisten Kinder und Jugendlichen erwarten hingegen, dass die Eltern gewisse Regeln aufstellen, und auch wenn diese lästig sind, würde kaum jemand auf die Idee kommen, solche Eltern als frech zu bezeichnen. Frech ist nur jemand, der die akzeptierte Autoritätsgrenze überschreitet.

Die gleiche Äußerung – „Komm nicht zu spät nach Hause!“ – wird also je nach der Beziehung der kommunizierenden Person und deren Autoritätsverhältnis unterschiedlich interpretiert. Der „Inhalt“ der Äußerung ändert sich dementsprechend: Du bist frech oder Du bist lästig bzw. Typisch Eltern.

Es ist aber nicht nur eine Frage der Autorität. Ob wir jemanden mögen oder nicht, für schüchtern oder überheblich, intelligent oder dumm halten – alle möglichen Gefühle beeinflussen unsere Interpretation dessen, was jemand in seinem*ihrem Verhalten aussagt.

Eine Lehrerin, die eine Schülerin für grundsätzlich engagiert und intelligent hält, wird eine Frage wie „Könnten Sie das bitte erklären? Ich verstehe nicht, was Sie gerade gesagt haben.“ vermutlich als Wissensdurst und Lernbereitschaft auffassen. Einer anderen Schülerin, die als faul und unruhig gilt, wird womöglich bei der gleichen Frage Desinteresse und mangelndes Lernvermögen unterstellt werden.

Diese Bestimmung des „Inhalts“ einer Äußerung oder eines Verhaltens auf der Basis der Beziehung gilt grundsätzlich in jedem Bereich der Kommunikation, in der wissenschaftlichen und beruflichen Welt und auch im Alltag. Wir können uns nicht nicht beziehen. Beziehung ist Kommunikation, weil wir einander nicht wahrnehmen können, ohne uns aufeinander zu beziehen.

Auf den Punkt gebracht

Verhalten ist Kommunikation. Kommunikation ist etwas, das passiert, wenn Menschen einander wahrnehmen.

Alle Menschen kommunizieren.

Kommunikation ist nicht immer gewollt oder beabsichtigt.

Verhalten wird immer interpretiert. Diese Interpretation erfolgt unbewusst oder bewusst.

Es gibt kein objektives Verstehen. Alles wird von einem bestimmten Standpunkt aus verstanden.

Wir können nicht verstehen, ohne zu interpretieren. Auch Missverstehen ist eine Interpretation.

Die Beziehung bestimmt die Interpretation des Inhalts.

Zum Weiterdenken und Vertiefen

Sie sehen eine Person auf der Straße, die Sie nicht sehr sympathisch finden, begrüßen sie aber dennoch aus Höflichkeit. Die Person reagiert nicht und geht einfach weiter, ohne zu grüßen. Was empfinden Sie? Wie ordnen Sie ihr Verhalten sein?

Das Gleiche passiert ein paar Tage später mit einem*r Freund*in. Sie grüßen, aber es kommt nichts zurück. Was empfinden Sie diesmal? Wie verstehen Sie das Verhalten Ihres*r Freund*in?

2Kommunikationssituationen und ihre Dimensionen

Wenn wir kommunizieren, tun wir das immer in einer bestimmten Situation. Die Situation hat Einfluss darauf, wie wir kommunizieren, also wie wir unser Verhalten auf andere beziehen. Wir treffen – bewusst oder unbewusst – Entscheidungen darüber, was wir ausdrücken möchten, welche Details wir erwähnen oder auslassen, welche Informationen wir zusätzlich für das Verstehen mitliefern und wie wir diese Informationen darstellen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, müssen wir verschiedene Dimensionen der jeweiligen Kommunikationssituation berücksichtigen. Dazu gehören einerseits Rahmenbedingungen wie zeitliche, räumliche und soziale Nähe und Distanz, andererseits aber auch Vorstellungen über das Vorwissen der Kommunikationspartner*innen (der Adressat*innen), potentielle Erwartungen, die auf früheren Erfahrungen beruhen, und unterschiedliche Absichten (Intentionen) bei der Kommunikation.

In sogenannten Face-to-Face-Kommunikationssituationen sind alle Beteiligten gleichzeitig anwesend – wie zum Beispiel die Frauen auf dem Foto am Beginn dieses Kapitels (Abbildung 9). Stellen Sie sich vor, dass aus dieser Situation heraus eine der Frauen etwas kommentiert, das auch die anderen im Blickfeld haben: Sie schaut vielleicht auf ein Geschäftslokal, das kürzlich eröffnet worden ist, und macht eine Bemerkung dazu. Den anderen braucht sie es nicht eigens zu beschreiben, sie können es auch selbst sehen. Die Frauen können auf eine gemeinsame Wahrnehmung zurückgreifen. Möglicherweise entwickelt sich das Gespräch dann aber noch in eine andere Richtung und eine der Frauen nimmt auf etwas anderes Bezug, eine Begegnung vom Vortag vielleicht. In diesem Fall muss sie schon mehr erklären und beschreiben, den anderen eine Situation schildern und nachvollziehbar machen, in der sie nicht dabei waren. Geht es dabei um gemeinsame Bekannte oder ein gemeinsames Lebensumfeld, kann die Erzählerin sich aber immer noch auf viel geteiltes Wissen beziehen. Außerdem muss in der Face-to-Face-Kommunikation nicht alles verbalisiert (versprachlicht) werden, was ausgedrückt werden soll, sondern es können auch – bewusst oder unbewusst – nonverbale Elemente der Kommunikation eingesetzt werden, wie Mimik, Gestik oder bestimmte Körperhaltungen.

Wenn nun eine entfernte Bekannte anruft, die wissen möchte, was es Neues gibt, müsste die Erzählerin entscheiden, was sie berichtenswert findet und wie sie es für ihre Gesprächspartnerin darstellt. Dabei würde sie wahrscheinlich darauf Rücksicht nehmen, dass die entfernte Bekannte nicht über dieselben Informationen verfügt wie die Anwesenden. Und wenn nicht gerade Videotelefonie eingesetzt wird, ändert sich die Situation auch dadurch, dass die Gesprächspartnerinnen einander nur hören, aber nicht sehen können.

Die geschilderten Kommunikationssituationen unterscheiden sich in ihren Rahmenbedingungen: in ihrem Verhältnis von Nähe und Distanz, zeitlichen und räumlichen Verhältnissen. In jedem Fall findet informelle mündliche Kommunikation statt, aber die Informationen müssen jeweils unterschiedlich ausgewählt und eingebettet werden. Wenn Kommunikationspartner*innen über einen Bereich sprechen, in dem sie viel gemeinsame Erfahrung teilen, müssen sie wenig erklären. Da reicht manchmal schon eine Anspielung für das Verstehen: Davon leben zum Beispiel „Insider*innen-Witze“.

Außenstehende können diesen Witzen nicht folgen, weil ihnen die „Vorgeschichte“ fehlt. Wenn eine der Frauen beschließen würde, ein Buch über ihr Leben zu schreiben, würde sie diese Vorgeschichte dann vielleicht erzählen und so die Leser*innen auch (scheinbar) zu „Insider*innen“ machen, indem sie sie in die Geheimnisse der Gruppe einweiht. Wie viele und welche Informationen mitgeliefert werden, hängt also auch davon ab, wie eingeschätzt wird, was die Kommunikationspartner*innen wissen – und was sie nicht wissen. Es wird ein bestimmtes Vorwissen vorausgesetzt – und nicht erklärt. Anderes wird nicht vorausgesetzt – und deshalb erklärt. Stillschweigende Voraussetzungen, die nicht explizit an- oder ausgesprochen werden, werden Präsuppositionen genannt, aus dem Lateinischen prae (vor[her]) und suppositio bzw. supponere (Voraussetzung, Unterstellung, Annahme, annehmen). Präsuppositionen sind sehr wichtig in der Kommunikation, weil sie mitsteuern, welche Informationen für das Verstehen notwendig sind und mitgeliefert werden müssen und welche nicht.

Außerdem spielen auch die Kommunikationsabsichten (Intentionen) eine wichtige Rolle: Es macht einen Unterschied, zu welchem Zweck kommuniziert wird, was mit der Kommunikation erreicht werden soll. Stellen wir uns vor, eine der Frauen ist Wissenschaftlerin und forscht über wirtschaftliche Entwicklung. Oder sie ist Journalistin, die eine Reportage zu diesem Thema schreibt. Vielleicht hat die Wissenschaftlerin – oder die Journalistin – jemanden gebeten, das Foto zu machen, um ihre Studie – oder ihren Artikel – zu illustrieren. Falls sie die Szene, die auf dem Foto zu sehen ist, in ihre Studie einbezieht, wird sie dafür sehr wahrscheinlich wieder andere Worte verwenden und andere Informationen auswählen als in einer Autobiografie oder am Telefon gegenüber einer Bekannten. Die Frau agiert in unterschiedlichen Kommunikationsrollen für unterschiedliche Adressat*innen: Für die Leser*innen des Artikels oder der Studie sind zum Teil andere Informationen interessant und notwendig für das Verstehen. Außerdem verfolgen die Journalistin und die Wissenschaftlerin mit ihren Texten andere Absichten als die Verfasserin der Autobiografie: In der Autobiografie steht das Leben einer einzelnen Person im Mittelpunkt und in der Reportage oder der Studie geht es eher darum, die Frauen und ihre Geschichte in einem größeren Kontext betrachten, zum Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung der ganzen Region.

Die Autobiografie, die wissenschaftliche Studie und die Reportage haben aber auch etwas gemeinsam: Sie sind schriftlich gestaltete Texte. Damit kommt eine weitere Dimension der Kommunikationssituation ins Spiel: das mediale Erscheinungsbild. Medien sind Hilfsmittel für die Kommunikation: Texte können schriftlich oder mündlich verbreitet werden, auf Papier, über Schallwellen in der Luft oder über elektronische Kommunikationskanäle, zum Beispiel das Internet. Medien können also als „Transportmittel“ für die Kommunikation betrachtet werden.

Bei schriftlichen Texten vergeht oft zwischen Textproduktion (Schreiben) und Textrezeption (Lesen) längere Zeit. Manchmal werden Texte sehr, sehr viel später noch gelesen (zum Beispiel, wenn wir uns heute mit Texten aus der Antike beschäftigen). Manchmal vergeht hingegen zwischen Schreiben und Lesen nur sehr wenig Zeit (wenn wir zum Beispiel online Zeitung lesen oder mit jemandem chatten). Texte aus großer zeitlicher Distanz sind oft nicht mehr leicht zu verstehen. Wir verfügen heute über andere Informationen als Menschen aus früheren Jahrhunderten und wir haben zum Teil auch andere Erwartungen an Texte, sind andere Kommunikationsstile gewöhnt.

In Kommunikationssituationen spielen, wie wir gesehen haben, Interpretationen eine wichtige Rolle. Diese Interpretationen hängen häufig mit Erwartungen zusammen – und diese Erwartungen haben auch mit Erfahrungen zu tun. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens Erfahrungen mit Kommunikationssituationen gemacht und auf Basis dieser Erfahrungen handeln wir in vielen Situationen intuitiv. Die Erfahrungen und die Intuition, die darauf basiert, bestimmen sowohl unser eigenes Handeln als auch unsere Interpretationen des Verhaltens anderer.

Solche intuitiven Interpretationen erfassen aber oft nur einen Teil einer Situation – und die Schlüsse, die jemand aus dem kommunikativen Verhalten anderer zieht, sind auch nicht immer treffsicher. So glaubt etwa Mark Twains „Yankee aus Connecticut“, er sei in einer „Irrenanstalt“ gelandet, als er sich plötzlich im England des 6. Jahrhunderts wiederfindet. Das zweite Kapitel des Romans beginnt mit der folgenden Szene:

KING ARTHUR’S COURT

The moment I got a chance I slipped aside privately and touched an ancient common looking man on the shoulder and said, in an insinuating, confidential way:

„Friend, do me a kindness. Do you belong to the asylum, or are you just on a visit or something like that?“

He looked me over stupidly, and said:

„Marry, fair sir, me seemeth—“

„That will do,“ I said; „I reckon you are a patient.“

Der Mann aus dem 6. Jahrhundert wird vom „Yankee“ aus dem 20. Jahrhundert über seine Art und Weise zu kommunizieren als „Patient“ klassifiziert. (Die Übersetzerin Lore Krüger gibt seine Wortwahl auf Deutsch wieder mit „Wahrlich, edler Herr, mich däucht …“) Wer so kommuniziert, kann nicht geistig gesund sein, schließt der Ich-Erzähler. Selbst den Blick seines Kommunikationspartners deutet er als „stupid“. Der Ich-Erzähler interpretiert das Verhalten des Mannes auf Basis seiner Erfahrungen – und diese neue Erfahrung kann er nicht gut einordnen. Die Kommunikationssituation unterscheidet sich stark von den gewohnten, und die Ausdrucksweise ist nach Ansicht des Ich-Erzählers nicht normal.

Aber was ist normal? In Kommunikationssituationen empfinden wir häufig das Gewohnte als „normal“. Das, was bereits aus früheren Situationen in ähnlicher Form bekannt ist, was sich offensichtlich bewährt hat und deshalb immer wieder in ähnlicher Form vollzogen wird.

Kommunikatives Verhalten ist allerdings immer in einem Kontext zu sehen. Ohne den Kontext lässt sich nicht gut verstehen, was warum auf welche Weise kommuniziert wird. Das sehen wir im Beispiel von Mark Twain.

Auch im folgenden Beispiel hilft der Kontext dabei, die Kommunikation einordnen zu können. Das Bild zeigt eine Handlungsanweisung auf der Tür-Innenseite einer Toilettenkabine in einem „westlichen“ Kaufhaus in Shanghai.

Abb. 11:

Handlungsanweisung in einer Toilette in Shanghai (Foto: SD)

Hier ist es nützlich zu wissen, dass in Shanghai Hocktoiletten weitaus verbreiteter sind als Sitztoiletten – und von vielen auch als hygienischer empfunden werden, was wiederum eine Motivation dafür darstellen kann, die Sitztoilette ebenfalls als Hocktoilette zu verwenden. Die Kaufhausverwaltung sieht hier nun Kommunikationsbedarf und möchte jenen, die Sitztoiletten in Hocktoiletten „umfunktionieren“, vermitteln, dass dieses Verhalten nicht erwünscht ist. Hier kommt eine weitere Dimension ins Spiel: die Intention, die Absicht bzw. der Zweck, den die Kommunikation verfolgt, also das, was durch die Kommunikation erreicht werden soll. Die Mitteilung der Kaufhausverwaltung folgt einer klaren Intention. Kommunikation ist aber nicht immer so eindeutig einer bestimmten Intention zuzuordnen. Darauf werden wir später noch zurückkommen.

Neben Kontext, Rahmenbedingungen und möglichen Intentionen ist auch die Rolle, die jemand in der Kommunikation einnimmt, eine wichtige Dimension der Kommunikationssituation. Und Kommunikationsrollen hängen wiederum mit der Beziehung der Kommunikationspartner*innen zusammen. Die Kaufhausverwaltung kommuniziert in einer anderen Rolle als die Journalistin oder die Wissenschaftlerin – oder die Frauen im informellen Gespräch untereinander.

Wir haben nun also gesehen, dass Kommunikationssituationen durch unterschiedliche Dimensionen beschrieben werden können – und dass diese Dimensionen nicht nur mitbestimmen, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird – und was nicht. Was kann in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt werden und muss nicht gesagt werden? Was gilt als bekannt? Und welchen Zweck soll die Kommunikation erfüllen, welche Intention steckt dahinter? Steckt überhaupt eine bewusste Intention dahinter?

Um nachvollziehen und verstehen zu können, warum jemand in einer Situation was und wie kommuniziert, müssen wir also einiges über die Situation wissen, in der diese Person agiert.

Auf den Punkt gebracht

Kommunikationssituationen werden durch mehrere Dimensionen bestimmt.

Zu diesen Dimensionen gehören Rahmenbedingungen (wie räumliche, zeitliche und soziale Nähe und Distanz), Medien, Adressat*innen, Kontexte, Intentionen und Kommunikationsrollen.

Vorwissen und Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation.

Neue Kommunikationssituationen werden auf Basis früherer Erfahrungen mit Kommunikation interpretiert.

Die Kommunikationssituation und die Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen bestimmen nicht nur mit, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird.

Zum Weiterdenken und Vertiefen

Denken Sie an einen Insider*innen-Witz oder Gag in Ihrem Freund*innenkreis oder in Ihrer Familie. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihn einer Person erklären, die sie zum ersten Mal in Ihrem Leben sehen. Wie weit müssten Sie dabei ausholen? Welche Informationen müssten Sie mitliefern?

Machen Sie einen Spaziergang in Ihrer Umgebung und achten Sie bewusst auf Gebots- und Verbotsschilder: Was wird kommuniziert? Und wie? In welchem Kontext sind diese Gebote und Verbote zu sehen?

Stellen Sie sich vor, Mark Twains „Yankee aus Connecticut“ landet auf seiner Zeitreise im April 2020 und begegnet einigen Menschen, die ihm aus dem Weg gehen und Atemschutzmasken tragen. Wie würde er reagieren? Entwerfen Sie einen kurzen Dialog!

3Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz

Die Art und Weise, wie Sprache verwendet wird, spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation. In der zitierten Szene in Mark Twains Roman spricht der Mann aus dem 6. Jahrhundert ein altertümliches Englisch und wird dadurch vom Ich-Erzähler als „Patient“ einer „Anstalt“ klassifiziert. Sprachverwendung – und damit auch Sprachkompetenz – ist also ein wichtiger Faktor in der Kommunikation, sowohl produktiv, also wenn wir Texte verfassen (beim Sprechen oder Schreiben), als auch rezeptiv, also wenn wir Texte verstehen wollen (beim Hören oder Lesen). Sprachkompetenz ist aber nicht der einzige Faktor. Denn wie wir gesehen haben, findet Kommunikation in konkreten Situationen statt, die auch in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Und diese Situationen bestimmen mit, was und wie kommuniziert wird.