Transport 2: Todesflut - Phillip P. Peterson - E-Book

Transport 2: Todesflut E-Book

Phillip P. Peterson

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer wird leben? Wer wird sterben? Russell und die anderen Überlebenden des Transporter-Projekts haben zusammen mit einer Gruppe verschollener Soldaten und Wissenschaftler eine Kolonie auf dem Planeten New California gegründet. Nach langen Jahren harter Arbeit blicken die unfreiwilligen Kolonisten endlich wieder hoffnungsvoll in die Zukunft. Aber sie ahnen nicht, dass auf ihrer neuen Heimat eine tödliche Bedrohung auf die Siedler wartet. Als die Menschen die herannahende Gefahr bemerken, ist es fast zu spät und Russell muss im Angesicht des Todes um das Überleben seiner Familie kämpfen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 455

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
52.
53.
54. Impressum

1.

 

Rückblick: vor zwanzig Jahren

 

»Private Penwill, wie ist die Lage? Wie lange werden wir mit unseren Vorräten noch überleben?«

Die schmächtige Soldatin blickte kurz von den Papieren auf ihrem Schreibtisch auf und salutierte knapp. Ihre vortretenden Wangenknochen und ihre dünnen Ärmchen erweckten immer den Eindruck, als leide die Lagermeisterin unter einer Ernährungsstörung, aber Captain Marlene Wolfe wusste, dass ihre Untergebene mit einem gesunden Appetit gesegnet war. Tatsächlich vermutete Marlene, dass Ann Penwill sich gelegentlich aus den von ihr verwalteten Vorräten eine Extraration abzweigte.

Marlene folgte ihr in den rückwärtigen Teil des Zeltes, in dem die Vorräte in großen Kisten aufeinandergestapelt waren. Private Penwill zeigte auf einen der Türme. »Das sind die verbliebenen Nahrungsmittel. Wir haben etwa die Hälfte verbraucht. Ohne eine Verminderung der Rationen bleiben uns also nochmals drei Monate. Spätestens bis dahin müssen wir eine Lösung gefunden haben.«

»Wie lange könnten wir bei einer Rationierung damit denn maximal überleben?«, fragte Marlene.

Ann Penwill legte den Kopf schief, während sie nachdachte. »Die Rationen liefern etwa dreitausend Kilokalorien pro Tag. Soldaten, die sich viel bewegen und harte Arbeit verrichten, brauchen mehr. Wenn wir die Arbeit der Männer und Frauen einschränken und einen Gewichtsverlust in Kauf nehmen, könnte man eine Zeitlang mit tausend Kilokalorien hinkommen. Ich würde sagen, alles darunter geht an die Substanz. Aber darüber sollten Sie sich besser mit Doktor Lindwall unterhalten.«

»Zu ihm gehe ich anschließend. Also, Ihre Einschätzung ist drei Monate bei normalem Verbrauch und neun Monate mit maximaler Einschränkung?«

Penwill nickte. »Ja, so würde ich es sehen. Allerdings gibt es noch ein größeres Problem jenseits der Nahrungsvorräte.«

»Reden Sie.«

»Die Trinkwasserspeicher werden vorher aufgebraucht sein. Vier Wochen höchstens.«

Wolfe lächelte. »Wenigstens das Problem haben wir inzwischen gelöst. Dr. Dressel hat zusammen mit Lee einen Kondensator errichtet, der genügend Wasser aus der hohen Luftfeuchtigkeit gewinnt. Die ersten Versuche waren erfolgreich und spätestens in zwei Tagen werden wir frisches Wasser haben, nachdem die Ingenieure das Ding mit dem Reaktor verbunden haben.«

»Na, dann sind ja all unsere Probleme gelöst.«

»Immer Kopf hoch«, bemerkte Marlene, wandte sich um und bewegte sich zum Ausgang.

»Sir?«

Wolfe drehte sich wieder um.

»Werden wir wieder nach Hause kommen?«

Marlene lächelte aufmunternd. »Natürlich kommen wir wieder nach Hause. Wir werden einen Weg finden.«

Ein Blick in Penwills starre Miene zeigte, dass ihre Untergebene nicht wirklich beruhigt war.

»Hören Sie, Ann. Es ist zu früh, die Hoffnung aufzugeben. Wir wissen nicht genau, warum der Transporter die Erde als Ziel nicht mehr akzeptiert. Aber ich kann Ihnen versichern, dass zuhause garantiert die fähigsten Wissenschaftler an dem Problem arbeiten. Wir haben hier selber ein Kontingent an hochkarätigen Physikern und Ingenieuren, von denen ich einige vorbehaltlos als Genies bezeichnen würde. Haben Sie ein wenig Geduld und Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Wir werden eine Lösung finden.«

Ann schwieg für einen Moment und nickte dann. Wolfe lächelte ihre Untergebene noch einmal an und verließ dann das Zelt. Vor dem Eingang blieb sie stehen und stieß einen lauten Seufzer aus.

Das Vorratszelt war auf einem Hügel etwas abseits des Hauptlagers errichtet. Etwa zweihundert Meter zu ihrer Linken befanden sich die Mannschaftszelte. Alle fünfunddreißig Teilnehmer der Expedition, Soldaten und Wissenschaftler, lebten dort. Auf dem dahinter liegenden, flachen Hügel standen Labormodule und weitere Zelte, in denen die Wissenschaftler und Techniker arbeiteten. Eine hundert Meter hohe Antenne und einige schlanke Türme mit meteorologischen und physikalischen Instrumenten zierten die Spitze.

Marlene ließ die Szenerie auf sich einwirken. Obwohl sie nun schon seit drei Monaten hier war, kam ihr die Umgebung immer noch unwirklich vor. So weit das Auge reichte, nur diese flachen Hügel mit dem grasähnlichen Zeug, das mit seinen saugnapfähnlichen Wurzeln direkt auf dem nackten Gestein des Untergrunds ruhte. Über allem spannte sich der Himmel in einer kräftigen blauen Farbe, die nur gelegentlich von weißen, langsam dahinziehenden Wolken unterbrochen wurde. Die Sonne stand im Zenit, sodass Marlenes Körper kaum einen Schatten warf. Auf den ersten Blick hätte es eine Landschaft auf der Erde sein können. In Irland vielleicht. Oder Nordfrankreich. Bei genauerem Hinsehen fiel aber auf, dass die Farben seltsam waren. Zu kräftig, die Töne zu satt, als betrachte man ein mit Grafiksoftware nachbearbeitetes Bild, um dem Zuschauer eine fremde Welt zu suggerieren.

Genau das war es auch. Eine fremde Welt. Und das blöde Ding, das sie hierhergebracht hatte, lag rechts von ihr in einer Mulde und weigerte sich beharrlich, sie nach Hause zurückzubringen. Der außerirdische Transporter wirkte wie ein Fremdkörper in dieser hellen, warmen Umgebung. Zwölf Meter im Durchmesser, exakt kugelförmig und so schwarz, dass Marlene meinte, einen blinden Fleck auf der Netzhaut zu haben, lag das Erzeugnis einer weit fortgeschrittenen Technologie schon seit Millionen von Jahren auf dem Boden dieser Welt.

In diesem Moment öffnete sich ein Durchgang in der Wölbung der schwarzen Sphäre und ihr Physiker, Dr. John Dressel, trat ins Freie. Ihre Blicke trafen sich. Der kleine, untersetzte Wissenschaftler schüttelte mit dem Kopf und Marlene Wolfe wusste sofort, was er damit meinte.

Wieder nichts!

Zweimal täglich ging Dressel zur Sphäre und versuchte den Zielcode für die Erde einzustellen. Aber nie erschien das Anwahlfeld auf der schwarzen Konsole, mit dem sie den Transport einleiten konnten.

Drei Monate nun. Ursprünglich hatten es drei Wochen sein sollen.

Was ist bloß schief gelaufen?

Marlene wusste nicht mehr, wie oft sie sich diese Frage in den letzten zwei Monaten gestellt hatte.

Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie mit ihrer Einheit, einem Ingenieurkorps der Army, den Befehl erhalten hatte, sich nach Nevada zu einem Einsatz zu begeben. Dort war sie in einer Hochsicherheitseinrichtung mit General Morrow, einem knorrigen Kommandeur alter Schule, zusammengetroffen. Was er ihr erzählte, glaubte sie erst, als sie dieses geheimnisvolle schwarze Ding in einer unterirdischen Höhle gezeigt bekam. Ein Tor zu den Sternen! Vor der Küste Kaliforniens auf dem Meeresboden gefunden, geborgen und in die Hochsicherheitseinrichtung in Nevada gebracht.

Marlene hatte sich nie für Raumfahrt interessiert. Für Science-Fiction schon gar nicht. Und doch bekam sie den Befehl, mit ihrer Einheit in den von einer unbekannten außerirdischen Zivilisation konstruierten Teleporter zu steigen und eine Basis auf einem fremden Planeten zu errichten. Drei Wochen sollte das Experiment dauern. Sie sollten Babysitter für eine ganze Riege Wissenschaftler spielen und nach Ablauf der Zeit von einer anderen Kompanie abgelöst werden, aber die Ablösung war nie eingetroffen. Dann versuchten sie selber, wieder nach Hause zurückzukehren, nur um herauszufinden, dass sich die Erde als Ziel nicht mehr anwählen ließ. Als gäbe es die Gegenstation auf ihrem Heimatplaneten gar nicht mehr.

Seither hatte Marlene sich bemüht, die Moral ihrer Soldaten und der Wissenschaftler aufrechtzuerhalten. Als immer mehr Tage ereignislos verstrichen, sank allmählich ihre Zuversicht. Den Männern und Frauen gegenüber ließ sie sich nichts anmerken, aber allmählich beschlich sie das Gefühl, dass sie hier nicht wieder wegkamen. Es war ihr Glück, dass sie wegen der Errichtung des Depots für geplante Folgemissionen deutlich mehr Vorräte eingelagert hatten, sonst wären sie womöglich schon verhungert. So grün der Planet war, Nahrungsmittel gab es hier nicht. Und alle Versuche, das mitgebrachte Saatgut auszubringen, blieben erfolglos. Fruchtbarer Mutterboden existierte hier nämlich auch nicht.

Dr. Dressel hatte inzwischen keuchend den Hügel erklommen und gesellte sich mit resigniertem Gesichtsausdruck zu ihr. »Nichts.«

Marlene nickte. »Habe ich bereits bemerkt. Ihre Miene sagt alles.«

Der Wissenschaftler atmete schwer. Marlene hatte sich schon auf der Erde darüber beklagt, dass einige der Wissenschaftler für das Militär in völlig inakzeptabler Verfassung waren. Und der Kerl war gerade mal Mitte dreißig, Herrgottnochmal!

Dressel rückte sich die Brille zurecht und schüttelte den Kopf. »Ich begreife einfach nicht, warum wir die Erde nicht anwählen können. Andere Ziele funktionieren einwandfrei. Zumindest können wir sie anwählen. Nur den Code für die Heimat nimmt der Teleporter nicht an.«

»Damit erzählen Sie mir nichts Neues. Das Problem haben wir seit nunmehr über zwei Monaten.«

»Wir können hier nicht ewig ausharren. Wir müssen uns langsam Gedanken über Alternativen machen.«

»Und wie sollen die aussehen, Doktor? Haben Sie einen konkreten Vorschlag?«

Kleinlaut senkte der Physiker den Blick zu Boden. »Nein. Ich habe keinen. Wir wissen zu wenig über die Funktionsweise des Teleporters. Das war die Aufgabe des Teams auf der Erde.«

»Was, glauben Sie, könnte geschehen sein?«

Langsam gingen sie den Hügel zu den Mannschaftszelten herunter. Dr. Dressel fuhr sich durch das dichte, schwarze Haar, das sich kaum bändigen ließ. Er konnte seinen Schopf noch so oft kämmen, er sah immer ein wenig ungepflegt aus, was auch an den Bartstoppeln lag, die bereits am späten Vormittag Kinn und Wangen zierte. Ein militärischer Kurzhaarschnitt hätte ihm besser gestanden.

Dr. Dressel zögerte. »Möglichkeiten gibt es genug. Vielleicht hat man mit dem Apparat auf der Erde ein Experiment vorgenommen, das schief gelaufen ist. Der Teleporter könnte dabei zerstört oder beschädigt worden sein. Vielleicht verfügen die Vorrichtungen aber auch nur über eine begrenzte Energieversorgung, die sich inzwischen erschöpft hat. Oder es ist etwas gänzlich Unvorhergesehenes geschehen. Letztlich bleibt das alles reine Spekulation, bis wir zurückkehren und die Wahrheit erfahren.«

Mit Unbehagen dachte Marlene Wolfe an den Nuklearsprengkopf unter dem Teleporter auf der Erde. General Morrow hatte ihr davon erzählt. Vielleicht war eine Gefahr aufgetaucht und ihre Vorgesetzten hatten sich dazu entschlossen, das Gerät zu zerstören. Dann waren sie auf ewig hier gestrandet und blickten einem langsamen Hungertod entgegen. Was auch immer das Problem auf der Erde sein mochte, die Wissenschaftler bekamen es offenbar nicht in den Griff. Ihre Chancen für eine Rückkehr sanken mit jedem verstrichenen Tag.

Sie hatten das Lager erreicht. Wolfe blickte den Physiker an und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben. Wir haben reichlich Vorräte und können noch einige weitere Monate durchhalten. Bis dahin möchte ich, dass Sie darüber nachdenken, welche Möglichkeiten uns sonst noch bleiben, eine sichere Rückkehr zu ermöglichen. Wenn Sie Experimente mit dem Teleporter durchführen möchten, wäre jetzt der Zeitpunkt, damit zu beginnen.«

Dressel lachte. »Experimente mit dem Teleporter? Dazu haben wir weder das richtige Personal noch die notwendige Ausrüstung.«

Wolfe schüttelte den Kopf. Ihre Stimme wurde lauter. »Herrgott, die Hälfte der hier anwesenden Expeditionsteilnehmer sind Wissenschaftler. Viele haben einen Doktorgrad und zählen zu den Besten ihres Fachs. Lassen Sie sich etwas einfallen.«

Der Physiker nickte langsam. Seine Schultern hingen schlaff herab. »Ist gut. Ich werde mit meinen Kollegen diskutieren, was wir von hier aus versuchen können.«

»Ich möchte, dass Sie bis morgen Abend eine Liste mit mindestens zehn Vorschlägen erarbeiten, die wir dann gemeinsam diskutieren.«

»Zehn Vorschläge? Ich möchte doch stark bezweifeln, dass wir ...«

»Zehn!« Marlene verengte ihre Augen zu dünnen Schlitzen.

Der Wissenschaftler zögerte einige Sekunden, dann senkte er den Kopf. »Ist gut.« Er ging davon, ohne Marlene noch einmal anzublicken.

»Sir?«

Captain Wolfe drehte sich um. Sie musste ihren Kopf heben, um Private Lawrence in die Augen sehen zu können. »Was ist denn, Ernie?«

»Lieutenant Hawke sucht Sie überall. Er würde gerne mit Ihnen sprechen.« Die Bässe in seiner Stimme schienen aus einem in seinem Leib eingebauten Subwoofer zu kommen. Mit stoppelkurzen, blonden Haaren und martialischem Gesichtsausdruck, inszenierte Lawrence sich gerne als harter Kerl und rückte mit verschränkten Armen unverschämt dicht an sie heran. Sie kannte ihn aber lange genug, um es nicht als Zeichen mangelnden Respekts zu deuten. In dieser Kompanie von unerfahrenen Pionieren war sie froh, einen Kämpfer mit dabei zu haben. Und sie wusste, dass sie sich auf Ernie verlassen konnte, auch wenn sie vermutete, dass er sich mehr als Lieutenant Hawkes Untergebener sah als ihrer.

»Wo ist Hawke?«

»Er wartet im Befehlsstand auf Sie.«

Er wartet auf mich? Wer ist denn hier eigentlich der Einsatzleiter?

»Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, ich werde zu ihm kommen, wenn ich meine Inspektion beendet habe.«

Was im Übrigen seine Aufgabe gewesen wäre.

»Er sagte, es sei dringend, Sir.«

Marlene musste schmunzeln. Lawrence salutierte knapp und stapfte wortlos davon.

Wolfe schüttelte den Kopf und marschierte zum Lazarettzelt. Der Eingang war geschlossen. Sie schob die Zeltbahn beiseite und trat ein. Ein weißer Operationstisch dominierte das Innere. Feldbetten standen rechts davon. Auf der linken Seite befanden sich einige Regale und Schränke. Im Hintergrund gab es einen Schreibtisch, an dem Dr. Lindwall saß. Der mittelgroße, schlanke Mediziner beugte sich über eine Schale, aus der Rauch aufstieg. Er hatte sie nicht bemerkt, was sicher auch an der lauten Rockmusik lag, die aus einer kleinen Stereoanlage in der Ecke plärrte. Es roch ein wenig nach Weihrauch. Wie in einer Kirche am Hochamt zu Ostern.

»Was machen Sie denn da?«, fragte Marlene stirnrunzelnd und trat näher.

Lindwall zuckte zusammen und blickte auf. Marlene erkannte einige ausgerissene Büsche der grasähnlichen Pflanzen, die den ganzen Planeten bedeckten und die in der Schale langsam vor sich hin kokelten.

»Ich ... äh ... nur ein kleines Experiment«, stotterte der Doktor. Er war zwar gerade mal Mitte vierzig, aber sein dichtes Haar war schon fast vollständig ergraut. Er tastete nach der Stereoanlage. Die Musik verstummte.

»Ich glaube kaum, dass Sie etwas in Erfahrung bringen, das unsere Biologen nicht schon längst wissen. Vor allem Jenny hat in den vergangenen Wochen kaum etwas anderes getan, als das Zeug zu analysieren.«

Lindwall nahm die Schale auf und stellte sie auf einen Tisch hinter sich. »Ja, da mögen Sie wohl recht haben.« Er räusperte sich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Fürs Erste reicht mir der Tagesbericht.«

Der Mediziner griff nach einem Klemmbrett, das unter einem Stapel Papier auf seinem Schreibtisch lag. »Nichts Besonderes. Travis Richards hat sich an einem Laborgerät die Hand verbrüht. Ist aber nicht schlimm und eine Salbe sollte reichen. Sammy Yang klagte wiederholt über Rückenschmerzen. Ich habe ihm vorgeschlagen, sein Feldbett zu tauschen oder eine andere Schlafposition auszuprobieren. Ein anderes Mitglied der Expedition hat eine Infektion im Intimbereich. Trotz der fehlenden Privatsphäre scheint es in der letzten Zeit häufiger zu sexuellen Aktivitäten zu kommen. Dafür spricht auch die vermehrte Anfrage nach Verhütungsmitteln.«

Marlene zuckte mit den Schultern. »Das bleibt nicht aus, wenn man längere Zeit an einem Ort ist und sich die Zahl der Männlein und Weiblein in der Einheit die Waage hält.«

Lindwall spielte mit einem Kugelschreiber. Immer wieder drückte er die Miene heraus und wieder herein. Das Geräusch ging Wolfe auf die Nerven. Der Mediziner schien heute sehr fahrig zu sein. Er schwitzte, obwohl es nicht wirklich warm war. Lindwall war doch nicht etwa krank? Eine Grippewelle im Lager fehlte ihr gerade noch. »Ist alles in Ordnung, Doktor?«

»Ja, alles bestens. Mir geht es gut. Hören Sie, obwohl die Gesundheit der Soldaten und Wissenschaftler hervorragend ist, mache ich mir langsam Sorgen um die psychischen Auswirkungen unserer ungewissen Situation.«

»Sie sind kein Psychologe, Doktor«, sagte Marlene schroff.

»Es braucht keinen Psychologen, um zu merken, dass die Stimmung den Bach runtergeht. Waren die Leute am Anfang nur besorgt, so macht sich in den vergangenen Tagen immer größere Verzweiflung breit. Viele glauben inzwischen nicht mehr an eine Rückkehr zur Erde.«

»Was sagen die Männer genau?«

»Die Männer und die Frauen reden sehr offen bei den wöchentlichen Routineuntersuchungen, da sie wissen, dass ich an meine Schweigepflicht gebunden bin. Viele glauben, dass die Verbindung zur Erde dauerhaft unterbrochen ist, weil irgendjemand einen Fehler gemacht hat. Außerdem beklagen einige, besonders die Soldaten, dass von unserer Seite aus nicht mehr unternommen wird und wir uns ausschließlich auf das Warten beschränken.«

Das gab Marlene zu denken. Wenn Zweifel an der Führung aufkamen, drohte am Ende noch eine Meuterei - vor allem, wenn die Soldaten und Wissenschaftler nicht mehr an eine Heimkehr glaubten. Sie bedauerte, dass sie sich nicht öfter an die Mannschaft gewandt hatte. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit eine Ansprache zu halten, aber erst musste sie sich selbst darüber klar werden, wie es weitergehen sollte. Einfach abzuwarten, konnte sie sich nun nicht mehr leisten. Aber was waren die Alternativen? Auf jeden Fall musste sie Führungsstärke zeigen.

»Doktor, ich habe eine Aufgabe für Sie. Ich möchte, dass Sie mit Private Penwill reden und mit ihr einen Plan für eine Rationierung der Lebensmittel aufstellen. Wir haben zwar reichlich Vorräte, aber auch die werden nicht ewig halten. Überlegen Sie, wieweit wir die Lebensmittel im ungünstigsten Falle strecken können, und berichten Sie mir bis morgen.«

Der Mediziner riss die Augen weit auf. »Sind wir wirklich schon so weit, dass wir rationieren müssen? Haben Sie auch die Hoffnung aufgegeben?«

Wolfe schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe überhaupt nichts aufgegeben. Aber es schadet nicht, auf alle Fälle vorbereitet zu sein.«

Dr. Lindwall griff nach einer Kaffeetasse. Erst jetzt fiel Marlene auf, dass seine Hände zitterten. Ein Teil des schwarzen Gebräus schwappte über den Rand und hinterließ dunkle Flecken auf den Papieren.

»Herrgott, Doktor. Was ist mit Ihnen los? Sie sehen ganz schön fertig aus. Sie haben irgendetwas und ich möchte wissen, was es ist. Einen kranken Mannschaftsarzt kann ich mir nicht leisten.«

Der Arzt setzte die Tasse ab und starrte zu Boden. Was auch immer es war, es musste ihm verdammt peinlich sein.

»Nun sagen Sie schon, Doktor. Kann ich irgendwas für Sie tun?«

Lindwall blickte ihr in die Augen und schüttelte den Kopf. »Meine Zigaretten sind ausgegangen«, sagte er kleinlaut.

Marlene verstand. Normalerweise sah man immer eine Zigarette irgendwo in seiner Reichweite glimmen. Selbst im Lazarett war der Arzt nicht bereit, darauf zu verzichten. Sie schmunzelte. »Tja, dann werden Sie eben lernen, ohne Nikotin auszukommen. Die Entzugserscheinungen werden vorübergehen. Sehen Sie es als Chance, von den Dingern wegzukommen. Sie sind eh der Einzige hier, der noch geraucht hat.« Sie stutzte und blickte auf die immer noch vor sich hin qualmende Schüssel auf dem Tisch hinter ihm. »Haben Sie deswegen das Gras verbrannt? Haben Sie gehofft, dass da etwas drin ist, das Ihnen einen Kick gibt?«

Der Mediziner lief rot an.

Erwischt!

Marlene grinste. »Da muss ich Sie enttäuschen. Ich habe den Bericht von Dr. Baldwin gelesen. In dem Zeug sind keine Wirkstoffe drin.«

»Hätte ja sein können«, murmelte Lindwall.

»Ich erwarte Ihren Bericht über die Rationierung der Vorräte bis morgen Abend, Doktor.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Captain Wolfe um und verließ das Zelt.

Langsam ging sie zwischen den Mannschaftszelten entlang. Je zwei Expeditionsmitglieder teilten sich eines. Nur sie selbst, Lieutenant Hawke, Dr. Dressel und Dr. Lindwall hatten als Leiter der Expedition einzelne Unterkünfte. Die meisten Soldaten und Wissenschaftler waren noch sehr jung, kaum jemand über dreißig Jahre alt. Das Wissenschaftlerteam setzte sich sogar teilweise noch aus Studenten zusammen, die über ein Stipendium der Army ihre Hochschulausbildung finanzierten und sich darum verpflichtet hatten, für Einsätze zur Verfügung zu stehen. Dass die Mannschaften beunruhigt waren, wunderte Marlene nicht. Aber dass die Männer und Frauen schon mit dem Mediziner darüber redeten, sprach dafür, dass sich die Situation zuspitzte, denn normalerweise kotzten sich die Mannschaften erst einmal untereinander aus. Sie wusste, dass der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, aber irgendwann würde es eine Meuterei geben, wenn der Kontakt zur Erde noch weiter auf sich warten ließ. Dann würden die Männer und Frauen jemand anderem folgen, der vermeintlich einfachere Lösungen zu bieten hatte.

Sie schlug die Zeltbahn des Kommandozeltes beiseite und sah Lieutenant Hawke an einem der beiden Schreibtische sitzen. Der stellvertretende Kompanieführer mit der spitzen Nase, großgewachsen und kräftig gebaut, hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, die blitzblank geputzten Stiefel auf den Tisch gelegt und spritzte vorsichtig Waffenöl auf den Verschluss seiner Pistole. Er quittierte ihre Ankunft mit einem Nicken, stellte das Fläschchen auf den Schreibtisch und griff nach einem weißen Stofftuch, mit dem er fast schon zärtlich über seine Waffe strich. Obwohl es hier keine Feinde weit und breit gab, hatte Ben seine Pistole immer dabei. Marlene konnte darüber nur den Kopf schütteln. Sie hatte ihre eigene schon seit Wochen nicht mehr aus dem Schrank geholt.

»Du hast dir sehr viel Zeit gelassen, Marlene«, sagte Ben mit einer hohen, quengeligen Stimme, die so gar nicht zu seinem muskulösen Äußeren passte. Sie wusste, dass er neben seinem krankhaften Ehrgeiz, endlich seine eigene Kompanie zu befehligen, ein Problem mit ihr als Frau hatte. Sie hätte seine Versetzung beantragen können, Gründe hatte er ihr schon genug geliefert, aber es war einfach nicht ihre Art, Probleme auf diese Weise zu lösen. »Du wolltest mit mir sprechen, Ben. Was gibt es denn?«

Ben lächelte ein kühles Lächeln. »Wir sind jetzt seit drei Monaten hier. Die Ablösung ist seit zwei Monaten überfällig. Wir sollten uns nun über mögliche Alternativen unterhalten.«

Marlene setzte sich auf ihren Stuhl und holte ein mehrseitiges Dokument aus der Schublade. Dann stand sie wieder auf, schritt energisch zu dem großen Whiteboard hinüber und befestigte das Schriftstück mit einem Magneten an der hellen Metallfläche. Sie drehte sich herum, blickte Ben in die Augen und tippte entschieden auf die Liste.

»Das ist unser Befehl mit den Missionsparametern. Wir sollen auf uns allein gestellt eine Basis errichten, die Wissenschaftler bei ihren Aufgaben unterstützen und die Stellung halten, bis wir nach voraussichtlich drei Wochen abgelöst werden. Voraussichtlich!

Auf der Erde war man sich offenbar bewusst, dass es Verzögerungen geben könnte. Darum sind wir auch mit derartig vielen Vorräten ausgestattet. Außerdem steht hier, dass wir keine Experimente mit der Transportertechnologie durchführen und dass wir keinesfalls andere Ziele als den Code für die Erde anwählen sollen. Wir haben Vorräte für mindestens sechs Monate, vielleicht sogar für über ein Jahr, wenn wir rationieren. Es ist mir zu voreilig, jetzt schon von unseren Befehlen abzuweichen. Das macht auch wenig Sinn. Aber wenn es dich beruhigt, ich habe Dr. Dressel damit beauftragt, Vorschläge für das weitere Vorgehen zu machen.«

Hawkes Kopf ruckte nach vorne. Er legte seine Waffe und den Lappen auf den Tisch und stand auf. Er rückte bedrohlich dicht an Marlene heran und zeigte auf die Liste. »Das gilt nicht mehr.«

Wolfe wich keinen Zentimeter zurück. »Und das entscheidest neuerdings du?«

Er schüttelte den Kopf. »Da muss man nichts entscheiden. Es ist offensichtlich. Der Kontakt zur Erde ist abgebrochen und darum sind wir nicht mehr an ihre Befehle gebunden.«

Marlene ahnte, dass er eine Idee ausgearbeitet hatte. Trotz seiner respektlosen Art war sie neugierig. »Also schön, wie lautet dein Vorschlag?«

»Fassen wir zunächst zusammen, was wir wissen: Die Erde ist für uns nicht mehr erreichbar. Weder haben wir etwas von dort gehört, noch können wir sie als Ziel anwählen, und wir können auch nicht davon ausgehen, dass sich das wieder ändert.«

»Weiter.«

»Zweitens: Wir haben zwar viele Vorräte, aber auf Dauer sind wir nicht imstande, auf Russells Planet zu überleben. Es gibt hier nur dieses ungenießbare Gras, und unsere Versuche, Saatgut auszubringen, waren alle zum Scheitern verurteilt, weil es keinen brauchbaren Mutterboden gibt.«

»Darüber haben wir bereits diskutiert, ist mir also klar.«

»Ergo ist der einzige Ausweg, einen anderen Planeten zu finden, auf dem wir überleben können und der uns auf Dauer eine Zukunftsperspektive bietet.«

Marlene nickte. »Das ist zwar richtig, aber wir haben leider keine Informationen über andere Ziele. Du warst bei der Vorbesprechung dabei. Wir können auch nicht einfach irgendwelche anderen Codes ausprobieren, denn dabei sind bei Experimenten auf der Erde bereits einige Leute ums Leben gekommen, weil der Teleporter sie zu Zielen mit erhöhter Schwerkraft oder in eine tödliche Atmosphäre geschickt hat. Es gibt keinen Weg, vorher herauszufinden, wo man ankommt.«

Hawke ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier auf. »Darum brauchen wir Testpersonen, die wir durch den Transporter schicken. Das werden wir so lange tun, bis wir einen passenden Planeten gefunden haben.«

Marlene lachte auf. »Soweit ich weiß, ist Russells Planet der einzige, den man gefunden hat, der zumindest über eine atembare Atmosphäre verfügt. Sehr viele Menschen würden draufgehen, bis wir einen anderen gefunden haben, vorausgesetzt, dass wir überhaupt einen finden. Es wäre ein Todeskommando. Wie würdest du denn vorgehen? Freiwillige suchen? Losen?«

Hawke verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind ein Militärkommando mit beteiligten Zivilisten, die für die Mission entbehrlich sind. Wir erklären den Notstand auf der Basis, internieren die Zivilisten und schicken die nutzlosesten zuerst hindurch. Ich habe hier bereits eine Liste ausgearbeitet, die die Wissenschaftler nach der Reihenfolge ihres Nutzens sortiert. Zunächst Assistenten wie Radinkovic, Grant oder Young.«

Marlene stieg die Zornesröte ins Gesicht. Sie konnte nicht glauben, was sie da aus dem Mund ihres Stellvertreters hörte.

Ben fuhr fort, noch bevor sie etwas erwidern konnte. »Es ist der einzige Weg. Ungewöhnliche Probleme erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.«

Marlenes Stimme bebte. »Du hast wohl völlig den Verstand verloren. Ein solch menschenverachtendes Vorgehen werde ich niemals billigen.« Sie trat vor und riss ihm die Liste aus der Hand. »Es sagt schon alles, dass vor allem die Personen weit oben stehen, die du sowieso nicht leiden kannst.« Sie zerknüllte das Blatt und warf es in hohem Bogen in den Papierkorb.

Sein Gesicht wurde hart wie Stein. »Was schlagen Sie stattdessen vor, Captain?« Das letzte Wort sprach er mit unverhohlenem Hass aus.

»Zunächst werden wir nichts überstürzen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Dann werden wir vor allem mit den Wissenschaftlern zusammen diskutieren, welche Möglichkeiten sich bieten, und gemeinsam eine Entscheidung treffen. Aber so einen Scheiß, wie das, was ich gerade gehört habe, wird es garantiert nicht geben.«

Hawke öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Seine Hände ballten sich zu Fäusten.

Marlene fuhr fort. »Du hast eine Einstellung, die mir wirklich Sorgen macht. Wir werden uns über deinen Vorschlag garantiert noch mal unterhalten. Hast Du eine Ahnung, was hier im Camp los ist, wenn so etwas nach draußen dringt? Du musst nicht ganz bei Trost sein.« Sie flüsterte, weil sie nicht wusste, wer alles in diesem Moment am Zelt vorbeiging.

Hatte er sich bereits mit anderen Soldaten über seine Idee unterhalten? Möglicherweise mit Ernie Lawrence, der für sein loses Mundwerk bekannt war. Das ging so nicht weiter. Hawkes Vorschlag war so inakzeptabel, dass sie darauf reagieren musste. Sie konnte Ben als stellvertretenden Kompanieleiter entlassen, aber das würde die Gerüchteküche nur weiter aufheizen. Nein, am besten wäre es, sich unmittelbar an die Mannschaft zu wenden und ihren Plan für das weitere Vorgehen zu verkünden. Vor allem musste sie deutlich machen, dass drastische Maßnahmen wie Hawkes Plan auch in dieser Krisensituation nicht zur Debatte standen. Das Klügste war, auch Ben darin mit einzubeziehen und mit einer Aufgabe zu belegen, aber einer, die kein Unheil anrichten konnte.

»Ben, ich möchte, dass du bis morgen Abend ...« Sie horchte auf. Von draußen hörte sie Rhondas schrille Stimme, ohne die Worte verstehen zu können, und eilige Schritte. Schatten glitten an der Zeltwand vorbei.

»Was ist denn da los?«, murmelte Ben. Er stand auf, als die Zeltbahn am Eingang aufgerissen wurde und Corporal Grant in den Kommandoposten stürmte. Er war völlig außer Atem, seine Augen weit aufgerissen. Er machte sich nicht die Mühe, zu salutieren. »Sir, sie sind gekommen. Sie sind da ...« Seine Stimme überschlug sich fast.

Marlene hob die Arme. »Immer mit der Ruhe, Dillon. Was ist los?«

Corporal Grant atmete tief durch. »Der Transporter. Zwei Männer sind herausgekommen.« Er strahlte. »Wir können nach Hause.«

Marlenes Blick traf Hawkes, der seine Überraschung auch nicht verbergen konnte. »Abwarten ...«

Sie eilte hinter dem Unteroffizier her. Männer und Frauen, die den Aufruhr mitbekommen hatten, streckten neugierig die Köpfe aus ihren Zelten. Vom Laborcontainer konnte man offenbar mehr erkennen, denn die Wissenschaftler liefen direkt in Richtung des abseits gelegenen Transporters. Das konnte nur eines bedeuten! Sie hoffte, dass sie sich nicht irrte. Bitte, bitte! Endlich hatte Marlene Sicht auf das außerirdische Artefakt.

Der Durchgang war geöffnet. Zwei fremde Männer standen reglos davor und blickten sich um. Sie trugen militärische Felduniformen, wie alle anderen aus General Morrows Einheit. Ihre Retter waren endlich gekommen. Im Nu waren die beiden Männer von einer klatschenden und jubelnden Menge umgeben. Camille Ott, die junge Soldatin, die ihr erst kurz vor dem Einsatz zugewiesen worden war, sprang immer wieder in die Höhe und schrie ihre Begeisterung wie ein kleines Kind heraus. Zwei Wissenschaftlerinnen in Laborkitteln umarmten sich erleichtert.

»Endlich ...«

»Nach Hause, wir kommen nach Hause.«

»Wo wart ihr so lange?«

Marlene hatte den Transporter erreicht und schob sich zwischen Dr. Potter und Sergeant Grazier durch. Einer der beiden Eingetroffenen blickte auf ihre Rangabzeichen und nahm Haltung an. Er war etwas größer als Marlene, hatte kurzes, braunes Haar und graue Augen. Eine große Narbe zog sich von der Schläfe bis zum glatt rasierten Unterkiefer.

Der andere Mann war etwas kleiner, aber immer noch größer als Marlene und trat unruhig von einem Bein auf das andere. Auf den Jubel um sie herum reagierten sie nicht. Ihr Gegenüber trat vor und blieb zwei Schritte vor ihr stehen. Sein Gesicht zeigte keine Regung und instinktiv wusste Marlene, dass die beiden Gäste nicht gekommen waren, um sie zur Erde zurückzubringen. Irgendetwas stimmte hier überhaupt nicht. Sie salutierte knapp und stellte sich vor. »Captain Marlene Wolfe. Willkommen auf Russells Planet.«

Sie gaben sich die Hände. Ihr Gegenüber verzog keine Miene. »Ich bin Russell Harris, mein Begleiter ist Christian Holbrook.«

»Wir haben lange gewartet«, sagte Marlene.

»Ich weiß. Es tut mir leid«, antwortete Harris.

»Was ist geschehen?«

Die Stimme des Mannes war so laut, dass alle der Umstehenden ihn hören konnten. Seine Sätze kamen geschliffen heraus, als hätte er lange an seinen Worten gefeilt.

»Ich gehöre einer Gruppe ehemaliger Häftlinge an, die für Experimente mit dem außerirdischen Teleporter ausgewählt wurden. Einige von uns kamen dabei ums Leben.«

»Häftlinge?«, fragte Marlene. Morrow hatte etwas von Freiwilligen erzählt.

»Ja. Ich selbst bin ehemaliger Offizier einer Kommandoeinheit. Christian ist ehemaliger Astronaut und hat unsere Gruppe betreut. Wir haben Ihre Abreise zu diesem Planeten damals verfolgt, dabei sind wir uns schon einmal begegnet.«

»Kann mich nicht daran erinnern. Weiter!«

»Wir haben herausgefunden, dass in den Teleportern eine künstliche Intelligenz untergebracht ist und haben mit ihr über ein telepathieähnliches Verfahren Kontakt aufnehmen können. Dabei sind wir auf die Überreste der Außerirdischen gestoßen, die die Transporter gebaut und in der Galaxis verteilt haben.«

»Die Überreste?«

»Ja. Die Fremden haben ihren Heimatplaneten durch ihre Technik selbst vernichtet. Dieses Schicksal hätte auch der Erde gedroht, wenn man dort weiter mit dem Transporter experimentiert hätte. Darum haben ich und einige andere das Gerät auf der Erde mittels einer Kernwaffe vernichtet, nachdem wir zuvor auf einen anderen Planeten geflohen sind. Wir wissen, dass Sie hier nicht überleben können, darum haben wir uns entschlossen, Sie aufzusuchen und Ihnen anzubieten, uns auf unsere Welt zu begleiten, die für eine Kolonie gute Lebensbedingungen bietet.«

Die letzten Sätze bekam sie nicht mehr richtig mit. In ihrem Geist wiederholten sich immer nur dieselben Worte, die für sie die Quintessenz der Ansprache waren:

Der Transporter auf der Erde ist zerstört. Ich werde nie wieder nach Hause kommen!

Harris redete weiter, aber seine Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein vor. Aus den Reihen der um sie herum stehenden Soldaten und Wissenschaftler erklangen Schreie. Sie blickte in Sarah Denings entsetzte Augen. Neben ihr sackte Travis Richards in sich zusammen. Hinter ihr ließ Ben Hawke seiner Wut freien Lauf. Er war nicht der Einzige.

»Diese Schweine!«

»... Nie wieder nach Hause?«

»Nein!«

Harris hatte seine Ansprache beendet. Er blickte sie mit einem ausdruckslosen Gesicht an. Er wusste genau, was nun als Nächstes kam. Private Lawrence packte Holbrook am Kragen und riss ihn herum.

»Es tut mir leid«, sagte Harris leise.

Marlene schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ...« Ihre Stimme versagte, als ihr die volle Tragweite bewusst wurde.

Ich werde nie wieder nach Hause kommen!

Wut stieg in ihr auf. Ohne, dass sie es selber richtig mitbekam, schlossen sich ihre Hände zur Faust und schnellten mit aller Wucht, die ihr in Windeseile mit Adrenalin vollgepumpter Körper aufbrachte, nach oben in das breite Gesicht des Verräters. Ein Schmerz durchzuckte ihre Hand. Sie musste sich mindestens einen Finger gebrochen haben. Blut spritzte in ihr Gesicht und in die Luft. Es knirschte laut, dann flog sein Kopf nach hinten, riss seinen Körper mit sich und knallte dumpf auf die schwarze Außenhülle des Transporters. Schließlich sackte er wie ein Bündel nasser Kleidung bewusstlos zu Boden.

 

2.

 

»So ein Mist«, fluchte Russell. Er hatte die Kupplung komplett durchgetreten und trotzdem knackte es, als er vom dritten in den zweiten Gang wechselte.

»Schon wieder das Getriebe?«, fragte Marlene Wolfe, die neben ihm auf dem Beifahrersitz des Jeeps saß.

»Scheint so.«

»Ich dachte, Albert hätte das Ding erst letzte Woche repariert.«

»Hat er auch, aber anscheinend zerlegt sich das Zahnrad schon wieder.«

»Unser kleiner Fuhrpark verbringt mittlerweile mehr Zeit in der Werkstatt als auf der Straße.«

Russell sah sie schief von der Seite an und grinste dann. Ihre Lästereien während gemeinsamer Exkursionen hatten mittlerweile Tradition. Er mochte Marlene und wusste, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit basierte. Dabei war ihr Verhältnis in der ersten Zeit unterkühlt gewesen, nachdem sie Russell bei ihrem ersten Zusammentreffen den Kiefer gebrochen hatte. Er hatte damit gerechnet, dass die Reparatur des Wagens nicht lange halten würde. Der Stahl, den Albert und seine Helfer in ihrer Schmiede herstellten, wurde zwar immer besser, aber mit den industriell gefertigten Bauteilen, die sie von der Erde gewohnt gewesen waren, würden sie niemals mithalten können. Der Zustand der sieben Jeeps, die sie von Russells Planet mitgebracht hatten, verschlechterte sich immer weiter, sodass nie mehr als vier oder fünf Fahrzeuge gleichzeitig zu gebrauchen waren.

»Der Begriff Straße trifft es wohl nicht ganz.«

Die rudimentären Pisten, die sie in der Umgebung ihrer Stadt angelegt hatten, war auch nicht gerade geeignet, die Fahrzeuge zu schonen. Entweder waren es holprige Strecken, die über die Ausläufer des nahen Gebirges führten, oder ständig versumpfte Wege in der Tiefebene, über die sie zu ihrem Außenposten mit der Ölquelle und der Raffinerie gelangten.

»Hoffentlich hält der Jeep wenigstens noch, bis wir wieder im Lager sind«, sagte Marlene.

»Ich denke schon. Aber dann muss die Kiste dringend in die Werkstatt. Das klackernde Geräusch von hinten links lässt auch nichts Gutes für die Kugellager erahnen.

»Wir hätten zu Fuß gehen sollen.«

»Dann wären wir den ganzen Tag unterwegs gewesen«, erwiderte Russell.

»Bewegung soll ja angeblich gesund sein.«

Russell nickte. Er hatte sich noch nie vor körperlicher Aktivität gedrückt. Aber heute war er ganz froh, den Jeep zur Verfügung zu haben. Er fühlte sich müde und schlapp. Er schob es auf das Alter. Letzte Woche hatte er seinen zweiundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Oder besser gesagt: Elise und Albert hatten ihm die Feier aufgedrängt. Ihm war nicht sehr danach zumute gewesen. Geburtstage, Namenstage und Feiertage waren etwas, das er gedanklich auf der Erde zurückgelassen hatte. Aber andere hielten krampfhaft an alten Traditionen fest und führten akribisch den irdischen Kalender parallel zu dem auf New California weiter, was wegen der unterschiedlichen Dauer der Jahre und Tage alles andere als einfach war. »Ich bin froh, dass ich mir den Fußmarsch heute ersparen konnte.«

»Wieder Kopfschmerzen?«

Russell nickte wieder. Seine Erschöpfung erklärte er sich mit dem fortschreitenden Alter und seiner zunehmenden sportlichen Faulheit. Die Kopfschmerzen mochten das Ergebnis eines unruhigen Schlafes in der letzten Nacht sein.

»Du siehst auch nicht sonderlich gut aus«, sagte Marlene. »Zu blass. Du solltest dich mal von Dr. Lindwall untersuchen lassen.«

Er winkte ab. »Mir geht es gut.«

Sie bogen um die letzten Kurven der engen Gebirgsstraße, die zu beiden Seiten von hohen, steil emporragenden Abhängen umgeben war, und dann änderte sich die Landschaft abrupt. Der schmale Canyon mündete in einer von saftigen Gräsern übersäten Ebene, die ein paar Kilometer weiter, wo das weitverzweigte Flussdelta des Mississippi begann. Es ging weiter östlich in einen dichten Dschungel über, der eine gewaltige Fläche bis hinüber zum hundertfünfzig Kilometer entfernten Ozean bedeckte. »Der Blick ist immer wieder fantastisch«, meinte Marlene.

»Ja, das ist er«, antwortete Russell.

Der Canyon war eine natürliche Verbindung zwischen der Hochebene, wo sich ihre Kolonie befand, und der vegetationsreichen Tiefebene. Der obere Ausgang des schmalen Tals befand sich nur einige Kilometer von Eridu, ihrer Siedlung, entfernt. Am unteren Ausgang des Canyons hatten sie einen permanent bemannten Posten errichtet. Ein Aussichtsturm und eine Hütte für die jeweilige Wachschicht standen vor einem drei Meter hohen Zaun, denn zahlreiche Tierarten, von denen man einige nur als absolut gefährliche Monster bezeichnen konnte, bevölkerten das fruchtbare Land der Tiefebene. Früher waren immer wieder einzelne Tiere oder ganze Herden den Canyon zur Hochebene heraufgekommen und hatten sie in ihrer Kolonie angegriffen. Schon einige Monate nach ihrer Ankunft und den ersten Erkundungsexpeditionen hatten sie den Posten errichtet und seitdem waren kein einziges Mal mehr Angriffe auf Eridu erfolgt. Offenbar gab es jetzt auf der Hochebene keine aggressiven Tierarten mehr.

Russell brachte das Fahrzeug vor der kleinen Holzhütte, die als Unterkunft für den zweiköpfigen Posten diente, zum Stillstand. Chris Neaman kam ihnen aus dem Eingang entgegen. Er sah verschlafen aus, winkte aber fröhlich. Russell sah seinen Kameraden Ernie Lawrence mit einem Scharfschützengewehr auf dem Aussichtsturm stehen. Auch er winkte knapp und beobachtete dann wieder mit seinem Fernglas das weite Grasfeld jenseits des Zauns bis hinüber zum Waldrand.

»Hi Russell, hallo Marlene«, sagte Chris.

Russell stellte den Motor ab und sprang aus dem Jeep. Ihm wurde umgehend schwindlig und er stolperte einige Schritte nach vorne, bis ihn Chris auffing.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte der.

Russell winkte ab. »Jaja, mein Kreislauf macht heute einige Zicken. Nichts Ernstes. Das Alter.«

»So alt bist du nun auch wieder nicht«, sagte Marlene. »Jemand, der immer so fit war wie du, sollte mit sechzig nicht schon beim Aussteigen aus einem Fahrzeug zusammenklappen. Du musst dich dringend vom Doc untersuchen lassen.«

»Jaja, bei Gelegenheit.« Russell wechselte eilig das Thema. »Wie ist denn die Lage?«

Chris zuckte mit den Schultern. »Nicht viel Neues. Fünf Wotans und zwei Hyänen erlegt.«

Wotans nannten sie die Monster, die schon dem ersten Erkundungstrupp das Leben schwer gemacht hatten. Stämmig und kopflos, ohne sichtbare Sinnesorgane, war einer von ihnen damals auf Walter Redmont zugestürmt, hatte ihn umgeworfen und sich auf seine Brust gelegt. Russell hatte den Blick abwenden müssen, als das Tier durch seine Haut Säure abgesondert und den schreienden Astronaut bei lebendigem Leib aufgelöst hatte. Die Tiere traten oft in Rudeln auf und waren brandgefährlich.

Hyänen schienen deren kleine Brüder zu sein. Sie rannten in einem Irrsinnstempo auf dünnen, federnden Beinen, hatten im Gegensatz zu den Wotans einen kleinen, knubbelförmigen Kopf, der Säure bis zu zehn Metern Entfernung verspritzen konnte.

»Hört sich viel an«, meinte Russell. »Seit Beginn eurer Schicht?«

Neaman schüttelte den Kopf. »Das ist die Zahl von heute Nacht.«

Russell riss die Augen auf. »Alleine in einer Nacht? Das hatten wir ja noch nie.«

Chris zuckte wieder mit den Schultern. »Schon die letzte Schicht hatte über eine Zunahme der Sichtungen berichtet. Uns stört es nicht. Ist es wenigstens nicht zu langweilig hier. Fünf Tage ziehen sich ganz schön hin.«

»Sind doch nur drei im Jahr«, meinte Marlene. »Und währenddessen bist du von der Feldarbeit erlöst.«

»Die macht mir mehr Spaß als das Rumgehänge hier.«

»Das sieht wohl jeder anders«, gab Russell zurück. »Ich habe es immer lieber, wenn ...«

»Da kommt wieder einer!«, rief Ernie mit seiner kratzigen Stimme vom Ausguck.

Hinter dem Tor mit dem Stacheldraht konnte Russell nichts erkennen. Er lief zum Turm und kletterte die Leiter hinauf. Marlene und Chris folgten ihm.

Russell blickte in die Richtung, in die Ernie mit seinem Fernglas schaute. Er sah nur einen verwaschenen, braunen Fleck vor dem Waldrand, der sich langsam näherte. »Ich kann es nicht genau erkennen.«

Ernie drückte ihm das Scharfschützengewehr in die Hand. »Du darfst.«

»Na, herzlichen Dank.«

Russell nahm das halbautomatische M-110 Scharfschützengewehr und legte sich auf den Holzboden des Ausgucks. Er entfernte die Deckel von der Optik, atmete tief durch und blickte durch das Zielfernrohr.

»Ein Sniper«, murmelte Russel erschrocken. Sniper waren eine weitere Spezies aus der Tiefebene, die direkt aus der Hölle entlaufen sein musste.

Das Tier erinnerte grob an einen Dackel, allerdings geschmeidiger und größer. Der spitze Kopf bewegte sich suchend hin und her. Die flexiblen, dünnen Beinchen ließen das Geschöpf in ruckhaften Sätzen nach vorne schießen.

»Bist du sicher?« Marlene flüsterte, obwohl das Tier noch weit entfernt war.

»Ja, ohne jeden Zweifel«, bestätigte Ernie, der durch sein Fernglas blickte.

»So einen haben wir hier noch nie gesehen«, sagte Chris.

»Ich weiß. Und das macht mir Sorgen.« Russell überprüfte das Gewehr. Eine Patrone steckte bereits in der Kammer.

»Was macht das Tier?«, fragte Marlene.

»Keine Ahnung«, antwortete Ernie.

»Es kommt langsam auf uns zu. Es scheint verunsichert. Man merkt, dass hier nicht sein Revier ist«, sagte Russell.

»Das wundert mich nicht. Sniper haben wir bisher nur in der Nähe des Meeres gesehen.«

»Ja, und Travis Richards wäre beinahe an seinen Wunden gestorben.«

Russell erinnerte sich gut an den Vorfall bei einer der Expeditionen in die Tiefebene, bei denen sie auf einige unbekannte, mordsgefährliche Tierarten gestoßen waren. Travis hatte sich, ohne es zu merken, einem lauernden Sniper genähert, als er auch schon wie aus dem Nichts zusammenbrach und sein Blut in dünnen Fontänen meterhoch durch die Luft spritzte. Russell hatte den Sniper erschossen. Bei der Obduktion fanden sie heraus, dass die Monster ein magenähnliches Organ besaßen, mit denen sie Kristalle unter hohem Druck mit Überschallgeschwindigkeit ausstoßen konnten. Sniper waren sogar noch gefährlicher als Wotans.

»Scheiße! Da kommen noch zwei.«

Ernie hatte recht. Aus dem Wald huschten zwei weitere der unheimlichen Tiere und folgten der Fährte des ersten.

Neben Russell entstand Unruhe. Mehr unbewusst bekam er mit, dass auch Marlene und Chris nach bereitstehenden Waffen griffen und ihre Gewehre in Position brachten. Er ließ sich davon nicht ablenken und blickte konzentriert durch das Zielfernrohr. Schweißtropfen liefen an seiner Stirn hinunter. Er wusste, dass die Viecher verdammt schnell waren und im Laufen Haken schlugen. Es würde schwer werden, sie zu treffen, wenn sie sich entscheiden sollten, auf ihre Stellung zuzulaufen. Andererseits waren die Sniper noch ein gutes Stück entfernt. Er schätzte die Distanz auf achthundert Meter. Das war an der Grenze dessen, was man mit dem M-110 noch zuverlässig erwischen konnte. Und das auch nur, wenn das Ziel stillstand.

»Was tun wir?«, fragte Neaman. »Sollen wir schießen?«

Der Anführer der Biester wandte seinen Kopf immer wieder zur Seite, als ob er irgendetwas suchte. Russell rechnete damit, dass die Viecher jeden Moment loslaufen konnten. Andererseits kamen sie nicht genau auf den Posten zu. »Wir warten, bis sie etwas näher sind.«

»Vielleicht verziehen sie sich wieder«, murmelte Ernie.

»Glaube ich nicht«, gab Russell zurück. »Das sind Fleischfresser. Jäger. Sie kommen nicht aus ihrer Deckung, wenn sie nicht irgendetwas vorhaben. Ich denke, dass sie uns gewittert haben, aber nicht genau wissen, wo wir uns befinden. Wenn sie sich bis auf sechshundert Metern genähert haben, erledigen wir sie. Ich übernehme den in der Mitte. Marlene, du kümmerst dich um den linken und der andere gehört dir, Chris.«

»In Ordnung«, brummte Wolfe.

Fasziniert betrachtete Russell durch die Optik sein Ziel. Der schlanke, lange Körper mit den federnden Beinchen wirkte durch und durch fremdartig. Die braun-graue Haut hatte kein Fell und sah sehr widerstandsfähig aus. Das breite Maul an dem viel zu kleinen Kopf glich einem langen, gezackten Strich. Die winzigen Augen waren nur als schwarze Punkte zu erkennen. Nase oder Ohren waren nicht zu sehen. Und doch mussten die Monster über scharfe Sinne verfügen.

Die hinteren zwei hatten aufgeschlossen und trabten einige Meter neben dem Anführer.

»Noch sechshundertfünfzig Meter«, flüsterte Ernie.

»Bereithalten«, brummte Russell heiser.

Langsam schlichen die Sniper näher.

»Sechshundert Meter«, zischte Ernie.

»Auf mein Kommando in drei, zwei, ...« Weiter kam Russell nicht. Wie auf Befehl rannten die Monster los. »Scheiße! Feuer! Knallt sie ab!« Russell versuchte, sein Ziel in das Zentrum des Fadenkreuzes zu holen, aber er kam mit dem Nachführen nicht hinterher. Die Monster waren schnell. Verdammt schnell. Die Äußeren liefen zunächst seitwärts davon und näherten sich in einem weiten Bogen ihrer Flanke.

Russell schoss.

Als hätte das Tier etwas geahnt, änderte es blitzschnell seine Laufrichtung, schlug einen Haken und näherte sich wieder auf geradem Weg.

»Zweihundert Meter«, brüllte Ernie.

Russell hörte einen Schuss. »Verdammt«, zischte Marlene.

In hundert Metern Entfernung stoppten die Monster für einen kurzen Moment, brachen seitlich aus, stoppten wieder und rannten in die Gegenrichtung. Ihre Köpfe waren immer in Richtung Posten ausgerichtet. Im selben Moment, als Russell erneut schoss und wieder sein Ziel verfehlte, hörte er ein Sirren.

»Sie schießen!«, brüllte Chris. Ein Stück des Holzgeländers löste sich in braune Splitter auf und fetzte in alle Richtungen davon.

Ein Knall. Marlene hatte erneut abgedrückt. »Einer weniger«, zischte sie.

Russell versuchte erneut, sein Ziel ins Fadenkreuz zu bringen. Er wartete auf den unendlich kurzen Moment, an dem das Vieh für einen Augenblick stillstand, bevor es erneut seine Richtung änderte. Wieder das hohle Sirren. Holzsplitter vom Dach regneten auf ihn herunter. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, das um das Zentrum des Fadenkreuzes tanzte. Die Vorderbeine des Snipers blockierten plötzlich, während die Hinterbeine seitlich ausrutschten. Es war so weit. Die Zeit schien stillzustehen, als Russell das Fadenkreuz mit einer leichten Bewegung auf den winzigen Kopf führte. Den Atem hatte er schon vor langen Sekunden angehalten. Er krümmte seinen Zeigefinger, um den schwachen Druckpunkt des Abzugs zu überwinden. Der Kopf des Tieres explodierte in einer rot-gelben Fontäne.

Erwischt!

Was machte der Letzte?

Wieder das Sirren. Marlene stieß einen unterdrückten Schrei aus.

Nicht drum kümmern! Erst die Gefahr beseitigen!

Als er sein neues Ziel in die Optik brachte, sackte es auch schon zusammen. Chris setzte das Gewehr ab.

»Wir haben die verdammten Scheißer erledigt«, brüllte Ernie.

Russell wandte sich um. Marlene hielt ihren Unterschenkel und schob die grüne Stoffhose nach oben.

»Bist du schwer verletzt?« Er sah rote Flecken an ihrer Hose.

»Nur gestreift. Glück gehabt.« Sie war blass, aber Russell kannte das Gefühl und das Entsetzen, wenn man im Kampf verletzt wurde und im ersten Moment nicht wusste, wie schlimm es war.

Russell stützte sich am Boden ab und stand auf. Die Sniper lagen regungslos in roten Pfützen in einiger Entfernung vor dem Stacheldrahtzaun. Sie waren noch nicht mal in die Nähe der ausgelegten Landminen vor dem Tor gelangt. Russell blickte sich um. Ihr Unterstand war völlig durchlöchert. Er schüttelte den Kopf. Es war reines Glück gewesen, dass keiner von ihnen ernsthaft verletzt oder gar getötet worden war. Früher hatten sie sich die Biester mit Ultraschall vom Leibe halten können, aber das hatte auch nur eine kurze Zeit funktioniert.

»Das war ganz schön knapp«, fluchte Chris.

Ernie grinste, die Augen weit aufgerissen. Er war süchtig nach solchen Adrenalinkicks. Russell hatte nie verstanden, warum Lawrence zum Pionierkorps gegangen war. Er hätte besser in eine Infanterieeinheit gepasst.

»Ich verstehe es einfach nicht«, sagte Russell.

»Was meinst du?«, fragte Marlene, die sich einen Verbandskasten von der Wand gegriffen hatte und ihre Wunde mit Mull umwickelte.

»In zwanzig Jahren haben wir keinen solchen Angriff erlebt. Und Sniper sind hier noch nie aufgetaucht. Ich mache mir Sorgen.«

»Vielleicht waren sie nur zufällig in der Nähe und haben unsere Witterung aufgenommen«, meinte Chris.

»Im Revier der Wotans? Glaube ich nicht. Und das vermehrte Auftauchen von Viechern am Posten scheint eher auf etwas anderes hinzudeuten«, sagte Russell.

»Und auf was?«, fragte Marlene.

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht eine natürliche Wanderbewegung. Ich habe wirklich keine Ahnung. Wir sollten uns mit Jenny darüber unterhalten. Vielleicht hat unsere Biologin eine Idee. Einstweilen rate ich dazu, die Besatzung des Postens zu verdoppeln.«

»Oh nein!«, stöhnte Chris. »Das würde sechs Dienste im Jahr bedeuten.«

»Sei’s drum«, sagte Marlene. »Russell hat recht. Stellt euch mal vor, eine Gruppe von den Viechern bricht durch und dringt in die Kolonie ein. Wir sind geliefert, wenn sie uns nachts überraschen.«

Russell, Chris und Marlene kletterten die Leiter herab und gingen zum Jeep. Ernie beobachtete wieder die Gegend jenseits des Tors durch sein Fernglas.

Marlene öffnete eine Kiste auf der Ladefläche und drückte Chris ein klobiges Feldtelefon in die Hand.

»Der eigentliche Grund unseres Kommens«, sagte Russell. »Passt das nächste Mal etwas besser auf. Wir haben fast keine Ersatzteile mehr.«

»Ja, ist gut. Schon blöd, dass wir die Funkgeräte nicht nutzen können.«

Russell nickte. Die engen Canyons machten jeden Funkkontakt mit Eridu unmöglich. Also hatten sie eine Kupferleitung das Tal hinauf gezogen. Die Hälfte ihrer Drahtvorräte war dafür draufgegangen.

»Wenn wir wieder im Lager sind, schicke ich umgehend eine Ablösung. Diesmal aus vier Personen. Wir gehen kein Risiko ein«, sagte Marlene.

»Ja, ist gut.« Chris wandte sich um und trug das Feldtelefon in die Holzbaracke.

Russell setzte sich auf den Fahrersitz. Als Marlene neben ihm Platz genommen hatte, startete er den Motor und setzte ruckelnd zurück.

»Das gefällt mir überhaupt nicht«, murmelte er.

»Mir geht’s genauso. Irgendetwas tut sich hier.«

»Ich mache mir Sorgen um die nächste Versorgungstour zur Raffinerie. Es wird bald wieder Zeit.«

Marlene grunzte. »Auf jeden Fall sollten wir auch die Anzahl der Teilnehmer erhöhen.«

Russell presste die Lippen zusammen. Die nächstgelegenen Erdölvorräte gab es etwa zehn Kilometer jenseits des Postens im Dschungel. Albert, Dr. Cashmore und Lee Shanker hatten direkt neben der Ölquelle schon vor vielen Jahren eine improvisierte Raffinerie errichtet. Sie arbeitete vollautomatisch und sicherte der aufstrebenden Kolonie wertvolle Rohstoffe für Petroleum, Benzin und Schmieröl. Auch rudimentäres Plastik hatten sie aus den Kohlenwasserstoffverbindungen herstellen können, allerdings nur in kleinen Mengen. Jedenfalls mussten die Tanks der Raffinerie alle paar Monate geleert und nach Eridu gebracht werden. Mehr als einmal waren sie bei der regelmäßigen Tour von Wotans angegriffen worden.

»Ja, mehr Wachen sind sicher notwendig.«

Verbittert dachte Russell an die Pläne für eine Pipeline von den Ölquellen bis an den Rand der Kolonie. Dann könnten sie die störanfällige Raffinerie dort montieren und sich die gefährlichen Fahrten in den Dschungel sparen. Aber sie hatten nicht die Ressourcen dafür. Wie so viele andere Pläne, lag die Pipeline ganz tief unten in der Schublade. Eine andere Generation musste sich irgendwann darum kümmern.

Russell fuhr sehr sportlich durch die Kurven. Es bereitete ihm Freude, wenn am engsten Kurvenradius kurz die Hinterachse durch den Schotter abrutschte. Plötzlich trat er fluchend auf die Bremse. Da lag etwas mitten auf der Straße.

»Herrgottverdammt!« Er sprang aus dem Wagen und lief auf Drew Potter zu. Sie kniete auf dem Boden, einen flachen Stein in der Hand, und starrte mit offenem Mund den Wagen an, der nur wenige Meter vor ihr zum Stehen gekommen war.

»Ich hätte dich beinahe über den Haufen gefahren.«

Die Geologin richtete sich auf. »Was soll ich denn sagen? Ich habe mich zu Tode erschreckt, als ihr so plötzlich um die Kurve gerast seid.«

»Was kniest du denn überhaupt mitten auf der Straße herum?«, fragte Marlene, die sich mit verschränkten Armen neben Russell aufbaute.

Drew lachte. »Straße? Was für eine Straße? Ich sehe hier keine Straße, nur den natürlichen Boden des Canyons. Davon abgesehen, gibt es hier wohl kaum genug Fahrzeuge, dass man in jedem Moment mit so einem wahnsinnigen Raser rechnen müsste.«

»Wie dem auch sei. Was machst du hier überhaupt?«, fragte Russell.

Drew trat einen Schritt auf ihn zu, griff nach seiner Hand und legte etwas hinein.

»Kieselsteine?«, fragte er.

»Das ist Evaporit. Mit Ablagerungen von Natriumchlorid«, sagte die Geologin, als erkläre das alles.

Russell wechselte einen schnellen Blick mit Marlene und starrte Drew dann wortlos an.

»Na schön. Ich werde es euch erklären. Dieses Gestein wird durch Kontakt mit Wasser hergestellt. Die Salzkruste ist nicht so ausgeprägt, was bedeutet, dass der Kontakt mit Wasser noch nicht sehr lange her sein kann. Auf der Erde findet man diese Steine nur in Küstennähe.«

»Aber die Küste ist Hunderte von Kilometern weit weg«, bemerkte Russell.

»So ist es. Und das ist nicht die einzige Merkwürdigkeit. Man findet diese Steine nur unterhalb dieses Punktes, also in der Tiefebene bis zur Hälfte des Canyons. In Eridu und auf den Höhen darüber sind die vorherrschenden Mechanismen die erwartbaren Wind- und Niederschlagserosionsbilder.«

»Was?«, machte Russell.

»Stürme und Regen. Beides trägt das Gestein ab und beide Vorgänge kann man durch die Muster in der Gesteinsoberfläche unterscheiden.

---ENDE DER LESEPROBE---