Traum oder wahres Leben: Dao - Der Weg - Joachim R. Steudel - E-Book

Traum oder wahres Leben: Dao - Der Weg E-Book

Joachim R. Steudel

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Beschreibung

Welche Umstände haben dazu geführt, dass sich der erfolgreiche deutsche Unternehmer Günter Kaufmann nun in einem Shaolin Kloster befindet? Was hatte seine Lebenseinstellung so grundlegend geändert und ihn auch noch zu einem hervorragenden Kämpfer gemacht? Eine Kette unglücklicher Ereignisse im einundzwanzigsten Jahrhundert führt zu einem neuen Leben im mittelalterlichen China. Oder ist alles nur ein Traum? Eine Geschichte, die Ruhe ausstrahlt und zum Nachdenken anregt. Getragen wird die Handlung vom Klosterleben der Shaolin-Kampfmönche. Eine spirituelle Reise, in der der Protagonist zu sich selbst findet, aber auch Kämpfe bestreiten muss. Der Wandel vom erfolgreichen Geschäftsmann, der aus seiner schnelllebigen Zeit gerissen wird, und Körper und Geist in Einklang bringt. Zweite Auflage mit neuem Cover, hinzugefügtem Glossar und Beseitigung kleinerer Fehler im Text.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Joa­chim R. Steu­del

 

 

Traum oder wah­res Le­ben

 

 

Dao - Der Weg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In­halts­ver­zeich­nis

Ti­tel

Ver­zweif­lung

Er­wa­chen

Die Kraft des Geis­tes

Eine neue Freund­schaft

Er­fah­run­gen

Auf Wan­der­schaft

Yin und Yang

Der lan­ge Auf­ent­halt

Zu­rück nach Shao­lin

Die Er­kennt­nis

Ver­än­de­run­gen

Är­ger

Schlech­te Nach­rich­ten

Die Ge­sandt­schaft

Glossar und Nachbemerkung

Buch­lis­te

Impressum

Verzweiflung

 

 

Ein stei­ler, durch den an­hal­ten­den Nie­sel­re­gen schlüpf­ri­ger Weg führ­te in vie­len Win­dun­gen den Berg hi­n­auf. Mit zü­gi­gen und den­noch si­che­ren Schrit­ten streb­te ein etwa drei­ßig­jäh­ri­ger Mann auf die­sem dem Gip­fel ent­ge­gen. Nur noch we­ni­ge Me­ter trenn­ten ihn vom höchs­ten Punkt, als der schma­le Pfad um einen leicht vor­sprin­gen­den Fels­grat bog. Nach­dem er die­se nicht ganz un­ge­fähr­li­che Stel­le pas­siert hat­te, wur­de der Blick frei auf eine klei­ne Ter­ras­se. Bei schö­nem Wet­ter konn­te man von die­ser Stel­le aus weit ins Land schau­en, doch an die­sem Tag war durch das neb­li­ge und reg­ne­ri­sche Wet­ter die Sicht bis auf we­ni­ge Me­ter ein­ge­schränkt. Am Rand die­ses über­hän­gen­den Fels­stückes, nur eine Hand­breit vom Ab­grund, stand eine jun­ge Frau. Die nas­sen, ver­kleb­ten Haa­re hin­gen ihr ins Ge­sicht und an ih­rer durch­näss­ten Klei­dung konn­te man er­ken­nen, dass sie schon län­ger hier stand.

Un­ge­hört von der Frau ging der Mann zu der et­was über­hän­gen­den Fels­wand, die in ei­nem leich­ten Halb­kreis den hin­te­ren Teil die­ses Or­tes um­rahm­te. Nach­dem er sie eine Wei­le be­ob­ach­tet hat­te, durch­brach er die Stil­le.

»Warum wol­len Sie Ihr Le­ben weg­wer­fen, es hat doch ge­ra­de erst be­gon­nen?«

Er­schro­cken fuhr die Frau he­r­um und wäre da­bei bei­na­he ab­ge­rutscht. Das Gleich­ge­wicht wie­der er­lan­gend und einen Schritt vom Ab­grund zu­rück­wei­chend, schau­te sie den Mann mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an.

Sein schon fast ganz er­grau­tes Haar schi­en selt­sa­mer­wei­se noch voll­kom­men tro­cken zu sein. Groß und schlank ge­wach­sen, strahl­te er eine Ruhe aus, wie sie es noch nie ge­spürt hat­te. Auf ei­nem Bein ste­hend, das an­de­re an­ge­win­kelt an der Fels­wand, schau­te er ihr freund­lich lä­chelnd in die Au­gen. Die­ser Blick hielt sie für kur­ze Zeit ge­fan­gen.

»Wer sind Sie? Wo kom­men Sie her? Wie lan­ge ste­hen Sie schon hier?«

Er lach­te fast un­hör­bar.

»Mein Name tut hier nichts zur Sa­che. Sie ken­nen mich ja doch nicht.«

»Noch nicht!«, füg­te er lä­chelnd hin­zu. Tief sog er die fri­sche, feuch­te Luft ein und sie hat­te den Ein­druck, dass er bis in ihr In­ners­tes se­hen konn­te.

»Ich ste­he schon lan­ge ge­nug hier, um Ihre Ab­sicht zu ken­nen. Ehr­lich ge­sagt ist es ge­nau das, was mich hier­her ge­führt hat.«

»Was wis­sen Sie schon von mei­nen Ab­sich­ten und was geht Sie das an?!«

Wü­tend dreh­te sie sich zum Ab­grund um, und ein we­nig lei­ser füg­te sie hin­zu: »Sie ha­ben doch kei­ne Ah­nung! Für Sie scheint das Le­ben in Ord­nung zu sein.«

Ihre Ge­dan­ken ras­ten und setz­ten fort, was sie laut aus­ge­spro­chen hat­te.

»Aber für mich ist es nicht mehr le­bens­wert. Ich habe al­les ver­lo­ren, selbst zer­stört! Ich habe ja selbst kei­ne Ach­tung mehr vor mir, wer soll­te mich denn noch mö­gen nach dem, was ich ge­tan habe!?«

Trä­nen misch­ten sich ins Re­gen­was­ser, das ihr im Ge­sicht he­r­un­ter­lief. Trau­rig und tief ver­letzt stand sie da und wag­te doch nicht, die­sen einen Schritt zu tun. Der Zwie­spalt in ih­rem In­ne­ren war rie­sig, sie schäm­te sich, fühl­te sich aus­ge­nutzt, ekel­te sich vor sich selbst. Und doch wehr­te sich ihr Ver­stand, ihre See­le ge­gen die Selbst­ver­nich­tung.

»Si­cher­lich sieht es so aus, als ob das Le­ben für mich in Ord­nung wäre, aber das war nicht im­mer so. Auch ich woll­te mei­nem Le­ben am liebs­ten ein Ende set­zen, und glau­ben Sie mir, es war zwar aus ei­nem an­de­ren Grund, aber für mich war in die­sem Mo­ment das Le­ben auch nicht mehr le­bens­wert. Doch nichts auf die­ser Welt kann recht­fer­ti­gen, dass je­mand sein Le­ben weg­wirft. Ich den­ke, ich weiß wo­von ich spre­che, denn ich habe ge­nug er­lebt. Und das, wes­we­gen Sie Ihr Le­ben weg­wer­fen wol­len, ist es nicht wert, die­sen Schritt zu tun! Nicht Sie müs­sen sich schä­men für das, was Sie ge­tan ha­ben, son­dern die, die Sie aus­ge­nutzt und be­nutzt ha­ben! Ei­gent­lich sind Sie doch ein Op­fer, das Op­fer des Be­darfs, der Wün­sche und Fan­tasi­en an­de­rer.«

Lang­sam, wie die Trop­fen des Re­gens, dran­gen die Wor­te in sie ein und nur zö­gernd wur­de ihr be­wusst, dass er sprach, als ob er all ihre Ge­dan­ken ken­nen wür­de. Sie dreh­te sich wie­der um, sah ihn mit ih­ren ver­wein­ten, tief­trau­ri­gen Au­gen an und ver­such­te zu er­grün­den was, wie viel und wo­her er es wuss­te.

»Ich ken­ne Sie nicht und doch spre­chen Sie so, als ob Sie alle mei­ne Ge­dan­ken ken­nen wür­den. Wo­her wol­len Sie wis­sen, warum ich hier ste­he, wes­halb ...«

Plötz­lich durch­zuck­te ein Ge­dan­ke ihr Ge­sicht, ihre Au­gen blitz­ten auf und zor­nig, ag­gres­siv, ja feind­se­lig fuhr sie ihn an.

»Au­ßer«, sie dehn­te die Wor­te und wirk­te wie ein Pan­ther vor dem Sprung, »au­ßer, Sie sind auch ei­ner von de­nen, die sich die­sen Dreck an­schau­en und sich dran auf­gei­len!«

Lau­ernd sah sie ihn an und war­te­te auf sei­ne Re­ak­ti­on. Doch die­se fiel ganz an­ders aus, als sie er­war­tet hat­te. »Eine lo­gi­sche Schluss­fol­ge­rung, doch weit da­ne­ben. So ohne Wei­te­res kön­nen Sie es doch nicht ver­ste­hen. Aber viel­leicht soll­te ich Ih­nen eine Ge­schich­te er­zäh­len, da­mit Sie das Le­ben, auch Ihr Le­ben, bes­ser ver­ste­hen. Ihr Zorn ist ver­ständ­lich, da Sie sich aus­ge­nutzt und miss­braucht füh­len und doch ha­ben Sie es frei­wil­lig und bei vol­lem Be­wusst­sein der Fol­gen ge­tan. Eine Zeit­lang hat es Ih­nen ja auch Freu­de be­rei­tet. In mei­nen Au­gen ist auch nichts Ver­werf­li­ches da­bei, so­lan­ge man sei­ner See­le kei­nen Scha­den da­mit zu­fügt. Viel schö­ner und er­fül­len­der ist es aber, wenn es aus Lie­be ge­schieht.«

»Wo­her …«, zö­gernd und im­mer noch ab­leh­nend ka­men die Wor­te über ihre Lip­pen, »wo­her wis­sen Sie das al­les, mit wem ha­ben Sie ge­spro­chen, wer hat Ih­nen das al­les über mich er­zählt?«

Halb­laut, mehr zu sich ge­spro­chen, füg­te sie noch hin­zu: »Aber ei­gent­lich, ei­gent­lich habe ich doch mit kei­nem dar­über ge­spro­chen?! Kei­ner weiß, wie ich mich füh­le, was mich be­wegt, wo­nach ich mich seh­ne.«

Ihre Au­gen wur­den wie­der feucht.

»Nein! Sie ha­ben mit kei­nem dar­über ge­spro­chen, ha­ben al­les in Ih­rer See­le ein­ge­schlos­sen! Sie schä­men sich. Se­hen in je­dem Blick Ab­leh­nung. Ha­ben das Ge­fühl, dass an­de­re Sie ver­ach­ten und sind ver­bit­tert, weil Sie den­ken, alle re­den schlecht von Ih­nen. Doch die, die am meis­ten mit dem Fin­ger auf Sie zei­gen und läs­tern sind viel­leicht die Schlimms­ten, und schau­en vol­ler Wol­lust, zwi­schen den Fin­gern, ge­nau hin. Ei­gent­lich soll­ten die Men­schen nur über an­de­re rich­ten, wenn sie es selbst bes­ser ma­chen, eine Lö­sung für einen Kon­flikt ha­ben oder ein leuch­ten­des Vor­bild sind. Doch lei­der ist das nicht so!«

Eine kur­ze Pau­se ent­stand, in der er sich an sol­che Ge­ge­ben­hei­ten er­in­ner­te.

»Sie quä­len sich und fin­den doch kei­nen Aus­weg. Doch so­lan­ge Sie sich so vor al­len an­de­ren ver­schlie­ßen, spü­ren die­se Ihre Ab­leh­nung, Ihre Di­stanz und die, die Sie mö­gen und Ih­nen hel­fen könn­ten, fin­den kei­nen Weg zu Ih­nen.«

Lang­sam lös­te er sich von der Fels­wand, ging zwei Schrit­te zur Sei­te und setz­te sich dort auf einen Fels­block.

»Kom­men Sie, set­zen Sie sich mit hier­her. Ich möch­te Ih­nen eine Ge­schich­te er­zäh­len. Ob die­se Ge­schich­te wahr ist und von ei­nem ge­leb­ten Le­ben han­delt oder ein Traum, spielt kei­ne Rol­le. Hö­ren Sie ein­fach nur zu und wenn Sie dann im­mer noch in Selbst­mit­leid ver­sin­ken möch­ten, wer­de ich Sie nicht mehr stö­ren. Dann kön­nen Sie sprin­gen oder auch ewig hier ste­hen blei­ben.« Sie zö­ger­te. »Bit­te, bit­te kom­men Sie.«

Im­mer noch ver­blüfft über das nach­den­kend, was sie so­eben ge­hört hat­te, ging sie lang­sam auf ihn zu. Sie konn­te es sich nicht er­klä­ren, wo­her wuss­te er das al­les, wie konn­te er so über sie und mit ihr spre­chen, ob­wohl sie sich nicht kann­ten. Und doch flöß­te er ihr fast un­ein­ge­schränk­tes Ver­trau­en ein. Sie fühl­te sich viel ru­hi­ger und ent­spann­ter. In sei­nen Wor­ten hat­te sie all ihr Leid und ihre Ver­zweif­lung wie­der­ge­fun­den, und wie von ei­ner un­sicht­ba­ren Macht ge­zo­gen setz­te sie sich ne­ben ihn auf den Fels­block.

Er­schro­cken sprang sie im nächs­ten Au­gen­blick wie­der auf. Der Stein hät­te nass und kalt sein müs­sen und doch war er tro­cken und an­ge­nehm warm, so, als hät­te die war­me Som­mer­son­ne ihn wun­der­schön auf­ge­heizt. Ver­blüfft schau­te sie zum Him­mel. Die Wol­ken­de­cke war auf­ge­ris­sen und aus ei­nem klei­nen Loch, nicht viel grö­ßer als die Son­nen­schei­be, lach­te sie die­se an. In ih­ren Kopf wir­bel­te al­les durch­ein­an­der. Es war doch ei­gent­lich gar nicht mög­lich, eben hat­te es noch ge­reg­net und al­les um sie he­r­um und an ihr trief­te nur so vor Näs­se, wie konn­te da die­ser Fels­block tro­cken und warm sein?! Ihr wur­de lang­sam un­heim­lich, und noch einen Schritt zu­rück­wei­chend, sah sie zu die­sem selt­sa­men Mann hi­n­un­ter. Doch er streck­te nur sei­ne Hand nach ihr aus und for­der­te sie noch­mals auf, sich zu set­zen. Sie konn­te nicht wi­der­ste­hen, nahm sei­ne Hand und ließ sich auf dem Stein nie­der. Eine an­ge­neh­me Wär­me durch­ström­te sie, ihr wur­de leicht ums Herz und sie spür­te, dass sie kei­ne Furcht vor ihm ha­ben muss­te.«

Lang­sam, in sei­nem Ge­dächt­nis al­les ord­nend, be­gann der Mann zu spre­chen.

 

»Es be­gann vor über ei­nem Jahr mit ei­nem rich­tig großen Fa­mi­li­en­krach. Ich hat­te ein gut­ge­hen­des Han­dels­ge­schäft mit über vier­zig An­ge­stell­ten auf­ge­baut und kurz zu­vor das große Po­ten­zi­al ent­deckt, das im Han­del mit den ehe­ma­li­gen Ost­block­län­dern, Po­len, Russ­land und der Ukrai­ne, steckt. Lei­der hat­te ich da­bei nicht be­dacht, dass es dort ei­ni­ge Or­ga­ni­sa­tio­nen gibt, die an je­dem Ge­schäft mit­ver­die­nen oder auch al­lein ver­die­nen wol­len. Kurz und gut, es dau­er­te nicht lan­ge und ich be­kam Be­such von ei­ni­gen un­sym­pa­thi­schen Män­nern. Die­se droh­ten mir und stell­ten mas­si­ve For­de­run­gen. Ich fühl­te mich im Recht, ließ mich nicht so leicht ein­schüch­tern und wies ih­nen, die Ge­fahr un­ter­schät­zend, die Tür. Als sie den Raum ver­lie­ßen, dreh­te sich ihr An­füh­rer um und sag­te zu mir, dass ich die­sen Feh­ler bald be­reu­en wür­de. Ich lach­te ihn aus und wies ihm zor­nig die Tür.«

Nach­denk­lich und kaum hör­bar füg­te er hin­zu: »Wie oft habe ich das be­reut, wie oft habe ich mich ge­fragt, was wäre, wenn ich da­mals nach­ge­ge­ben hät­te. Ja, was wäre, wenn?, wie oft habe ich mich das seit­dem ge­fragt.«

Er schüt­tel­te sich kurz und fuhr dann, die­sen Ge­dan­ken un­ter­drückend, mit sei­ner Ge­schich­te fort.

»Am sel­ben Abend habe ich mei­ner Frau da­von er­zählt. Er­schro­cken, ja pa­nisch vor Angst, hat sie mir Vor­wür­fe ge­macht, hat mich ein­dring­lich ge­be­ten nach­zu­ge­ben, das Ge­schäft mit die­sen Län­dern sein zu las­sen. Im­mer wie­der sag­te sie zu mir: ›Es reicht doch, was wir mit dem Han­del hier ver­die­nen, wir sind ver­mö­gend, ha­ben al­les was wir brau­chen, und es geht uns bes­ser als all un­se­ren Be­kann­ten, warum kannst du es nicht da­bei be­las­sen?‹ Ich habe all ihre Be­den­ken bei­sei­te­ge­scho­ben, hab sie aus­ge­lacht und auf mei­nem Stand­punkt be­harrt. An die­sem Abend ha­ben wir uns to­tal ver­strit­ten und sind ohne Ver­söh­nung schla­fen ge­gan­gen. Ich fühl­te mich im Recht und bin so­fort ru­hig und fest ein­ge­schla­fen, doch sie ...«

»Was ist? Was ha­ben Sie? Wes­halb schau­en Sie mich so an?«

Wie­der war die jun­ge Frau hoch­ge­sprun­gen, hat­te sich los­ge­ris­sen und schau­te sich er­schro­cken um. Die Wol­ken­de­cke über ih­nen war noch wei­ter auf­ge­ris­sen. Über dem Berg war ein großes Stück blau­er Him­mel zu se­hen und al­les um sie he­r­um mach­te einen freund­li­chen und fried­li­chen Ein­druck. Rund­he­r­um konn­te man in ei­ni­ger Ent­fer­nung se­hen, dass es dort im­mer noch neb­lig und reg­ne­risch war. Nur hier in ih­rer nä­he­ren Um­ge­bung schi­en ein wun­der­schö­ner Som­mer­tag zu sein. Zit­ternd vor Schreck sah sie den Mann wie­der an und sag­te: »Es ist al­les so selt­sam, die­ser Wet­ter­wech­sel um uns he­r­um, Ihr Auf­tre­ten, und dann, als ich die Au­gen ge­schlos­sen habe, ich ...«, sie stock­te kurz, »ich hab Ihre Frau ge­se­hen, ich war da­bei, als Sie sich ge­strit­ten ha­ben. Ich habe al­les ge­se­hen, den Zorn ge­spürt, Ihre Woh­nung ge­se­hen, alle De­tails. Es war … war, als ob ich ne­ben Ih­nen ge­stan­den hät­te. Es … es macht mir Angst, es war al­les so rea­lis­tisch!«

Wie­der lä­chel­te er sie an, streck­te sei­ne Hand nach ihr aus und sag­te: »Sie brau­chen kei­ne Angst zu ha­ben, es ge­schieht Ih­nen nichts. Wenn ich Ihre Hand hal­te, kön­nen Sie nur mei­ne Ge­dan­ken füh­len und da­durch al­les rich­tig mit­er­le­ben. Es hilft Ih­nen, das Ge­sche­hen bes­ser zu ver­ste­hen und Sie wer­den im Lau­fe der Ge­schich­te auch noch be­grei­fen, warum das so ist.«

Er mach­te wie­der eine ein­la­den­de Be­we­gung und zö­gernd, ihn ge­nau be­ob­ach­tend, griff sie zu. So­fort spür­te sie die Wär­me und Ruhe in sich ein­drin­gen und gab je­den Wi­der­stand auf. Er fuhr fort, sei­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len, und aber­mals hat­te sie den Drang, ihre Au­gen zu schlie­ßen. Sie gab nach und au­gen­blick­lich war sie wie­der mit­ten im Ge­sche­hen. Sie hat­te das Ge­fühl, über ihm zu schwe­ben und gleich­zei­tig in ihm zu sein und all sei­ne Ge­füh­le zu tei­len.

 

»Der We­cker klin­gel­te, ich tas­te­te im Dunklen nach ihm und schal­te­te ihn aus. Zu­rück ins Bett sin­kend und lang­sam mun­ter wer­dend, wan­der­ten mei­ne Ge­dan­ken zu­rück zum Vor­abend. Der häss­li­che Streit und all die an­de­ren Er­leb­nis­se des Vor­ta­ges kehr­ten in mein Ge­dächt­nis zu­rück. Ich schau­te zu mei­ner Frau und lausch­te ih­ren Atem­zü­gen. Ihr Atem war ru­hig und gleich­mä­ßig, als ob sie noch tief schla­fen wür­de und doch hat­te ich das Ge­fühl, dass das nicht so war. Das schwa­che Licht der Stra­ßen­lam­pe, die noch durch ei­ni­ge Bäu­me ver­deckt wur­de, reich­te nicht aus, um mehr als ihre Um­ris­se zu er­ken­nen. Ich hob mei­nen Kopf, um ihr Ge­sicht bes­ser se­hen zu kön­nen, doch da­durch konn­te ich sie, da ich zwi­schen ihr und dem Fens­ter lag, nur noch schlech­ter er­ken­nen.

Frus­triert stand ich auf und ging ins Bad. Ich woll­te sie nicht we­cken und falls sie mun­ter war, woll­te sie an­schei­nend nicht ge­stört wer­den. Beim Zäh­ne­put­zen ging mir der Vor­tag noch ein­mal durch den Kopf. Der Streit mit mei­ner Frau lag mir schwer auf der See­le. Ich hät­te mich ger­ne mit ihr aus­ge­spro­chen, denn ich wuss­te, dass sie in vie­lem recht hat­te. Aber ich war auch nicht be­reit nach­zu­ge­ben, denn es war für mich eine Sa­che der Ehre und des Prin­zips, mich sol­chen Leu­ten nicht zu beu­gen. Wenn ich mich im Recht fühl­te, konn­te ich stur wie ein al­ter Esel sein, und ich wich um nichts von mei­nem Stand­punkt ab. Wir wa­ren lan­ge ge­nug zu­sam­men, so­dass sie das auch wuss­te und ihr war klar, dass sie mei­ne Mei­nung nicht ohne Wei­te­res än­dern konn­te.

Un­se­re Be­zie­hung war schon seit ei­ni­ger Zeit nicht mehr so har­mo­nisch wie frü­her. Sie warf mir vor, zu viel Zeit und zu vie­le Ge­dan­ken ans Ge­schäft zu ver­schwen­den und zu we­nig Zeit für sie zu ha­ben. Jetzt ist mir be­wusst, wie recht sie da­mit hat­te, denn al­les ist ver­gäng­lich, nur die Er­in­ne­run­gen blei­ben und so war es nur der Trop­fen, der das Fass zum Über­lau­fen brach­te.

Ich mach­te Früh­stück, las die Zei­tung und war in Ge­dan­ken schon wie­der im Ge­schäft, als mei­ne Frau die Kü­che be­trat. Man sah ihr an, dass sie nicht erst auf­ge­wacht und dass ihr Zorn noch nicht ver­raucht war. Schwei­gend setz­te sie sich an den Früh­stücks­tisch. Ich be­ob­ach­te­te sie und wuss­te im sel­ben Mo­ment, dass sie von al­lein be­gin­nen muss­te, dass ich es nur noch schlim­mer ma­chen wür­de, wenn ich sie be­drän­gen wür­de. Schwei­gend sa­ßen wir uns eine gan­ze Wei­le ge­gen­über und ich wur­de lang­sam un­ge­dul­dig, schau­te im­mer wie­der ver­stoh­len auf die Uhr, denn wenn ich pünkt­lich sein woll­te, muss­te ich nun bald ge­hen. Es ar­bei­te­te in ihr und sie war wahr­schein­lich kurz da­vor ih­rem Her­zen Luft zu ma­chen, als ich es nicht mehr aus­hielt und sie un­ge­dul­dig an­sprach: ›Gabi, ent­schul­di­ge bit­te, ich woll­te dich ges­tern Abend nicht ver­let­zen! Ich will auch kei­nen in Ge­fahr brin­gen und mir geht es im Prin­zip auch nicht so sehr um die Ge­win­ne aus die­sen Ge­schäf­ten. Aber wo kom­men wir denn hin, wenn man sich von je­dem er­pres­sen las­sen muss und ir­gend­wel­che Da­her­ge­lau­fe­ne ein­fach an un­se­rer Hän­de Ar­beit mit­ver­die­nen kön­nen, ohne einen Fin­ger krumm zu ma­chen! Ich sehe das nicht ein, und wer­de sol­chen Leu­ten auch nie­mals nach­ge­ben!‹

Ich hat­te mich wie­der in Zorn ge­re­det, hol­te tief Luft und füg­te dann et­was ru­hi­ger hin­zu: ›Na­tür­lich wer­de ich mich heu­te gleich noch mit der Po­li­zei in Ver­bin­dung set­zen, aber ich den­ke, dass die nur ge­blufft ha­ben und auf Dum­men­fang sind.‹

Ich ahn­te ja da­mals nicht, wie sehr ich mich ge­irrt hat­te. Und in der Hoff­nung, dass mit die­sen Wor­ten al­les wie­der in Ord­nung wäre, füg­te ich hin­zu: ›Bist du mir wie­der gut? Es macht mich krank, wenn ich nicht mit dir re­den kann! Ich möch­te doch nur, dass du mich ver­stehst. Ach Gabi, ich brauch dich und dein Ver­ständ­nis doch!‹

›Ach ja, du brauchst mein Ver­ständ­nis? Seit wann denn das? Du willst doch nur, dass ich zu al­lem schön Ja und Amen sage! Seit wann in­ter­es­siert es dich denn, was ich den­ke und füh­le? Du kommst nach Hau­se, er­zählst mir von dei­nem Stress­tag, was je­ner ge­sagt, der ge­tan hat, wel­che Pro­ble­me du hat­test und wie du sie ge­löst hast. Dann teilst du mir noch so ganz ne­ben­bei mit, dass du er­presst wirst und zwar mit mas­si­ven Dro­hun­gen auch ge­gen dei­ne Fa­mi­lie. Und dann, dann willst du das mit sol­chen Be­mer­kun­gen wie ‚Ich wer­de es der Po­li­zei mel­den.‘ oder ‚Ich wer­de mich sol­chen Leu­ten nicht beu­gen.‘ ab­tun!? Ein­fach weg­wi­schen und zur Ta­ges­ord­nung über­ge­hen?! Was glaubst du ei­gent­lich, wer oder was du bist, dass du ein­fach so über die­sen Din­gen ste­hen kannst? Ich je­den­falls füh­le mich be­droht und habe Angst!‹

Sie hol­te tief Luft.

›Ich möch­te, dass du mir jetzt ge­nau zu­hörst! Also, ent­we­der gibst du de­nen nach und be­zahlst, lässt die­se Ge­schäf­te sau­sen und gehst dem Gan­zen da­mit aus dem Weg, oder‹, sie hol­te tief Luft und fuhr mit be­drück­ter Stim­me fort, ›oder ich wer­de dich ver­las­sen!‹

Sie sah mir in die Au­gen, und an ih­rem Blick konn­te ich er­ken­nen, dass es ihr bit­ter ernst war mit die­sen Wor­ten. To­tal über­for­dert fing ich an nach Aus­flüch­ten zu su­chen.

›Gabi, bit­te, ich will euch, will uns nicht in Ge­fahr brin­gen! Ich den­ke ganz ein­fach nur, dass die­se Leu­te nur bluf­fen und ver­su­chen, auf eine ein­fa­che und leich­te Art und Wei­se ans Geld zu kom­men. Ich wer­de ...‹

Zor­nig un­ter­brach sie mich.

›Siehst du, du fängst schon wie­der an, das Gan­ze zu ver­harm­lo­sen! Aber so ein­fach kommst du mir dies­mal nicht da­von! Ich hab dir drei Mög­lich­kei­ten ge­nannt. Und glaub mir, ich habe die gan­ze Nacht lang gründ­lich dar­über nach­ge­dacht und ich möch­te jetzt eine Ant­wort und nicht erst, wenn es zu spät ist! Ich hof­fe, du hast das jetzt ver­stan­den!‹

Sie wur­de im­mer wü­ten­der, stand auf und lief, ohne mich da­bei aus den Au­gen zu las­sen, wie ein ge­fan­ge­ner Ti­ger am Tisch hin und her. Nach ein paar wei­te­ren, sinn­lo­sen Ver­su­chen sie zu be­ru­hi­gen und eine Ent­schei­dung zu ver­schie­ben trat ich, um Zeit zu ge­win­nen, die Flucht an.

›Bit­te, Gabi, kön­nen wir uns heu­te Abend noch mal in Ruhe dar­über un­ter­hal­ten? Ich muss jetzt weg, ich kom­me so­wie­so schon zu spät zur Ar­beit. Ich möch­te jetzt nicht so un­ter Zeit­druck dar­über re­den. Viel­leicht ist es auch bes­ser, wenn wir bei­de noch mal al­les in Ruhe über­den­ken. Ich wer­de noch mal ...‹

Sie war ste­hen ge­blie­ben und un­ter­brach mich mit ei­nem trau­ri­gen Un­ter­ton in der Stim­me: ›Heu­te Abend wer­de ich nicht mehr da sein! Ent­we­der du ent­schei­dest dich jetzt oder ich fah­re dann mit Ma­ria und Tors­ten zu mei­nen El­tern.‹

Fra­gend sah sie mich an und als ich nicht gleich ant­wor­te­te fuhr sie fort: ›Gut, du willst nicht nach­ge­ben. Aber ich gebe dies­mal auch nicht nach!‹

Ihre Au­gen be­ka­men einen feuch­ten Schim­mer.

›Okay, ich hab das Han­dy ja im­mer da­bei, soll­test du dir’s doch noch an­ders über­le­gen, kannst du mich ja an­ru­fen. An­sons­ten ist jetzt erst mal al­les ge­sagt.‹

Mit schnel­len, ener­gi­schen Schrit­ten ver­ließ sie den Raum. Ver­blüfft schau­te ich ihr nach. So hat­te ich sie ja noch nie er­lebt, aber ich nahm ihre Dro­hung, mich zu ver­las­sen, im­mer noch nicht ernst und so mach­te ich mich auf den Weg zur Ar­beit.

Dort an­ge­kom­men, emp­fing mich mei­ne Se­kre­tä­rin gleich mit den Wor­ten:

›Ein Herr Igor hat schon mehr­fach an­ge­ru­fen und nach Ih­nen ver­langt. Er hat sei­nen Nach­na­men trotz Nach­fra­ge nicht ge­nannt, aber ich ver­mu­te, dass es ei­ner der Her­ren war, mit de­nen Sie ges­tern ge­spro­chen ha­ben.‹

›Was woll­te er denn?‹

›Das hat er mir nicht ge­sagt. Er woll­te un­be­dingt mit Ih­nen selbst spre­chen. Er wird nach­her noch mal an­ru­fen.‹

›Dan­ke.‹

Ich be­trat mein Büro, ließ mich in mei­nen Ses­sel fal­len, und nach­denk­lich strich ich mir über die Stirn. Warum war bloß al­les so kom­pli­ziert? Ich war im­mer ehr­lich und zum bei­der­sei­ti­gen Vor­teil mit mei­nen Kun­den um­ge­gan­gen. Wes­halb ich mir auch einen sehr gu­ten Na­men in der Bran­che ge­macht hat­te. Vie­le mei­ner Kon­tak­te hat­te ich Emp­feh­lun­gen an­de­rer Kun­den zu ver­dan­ken, wor­auf ich auch sehr stolz war, und nun war ich plötz­lich mit ei­nem Pro­blem kon­fron­tiert, auf das ich über­haupt nicht vor­be­rei­tet war. Ich hat­te den Kopf im­mer noch in mei­nen Hän­den ver­gra­ben und grü­bel­te dar­über nach, wie ich mich aus der Af­fä­re zie­hen könn­te, als das Te­le­fon klin­gel­te. Ich rich­te­te mich auf, strich die zer­wühl­ten Haa­re glatt und mel­de­te mich be­tont forsch:

›Ja!‹

›Herr Kauf­mann, hier ist wie­der die­ser Herr Igor. Soll ich ihn durch­stel­len?‹

›Ja.‹

›In Ord­nung, hier ist er.‹

›Ja, Kauf­mann, was kann ich für Sie tun?‹

›Ooh, das wis­sen Sie ganz ge­nau, Herr Kauf­mann‹, sprach er mich in sei­nem har­ten, aber gu­ten Deutsch an.

›Ha­ben Sie noch ein­mal nach­ge­dacht über un­ser Ge­spräch von ges­tern? Ich hof­fe, Sie ha­ben Ihre Mei­nung ge­än­dert und wir kön­nen nun, wie sa­gen Sie hier so schön, ‚Nä­gel mit Köp­fen ma­chen‘!‹

›Ja, ich habe noch ein­mal dar­über nach­ge­dacht!‹

Ich spür­te wie der Zorn in mir auf­stieg und muss­te mich sehr zu­sam­men­neh­men, um ru­hig und über­legt zu ant­wor­ten.

›Aber an mei­ner Mei­nung hat sich nichts ge­än­dert. Ich las­se mich nicht er­pres­sen, we­der von Ih­nen noch von an­de­ren. Wenn Sie Geld ver­die­nen wol­len, su­chen Sie sich einen Job oder bau­en Sie sich selbst et­was auf, so wie ich, aber ver­su­chen Sie nicht, auf Kos­ten an­de­rer zu le­ben. Sie wer­den von mir nichts be­kom­men!! Und da­mit ist das Ge­spräch be­en­det!‹

Ich hat­te den Hö­rer schon vom Ohr weg­ge­nom­men, doch dann zog ich ihn zu­rück und füg­te noch hin­zu:

›Und be­läs­ti­gen Sie mich nicht wie­der, es wird sich nichts an mei­nem Stand­punkt än­dern.‹

Be­vor ich den Hö­rer wie­der weg­neh­men konn­te, hör­te ich ihn sa­gen: ›Gut, gut, ich habe es fast be­fürch­tet. Aber wir wer­den ja se­hen. Ich wer­de mich wie­der mel­den, mor­gen, oder – ich den­ke – spä­tes­tens über­mor­gen. Bis bald!‹

Und mit die­sen Wor­ten leg­te er auf. Wü­tend schlug ich mit der Faust auf den Schreib­tisch, knurr­te ei­ni­ge halb­lau­te Flü­che vor mich hin und be­gann dar­über nach­zu­grü­beln, auf wel­che Wei­se mich die­ser Igor dazu brin­gen woll­te, sei­ne Be­din­gun­gen zu er­fül­len. Doch ich soll­te nicht dazu kom­men, mei­ne Ge­dan­ken zu Ende zu brin­gen. Die täg­li­chen Ar­bei­ten stan­den an. Es kam ein An­ruf nach dem an­de­ren, der Ver­tre­ter ei­nes un­se­rer wich­tigs­ten Lie­fe­ran­ten hat­te einen Ter­min bei mir und mei­ne Se­kre­tä­rin er­in­ner­te mich an den Mit­tags­ter­min in der Bank. Über all die­sen Din­gen hat­te ich die­sen Igor und mein Ver­spre­chen, mich mit der Po­li­zei in Ver­bin­dung zu set­zen, schon fast ver­ges­sen. Wes­we­gen ich auch sehr er­staunt war, als ich beim Ver­las­sen des Bü­ros von mei­ner Se­kre­tä­rin mit den Wor­ten auf­ge­hal­ten wur­de: ›Herr Kauf­mann, die Po­li­zei ist am Ap­pa­rat und möch­te Sie drin­gend spre­chen.‹

Ich schau­te auf die Uhr und sag­te: ›Das passt mir jetzt ei­gent­lich über­haupt nicht! Las­sen Sie sich die Num­mer ge­ben und wenn ich wie­der da bin, rufe ich zu­rück.‹

›Hab ich schon vor­ge­schla­gen, doch sie be­haup­ten, es sei drin­gend und sie müss­ten so­fort mit Ih­nen spre­chen.‹

Wi­der­wil­lig vor mich hin knur­rend ging ich wie­der in mein Büro, nahm das Ge­spräch aus der Mu­sik und mel­de­te mich mit den knap­pen Wor­ten: ›Ja, Kauf­mann, was kann ich für Sie tun?‹

Eine leicht ver­un­si­cher­te Stim­me ant­wor­te­te: ›Ja, äh, Herr Kauf­mann, hier spricht Haupt­wacht­meis­ter Schlich­ter, äh, ich ...‹

Un­ge­dul­dig un­ter­brach ich ihn: ›Herr Schlich­ter, wenn es nicht sehr drin­gend ist, möch­te ich Sie bit­ten, das Ge­spräch viel­leicht auf vier­zehn Uhr zu ver­schie­ben, da­mit ich jetzt mei­nen Bank­ter­min wahr­neh­men kann.‹

Mei­ne bar­sche, un­ge­dul­di­ge Art nahm ihm jede Hem­mung und be­tont sach­lich er­wi­der­te er: ›Herr Kauf­mann, ich den­ke es wäre bes­ser, wenn Sie die­sen Ter­min ver­schie­ben und erst ein­mal das Son­ne­ber­ger Kran­ken­haus auf­su­chen wür­den¸ denn ich muss Ih­nen lei­der mit­tei­len, dass Ihre Frau und Ihre Kin­der einen schwe­ren Ver­kehrs­un­fall hat­ten. Der Ret­tungs­dienst müss­te mitt­ler­wei­le dort an­ge­kom­men sein und ich wer­de, wenn die Er­mitt­lun­gen hier vor Ort ab­ge­schlos­sen sind, auch hin­fah­ren.‹

Ich sank in mei­nen Bü­ro­ses­sel und frag­te ver­ständ­nis­los: ›Un­fall? Aber sie fährt doch im­mer so vor­sich­tig, bes­ser als ich! Wie konn­te das denn pas­sie­ren, und wie geht es ih­nen?‹

Ich schau­te mit lee­ren Au­gen durch die of­fe­ne Bü­ro­tür auf mei­ne Se­kre­tä­rin und nahm nur im Un­ter­be­wusst­sein wahr, dass die­se das Ge­spräch mit­ge­hört hat­te, denn erst in die­sem Mo­ment hat­te ich den Hö­rer ab­ge­nom­men und die Laut­spre­cher­funk­ti­on de­ak­ti­viert. Sie tat ge­nau das, wes­we­gen ich ihre Mit­ar­beit so schätz­te, denn sie rief so­fort die Bank an und ver­schob den Ter­min auf un­be­stimm­te Zeit.

Wäh­rend­des­sen hat­te mir der Po­li­zist be­greif­lich ge­macht, dass er am Te­le­fon kei­ne wei­te­ren Aus­künf­te ge­ben wür­de. Wie ge­lähmt be­merk­te ich erst nach ei­ner gan­zen Wei­le, dass das Ge­spräch schon be­en­det war. Ge­dan­ken­ver­lo­ren leg­te ich den Hö­rer auf und such­te nach dem Au­to­schlüs­sel. Ich zog die Ja­cke an, klopf­te die Ta­schen ab, sah dann den Schlüs­sel ne­ben dem Te­le­fon lie­gen, zog die Ja­cke wie­der aus, nahm den Schlüs­sel, mach­te ei­ni­ge Schrit­te in Rich­tung Tür, be­merk­te, dass ich nur im Hemd war und dreh­te brum­mend wie­der um. Als ich in den zwei­ten Är­mel fuhr, ver­hed­der­te ich mich im Fut­ter. Mei­ne Se­kre­tä­rin half mir und sag­te:

›Wäre es nicht bes­ser, wenn ich Sie fah­re oder einen an­de­ren Mit­ar­bei­ter da­mit be­auf­tra­ge?‹

Wi­der bes­se­res Wis­sen lehn­te ich ab.

›Geht schon wie­der. Dan­ke für das An­ge­bot, aber Sie wer­den hier ge­braucht. Bit­te sa­gen Sie alle wei­te­ren Ter­mi­ne für heu­te ab‹, ich stock­te kurz, ›und, viel­leicht auch für mor­gen. Sa­gen Sie ein­fach ... ach, Sie ma­chen das schon, Frau Wag­ner. Dan­ke!‹

Ihr zu­ni­ckend ver­ließ ich das Büro.

Die Fahrt nach Son­ne­berg ver­lief wie im Traum. Nur ein­mal fuhr ich zu­sam­men und kehr­te für ei­ni­ge Au­gen­bli­cke in mei­ne Um­welt zu­rück. Lau­tes Hu­pen und das Quiet­schen blo­ckie­ren­der Rei­fen auf dem As­phalt ris­sen mich aus mei­nen Ge­dan­ken. Ich hat­te ei­nem an­de­ren PKW die Vor­fahrt ge­nom­men. Schimp­fend und ges­ti­ku­lie­rend kam der Fah­rer die­ses Au­tos zum Ste­hen. Ich konn­te noch se­hen, wie sei­ne Bei­fah­re­rin mit schre­ckens­star­rem Blick die Hän­de vors Ge­sicht schlug. Als mir klar wur­de, dass ich ein Stop­schild über­fah­ren hat­te, trat ich kurz auf die Brem­se, doch da kein Scha­den ent­stan­den war, gab ich gleich wie­der Gas. Durch die­se Schreck­se­kun­den fuhr ich eine Wei­le auf­merk­sa­mer wei­ter, doch lan­ge hielt das nicht an. Als ich dann end­lich vor dem Kran­ken­haus einen frei­en Park­platz ge­fun­den hat­te, sprang ich aus dem Auto und lief has­tig zum Emp­fang.

›Hal­lo, mei­ne Frau und mei­ne Kin­der hat­te einen Un­fall und sol­len ge­ra­de hier ein­ge­lie­fert wor­den sein, kön­nen Sie mir sa­gen, wo ich sie fin­de?‹

Der Mann am Schal­ter lä­chel­te und sag­te: ›Gu­ten Tag. Wenn Sie mir Ih­ren Na­men oder den Ih­rer Frau ver­ra­ten, kann ich Ih­nen viel­leicht hel­fen.‹

›Ent­schul­di­gung. Ich hei­ße Kauf­mann und die Po­li­zei hat mich vor Kur­zem an­ge­ru­fen und mir ge­sagt, dass mei­ne Frau einen schwe­ren Ver­kehrs­un­fall hat­te und hier­her ge­bracht wor­den ist.‹

Er tipp­te den Na­men in sei­nen Com­pu­ter ein und schüt­tel­te dann be­dau­ernd den Kopf.

›Ich habe hier noch kei­ne In­for­ma­ti­on über eine Frau Kauf­mann! Im Mo­ment ha­ben wir gar kei­ne Pa­ti­en­ten mit dem Na­men Kauf­mann in Be­hand­lung. Aber wenn sie eben erst ein­ge­lie­fert wor­den sind, könn­te es sein, dass ihre Da­ten noch gar nicht auf­ge­nom­men sind. Ge­hen Sie doch bit­te in die Not­auf­nah­me und fra­gen Sie dort nach.‹

Ich ließ mir den Weg be­schrei­ben und er­kun­dig­te ich mich dann dort noch ein­mal nach mei­ner Fa­mi­lie.

Es war nicht das, was die Schwes­ter sag­te, son­dern wie sie es sag­te und mich da­bei an­schau­te, was mich so un­ru­hig mach­te. Sie bat mich, kurz Platz zu neh­men und ging, um je­man­den zu ho­len, der mir Aus­kunft ge­ben konn­te.

We­nig spä­ter be­trat ein äl­te­rer, Ver­trau­en ein­flö­ßen­der Arzt den Raum und for­der­te mich auf, ihm in sein Büro zu fol­gen. Als ich dort Platz ge­nom­men hat­te, setz­te er sich mir ge­gen­über, stütz­te sei­ne El­len­bo­gen auf den Schreib­tisch vor sich und fal­te­te die Hän­de vorm Ge­sicht.

Ich wer­de die­se Au­gen­bli­cke nie ver­ges­sen und es hat sich jede Ein­zel­heit tief in mein Ge­dächt­nis ein­ge­brannt, aber noch wuss­te ich nicht, dass sich da­durch mein gan­zes Le­ben än­dern wür­de.

Es wa­ren nur Se­kun­den bis er an­fing zu spre­chen und doch nahm ich in die­ser kur­zen Zeit jede Ein­zel­heit an und um ihn he­r­um wahr.

Wir sa­ßen in ei­nem klei­nen, hel­len, freund­li­chen Büro. Ei­ni­ge gut ge­pfleg­te Pflan­zen auf dem Fens­ter­stock ver­lie­hen dem Raum ein an­ge­neh­mes Kli­ma. Der Schreib­tisch war or­dent­lich auf­ge­räumt und es lag nur das Not­wen­digs­te dar­auf. Die An­ord­nung des Com­pu­ter­bild­schirms, der Tas­ta­tur und der Maus wa­ren sinn­voll ge­wählt, so­dass auch bei ei­nem Ge­spräch wie die­sem nichts stör­te. Es dran­gen kaum Ge­räusche von au­ßen he­r­ein und man hät­te in den Au­gen­bli­cken, be­vor er an­fing zu spre­chen, eine Steck­na­del fal­len hö­ren kön­nen. Der Arzt saß leicht nach vorn ge­beugt an sei­nem Schreib­tisch, hat­te den Kopf ein we­nig ge­senkt und schau­te über sei­ne Bril­le hin­weg in mei­ne Au­gen. Nach­denk­lich oder ner­vös rieb er, mit den ge­fal­te­ten Hän­den, die Hand­bal­len und Dau­men an­ein­an­der. Lang­sam rich­te­te er sich auf und fing an zu spre­chen: ›Herr Kauf­mann, als Ihre Frau hier ein­traf ...‹

Die­ses Ge­spräch fiel ihm sicht­lich schwer und das flaue Ge­fühl in mei­ner Ma­gen­ge­gend ver­stärk­te sich. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen und schwer at­mend hing ich an sei­nen Lip­pen.

›… als sie hier ein­traf, konn­ten wir lei­der nichts mehr für sie tun. Sie hat bei dem Un­fall schwe­re, auch schwe­re in­ne­re Ver­let­zun­gen er­lit­ten. Der Not­arzt hat al­les Men­schen­mög­li­che ver­sucht, um sie am Le­ben zu er­hal­ten und auch wir ha­ben hier ver­sucht sie zu re­ani­mie­ren, aber es war lei­der nicht mehr mög­lich.‹

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich hat­te das Ge­fühl, dass mein Kopf je­den Au­gen­blick plat­zen wür­de. Mein Atem ging schwer, mei­ne rech­te Hand fing an zu zu­cken und ein kal­ter Schau­er lief mir über den Rücken.

›Wie ... was ... ich ver­ste­he das nicht! Das … das ist doch nicht mög­lich!‹

Mei­ne Ge­dan­ken wir­bel­ten durch­ein­an­der. Sie woll­te doch mit den Kin­dern nur zu ih­ren El­tern fah­ren. Die­se Stre­cke kann­te sie wie ihre Wes­ten­ta­sche, denn sie war die­se Stra­ßen doch schon hun­dert Mal ge­fah­ren. Da konn­te doch gar nichts pas­sie­ren. Au­ßer­dem, wenn die Kin­der mit im Auto sa­ßen, fuhr sie im­mer be­son­ders vor­sich­tig. Die Kin­der, na klar, die wa­ren ja auch mit da­bei ge­we­sen.

›Und den Kin­dern, wie geht es de­nen? Wenn ich mich recht ent­sin­ne, dann hat der Po­li­zist vor­hin auch von ih­nen ge­spro­chen!‹

Er­war­tungs­voll und zu­gleich ängst­lich schau­te ich ihn an.

›Tjaaa, also, wenn ich recht in­for­miert bin, dann kam für die bei­den Kin­der schon vor Ort jede Hil­fe zu spät. Als die Ret­tungs­kräf­te ein­tra­fen und sie mü­he­voll aus dem Auto be­freit hat­ten, gab es lei­der kei­ne Mög­lich­keit mehr, ih­nen zu hel­fen.‹

Ich sank in mich zu­sam­men. Je­des Wort der letz­ten Sät­ze war wie der Schlag mit ei­nem Ham­mer ge­we­sen. Müh­sam ver­such­te ich, mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen und zu be­grei­fen, was der Arzt eben ge­sagt hat­te. Als ich früh ge­gan­gen war, hat­te ich doch noch in die Kin­der­zim­mer ge­schaut und sie fried­lich schla­fen ge­se­hen.

Oh Gott, mein Gott, was ist nur ge­sche­hen, was hab ich nur ge­tan, dass ich so ge­straft wer­de? Bis­her war im­mer al­les, mit ei­ni­gen we­ni­gen, ver­ges­sens­wer­ten Schwie­rig­kei­ten, nach mei­nen Wün­schen und Träu­men ver­lau­fen und nun das. Es konn­te gar nicht sein, das war über­haupt nicht mög­lich! Es muss­te ein­fach ein Miss­ver­ständ­nis sein! Bei die­sem Ge­dan­ken an­ge­kom­men, schau­te ich hoff­nungs­voll auf den Arzt. Doch im sel­ben Mo­ment wur­de mir klar, dass es nur ein dum­mer Ge­dan­ke ge­we­sen war. Der Arzt sprach im­mer noch und ich ver­such­te müh­sam, sei­ne Wor­te auf­zu­neh­men, doch es ge­lang mir nicht. Ich sah nur wie schwer es ihm fiel, mir die­se Mit­tei­lung zu ma­chen, dass er schon lan­ge nicht mehr in mein Ge­sicht sah, son­dern ge­bannt auf sei­ne im­mer noch ge­fal­te­ten Hän­de schau­te und auch wei­ter­hin ner­vös die Hand­bal­len und Dau­men an­ein­an­der rieb. Was war nur ge­sche­hen, die Kin­der hat­ten doch noch ihr gan­zes Le­ben vor sich und Gabi ...

›Ich … ich möch­te sie se­hen. Wo ist sie, und wo sind mei­ne Kin­der?‹

Ver­blüfft schau­te der Arzt hoch. Er hat­te im­mer noch ge­spro­chen und ich hat­te ihn mit­ten im Satz un­ter­bro­chen. ›Ich den­ke, es wäre bes­ser, wenn Sie Ihre An­ge­hö­ri­gen jetzt noch nicht wie­der­se­hen. Es ist kein schö­ner An­blick durch die schwe­ren Ver­let­zun­gen. Viel­leicht soll­ten Sie in Er­wä­gung zie­hen ...‹

In die­sem Mo­ment klopf­te es zag­haft an der Tür. Der Arzt, froh we­gen die­ser Un­ter­bre­chung, sag­te: ›Ja, bit­te!‹

Lang­sam ging die Tür auf und ein Po­li­zist schau­te he­r­ein.

›Ent­schul­di­gen Sie bit­te, ich su­che einen Herrn Kauf­mann. Mir wur­de ge­sagt, ich könn­te ihn hier fin­den.‹

›Ja, da sind Sie hier schon rich­tig. Ich neh­me an, Sie sind der Er­mitt­lungs­lei­ter vom Un­fall­ort?‹

›Ja, Schlich­ter, Haupt­wacht­meis­ter Schlich­ter, aber Sie wa­ren noch im Ge­spräch, und ich woll­te Sie nicht un­ter­bre­chen. Ich wer­de vor der Tür war­ten bis Sie fer­tig sind.‹

Er dreh­te sich um und woll­te den Raum ver­las­sen, doch der Arzt hielt ihn mit den Wor­ten auf: ›Einen Mo­ment bit­te, blei­ben Sie, ich habe dem Herrn Kauf­mann schon al­les er­zählt, was ich über den Un­fall sa­gen kann. Wei­te­re Fra­gen zum Un­fall­her­gang kön­nen höchs­tens Sie ihm be­ant­wor­ten. Ich wer­de dann, da­mit Sie un­ge­stört spre­chen kön­nen, so­lan­ge in die Not­auf­nah­me ge­hen.‹

Er er­hob sich und woll­te den Raum ver­las­sen, doch der Po­li­zist hielt ihn mit den Wor­ten auf: ›Bit­te war­ten Sie, ich den­ke, es wäre bes­ser, wenn Sie hier blei­ben wür­den.‹ Und mit ei­nem fle­hen­den Blick füg­te er hin­zu: ›Es gibt da viel­leicht das eine oder an­de­re, wo­bei ich Ihre Hil­fe be­nö­ti­gen könn­te.‹

Der Arzt mach­te eine re­si­gnie­ren­de Hand­be­we­gung und setz­te sich mit ei­nem ent­täusch­ten Blick wie­der hin. Ne­ben der Tür stand ein Stuhl, den sich der Haupt­wacht­meis­ter nun he­r­an­zog. Er schloss kurz die Au­gen und sam­mel­te sei­ne Ge­dan­ken.

›Ich kann Ih­nen nur das mit­tei­len, was wir aus den Un­fall­spu­ren und Zeu­gen­aus­sa­gen ab­lei­ten kön­nen, denn der Un­fall­ve­rur­sa­cher hat Fah­rer­flucht be­gan­gen. Zur­zeit läuft die Fahn­dung nach ei­nem Fahr­zeug, des­sen Be­schrei­bung wir durch vage Zeu­gen­aus­sa­gen ha­ben. Also, es muss sich un­ge­fähr so zu­ge­tra­gen ha­ben …‹

Teil­nahms­los schau­te ich auf sei­ne Lip­pen und ver­such­te den Aus­füh­run­gen zum Un­fall­ge­sche­hen zu fol­gen.

›… Ihre Frau war auf der Haupt­stra­ße zwi­schen Lau­scha und Stein­ach un­ter­wegs, als sie von ei­nem nach­fol­gen­den PKW, ver­mut­lich dem Un­fall­ve­rur­sa­cher, hart be­drängt wur­de. Dies wis­sen wir durch die Zeu­gen­aus­sa­ge ei­nes ent­ge­gen­kom­men­den Fahr­zeugs, des­sen Fah­rer spä­ter wie­der in Rich­tung Stein­ach zu­rück­fuhr. Der Un­fall­ve­rur­sa­cher muss dann bei wei­te­ren Über­hol­ver­su­chen Ihre Frau auf der Fah­rer­sei­te ge­rammt ha­ben. Ver­mut­lich hat sie da­durch die Ge­walt über das Fahr­zeug ver­lo­ren und ist auf der re­gen­nas­sen Fahr­bahn ins Schleu­dern ge­kom­men. Nach­dem sie mit dem Fahr­zeugheck einen Baum be­rührt hat­te, ist sie auf­grund der ho­hen Ge­schwin­dig­keit, die sie wahr­schein­lich durch den Un­fall­ve­rur­sa­cher hat­te, auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te in den Stra­ßen­gra­ben ge­fah­ren. Dort hat sich das Auto dann mehr­fach über­schla­gen. Zu­erst ist es über die Front hin­weg aufs Dach ge­schla­gen, und das Dach wur­de durch die große Wucht bis auf die Rücken­leh­nen der Sit­ze he­r­un­ter­ge­drückt. An­schlie­ßend hat sich das Auto noch mehr­fach seit­lich über­schla­gen, be­vor es auf der Fah­rer­sei­te lie­gend, zum Ste­hen kam. Der Fah­rer ei­nes nach­kom­men­den LKW hat noch ge­se­hen, wie sich ein PKW, schnell be­schleu­ni­gend, von der Un­fall­stel­le ent­fernt hat. Nach der Fahr­zeug­be­schrei­bung war dies das glei­che Fahr­zeug, das uns auch der an­de­re Zeu­ge be­schrie­ben hat. Fah­rer und Bei­fah­rer des LKW ha­ben dann so­fort die Ret­tungs­kräf­te in­for­miert und ver­sucht, selbst Hil­fe zu leis­ten. Lei­der wa­ren aber alle so im Fahr­zeug ein­ge­klemmt, dass sie nur die Mög­lich­keit hat­ten Ihre Frau durch die he­r­aus­ge­bro­che­ne Front­schei­be not­dürf­tig zu ver­sor­gen. Als die Ret­tungs­kräf­te ein­tra­fen und die Feu­er­wehr das Dach ent­fernt hat­te, konn­ten Ihre Kin­der lei­der nur noch tot ge­bor­gen wer­den. Ver­mut­lich hat­ten sie schon den ers­ten Über­schlag nicht über­lebt. Ihre Frau war be­sin­nungs­los und hat­te in der Zwi­schen­zeit so viel Blut ver­lo­ren, dass der Not­arzt sich wun­der­te, dass sie über­haupt noch am Le­ben war. Wahr­schein­lich konn­te sie nur durch die Not­ver­sor­gung der bei­den LKW-Fah­rer so lan­ge am Le­ben er­hal­ten wer­den.‹

Er at­me­te tief durch und be­en­de­te sei­ne Aus­füh­run­gen mit den Wor­ten: ›Das ist erst ein­mal al­les, was ich Ih­nen zum Un­fall­her­gang mit­tei­len kann. Ich wer­de Sie auf je­den Fall über den Stand der wei­te­ren Er­mitt­lun­gen auf dem Lau­fen­den hal­ten.‹

Der Haupt­wacht­meis­ter hat­te mich die gan­ze Zeit fi­xiert und schnell hin­ter­ein­an­der­weg ge­spro­chen und war nun sicht­lich froh, dass er die­se schwie­ri­ge Auf­ga­be hin­ter sich ge­bracht hat­te. Er war­te­te auf eine Re­ak­ti­on von mir, doch ich muss­te das Ge­hör­te erst ein­mal ver­ar­bei­ten. In mei­nem Kopf hat­ten sich wäh­rend der Aus­füh­run­gen des Po­li­zis­ten Bil­der ge­bil­det, mit de­nen ich das Ge­sche­hen nach­zu­voll­zie­hen such­te. Mir stock­te der Atem und es wur­de mir schlecht, als ich mir mei­ne blu­ten­den, im Fahr­zeug­wrack ein­ge­klemm­ten Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen vor­stell­te. Mein An­blick muss be­ängs­ti­gend ge­we­sen sein, denn der Po­li­zist hat­te schon einen fra­gen­den und um Hil­fe fle­hen­den Blick auf den Arzt ge­wor­fen, als die­ser auch schon auf­stand, zu mir trat und mich frag­te: ›Ist Ih­nen schlecht? Soll ich das Fens­ter öff­nen?‹

›Ja, ich glau­be, das wäre nicht schlecht‹, keuch­te ich.

Der Arzt trat, ohne mich aus den Au­gen zu las­sen, ans Fens­ter, nahm die Pflan­zen weg und öff­ne­te es weit. Zit­ternd und tau­melnd stand ich auf und trat, ge­stützt vom Po­li­zis­ten, ans Fens­ter. Die fri­sche Luft tat gut und lang­sam konn­te ich wie­der klar se­hen. Doch in mei­nem Kopf wir­bel­te al­les durch­ein­an­der. Al­les war so düs­ter, so trost­los. Doch das Wet­ter und die Na­tur schie­nen dem al­len Hohn zu spot­ten. Die Son­ne war hin­ter den Ge­wit­ter­wol­ken her­vor­ge­kom­men und be­gann, die Näs­se vom Bo­den auf­zusau­gen. Die Vö­gel zwit­scher­ten fröh­lich, die Luft war klar und sau­ber, al­les sah so frisch, so er­holt aus. All dies pass­te über­haupt nicht zu mei­ner der­zei­ti­gen Ver­fas­sung. Lang­sam be­gann ich mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen.

›Dan­ke, es geht schon wie­der. Das ist bloß sehr viel auf ein­mal. Ich muss das erst ein­mal ver­ar­bei­ten.‹

Der Arzt nick­te.

›Das kann ich ver­ste­hen. Wenn Sie möch­ten, kön­nen Sie ger­ne eine Wei­le hier in die­sem Büro blei­ben. Hier stört Sie kei­ner und Sie kön­nen erst ein­mal zur Ruhe kom­men.‹ Er schau­te mich fra­gend an, und als ich nicht re­agier­te, gab er dem Po­li­zei­be­am­ten mit den Au­gen einen Wink und sie ver­lie­ßen ge­mein­sam den Raum.

Ich setz­te mich und hol­te tief Luft. Dann ver­such­te ich das Ge­hör­te zu ver­ar­bei­ten. In die­sem Mo­ment wur­de mir be­wusst, dass ich nun al­lein war. Die­se Er­kennt­nis er­schlug mich fast, denn ich hat­te nun nie­man­den mehr. Mei­ne El­tern leb­ten nicht mehr, mei­ne Schwes­ter war weit weg­ge­zo­gen und nun wa­ren mei­ne ein­zi­gen na­hen Ver­wand­ten mit ei­nem Schlag nicht mehr da. Plötz­lich spür­te ich, dass die Stil­le und Ein­sam­keit in die­sem klei­nen Raum mich er­drück­te. Schwer at­mend und am gan­zen Kör­per zit­ternd stand ich auf. Ich ver­ließ das Büro und be­gab mich in die Not­auf­nah­me. Die an die­sem Ort herr­schen­de Be­trieb­sam­keit tat mir gut und ich schau­te mich nach dem Arzt und dem Po­li­zis­ten um. Schließ­lich fand ich sie in ein Ge­spräch ver­tieft, Zi­ga­ret­te rau­chend vor der Tür ste­hen.

›Tut mir leid, aber al­lein in die­sem klei­nen Büro, das ist jetzt doch nicht das Rich­ti­ge für mich. Als ich kam, habe ich vorn beim Hauptein­gang eine Ca­fe­te­ria ge­se­hen, und ich den­ke bei ei­ner Tas­se Kaf­fee kann ich mei­ne Ge­dan­ken jetzt bes­ser ord­nen.‹

An­schei­nend hat­ten sich die bei­den ge­ra­de über mich un­ter­hal­ten und der Arzt schi­en nun sicht­lich er­leich­tert zu sein, dass ich die­se Ent­schei­dung ge­trof­fen hat­te. Er nick­te zu­stim­mend und bat mich nur, spä­ter noch ein­mal bei ihm vor­bei­zu­schau­en, um ei­ni­ge For­ma­li­tä­ten zu er­le­di­gen. Auch auf dem Po­li­zei­re­vier soll­te ich mich zu die­sem Zweck noch ein­mal mel­den.

Ich nick­te und be­gab mich in die Ca­fe­te­ria. Dort muss­te ich mich zwin­gen, nicht mei­ner Ver­zweif­lung nach­zu­ge­ben, son­dern über die wei­te­ren Schrit­te nach­zu­den­ken. Nach ei­ner Wei­le ge­lang mir das auch und ich fand zu der ra­tio­na­len Hand­lungs­wei­se zu­rück, für die ich bei mei­nen Ge­schäfts­part­nern be­kannt war. Ich zog das No­tiz­buch, das ich im­mer bei mir hat­te, her­vor und be­gann mir No­ti­zen über die nächs­ten Schrit­te zu ma­chen.

Der Rest die­ses Ta­ges war wie ein Lauf durch di­cken Ne­bel. Ich funk­tio­nier­te ra­tio­nell und von au­ßen drang nichts rich­tig bis zu mir vor.

Nach­dem ich Schritt für Schritt ab­ge­ar­bei­tet hat­te, was ich zu die­sem Zeit­punkt für not­wen­dig er­ach­te­te, fuhr ich nach Hau­se und ließ mei­nen Ge­füh­len frei­en Lauf. Nun be­gann ich zu be­reu­en, dass ich mir so we­nig Zeit für mei­ne Fa­mi­lie ge­nom­men hat­te. Bil­der aus der Ver­gan­gen­heit stürm­ten auf mich ein und ich sah so vie­les, was ich hät­te an­ders oder bes­ser ma­chen kön­nen.

Das Klin­geln des Te­le­fons riss mich aus mei­nen trüb­sin­ni­gen Ge­dan­ken. Mei­ne Schwes­ter er­kun­dig­te sich nach mei­nem Be­fin­den und bot mir an, mich in den kom­men­den Ta­gen zu un­ter­stüt­zen. Ich war dank­bar für die­ses An­ge­bot, denn die Ein­sam­keit in die­sem Haus war be­las­tend. Nach­dem ich ei­ni­ge Bier ge­trun­ken hat­te, kam ich so­weit zur Ruhe, dass ich mich ent­schloss, zu Bett zu ge­hen. Doch nach höchs­tens zwei Stun­den Schlaf schreck­te ich aus ei­nem Alb­traum hoch. Mei­ne De­cke war ein ein­zi­ger Kno­ten und der Schlaf­an­zug kleb­te schweiß­nass an mei­nem Kör­per. Nach­dem ich mich um­ge­zo­gen und das Bett wie­der in Ord­nung ge­bracht hat­te, leg­te ich mich wie­der hin, doch an Schlaf war nicht mehr zu den­ken.

Die fol­gen­den Tage und Näch­te bis zur Be­er­di­gung wa­ren nicht leicht für mich und ich weiß nicht, wie ich sie ohne die Hil­fe mei­ner Schwes­ter über­stan­den hät­te. Da mei­ne El­tern nicht mehr leb­ten, war sie mei­ne nächs­te le­ben­de Ver­wand­te und ihre Nähe half mir sehr. Am Tag der Be­er­di­gung wur­de al­les noch ein­mal so rich­tig auf­ge­wühlt und ich muss­te alle Kraft zu­sam­men­neh­men, um ihn zu über­ste­hen.

Seit die­sem Tag stel­le ich mir stän­dig die Fra­ge: Was wäre ge­sche­hen, wenn ich nach­ge­ge­ben hät­te? Was wäre, wenn ...

Das Schlimms­te kam aber noch, denn ich wuss­te ja noch nicht al­les über die­sen Un­fall. Aber es traf mich wie ein Schlag, als ich zwei Tage nach der Be­er­di­gung das ers­te Mal wie­der in der Fir­ma er­schi­en. Ich hat­te lan­ge über­legt, wie es nun wei­ter­ge­hen soll­te und war schließ­lich zu dem Er­geb­nis ge­kom­men, dass es das Bes­te wäre, wenn ich mich wie­der in mei­ne Ar­beit stür­zen wür­de. Die Ar­beit wür­de mich ab­len­ken, so­dass ich nicht stän­dig über das Warum und Wie­so nach­den­ken könn­te. Mei­ne Be­leg­schaft war wirk­lich sehr ver­ständ­nis­voll. Be­son­ders Frau Wag­ner, mei­ne Se­kre­tä­rin, hat­te wie­der be­wie­sen, dass sie die per­fek­te Be­set­zung für die­se Stel­le war. Al­les, was ich nicht un­be­dingt selbst ent­schei­den muss­te, hat­ten sie und an­de­re lei­ten­de An­ge­stell­te in der Zwi­schen­zeit zu mei­ner volls­ten Zu­frie­den­heit er­le­digt. Nur die Din­ge, die kein an­de­rer ent­schei­den konn­te, wa­ren, sau­ber nach Wich­tig­keit ge­ord­net, auf mei­nem Schreib­tisch be­reit­ge­legt. Ich ging mit ihr die­se An­ge­le­gen­hei­ten durch und wir hat­ten schon ei­ni­ges ab­ge­ar­bei­tet, als das Te­le­fon wie­der ein­mal klin­gel­te. Sie ging an ih­ren Schreib­tisch und nahm den Hö­rer ab. Im sel­ben Mo­ment konn­te ich an ih­rem Ge­sichts­aus­druck er­ken­nen, dass sie die­sen An­ruf zwar er­war­tet, aber ins­ge­heim ge­hofft hat­te, dass er nicht käme. Sie leg­te das Ge­spräch in die Mu­sik und sag­te zu mir: ›Es ist wie­der die­ser Herr Igor und er lässt sich ein­fach nicht ab­wim­meln. Er hat schon in den letz­ten zwei Ta­gen mehr­fach hier an­ge­ru­fen. Was soll ich ...?‹

›Ge­ben Sie das Ge­spräch her. Der er­wischt mich ge­ra­de auf dem rich­ti­gen Fuß! Dem werd ich jetzt ein für alle Mal die Mei­nung gei­gen!‹, sag­te ich zor­nig. Ich nahm das Ge­spräch an und mel­de­te mich be­tont forsch.

›Ja! Kauf­mann am Ap­pa­rat!‹

›Ahhh, Herr Kauf­mann. Schön, dass Sie wie­der im Ge­schäft sind.‹

›Was wol­len Sie? Ich den­ke, ich habe Ih­nen mei­ne Po­si­ti­on klar und ver­ständ­lich mit­ge­teilt! Also, warum be­läs­ti­gen Sie mich trotz­dem noch?‹

›Also, also, Herr Kauf­mann. Nicht so ag­gres­siv! Ich be­dau­re das mit Ih­rer Fa­mi­lie sehr, aber es soll­te ei­gent­lich nur ein Warn­schuss wer­den. Dass es dann so schlimm aus­ge­gan­gen ist, war wirk­lich die Ver­ket­tung un­glück­li­cher Um­stän­de. Ich habe mei­ne Mit­ar­bei­ter schon be­straft für ihr über­trie­be­nes Vor­ge­hen. Ich hof­fe Sie wis­sen nun, dass wir es ernst mei­nen und auch die Mög­lich­keit ha­ben, un­se­re For­de­run­gen durch­zu­set­zen!‹

Mit ei­nem Schlag ging mir ein Licht auf. Ich ver­stand nun, wie es zu die­sem Un­fall hat­te kom­men kön­nen. Mir ver­schlug es die Spra­che und die Hand mit dem Te­le­fon­hö­rer sank mir auf die Brust. Ich rang nach Luft und Frau Wag­ner, die durch die of­fe­ne Tür he­r­ein­ge­schaut hat­te, war schon auf dem Sprung, um mir zu hel­fen, als ich mich auf­raff­te und den Hö­rer wie­der hoch­nahm.

›Hal­lo? Hal­lo, Herr Kauf­mann? Sind Sie noch da?‹

›Ja … Ja, ja‹, stot­ter­te ich, ›was ha­ben Sie da eben ge­sagt? Sie … Sie sind da­für ver­ant­wort­lich? Ich … ich kann das gar nicht glau­ben!‹

›Tja, dann fin­den Sie sich mal mit die­sem Ge­dan­ken ab! Ich hat­te Sie vor­her mehr­fach ge­warnt! Es soll­te nicht so hart aus­fal­len, soll­te nur ein Warn­schuss wer­den, aber viel­leicht war es auch gut so. Nun wis­sen Sie we­nigs­tens, dass wir es ernst mei­nen! Ich den­ke, Sie soll­ten nun eine Än­de­rung Ih­rer Mei­nung in Be­tracht zie­hen, denn wir ha­ben auch noch an­de­re Mög­lich­kei­ten, un­se­ren Wil­len durch­zu­set­zen. Also, ich las­se Sie das Gan­ze noch ein­mal in Ruhe über­den­ken. Äh, sa­gen wir ein, oder bes­ser zwei Tage, dann mel­de ich mich wie­der und wir han­deln die Ein­zel­hei­ten aus!‹ Es folg­te eine klei­ne Pau­se.

›Und den­ken Sie nicht mal im Traum dar­an, die Po­li­zei oder je­man­den an­ders zu in­for­mie­ren! Ich wür­de auf je­den Fall recht schnell da­von er­fah­ren und dann ist Ihre Fir­ma und Ihr Le­ben kei­nen Pfif­fer­ling mehr wert! Ich den­ke, dass ich mich da klar aus­ge­drückt habe.‹

Wut stieg in mir hoch und ohne ir­gend­wel­che Kon­se­quen­zen zu be­den­ken, schrie ich in den Hö­rer:

›Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Trost?! Nach­dem, was Sie mir jetzt er­zählt ha­ben, er­war­ten Sie auch noch eine Ko­ope­ra­ti­on von mei­ner Sei­te? Ich den­ke ja nicht mal im Traum dar­an, auch nur im Ge­rings­ten in ir­gend­ei­ner Form auf Ihre For­de­run­gen ein­zu­ge­hen! Sie kön­nen sich Ihre Dro­hun­gen sonst wo­hin ste­cken! Sie, Sie Stück Dreck, Sie! Sie ... Arrr!!‹

Mit die­sen Wor­ten knall­te ich den Hö­rer so wü­tend auf die Ba­sis­sta­ti­on, dass er aus­ein­an­der­brach. Noch wü­ten­der da­durch, wisch­te ich das Te­le­fon in­klu­si­ve ei­ni­ger an­de­rer Din­ge vom Schreib­tisch. Ohne Rück­sicht auf wei­te­re Schä­den ging ich durch die he­r­un­ter­ge­wor­fe­nen Ge­gen­stän­de, nahm mei­ne Ja­cke vom Gar­de­ro­ben­stän­der und ver­ließ ohne ein wei­te­res Wort das Fir­men­ge­bäu­de in Rich­tung Auto. Aus den Au­gen­win­keln konn­te ich noch das ent­setz­te Ge­sicht mei­ner Se­kre­tä­rin se­hen, doch ich war zu auf­ge­wühlt, um in die­sem Mo­ment dar­auf ein­zu­ge­hen.

Ag­gres­siv fuhr ich ohne Ziel drauf­los. Nach ei­ner gan­zen Wei­le bog ich in einen Wald­weg ein, stieg aus und lief lei­se vor mich hin­re­dend auf und ab.

Oh Gott, warum nur? Was hab ich denn ver­bro­chen, dass ich so ge­straft wer­de? Ich woll­te doch nie je­man­dem scha­den oder ihn über­vor­tei­len. Habe im­mer ver­sucht, es al­len recht zu ma­chen. Oft habe ich zu mei­nem ei­ge­nen Nach­teil an­de­ren nach­ge­ge­ben. Ich stock­te kurz und hol­te tief Luft.

Na ja, meis­tens war es ja nicht ganz un­be­rech­nend, denn im Nach­hi­n­ein hat sich oft ein Vor­teil für mich dar­aus er­ge­ben. Aber muss ich des­we­gen so ge­straft wer­den? Ich habe doch des­we­gen nie­man­dem Scha­den zu­ge­fügt! Warum habe ich nur dies­mal nicht nach­ge­ge­ben? Warum habe ich die­ses blö­de Ge­schäft nicht ein­fach sau­sen las­sen? Es lief doch auch so her­vor­ra­gend in der Fir­ma. Sie muss es ge­ahnt ha­ben, muss ge­wusst ha­ben, was ge­sche­hen wür­de. Sie war im­mer bes­ser in der Ein­schät­zung sol­cher Din­ge.

Die Ver­zweif­lung über­roll­te mich, ich leg­te die Arme aufs Au­to­dach, ver­grub mei­nen Kopf in den Arm­beu­gen und be­gann hem­mungs­los zu schluch­zen.

Bil­der stie­gen in mir auf.

Wie schön war es im­mer ge­we­sen, wenn Ma­ria mit ih­ren großen Kin­derau­gen fle­hend zu mir auf­ge­schaut hat­te, um et­was zu er­rei­chen, und wie schwer war es mir oft ge­fal­len, ihr nicht jede Bit­te zu er­fül­len. Ich habe im­mer ge­dacht: Das darfst du nicht, spä­ter be­kommt sie auch nicht je­den Wunsch er­füllt und dann kann sie nicht da­mit um­ge­hen. Hät­te ich ihr doch je­den Wunsch er­füllt! Ach, könn­te ich doch die Zeit zu­rück­dre­hen! Die schö­nen Stun­den mit Gabi noch ein­mal er­le­ben. Wie schön war es ge­we­sen, als un­se­re Lie­be noch jung war. Wir hat­ten uns nichts dar­aus ge­macht, im­mer und über­all zu zei­gen, wie sehr wir uns lieb­ten. Auch wenn an­de­re manch­mal ver­un­si­chert weg­schau­ten, wenn wir uns im Bei­sein Drit­ter küss­ten oder um­arm­ten, es war ja nichts da­bei, wenn wir je­dem zeig­ten, dass wir zu­sam­men­ge­hör­ten. Aber spä­ter kam dann die Rou­ti­ne ins täg­li­che Le­ben, und im Kampf mit den an­fal­len­den Auf­ga­ben ha­ben wir uns ver­nach­läs­sigt. Un­se­re Lie­be ver­nach­läs­sigt. Oder war nur ich das? Aber wie soll­te ich sonst mein Ta­ges­pen­sum be­wäl­ti­gen? Nur durch die har­te Ar­beit und die Rou­ti­ne im täg­li­chen Le­ben konn­te ich das auf­bau­en, was ich bis jetzt ge­schaf­fen hat­te. Ich woll­te doch nur eine ge­wis­se Si­cher­heit ha­ben! Si­cher­heit und noch ein Stück Si­cher­heit und noch ein Stück! Und, was nützt sie mir jetzt, die­se Si­cher­heit? Es ist nie­mand mehr da, dem sie nüt­zen könn­te. Auch Tors­ten nicht! Oh, wie stolz war ich auf mei­nen Sohn ge­we­sen! Der Glanz in sei­nen Au­gen, bei ge­mein­sa­men Un­ter­neh­mun­gen, war die schöns­te Be­loh­nung. Wann hat­te ich denn ei­gent­lich das letz­te Mal rich­tig Zeit für ihn ge­habt? Wie oft hab ich mit Gabi über das al­les dis­ku­tiert und mir vor­ge­nom­men, et­was zu än­dern. Aber dann. Eine Wei­le hat es meist an­ge­hal­ten, bis, ja bis mich die täg­li­che Rou­ti­ne wie­der im Griff hat­te. Und jetzt, jetzt ist es zu spät. Hät­te ich doch nur da­mals in die Zu­kunft schau­en kön­nen. Was hät­te ich nicht al­les an­ders ge­macht! Wie­der schos­sen mir Trä­nen in die Au­gen.

Ja, was, was hät­te ich denn an­ders ge­macht? Hät­te ich wirk­lich mein Le­ben ge­än­dert? Wäre ich in der Lage ge­we­sen, mich an­ders zu ver­hal­ten? Mei­nem We­sen, mei­nen Wün­schen und Träu­men ent­ge­gen an­ders zu le­ben? Mich an­de­ren un­ter­zu­ord­nen und so zu le­ben, wie die­se sich das wünsch­ten? Oder wäre ich dar­an zer­bro­chen? Hät­te ich viel­leicht nur den Weg des ge­rings­ten Wi­der­stan­des ge­sucht und nur be­stimm­te Din­ge ver­mie­den? Oh, warum ist das Le­ben nur so kom­pli­ziert?

Ich be­gann wie­der hin und her zu lau­fen und kam mit die­sen Ge­dan­ken nicht zur Ruhe. Nach ei­ner Wei­le lief ich ein­fach den Wald­weg ent­lang, bis er an ei­nem Wie­sen­hang die Rich­tung wech­sel­te. Er führ­te dann am Wald­rand ent­lang, bis er in ei­nem großen Bo­gen ins Tal hi­n­un­ter schwenk­te. Wenn man dem Weg mit den Au­gen wei­ter­folg­te, konn­te man am Ende des Ta­les, be­vor es durch einen Bo­gen nicht mehr ein­seh­bar war, die ers­ten Häu­ser ei­nes klei­nen Dor­fes se­hen. Ir­gend­je­mand hat­te am Wald­rand, zwi­schen zwei Bäu­men, eine klei­ne Bank ge­baut. Dort setz­te ich mich nie­der und schau­te den wild da­hin­trei­ben­den Wol­ken nach. Der stür­mi­sche Wind beug­te die Baum­wip­fel und im­mer wie­der hör­te man das Knacken von klei­ne­ren Äs­ten, die zu Bo­den fie­len. Ich war noch nie an die­sem Ort ge­we­sen. Da ich aufs Ge­ra­de­wohl los­ge­fah­ren war, wuss­te ich nicht ein­mal ge­nau, wo ich mich be­fand. Wäre ich zu ei­nem an­de­ren Zeit­punkt hier­her­ge­kom­men, hät­te ich mich an der Schön­heit der Land­schaft ge­freut und dem Trei­ben der Na­tur zu­ge­schaut. Doch so nahm ich das al­les nur ne­ben­bei wahr und mei­ne Ge­dan­ken jag­ten ge­nau­so wild da­hin, wie die Wol­ken im stür­mi­schen Wind.

Was hab ich nun noch vom Le­ben? Mein Halt, die Wär­me, die Zu­flucht in mei­nem Le­ben sind nicht mehr da. Das ein­sa­me, stil­le, für mich al­lein viel zu große Haus er­drückt mich fast. Je­der Ort, je­der Ge­gen­stand in die­sem Haus er­in­nert mich an mei­ne Fa­mi­lie. Was will ich al­lein mit all den Din­gen, die ich um mich he­r­um an­ge­häuft habe? Es macht kei­ne Freu­de, wenn man sie nicht mit je­man­dem tei­len kann. Oh Gott, was soll nur wer­den?

Ich ver­grub den Kopf in den Hän­den und schloss die Au­gen.

Wie soll es jetzt wei­ter­ge­hen mit mir? Ich weiß ja nicht ein­mal, wie ich das Pro­blem in der Fir­ma lö­sen soll. Wenn ich die­sem Igor jetzt nach­ge­be, ver­ra­te ich al­les und alle, die mir je­mals lieb wa­ren. Gebe ich ihm nicht nach, brin­ge ich auch noch an­de­re, von mir und der Fir­ma mal ab­ge­se­hen, in Ge­fahr. Viel­leicht wäre es ja gar nicht mal schlecht, wenn ich mit dran glau­ben müss­te. Dann wä­ren all mei­ne Pro­ble­me ein für alle Mal ge­löst. Ich müss­te mir kei­ne Ge­dan­ken mehr ma­chen, wie es wei­ter­geht und wäre alle Sor­gen los. Ja, das ist es. Ich leg mich wei­ter mit die­sem Gangs­ter an.

Mein Ge­sicht hell­te sich auf und ich woll­te auf­sprin­gen, doch fast im sel­ben Mo­ment sack­te ich wie­der in mich zu­sam­men.

Ich bin bloß der Letz­te, dem es an den Kra­gen geht. Er will ja was von mir. Also wird er erst alle an­de­ren Mög­lich­kei­ten aus­schöp­fen. Wie­der nichts! Wie­der kein Weg! Wie komm ich nur da raus? Man müss­te ein­fach aus­rei­ßen kön­nen. Ein­fach weg. Sich ein­fach da­v­on­steh­len. Es merkt ja doch kei­ner mehr, wenn ich nicht mehr da bin. Aber wo soll ich denn hin? Was soll ich denn dann tun mit mei­nem Le­ben? Au­ßer … au­ßer ich setz mei­nem Le­ben selbst ein Ende.

Ich er­schau­der­te bei dem Ge­dan­ken und doch ließ er mich nicht mehr los. Nach­denk­lich aber schon ru­hi­ger stand ich auf und lief den Wald­weg zu­rück. Der Selbst­mord­ge­dan­ke hat­te sich rich­tig in mir fest­ge­fres­sen. Ich über­leg­te nur noch, ob ich vor­her noch et­was klä­ren müss­te. Doch schließ­lich kam ich zu dem Schluss, dass es mir doch dann egal sein könn­te, was wei­ter wer­den wür­de. Der Ge­dan­ke an Gott kam kurz in mir auf, doch ich hat­te den Glau­ben in den letz­ten Jah­ren sehr ver­nach­läs­sigt, so­dass der Selbst­mord­ge­dan­ke schnell wie­der die Ober­hand ge­wann. Ziel­si­cher ging ich aufs Auto zu, such­te den Schlüs­sel in mei­nen Ta­schen und muss­te dann fest­stel­len, dass er noch im Zünd­schloss steck­te. Das war mir auch noch nicht pas­siert. Sonst hat­te ich meist noch ein, zwei Mal kon­trol­liert, ob das Auto auch rich­tig zu­ge­schlos­sen war und jetzt, da steck­te der Schlüs­sel, da la­gen alle Pa­pie­re auf dem Bei­fah­rer­sitz. Selbst die Brief­ta­sche hat­te ich dort lie­gen­ge­las­sen.

Kopf­schüt­telnd setz­te ich mich ans Steu­er und fuhr zu­rück auf die Land­stra­ße. Da ich zu dem Schluss ge­kom­men war, dass es am bes­ten wäre, wenn ich gleich jetzt mit dem Auto einen töd­li­chen Un­fall ver­ur­sach­te, schau­te ich mich nach ei­ner pas­sen­den Stel­le um. Schließ­lich kam ich auf eine lan­ge Ge­ra­de, die in ei­ner schar­fen Rechts­kur­ve en­de­te. Am lin­ken Stra­ßen­rand in die­ser Kur­ve stand ein recht star­ker Baum.

Das ist ide­al! dach­te ich und be­schleu­nig­te. Da ich ein PS-star­kes Auto hat­te, war es kein Pro­blem, es bis zum Ende der ge­ra­den Stre­cke auf 140 km/h zu brin­gen. Ich hielt ge­nau auf den Baum zu. Da schoss mir aber noch ein Ge­dan­ke durch den Kopf:

Was ist, wenn ich nicht ster­be? Was, wenn ich die­sen Un­fall über­le­be? Wenn ich nur zum Krüp­pel wer­de! Wenn ich ein Pfle­ge­fall wer­de! Nein das geht nicht! Das ist zu un­si­cher!

Im letz­ten Mo­ment nahm ich den Fuß vom Gas­pe­dal und riss das Lenk­rad he­r­um. Ich kann nicht mehr ge­nau sa­gen, wie ich es ge­schafft habe, das schleu­dern­de Auto wie­der in den Griff zu be­kom­men, aber glück­li­cher­wei­se kam mir kein Fahr­zeug ent­ge­gen, sonst wäre es wohl nicht so glimpf­lich aus­ge­gan­gen.

Nach­denk­lich fuhr ich nach Hau­se. Zwi­schen­zeit­lich kam mir die Fir­ma in den Sinn, und dass ich ja noch ei­ni­ges dort zu er­le­di­gen hät­te. Doch nach ei­nem Blick auf die Uhr ver­warf ich die­sen Ge­dan­ken schnell wie­der. Ers­tens war es schon ziem­lich spät und be­vor ich in der Fir­ma an­kom­men wür­de, wäre schon Fei­er­abend. Und zwei­tens, was soll­te ich noch dort, wenn ich mei­nen Plan wirk­lich durch­füh­ren woll­te. Durch die­se Ge­dan­ken wur­de mir erst ein­mal be­wusst, wie lan­ge und wie weit ich ei­gent­lich ziel­los in der Ge­gend he­r­um­ge­fah­ren war.

Als ich an ei­ner Bahn­li­nie vor­bei­fuhr, kam mir der Ge­dan­ke, mich vor einen Zug zu wer­fen. Doch auch das ver­warf ich recht schnell wie­der.

Egal, was ich in Er­wä­gung zog, kei­ne Mög­lich­keit woll­te mir so recht ge­fal­len. Viel­leicht war es auch Selbst­schutz oder die Angst vor der End­gül­tig­keit die­ser Ent­schei­dung, die mich im­mer wie­der zu­rück­schre­cken ließ.

Schließ­lich ent­schied ich mich fürs Er­hän­gen und zu Hau­se an­ge­kom­men, such­te ich gleich nach ei­nem pas­sen­den Strick. Mit die­sem ging ich dann in ein nahe ge­le­ge­nes Wald­stück. Es dau­er­te auch nicht lan­ge, und ich fand eine Ei­che mit ei­nem star­ken, fast waa­ge­recht ge­wach­se­nen Ast. Die­ser war der un­ters­te auf der mir zu­ge­wand­ten Sei­te des Bau­mes und doch etwa drei Me­ter über dem Bo­den. Auf der an­de­ren Sei­te des Bau­mes konn­te ich durch Sprin­gen einen dün­ne­ren, nicht so ho­hen Ast er­rei­chen, wo­durch ich recht gut hi­n­auf ge­lang­te. Ich setz­te mich auf den star­ken, waa­ge­rech­ten Ast und leg­te mir die Schlin­ge um den Hals. Das an­de­re Ende des Strickes be­fes­tig­te ich so am Baum, dass ich den Bo­den nicht mit den Fü­ßen er­rei­chen konn­te. Nun mach­te ich mich be­reit zu sprin­gen. Lan­ge saß ich dort und konn­te mich ein­fach nicht ent­schlie­ßen, die­sen Schritt zu tun. Der Zwie­spalt in mir war rie­sig. Ei­ner­seits woll­te ich mich da­v­on­steh­len, al­len wei­te­ren Pro­ble­men aus dem Weg ge­hen und dem al­len ein für alle Mal ein Ende set­zen. An­de­rer­seits wehr­te sich mein Ver­stand, der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb in mir mas­siv da­ge­gen. Als ich end­lich so­weit war, sich die Mus­keln in mei­nen Ar­men spann­ten und ich mich vom Ast ab­stieß, ge­schah et­was Selt­sa­mes. Zu­erst hat­te ich das Ge­fühl, dass ich ei­nem Feu­er zu nahe ge­kom­men wäre, denn es wur­de un­heim­lich heiß um mich he­r­um. Dann wur­de mir kalt, und zwar so kalt, dass ich am Ende die Be­sin­nung ver­lor. Doch be­vor das ge­schah, hat­te ich das Ge­fühl, ich wäre ein­ge­fro­ren. Ich be­kam kei­ne Luft mehr und mein Herz schi­en still­zu­ste­hen. Die Um­ge­bung nahm ich nur noch ver­schwom­men war, selt­sa­me Farb­spie­le er­schie­nen plötz­lich vor mei­nen Au­gen und ich war nicht fä­hig mich zu be­we­gen. Das letz­te, was ich wie durch einen Schlei­er wahr­nahm, war mein Kör­per, der in ver­krampf­ter Hal­tung auf dem Ast saß. Ver­stört schloss ich die Au­gen.«

 

 

 

Erwachen

 

 

»Eine an­ge­neh­me Wär­me durch­ström­te mich und un­be­kann­te Vo­gel­stim­men dran­gen in mein Be­wusst­sein. Ich sog die rei­ne kla­re Luft in mei­ne Lun­ge und mein Herz­schlag be­ru­hig­te sich wie­der. Was war ge­sche­hen? Wo war ich? Vor­sich­tig öff­ne­te ich die Au­gen ein we­nig und schloss sie im sel­ben Mo­ment, ge­blen­det vom glei­ßen­den Son­nen­licht, wie­der. Ich hat­te ge­nau in die auf­ge­hen­de Son­ne ge­schaut.

War ich schon tot? War ich im Him­mel? Nach ei­nem Selbst­mord? Dar­über hat­te ich in mei­ner Ver­zweif­lung gar nicht mehr nach­ge­dacht. Da ich den Glau­ben so­wie­so schon ver­nach­läs­sigt hat­te, hat­te ich sol­che Ge­dan­ken in den letz­ten Stun­den im­mer wie­der ver­drängt. Ein Le­ben nach dem Tod stand für mich ein­fach nicht mehr zur De­bat­te. Aber jetzt? Ich hat­te kei­ne Er­klä­rung für das, was ge­sche­hen war. War ich wirk­lich ge­sprun­gen? Es war mir zwar noch be­wusst, wie sich mein Kör­per an­ge­spannt hat­te, um sich vom Ast ab­zu­sto­ßen, doch dann? Was war denn in die­sem Au­gen­blick nur ge­sche­hen?

Mei­ne Hän­de fühl­ten den war­men Bo­den und die klei­nen Stei­ne des Weges, auf dem ich in ähn­li­cher Hal­tung wie auf dem Ast saß. Lang­sam dreh­te ich mich in die­ser Stel­lung um, so­dass ich die Son­ne im Rücken hat­te. Dann öff­ne­te ich vor­sich­tig die Au­gen und riss sie er­staunt ganz weit auf. Ich hat­te al­les an­de­re er­war­tet, nur nicht den An­blick, der sich mir jetzt bot. Die Son­ne be­schi­en vor ei­nem strah­lend blau­en Him­mel eine Land­schaft, wie ich sie höchs­tens ein­mal im Fern­se­hen ge­se­hen hat­te. Ich be­fand mich auf ei­nem Weg, der in ei­nem sanf­ten Bo­gen in ein schö­nes, licht­durch­flu­te­tes Flus­stal führ­te. An der Stel­le, wo der Weg das Tal er­reich­te, war es si­cher­lich vier bis fünf Ki­lo­me­ter breit. Fluss­ab­wärts wa­ren rechts und links des Flus­ses sau­ber ab­ge­trenn­te Flä­chen zu se­hen. Die­se leuch­te­ten in ei­nem üp­pi­gen und gleich­mä­ßi­gen Grün und ihre geo­me­tri­schen For­men wa­ren auf kei­nen Fall na­tür­li­chen Ur­sprungs.

Auf dem Was­ser be­weg­ten sich klei­ne Boo­te mit höchs­tens ein oder zwei Ru­de­rern be­setzt. Wenn man dem Fluss mit den Au­gen in die an­de­re Rich­tung folg­te, konn­te man se­hen, dass fluss­auf­wärts die Ber­ge das Tal wei­ter eineng­ten. Es wur­de en­ger und nur eine kur­ze Stre­cke wei­ter wa­ren kei­ne Fel­der mehr zu se­hen. Die ho­hen, teil­wei­se sehr stei­len Ber­ge schie­nen sich fluss­auf­wärts fort­zu­set­zen. Nur in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung, wo die Land­schaft ebe­ner wur­de und in wei­ter Fer­ne die Ber­ge ganz ver­schwan­den, schi­en es aus­rei­chend Flä­che zu ge­ben, die ur­bar ge­macht wer­den konn­te.