Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - E-Book

Traum oder wahres Leben E-Book

Joachim R. Steudel

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Beschreibung

Mit einer überstürzten Reise nach Ägypten beginnt die entscheidende Phase in Günter Kaufmanns spannungsreichem Leben. Die bevorstehende Öffnung eines Grabes aus der Pharaonenzeit veranlasst ihn, Sarah Liebherr die dunkelsten Episoden seiner Odyssee zu offenbaren. Er erzählt ihr von Ereignissen im alten Ägypten, die sie schockieren. Dennoch kommen sich die beiden näher, aber die Geschehnisse um die Graböffnung stellen nicht nur Sarah auf die Probe. Durch den engen Austausch mit Günter erwirbt die junge Frau einige seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten und gewinnt ein starkes Selbstbewusstsein. Sarah und eigene zwiespältige Gefühle helfen Günter, das Mysterium seines Lebens zu ergründen. Die Handlung spielt zu einem großen Teil in der Gegenwart und der Kreis schließt sich. Die aufgeworfenen Fragen aus den ersten beiden Teilen werden beantwortet. Die Frage nach Traum oder wahrem Leben, geklärt. In zwei Abschnitten berichtet Günter noch einmal aus der Vergangenheit, in der von Sarah so sehr geliebten Art. Sie verändert sich durch den Kontakt mit Günter erheblich und beginnt, Stimmen in sich zu hören. Erst unverständlich, doch dann erschließen sie ihr vieles. Durch Günter erfährt sie, dass das auch anderen in seinem Umfeld widerfahren ist. Der Schlüssel zu den Ereignissen wird gefunden. Zweite Ausgabe mit neuem Cover und Beseitigung kleinerer Fehler im Text.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Joa­chim R. Steu­del

 

 

TRAUM ODER WAH­RES LE­BEN

 

 

Kis­met­bahr - Der Schick­sals­fluss

 

 

 

 

 

 

 

In­halts­ver­zeich­nis

Co­ver

Ti­tel

In­halts­ver­zeich­nis

Über­stürz­ter Auf­bruch

Ein lan­ges Le­ben

Rück­blen­den

Das Dorf

Sess­haft auf Zeit

Fol­gen­rei­che Re­ak­tio­nen

Vor­wür­fe

Das Grab

Rei­ni­gung

Vor­be­rei­tun­gen und Be­stat­tung

Vor der Au­di­enz

Ne­ph­thys und die Au­di­enz

Auf­bruch ins Un­be­kann­te

Of­fen­ba­run­gen

See­len­qua­len und See­len­frie­den

Al­les än­dert sich

Glossar und Nach­be­mer­kung

Buch­lis­te

Impressum

Überstürzter Aufbruch

 

 

Die Son­ne war schon so weit über die Wip­fel des an­gren­zen­den Wal­des ge­stie­gen, dass ihre Strah­len ins Schlaf­zim­mer von Gün­ter Kauf­manns Haus fie­len. Nichts trüb­te ihre Kraft am wol­ken­lo­sen Him­mel, und die Wär­me auf Gün­ters Ge­sicht ver­an­lass­te ihn dazu, die Au­gen zu öff­nen. Er saß noch ge­nau­so am Fußen­de vor dem Bett, wie er sich am Abend zu­vor in Me­di­ta­ti­ons­hal­tung nie­der­ge­las­sen hat­te. Die Hän­de im Schoss bil­de­ten das mida-no-jouin Mu­dra, und sein auf­ge­wühl­ter Geist war zur Ruhe ge­kom­men. Es war für ihn im­mer wie­der der bes­te Weg, um sein in­ne­res Gleich­ge­wicht zu er­lan­gen.

Er schau­te auf sei­ne Hän­de, und ein Schmun­zeln husch­te über sein Ge­sicht. Wie oft war es auf Un­ver­ständ­nis ge­sto­ßen, wenn er me­di­tier­te oder an­de­re asia­ti­sche Prak­ti­ken aus­führ­te. Fast im­mer gin­gen die an­de­ren dann da­von aus, dass er Bud­dhist sei, und wenn er ih­nen er­klär­te, dass er dem christ­li­chen Glau­ben an­hing, woll­ten sie es kaum glau­ben. Für die meis­ten war es ein Wi­der­spruch, für ihn nicht. Er konn­te da­durch sei­ne in­ne­re Kraft stär­ken, sei­nen Geist von äu­ße­ren Ein­flüs­sen be­frei­en und sei­nen Glau­ben viel stär­ker le­ben als manch an­de­rer.

Der Duft von frisch ge­brüh­tem Kaf­fee stieg ihm in die Nase, und sei­ne Ge­dan­ken kehr­ten zu den letz­ten Er­eig­nis­sen zu­rück. Er hat­te mit Sa­rah Lieb­herr eine sei­ner prä­gen­den Er­in­ne­run­gen ge­teilt. Sie war da­nach fast ge­nau­so auf­ge­wühlt ge­we­sen wie er und hat­te Be­den­ken we­gen der nächt­li­chen Heim­fahrt ge­äu­ßert. Sein An­ge­bot, sie möge das Gäs­te­zim­mer nut­zen, nahm sie dank­bar an und nun war sie an­schei­nend schon da­bei, das Früh­stück vor­zu­be­rei­ten.

Gün­ter er­hob sich und ging ins Bad. Bei der Mor­gen­toi­let­te kehr­ten sei­ne Ge­dan­ken zu Sa­rah zu­rück. An­schei­nend hat­te er ihr hel­fen kön­nen. Die Le­bens­ein­stel­lung der jun­gen Frau hat­te sich wie­der ge­än­dert, und als sie vor dem Schla­fen­ge­hen noch ein Glas Wein tran­ken, sah er in ih­ren Au­gen eine in­ne­re Stär­ke, die vor­her nicht wahr­nehm­bar war.

Wie wür­de es jetzt wei­ter­ge­hen? Soll­te er ihr noch mehr von sei­nem Le­ben er­zäh­len? Könn­te sie es über­haupt ak­zep­tie­ren, wenn er es bei dem Bis­he­ri­gen be­las­sen wür­de? Ver­mut­lich nicht. Eine in­ne­re Stim­me sag­te ihm, dass ihn mehr mit die­ser Frau ver­band. Nicht nur die­se zwei Tage, an de­nen er ihr von sei­nem Le­ben er­zählt hat­te. Da war noch et­was, was er nicht de­fi­nie­ren konn­te. Eine Ver­bin­dung, die tiefer ging, an­ders als al­les bis­her Er­leb­te.

Als Gün­ter das Wohn­zim­mer be­trat, durch­ström­te ihn ein Ge­fühl der Wär­me. Der Tisch war lie­be­voll für zwei Per­so­nen ge­deckt. Fri­sche Bröt­chen, Mar­me­la­de, Ho­nig, Wurst und Käse, ja so­gar frisch ge­koch­te Eier stan­den be­reit. Eine noch nicht ent­zün­de­te Ker­ze zier­te die Mit­te, und aus der Kü­che weh­te der Ge­ruch von fri­schem Kaf­fee he­r­ein. Vie­les da­von hat­te er gar nicht im Haus ge­habt. Sa­rah muss­te schon vor ei­ni­ger Zeit auf­ge­stan­den sein und all das be­sorgt ha­ben.

Gün­ter warf einen Blick in die Kü­che, konn­te sie aber nicht ent­de­cken. Die leich­te Mor­gen­bri­se be­weg­te die Gar­di­ne vor der Ter­ras­sen­tür. Er ging hin und schob sie zur Sei­te. Dann er­starr­te er, und mit un­gläu­bi­gem Stau­nen ruh­te sein Blick auf Sa­rah.

Hoch kon­zen­triert führ­te die jun­ge Frau Tai-Chi-Übun­gen aus. Das Ge­sicht der auf­stei­gen­den Son­ne zu­ge­wandt, die Au­gen fast ge­schlos­sen, schi­en sie nichts von ih­rer Um­ge­bung wahr­zu­neh­men. Die Be­we­gun­gen wirk­ten ein we­nig un­ge­lenk, und sie steck­te mehr Kraft hi­n­ein als nö­tig. Doch die Ab­läu­fe wa­ren wie sei­ne ei­ge­nen. Mit lei­sen Schrit­ten ging er schräg hin­ter sie und fiel in ihre Be­we­gun­gen ein. Sie be­merk­te es und woll­te ab­bre­chen.

»Nein, bit­te nicht. Mach wei­ter, es ist die schöns­te Art, den Mor­gen zu be­gin­nen.«

Sa­rah folg­te sei­ner Auf­for­de­rung, aber ihre Be­we­gun­gen wur­den un­si­cher, und ihre At­mung war nicht mehr syn­chron dazu. Gün­ter ging zwei Schrit­te nach vorn, da­mit sie ihn se­hen konn­te. Sa­rah ori­en­tier­te sich an sei­nen Ab­läu­fen, und schon bald be­weg­ten sich die bei­den im Gleich­klang.

Nach etwa zehn Mi­nu­ten brach er ab, da er be­merk­te, dass ihre Kraft nachließ. Gün­ter dreh­te sich zu ihr um, ver­beug­te sich mit dem Shao­lin-Gruß vor ihr und sag­te lä­chelnd:

»Dan­ke für die­sen wun­der­schö­nen Mor­gen. Es ist an­ge­neh­mer, wenn man nicht al­lein ist beim Tai-Chi. Und auch vie­len Dank für den schön ge­deck­ten Früh­stücks­tisch, mit dem du den Gast­ge­ber zum Gast ge­macht hast.«

»Oh, das Früh­stück, das hat­te ich doch glatt ver­ges­sen. Die Eier wer­den in­zwi­schen kalt sein.«

Ein be­trüb­ter Aus­druck über­zog das eben noch strah­len­de Ge­sicht, und sie wand­te sich dem Haus zu. Sa­rah ging zum Tisch, zün­de­te die Ker­ze an und hol­te den Kaf­fee.

»Du trinkst ihn schwarz, ohne Zu­cker, nicht wahr?«

Ohne eine Ant­wort ab­zu­war­ten, goss sie ihm ein, und Gün­ter blick­te sie mit wach­sen­der Ver­wun­de­rung an.

»Ja, wo­her weißt du das?«

Sie schüt­tel­te den Kopf, ver­schwen­de­te aber kei­ne Zeit, um wei­ter dar­über nach­zu­den­ken.

»Ich habe kei­ne Ah­nung. Ich weiß es ein­fach.«

Nach­dem sie auch ihre Tas­se bis zum Rand ge­füllt hat­te, setz­te sie sich und sah sin­nend auf den Tisch.

»Mir ist, als wäre es schon im­mer so ge­we­sen. Als hät­te ich schon über vie­le Jah­re dei­ne Ge­wohn­hei­ten stu­diert. Ich war mir si­cher, dass ein sol­ches ge­mein­sa­mes Früh­stück, ei­ner dei­ner größ­ten Wün­sche ist.«

Gün­ter nahm ihr ge­gen­über Platz und such­te den Blick­kon­takt. Er woll­te in ih­ren Au­gen se­hen, ob sie die Wahr­heit sprach oder nur gut ge­ra­ten hat­te. Sa­rah wich ihm nicht aus, und es er­schi­en Gün­ter, als hät­te er die­se Au­gen noch nie­mals ge­se­hen. Sie wirk­ten un­er­gründ­lich tief und er­zeug­ten eine ge­wis­se Be­klem­mung bei ihm. Er zuck­te zu­sam­men und dach­te: fast wie die Au­gen Ka­zu­kos. Be­schämt senk­te Gün­ter sei­ne Li­der, denn er war ver­sucht, in ihre Ge­dan­ken ein­zu­drin­gen.

War das noch die­sel­be Frau, die er vor we­ni­gen Ta­gen mit Selbst­mord­ge­dan­ken ge­trof­fen hat­te? Es schi­en kaum mög­lich, denn ihm ge­gen­über saß eine selbst­be­wuss­te Per­sön­lich­keit, und er konn­te ihre kraft­vol­le Aura se­hen. Sein Blick wan­der­te über den Tisch und blieb an der Ker­ze hän­gen. Die klei­ne Flam­me zau­ber­te wie­der ein Lä­cheln auf sein Ge­sicht, und kurz be­vor die ein­ge­tre­te­ne Stil­le die Stim­mung zer­stör­te, griff er zu ei­nem Bröt­chen und sag­te:

»Du hast recht, ein sol­ches Früh­stück habe ich schon lan­ge ver­misst. Wenn man al­lein ist, fällt es oft sehr spar­ta­nisch aus, und trüb­sin­ni­ge Ge­dan­ken ge­win­nen schnell die Ober­hand.«

 

Beim Es­sen spra­chen sie nur über be­lang­lo­se Din­ge. Sa­rah ent­schul­dig­te sich, weil sie in sei­nen Schrän­ken nach Ge­schirr und an­de­rem ge­sucht hat­te, doch Gün­ter wink­te nur ab und er­kun­dig­te sich, bei wel­chem Bä­cker sie ge­we­sen sei. Bei der Er­ör­te­rung sol­cher all­täg­li­chen The­men lang­ten bei­de kräf­tig zu. Doch als sie ge­sät­tigt wa­ren und sich mit frisch ge­füll­ten Kaf­fee­tas­sen ge­gen­über­sa­ßen, such­te Gün­ter wie­der den Blick­kon­takt.

»Warum hast du mir ver­schwie­gen, dass du Tai-Chi be­herrschst?«

Sa­rah lach­te lei­se auf, schlürf­te, ohne den Blick zu lö­sen, an ih­rem hei­ßen Kaf­fee und ant­wor­te­te:

»Zum einen habe ich bei un­se­rem bis­he­ri­gen Zu­sam­men­sein noch nicht viel sa­gen kön­nen, denn ich woll­te in dei­ne Ge­schich­te ein­tau­chen. Und zum an­de­ren wuss­te ich es bis zum heu­ti­gen Mor­gen auch noch nicht.«

Mit un­gläu­bi­gem Blick lehn­te er sich, die Tas­se in der Hand, zu­rück. Er hat­te kei­nen Grund, an der Wahr­heit ih­rer Wor­te zu zwei­feln, und doch er­schie­nen sie ihm kaum glaub­haft.

»Das sah aber an­ders aus. Die Grund­la­gen sind da, nur eine gute An­lei­tung scheint dir zu feh­len. Den­noch wa­ren die Be­we­gun­gen gut mit der At­mung ko­or­di­niert. Auch die Ab­läu­fe wa­ren wie die mei­nen, ex­akt so ...«

Gün­ter ver­schüt­te­te fast den Kaf­fee bei dem Ge­dan­ken, der ihm eben ge­kom­men war. Zum zwei­ten Mal an die­sem Tag blick­te er die jun­ge Frau mit un­gläu­bi­gem Stau­nen an. Sie schi­en sei­ne Ge­dan­ken zu er­ra­ten, denn sie sag­te:

»Ja, ich den­ke auch, dass du mir beim Er­zäh­len dei­ner Ge­schich­te mehr von dir ge­ge­ben hast, als dir be­wusst war. Nach­dem ich die Früh­stücks­vor­be­rei­tun­gen ab­ge­schlos­sen hat­te, woll­te ich mich im Gar­ten in die Son­ne set­zen und auf dich war­ten. Doch ich hat­te das Ge­fühl, dass et­was fehlt zum Start in den Tag, und ohne dar­über nach­zu­den­ken, be­gann ich mit den Übun­gen. Ich konn­te mich fal­len las­sen, und al­les ging wie von al­lein. Bis du kamst und mir be­wusst wur­de, was ich tat.«

Nach­denk­lich nahm Gün­ter einen großen Schluck aus der Tas­se.

»Konn­test du eben mei­ne Ge­dan­ken le­sen?«, frag­te er mit ei­nem Stirn­run­zeln.

»Nein, je­den­falls nicht be­wusst. Ich hat­te nur ir­gend­wie den Ein­druck, dass du ge­nau das dach­test.«

Sie horch­te in sich hi­n­ein und sag­te zö­gernd:

»Aber viel­leicht könn­te ich es, wenn ich woll­te ... Doch will ich das wirk­lich?«

Sin­nend sa­hen sie sich an, und Gün­ter woll­te eben eine wei­te­re Fra­ge stel­len, als das Te­le­fon sich mel­de­te. Un­wil­lig wen­de­te er den Kopf, doch erst beim drit­ten Klin­geln er­hob er sich.

»Ent­schul­di­ge bit­te. Ich wer­de seit ei­ni­ger Zeit sehr sel­ten an­ge­ru­fen und wenn doch, ist es meist wich­tig.«

Nach­dem er sich mit knap­pen Wor­ten ge­mel­det hat­te, lausch­te er ge­spannt sei­nem Ge­sprächs­part­ner. Sa­rah konn­te des­sen auf­ge­reg­te Stim­me hö­ren, ver­stand aber kein Wort. Gün­ters Züge ver­än­der­ten sich. Er wirk­te be­trof­fen, fast be­stürzt und ant­wor­te in Ara­bisch. Sa­rah konn­te den Blick nicht von ihm wen­den. Die­ser Mann of­fen­bar­te im­mer mehr Ge­heim­nis­se, und die woll­te sie auf je­den Fall er­grün­den. Ver­schwom­me­ne Bil­der nah­men in ih­rem Geist Ge­stalt an. Be­ruh­ten sie auf ei­nem un­er­klär­li­chen Wis­sen, oder wa­ren es Pro­duk­te ih­rer Fan­ta­sie?

Nach ei­ni­ger Zeit be­en­de­te Gün­ter das Ge­spräch und sin­nend starr­te er an die Wand. Doch das währ­te nur kurz. Er wähl­te aus dem Kopf eine end­los er­schei­nen­de Num­mer und be­gann un­ge­dul­dig hin und her zu lau­fen. Nach dem Zu­stan­de­kom­men der Ver­bin­dung blieb er mit dem Ge­sicht zur Ter­ras­se ste­hen. Eine hit­zi­ge, in Ara­bisch ge­führ­te De­bat­te, folg­te. Als er et­was ru­hi­ger wur­de und sich um­dreh­te, fiel sein Blick auf Sa­rah. Gün­ter stock­te kurz, dreh­te sich wie­der um und schloss das Ge­spräch mit we­ni­gen Sät­zen ab.

Nach­dem er den Hö­rer auf die Ba­sis­sta­ti­on ge­legt hat­te, strich er sich mit der Hand übers Ge­sicht und wand­te sich an Sa­rah:

»Es tut mir leid, ich hat­te dich für einen Mo­ment völ­lig ver­ges­sen.«

Weil Sa­rah be­merk­te, dass sie ihn im­mer noch wie ein Wun­der­tier an­starr­te, senk­te sie be­schämt den Blick. »Schon in Ord­nung. Das Ge­spräch schi­en ja wirk­lich wich­tig ge­we­sen zu sein.«

»Ja, für mich war die In­for­ma­ti­on sehr wich­tig und des­halb muss ich auch so schnell wie mög­lich nach Ägyp­ten.«

Sa­rah riss die Au­gen auf.

»Du willst fort? Jetzt, aber warum? Ich muss doch noch so vie­les wis­sen, ich …«

Gün­ter konn­te die Be­stür­zung in ih­ren Au­gen er­ken­nen, auch er fühl­te sich bei dem Ge­dan­ken nicht wohl, den Kon­takt für un­be­stimm­te Zeit ab­zu­bre­chen. Doch schnell hat­te er eine Lö­sung ge­fun­den.

»Hast du für die nächs­ten Wo­chen ir­gend­wel­che Ver­pflich­tun­gen?«

»Nein, mei­ne«, sie such­te nach dem rich­ti­gen Wort, »Ar­beit er­folg­te auf Ho­no­r­ar­ba­sis, und ich habe seit ei­ni­ger Zeit kei­ne An­ge­bo­te mehr an­ge­nom­men.«

»Möch­test du mich be­glei­ten?«

Sie hol­te schon Luft und woll­te freu­dig zu­sa­gen, doch er stopp­te sie mit ei­ner ab­schnei­den­den Hand­be­we­gung.

»Über­le­ge es dir reif­lich, denn ich kann dir nicht sa­gen, wie lan­ge es dau­ert und wie viel Zeit ich für dich ha­ben wer­de. Ich muss Din­ge klä­ren, von de­nen ich noch nicht ein­mal an­satz­wei­se weiß, wie ich sie lö­sen kann.«

»Was ist denn ge­sche­hen?«

»Nicht jetzt, dazu fehlt mir die Zeit. Willst du oder nicht?«, frag­te er un­ge­dul­dig.

»Ja, ich will. Ich kann mich jetzt nicht von dir tren­nen, ohne noch ei­ni­ge Er­klä­run­gen zu er­hal­ten.«

»Den Wunsch habe ich auch. Also gut, hast du einen Pass?«

»Ja, aber nicht da­bei.«

»Hm, dann müs­sen wir bei dir vor­bei­fah­ren«, sag­te Gün­ter nach­denk­lich. »Na gut, egal, ich muss jetzt noch ei­ni­ge An­ru­fe er­le­di­gen, und du gehst bit­te die Stra­ße run­ter zur Haus­num­mer vier. Dort wohnt eine äl­te­re Dame – Frau Hill­rich –, sie küm­mert sich ums Haus, wenn ich nicht da bin. Ihr gibst du bit­te den Schlüs­sel und bit­test sie, hier auf­zuräu­men. Die Le­bens­mit­tel soll sie mit­neh­men, die wer­den sonst nur schlecht.«

Gün­ter über­reich­te ihr einen ein­zel­nen Haus­schlüs­sel und drück­te Sa­rah auch noch sei­nen Au­to­schlüs­sel in die Hand.

»Wenn du wie­der­kommst, fährst du mein Auto aus der Ga­ra­ge und deins rein. Nimm den Schlüs­sel von der Haus­tür mit, der schließt auch die Ga­ra­ge.«

Sa­rah war ver­wun­dert über die Hek­tik des sonst so ru­hi­gen Man­nes, nick­te aber, blies die Ker­ze aus und woll­te den Tisch ab­räu­men.

»Das macht Frau Hill­rich. Geh und be­eil dich«, sag­te er drän­gend, wäh­rend er schon die nächs­te Te­le­fon­num­mer ein­tipp­te.

 

Sa­rah hat­te Gün­ters Auf­trä­ge er­le­digt und kehr­te zu­rück, als er, mit ge­pack­ter Rei­se­ta­sche, die Trep­pe he­r­un­ter­kam. Er be­en­de­te das Te­le­fonat, das er beim Ge­hen noch führ­te, und nahm von Sa­rah die Schlüs­sel ent­ge­gen. Im Wohn­zim­mer griff er zu Stift und Pa­pier, schrieb schnell ein paar Zei­len für Frau Hill­rich und leg­te dann, nach Sa­rahs An­sicht, eine recht große Sum­me in Schei­nen auf das Blatt.

Im Auto frag­te Gün­ter nach Sa­rahs Ad­res­se. Er­freut stell­te er fest, dass die knapp hun­dert Ki­lo­me­ter bis dort­hin fast auf dem Weg la­gen, und die Hek­tik fiel lang­sam von ihm ab.

»Ent­schul­di­ge bit­te den über­eil­ten Auf­bruch«, be­gann er mit der ru­hi­gen, war­men Stim­me, die sie so be­rühr­te. »Ich wer­de ver­su­chen, dir das Wich­tigs­te auf un­se­re Rei­se zu er­klä­ren. Doch zu­erst ein­mal ei­ni­ges zum wei­te­ren Ab­lauf.«

Sie ver­lie­ßen die Orts­la­ge, und er be­schleu­nig­te den Wa­gen so stark, dass Sa­rah einen leich­ten Druck in der Ma­gen­ge­gend ver­spür­te. Den­noch fühl­te sie sich si­cher bei ihm und war neu­gie­rig auf das an­ge­kün­dig­te Ge­spräch.

»Wäh­rend du drau­ßen warst, habe ich un­se­ren Flug klar ge­macht und uns in Kai­ro an­ge­kün­digt.«

»Wann star­tet das Flug­zeug, und wie ist dir das so schnell ge­lun­gen?«

Er warf ihr einen kur­zen Blick zu, und das spöt­ti­sche Lä­cheln in sei­nen Zü­gen schi­en nicht zu ihm zu pas­sen.

»Du weißt noch sehr we­nig über mich«, sag­te er und wand­te sei­ne Auf­merk­sam­keit wie­der der Stra­ße zu.

»Aber ... Ich dach­te, ich habe an die­sen zwei Ta­gen sehr viel über dich er­fah­ren«, kam es zö­gernd über ihre Lip­pen.

»Und doch ist es nur ein Bruch­teil von dem, was ich dir noch er­zäh­len könn­te.« Er kon­zen­trier­te sich kurz auf den Ver­kehr und fuhr dann fort. »Ich hat­te mit die­sem Teil mei­nes Traum­le­bens be­gon­nen und ...«

Sa­rah schüt­tel­te un­wil­lig den Kopf und setz­te zu ei­nem Ein­wand an, aber er ließ sie nicht zu Wort kom­men.

»Be­lass es bit­te bei die­ser Be­zeich­nung, und bil­de dir erst eine Mei­nung, wenn du von dem er­fah­ren hast, was dir in den nächs­ten Ta­gen be­geg­nen wird.«

Sa­rah nick­te re­si­gnie­rend.

»Also gut, von wo und wann geht un­ser Flug?«

Be­müht sach­lich ant­wor­te­te er:

»Mein Jet star­tet in Mün­chen, so­bald wir da sind.«

»Dein Jet?« Sie riss die Au­gen auf. »Du be­sitzt ein ei­ge­nes Flug­zeug?«

Er lach­te ein we­nig ge­quält.

»Mein Le­ben hat es mit sich ge­bracht, dass ich ei­ni­ges be­sit­ze und be­herr­sche, was ich am liebs­ten gar nicht möch­te.«

Nach ei­ner klei­nen Pau­se, in der Sa­rah ihn im­mer noch ver­wun­dert an­sah, fuhr er fort:

»Die Cess­na steht in Mün­chen und ist Teil ei­ner Flot­te, de­ren Mit­ge­sell­schaf­ter ich bin. Sie kann auch von an­de­ren ge­mie­tet wer­den, doch ich habe ei­ni­ge Vor­rech­te. Im Mo­ment ist sie glück­li­cher­wei­se frei. Die Vor­be­rei­tun­gen für den Start soll­ten jetzt schon lau­fen, und der Flug­plan wird ein­ge­reicht.«

Sa­rah nahm von der Fahrt fast nichts mehr wahr, denn sie konn­te kaum fas­sen, wie we­nig sie über die­sen Mann wuss­te.

»Das klingt fast so, als wür­dest du auch das Flie­gen über­neh­men.«

»Ich könn­te, wenn ich woll­te, doch auf die­sem Flug wer­de ich mich auf das Kom­men­de vor­be­rei­ten müs­sen, und ein Pi­lot der Ge­sell­schaft über­nimmt den Job.«

»Ich fas­se es nicht.« Zum ers­ten Mal über­kam Sa­rah et­was Un­ru­he in sei­ner Ge­sell­schaft. »Und ich dach­te, ich ken­ne dich schon ganz gut«, füg­te sie lei­se hin­zu.

Gün­ter spür­te die leich­te Un­si­cher­heit und such­te für einen Mo­ment ih­ren Blick.

»Ich bin nicht an­ders, als du mich schon ken­nen­ge­lernt hast, es gibt al­ler­dings ein paar Fa­cet­ten, die dir noch nicht be­kannt sind.« Er rich­te­te den Blick wie­der auf die Stra­ße. »Wenn du jetzt Ab­stand von der Rei­se neh­men willst, kann ich das ver­ste­hen, aber ich fah­re nicht mehr zu­rück, du müss­test dein Auto dann selbst ho­len.«

Sa­rah hat­te nach­denk­lich auf ihre Hän­de ge­blickt, doch ohne Zö­gern kam ihre Ant­wort:

»Nein, auf kei­nen Fall! Ich spü­re im­mer noch, dass uns Din­ge ver­bin­den, die ich un­be­dingt er­grün­den will.«

Lei­ser setz­te sie hin­zu:

»Auch wenn ich lang­sam be­grei­fe, dass ich ver­mut­lich erst ganz am An­fang ste­he.«

 

In ih­rer Woh­nung hat­te sich Sa­rah um­ge­zo­gen, einen klei­nen Kof­fer ge­packt und ihre Nach­ba­rin ge­be­ten, sich um die Blu­men zu küm­mern. Nun sa­ßen sie wie­der im Auto und fuh­ren auf der A9 in Rich­tung Mün­chen. Bis­her hat­ten die bei­den nur über die Rei­se ge­spro­chen, doch jetzt äu­ßer­te Gün­ter wei­ter­füh­ren­de Ge­dan­ken.

»Warst du schon mal in Ägyp­ten?«, frag­te er sie.

»Nein, wei­ter als bis Ita­li­en bin ich noch nicht ge­kom­men.«

»Hm, dann muss ich dir jetzt ein biss­chen was er­klä­ren.«

Er über­leg­te kurz, wie er be­gin­nen soll­te, und sag­te dann ein­lei­tend:

»Seit Mur­si und sei­ne Muslim­brü­der an der Macht sind, hat sich ei­ni­ges ge­än­dert, doch mei­ne Po­si­ti­on in die­sem Land ist un­an­ge­foch­ten.« Er deu­te­te aufs Hand­schuh­fach. »Öff­ne bit­te die klei­ne Le­der­ta­sche, die dort drin ist.«

Sa­rah ent­nahm der Ta­sche meh­re­re Päs­se und starr­te sie un­gläu­big an. Gün­ter ging nicht wei­ter dar­auf ein und sag­te:

»Sieh dir den mit der ara­bi­schen Schrift mal nä­her an.«

Das Pass­bild zeigt ein­deu­tig Gün­ters Ge­sicht, auch wenn der Voll­bart ihr bis­he­ri­ges Bild von ihm stör­te.

»Ich dach­te, du bist ein Deut­scher«, kam es sto­ckend über ihre Lip­pen.

»Bin ich auch. So­gar von Ge­burt an, aber ich habe nicht nur eine Staats­bür­ger­schaft und Iden­ti­tät. Für die Ägyp­ter bin ich ein ein­fluss­rei­cher Fi­nanz­ma­gnat, der auch Wur­zeln bei ei­nem Be­dui­nen­stamm hat, des­sen Ge­biet an das west­li­che Nil­del­ta grenzt.«

Mit of­fe­nem Mund lausch­te Sa­rah sei­nen Wor­ten.

»Es ist be­kannt und wird ak­zep­tiert, dass ich viel im Aus­land lebe. Dass ich dort Ge­schäf­ten nach­ge­he, die mich an­geb­lich zu ei­nem schwer­rei­chen Mann ge­macht ha­ben. Die­ser Be­sitz er­mög­licht es mir, auf vie­les Ein­fluss zu neh­men, und kei­ner zwei­felt mei­nen Sta­tus an.« Er zwin­ker­te ihr ver­schwö­re­risch zu. »Vor al­lem weil ich we­sent­li­che An­tei­le an wirt­schaft­lich wich­ti­gen ägyp­ti­schen Un­ter­neh­men hal­te.«

Sa­rah klapp­te den Mund zu, und in ih­rem Kopf ging al­les wirr durch­ein­an­der.

»Ich ver­steh gar nichts mehr«, sag­te sie re­si­gniert.

»Ich wer­de ver­su­chen, dir al­les zu er­klä­ren, doch das braucht Zeit, und du musst of­fen sein, für vie­le un­glaub­li­che Din­ge.«

»Das bin ich schon seit un­se­rer ers­ten Be­geg­nung, doch im­mer, wenn ich den­ke, ich habe eine Er­klä­rung, kommt et­was Neu­es dazu, mit dem al­les nur noch kom­pli­zier­ter er­scheint.«

»Ich weiß und be­wun­de­re, wie du bis­her da­mit um­gehst.« Er lä­chel­te sie an. »Doch jetzt erst ein­mal zu dem, was wich­tig ist. Ich habe dich als eine be­deu­ten­de deut­sche Mit­ar­bei­te­rin an­ge­kün­digt, die mich be­glei­tet, weil wir eine be­gon­ne­ne Ar­beit noch nicht ab­ge­schlos­sen ha­ben. Alle wer­den dich mit Re­spekt be­han­deln, doch in mei­ner Ge­gen­wart soll­test du ei­ni­ges be­ach­ten. Vie­le, mit de­nen wir zu tun ha­ben wer­den, sind Mus­li­me, und du soll­test, wenn wir ge­mein­sam auf­tre­ten, an­ge­mes­sen ge­klei­det sein. Also mög­lichst ein Kleid, was Knie und El­len­bo­gen be­deckt und ein Kopf­tuch tra­gen.«

Sa­rah schnapp­te nach Luft, und Gün­ter warf einen kur­zen Blick in ihr ent­rüs­te­tes Ge­sicht.

»Du musst das nicht ma­chen, aber dann kann ich dich nicht über­all­hin mit­neh­men. Es wür­de mei­ne Po­si­ti­on un­ter­gra­ben, wenn ich mit ei­ner west­lich ge­klei­de­ten Frau auf­tre­te. Es muss auch nicht all­zu züch­tig aus­fal­len. Nicht je­des Haar muss un­ter dem Kopf­tuch ver­schwin­den, denn die meis­ten, de­nen wir be­geg­nen, ha­ben eine to­le­ran­te Ein­stel­lung Aus­län­dern ge­gen­über. Ver­su­che, dich für eine be­grenz­te Zeit an­zu­pas­sen, doch ohne dein In­ne­res auf­zu­ge­ben«, füg­te er mit ei­ner An­spie­lung auf sei­ne ja­pa­ni­sche Ge­schich­te hin­zu.

Ge­ra­de die­se Wor­te mach­ten es ihr leich­ter, sei­nem Wunsch zu ent­spre­chen. »Ich be­sit­ze aber kei­ne sol­che Klei­dung«, be­merk­te sie zag­haft.

»Das dach­te ich mir schon, und wir wer­den das Pas­sen­de be­sor­gen, wenn wir in Kai­ro sind.«

Gün­ter ließ ihr Zeit, das eben Ge­hör­te zu ver­ar­bei­ten, und auch er über­leg­te, ob es rich­tig war, sie mit­zu­neh­men und all das von ihr zu ver­lan­gen. Er er­in­ner­te sich an vie­le Si­tua­tio­nen, in de­nen es ihm selbst schwer­ge­fal­len war, sich auf ein neu­es Um­feld ein­zu­stel­len. Schwei­gend leg­ten sie eine große Stre­cke zu­rück, und Gün­ter war so mit sich be­schäf­tigt, dass er nicht be­merk­te, wie Sa­rah ihn mehr­fach mus­ter­te. Sie schwank­te zwi­schen Ab­leh­nung, Neu­gier, Angst und Ver­trau­en, doch eine mäch­ti­ge Stim­me in ihr half, die Zwei­fel zu ver­trei­ben.

»Was muss ich noch be­ach­ten, wenn wir in Ägyp­ten sind?«

Die Un­ter­bre­chung der Stil­le riss Gün­ter aus sei­nen Grü­belei­en, und er brauch­te einen Mo­ment, um sei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen. Sa­rah deu­te­te es an­ders und frag­te wei­ter:

»Muss ich dann hin­ter dir ge­hen? Darf ich dich ohne Wei­te­res an­spre­chen? Oder ...«

Er lach­te lei­se auf.

»Du wirst für alle eine hoch­ge­stell­te Mit­ar­bei­te­rin sein, die sich nicht im Hin­ter­grund ver­ste­cken muss. Ich wer­de dich nach Mög­lich­keit im­mer mit ein­be­zie­hen und wenn mög­lich, über­set­zen oder Eng­lisch spre­chen. Das be­herrschst du doch, oder?«

»Leid­lich, wenn es ohne Dia­lekt und nicht zu schnell ge­spro­chen wird.«

Sa­rah blick­te die­sen jetzt ein we­nig fremd er­schei­nen­den Mann nach­denk­lich an.

»Wie geht das mit meh­re­ren Iden­ti­tä­ten, und wie bist du zu ih­nen ge­kom­men?«, frag­te sie nach ei­ni­ger Zeit.

Gün­ter hol­te tief Luft.

»Ich habe die­se Fra­ge fast er­war­tet und weiß nicht, wie ich sie dir in Kür­ze auf eine zu­frie­den­stel­len­de Art und Wei­se be­ant­wor­ten soll.« Er hol­te noch ein­mal tief Luft und schüt­tel­te kaum merk­lich den Kopf. »Es wäre mir lie­ber, ich könn­te dir mei­ne Ge­schich­te auf die glei­che Art wie bis­her von An­fang bis Ende er­zäh­len, denn dann er­klärt sich al­les von selbst. Aber das ist jetzt nicht mög­lich.«

Er mach­te eine klei­ne Pau­se und such­te nach dem pas­sen­den An­fang. Sa­rah war­te­te ru­hig, denn in sei­nem Ge­sicht konn­te sie einen Au­gen­blick lang wie­der die­sen tief sit­zen­den Schmerz se­hen, der sein Le­ben zu be­glei­ten schi­en.

»Blei­ben wir jetzt erst ein­mal bei mei­ner ägyp­ti­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit. Gün­ter Kauf­mann hat schon am Be­ginn sei­ner Ge­schäftstä­tig­keit, einen er­trag­rei­chen Teil sei­nes Han­dels in und über Ägyp­ten ab­ge­wi­ckelt. Der Mann, der das er­mög­licht hat und ei­gent­lich auch die Grund­la­gen für die Fir­ma ge­schaf­fen hat, ist der Mann, des­sen Pass du in dei­nen Hän­den hältst.«

Sa­rah be­merk­te, dass sie die Aus­weis­pa­pie­re im­mer noch krampf­haft fest­hielt. Sie sah sich das Pass­bild noch ein­mal an und leg­te dann al­les ins Hand­schuh­fach zu­rück.

Gün­ter fuhr un­ter­des­sen un­be­irrt fort.

»Der Name die­ses Man­nes, oder wenn du so willst, mein ara­bi­sche Name ist: Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr.«

Sa­rah stöhn­te auf, und Gün­ter lach­te lei­se.

»Ja, ich weiß, was für eine end­los er­schei­nen­de Na­mens­fol­ge. Meist bleibt es auch bei Ka­rim Al-Kis­met­bahr, und nur bei spe­zi­el­len An­läs­sen wird er kom­plett ver­wen­det. Der letz­te Teil die­ses Na­mens ist sehr alt. Sei­ne Be­deu­tung geht auf ein Er­eig­nis zu­rück, das mit un­se­rer jet­zi­gen Rei­se zu­sam­men­hängt. Über­setzt be­deu­tet der Name: Ka­rim Sohn von Azmi Sohn von Ha­lim Al-Kis­met­bahr – vom Schick­sals­fluss.«

»Vom Schick­sals­fluss?«

»Ja, vor vie­len Ge­ne­ra­tio­nen wur­de die­ser, wir wür­den sa­gen Fa­mi­li­enna­me, von den Be­dui­nen kre­i­ert, weil das Schick­sal des Na­mens­trä­gers, des Stam­mes und des Flus­ses mit­ein­an­der ver­bun­den sind.«

»Das ver­ste­he ich nicht. Dein deut­scher Name ist Kauf­mann, und du sagst selbst, du bist als Deut­scher ge­bo­ren, wie kannst du da einen solch al­ten ara­bi­schen Na­men ha­ben?«

»Weil es eine Zeit­lang nicht nur einen Gün­ter Kauf­mann gab und weil man­ches nicht so ist, wie es zu sein scheint«, sag­te er mit be­drück­ter Stim­me.

Sa­rah fuhr sich mit der Hand über die Au­gen und sag­te auf­stöh­nend:

»Ich kann dir nicht mehr fol­gen. Das ist mir al­les zu ver­wor­ren. Die­ser Ka­rim, der jetzt du bist ...«, sie schüt­tel­te den Kopf, »hat dir – also Gün­ter Kauf­mann – ge­hol­fen, dei­ne Fir­ma auf­zu­bau­en, und blickt auf eine alte Fa­mi­li­en­ge­schich­te zu­rück. Er ist Ara­ber und du Deut­scher, aber du bist auch er. Und es gab meh­re­re Gün ...«

Sa­rah hielt die Luft an und starr­te ihn mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an.

»Du bist da­mals gar nicht auf die glei­che Art zu­rück­ge­kom­men, wie du ins alte Chi­na kamst. Du bist nur wo an­ders hin­ge­kom­men.«

»Wenn es so ein­fach wäre«, sag­te Gün­ter mit ei­nem Seuf­zer. »Ja, ich bin nicht auf die glei­che Art zu­rück­ge­kom­men, wie ich nach Chi­na kam. Nein, ich bin nicht an einen an­de­ren Ort ge­kom­men. Ich be­fand mich im­mer noch am sel­ben Fleck, aber nichts war mehr so, wie ich es kann­te, doch das möch­te ich dir ger­ne spä­ter in Ruhe er­klä­ren.«

Sa­rah spür­te eine ge­wis­se Hilf­lo­sig­keit und Trau­er in sei­nen Wor­ten. Sie leg­te ihre Hand auf sei­ne auf dem Schalt­knüp­pel ru­hen­de Rech­te und er­schrak über die große Nie­der­ge­schla­gen­heit, die den sonst so stark er­schei­nen­den Mann er­grif­fen hat­te. Wie im­mer, wenn sie sich be­rühr­ten, schi­en er alle Ge­füh­le mit ihr zu tei­len.

»Aber wie ist das mög­lich? Hast du seit die­ser Zeit in Chi­na, also ...«, sie rech­ne­te kurz nach, »über drei­hun­dert Jah­re ge­lebt?«, füg­te sie sto­ckend hin­zu.

Gün­ter stöhn­te lei­se auf.

»Habe ich wirk­lich ge­lebt? Lebe ich über­haupt, oder träu­me ich nur?«

Er ent­zog ihr sei­ne Hand und leg­te sie mit aufs Lenk­rad. Als er sie da­bei kurz an­blick­te, konn­te Sa­rah einen feuch­ten Schim­mer in sei­nen Au­gen se­hen.

»Manch­mal weiß ich selbst nicht, wer oder was ich bin. Wan­delt viel­leicht mei­ne See­le, nach dem doch ge­glück­ten Selbst­mord, nur ru­he­los durch die Zeit und ma­ni­fes­tiert sich ab und zu in ei­nem an­de­ren Kör­per?« Er schluck­te, weil sei­ne Stim­me zu bre­chen be­gann. »Es gibt Mo­men­te, da den­ke ich das, denn al­les an­de­re er­scheint mir noch un­mög­li­cher zu sein. An­de­rer­seits habe ich Er­in­ne­run­gen an ein un­ge­heu­er lan­ges Le­ben. So de­tail­liert, dass es un­mög­lich er­scheint, es nicht ge­lebt zu ha­ben. Ich kann mich an ein Le­ben als Gün­ter Kauf­mann mit Fir­ma und Fa­mi­lie er­in­nern. An ein Le­ben als Gü Man in Chi­na, als Is­hi­ka­wa Yos­hio in Ja­pan, als Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr in Ägyp­ten und noch vie­le an­de­re. Und die äl­tes­ten Er­in­ne­run­gen sind ge­nau­so stark wie die jüngs­ten. Nichts scheint ver­lo­ren zu ge­hen.«

Sa­rah wuss­te nicht, was sie dar­auf sa­gen soll­te, denn sie ver­such­te im­mer noch zu er­fas­sen, was sie ge­ra­de er­fuhr. Es dau­er­te lan­ge, bis Gün­ter wei­ter­sprach.

»Noch nie hat­te ich das Ge­fühl, der Lö­sung all die­ser Fra­gen auf die Spur zu kom­men. Erst heu­te Mor­gen, als ich dich beim Tai-Chi sah und dann mit dir am Früh­stücks­tisch sprach, er­schi­en ein klei­ner Licht­blick. Auch des­halb bist du der ers­te Mensch, der so viel über mich er­fährt, und wenn du mich jetzt für schi­zo­phren hältst, kann ich dir das nicht ver­übeln.«

Ohne zu zö­gern, er­wi­der­te Sa­rah:

»Ich hal­te dich nicht für geis­tes­krank! Auch ich den­ke mitt­ler­wei­le, dass un­se­re Schick­sa­le ir­gend­wie mit­ein­an­der ver­knüpft sind, den­noch ver­ste­he ich vie­les nicht.«

Sa­rah lehn­te sich mit nach in­nen ge­kehr­tem Blick zu­rück.

»Wie konn­test du zum Bei­spiel mit Gün­ter Kauf­mann von Ägyp­ten aus in Kon­takt tre­ten, ohne dass er merk­te, dass du er bist?« Sie schüt­tel­te sich. »So was wür­de mich aus der Bahn wer­fen.«

»Ich bin nie­mals per­sön­lich mit ihm in Kon­takt ge­tre­ten. Im­mer nur über Mit­tels­män­ner und an­de­re Fir­men, an de­nen ich be­tei­ligt bin. Au­ßer­dem war ich in die­ser Zeit nicht im­mer in Ägyp­ten. Ich habe auch mit an­de­ren Iden­ti­tä­ten von an­de­ren Län­dern aus sein Pro­jekt ge­för­dert.«

»Hat­test du nicht Angst da­vor, in die Ge­schich­te ein­zu­grei­fen?«, frag­te Sa­rah stirn­run­zelnd.

»Ich habe den Lauf der Ent­wick­lung nicht ver­än­dert. Als ich aus der Fer­ne mein al­tes Le­ben be­ob­ach­tet habe, ist mir auf­ge­fal­len, dass ich mich ohne einen Schub von au­ßen nie­mals in die­se Rich­tung ent­wi­ckelt hät­te. Als ich dann dar­über nach­dach­te und Ver­glei­che zog, er­kann­te ich, dass nur ich es ge­we­sen sein konn­te, der die­se Ent­wick­lung aus­ge­löst hat.«

»Du hast dich also selbst zu dem ge­macht, der du als Fir­men­chef warst? Du hast dein ei­ge­nes Schick­sal aus­ge­löst, ohne es än­dern zu wol­len?«

Un­gläu­big ruh­te ihr Blick auf ihm, und Gün­ter brauch­te eine Wei­le, bis er ant­wor­ten konn­te.

»Ir­gend­wie schon, doch ma­chen wir uns nicht alle selbst zu dem, was wir sind? Sind es nicht un­se­re Ent­schei­dun­gen, die den Le­bens­weg maß­geb­lich be­stim­men? Si­cher gibt es äu­ße­re Ein­flüs­se, das weiß ich selbst am bes­ten, doch in vie­len Fäl­len ha­ben wir die Wahl, wel­che Rich­tung wir ein­schla­gen.« Gün­ter hol­te tief Luft. »An ei­nem ge­wis­sen Punkt woll­te ich in den Lauf der Ge­schich­te ein­grei­fen. Ich woll­te den Tod mei­ner Fa­mi­lie ver­hin­dern. Wenn du wüss­test, was ich al­les un­ter­nom­men habe, um das zu er­rei­chen, wür­dest du kaum glau­ben, dass es den­noch dazu kam.«

Die Nüch­tern­heit, mit der er jetzt sprach, ver­wirr­te Sa­rah, und sie such­te in sei­nem Ge­sicht nach ei­ner Er­klä­rung, aber sei­ne Züge wirk­ten hart und ab­wei­send.

»Was hat dei­ne Ver­su­che ver­hin­dert?«, frag­te sie zag­haft.

»Ich weiß es nicht. Al­les, was ich un­ter­nahm, schei­ter­te an fast ba­nal er­schei­nen­den Din­gen. Män­ner, die ich los­schick­te, um Igors Hand­lan­ger auf­zu­hal­ten, ge­rie­ten in einen un­er­klär­li­chen Stau und ka­men um Mi­nu­ten zu spät. Ich selbst wur­de auf dem Flug­ha­fen fest­ge­hal­ten, weil plötz­lich mei­ne glaub­wür­digs­te Iden­ti­tät frag­wür­dig er­schi­en. Auch als ich meh­re­re Sa­chen gleich­zei­tig in Be­we­gung setz­te, wur­de je­der Ein­griff durch ähn­li­che, sonst un­wich­tig er­schei­nen­de Er­eig­nis­se ver­hin­dert. Das war eine Zeit, an der ich wie­der ein­mal fast zer­brach.«

Sa­rah merk­te, dass er nur mit äu­ßers­ter Kraft­an­stren­gung die­ses nüch­tern er­schei­nen­de Ge­spräch auf­recht­er­hal­ten konn­te. Sie zö­ger­te, frag­te aber dann doch wei­ter:

»Und die­se Er­pres­ser­ban­de ist un­ge­straft da­von­ge­kom­men?«

Ein schmerz­li­cher, aber zy­ni­scher Zug um­spiel­te sei­ne Lip­pen.

»Nein, das nicht. Da­nach ge­lang es mir fast spie­lend, ihre Ma­chen­schaf­ten auf­zu­de­cken. Lei­der hat­ten sie sich da schon wie­der nach Russ­land ab­ge­setzt, doch ein gu­ter Ge­schäfts­freund von Ka­rim«, er be­ton­te das auf eine Art, die Sa­rah an­de­res ver­mu­ten ließ, »konn­te ih­nen auf­grund sei­ner Be­zie­hun­gen wei­te­re Ver­bre­chen – in­klu­si­ve Mord – nach­wei­sen. Jetzt sit­zen sie in ei­nem Strafla­ger in Ost­si­bi­ri­en. Mein Part­ner hat sie dort be­sucht, und ich ver­si­che­re dir, dass ihre Stra­fe mehr als an­ge­mes­sen aus­ge­fal­len ist.«

Gün­ter at­me­te wie­der ge­räusch­voll ein.

»Ich habe mich seit­her oft ge­fragt, ob mich das be­frie­digt oder mei­ne Qual lin­dert. Im ers­ten Mo­ment war es so, doch es macht das Ge­sche­he­ne nicht rück­gän­gig. Der Schmerz bleibt, eben­so die an­de­ren Din­ge, die sich dar­aus er­ge­ben ha­ben. Ei­ni­ge sind da­bei, die mich für eine Zeit lang zu ei­nem über­aus glück­li­chen Men­schen ge­macht ha­ben, und ge­ra­de die möch­te ich nicht miss­en. Manch­mal trös­te ich mich da­mit, dass es Glück und Leid ge­ben muss, weil das eine das an­de­re be­dingt. Weil oft nur über ne­ga­ti­ve Er­fah­run­gen der Weg zum Po­si­ti­ven frei wird.«

Gün­ter bau­te für den Rest der Fahrt eine Mau­er des Schwei­gens um sich auf, und Sa­rah hat­te ge­nug Stoff zum Nach­den­ken, um sie nicht zu durch­bre­chen. Sie führ­te sich vor Au­gen, was für selt­sa­me In­for­ma­tio­nen sie bis­her von ihm er­hal­ten hat­te, und doch konn­te sie nicht an­ders, als ihm glau­ben. Das Ver­trau­en, wel­ches für kur­ze Zeit ins Wan­ken ge­ra­ten war, er­griff sie wie­der un­ein­ge­schränkt.

 

Sie hat­ten ihr Auto auf ei­nem be­wach­ten Park­platz des Air­ports ab­ge­stellt, und Gün­ter brach­te Sa­rah zu ei­nem Pass­bild­au­to­ma­ten, da sie noch zwei Bil­der für ihr ägyp­ti­sches Visa brauch­te. Wäh­rend Sa­rah mit der Tech­nik kämpf­te, er­kun­dig­te sich Gün­ter nach dem Stand der Vor­be­rei­tun­gen. Al­les schi­en bes­tens zu lau­fen. Der Flug­plan war ge­neh­migt, die Ma­schi­ne start­klar, und der Pi­lot war­te­te auf ihre An­kunft.

Über das Ge­ne­ral Avia­ti­on Ter­mi­nal check­ten sie pro­blem­los ein, und nur kur­ze Zeit spä­ter be­stie­gen sie die Cess­na. Der Pi­lot, der sie an Bord in Emp­fang nahm, wirk­te bei dem Ge­spräch, das Gün­ter mit ihm führ­te, selt­sam ab­we­send. Sa­rah konn­te sich aber nicht rich­tig dar­auf kon­zen­trie­ren, da sie das Ge­fühl hat­te, bei ih­rem Be­glei­ter sei ir­gend­et­was an­ders. Ver­geb­lich such­te sie nach der Ur­sa­che, doch kaum war der Pi­lot in der Kan­zel ver­schwun­den, schi­en al­les wie vor­her zu sein. Gün­ter ge­lei­te­te sie zu ei­nem der be­que­men Le­der­ses­sel und nahm ihr ge­gen­über Platz.

»Es kann ein paar Mi­nu­ten dau­ern, bis wir star­ten dür­fen«, sag­te er und ent­nahm dem Kühl­fach, das zwi­schen den Sit­zen in der Ver­klei­dung ein­ge­baut war, eine Fla­sche Mi­ne­ral­was­ser. Nach­dem er sie in die da­für vor­ge­se­he­ne Ver­tie­fung ne­ben sich ge­stellt hat­te, öff­ne­te er ein an­de­res Fach und brach­te zwei Glä­ser zum Vor­schein. Er hielt ihr eins ent­ge­gen und frag­te:

»Du auch? Oder willst du et­was an­de­res trin­ken? Es sind noch an­de­re Ge­trän­ke da.«

»Nein, ein Schluck Was­ser wäre gut«, sag­te sie mit mü­der Stim­me.

Wäh­rend Gün­ter ihr ein­goss, mus­ter­te er sie prü­fend.

»Es geht dir al­les zu schnell, und du weißt nicht, was du von all­dem hal­ten sollst«, stell­te er nüch­tern fest.

Sa­rah nahm einen kräf­ti­gen Schluck, such­te sei­nen Blick­kon­takt und sag­te:

»Ein biss­chen von bei­dem.« Sie at­me­te ge­räusch­voll ein. »Doch das heißt nicht, dass ich die Wahr­heit dei­ner Wor­te an­zweifle oder be­reue, an die­ser Rei­se teil­zu­neh­men. Aber ich su­che nach Ant­wor­ten, nach ei­nem Sinn in all­dem.«

Gün­ter lach­te mit ei­nem ge­quäl­ten Ge­sichts­aus­druck lei­se auf.

»Nach ei­nem Sinn in all­dem su­che ich schon lan­ge. Und mit der Wahr­heit ist das so eine Sa­che. Ich habe und wer­de dich nie­mals be­lü­gen, doch wenn ich dir nur einen Teil der In­for­ma­tio­nen gebe – sei es, weil ich nicht mehr preis­ge­ben will oder es nicht bes­ser weiß –, kannst du zu ei­nem an­de­ren Er­geb­nis kom­men wie ich. Nach mei­ner Er­fah­rung gibt es nicht nur eine Wahr­heit, und nicht nur ein Weg führt zum Ziel. Vie­le Wege ver­bin­den sich, vie­le In­for­ma­tio­nen be­ein­flus­sen sich, ver­än­dern die Ge­ge­ben­hei­ten, die Rich­tung, wer­den zu ei­nem Gan­zen und füh­ren viel­leicht zu ei­nem ganz an­de­ren Er­geb­nis als einst an­ge­nom­men.«

»Puh, soll das hei­ßen, dass ich mir jetzt Ge­dan­ken ma­chen muss? Dass du mir we­sent­li­che Din­ge vor­ent­hältst und doch ein ganz an­de­rer bist, als ich an­neh­me?«, frag­te Sa­rah mit ei­nem Stirn­run­zeln.

»Nein.« Gün­ter lä­chel­te sie an und hielt ih­rem for­schen­den Blick stand. »So war das nicht ge­meint. Doch ich habe ges­tern Abend zum Bei­spiel nicht er­zählt, was ge­schah, als ich beim An­blick des bren­nen­den Shao­lin den Tod er­hoff­te. So, wie ich ge­en­det habe, muss­test du an­neh­men, ich sei in mein al­tes Le­ben zu­rück­ge­kehrt, und ob­wohl ich das wuss­te, habe ich dich nicht kor­ri­giert. Nicht, weil ich dich be­lü­gen woll­te, son­dern weil mir die Kraft fehl­te, an die­sem Tag noch mehr preis­zu­ge­ben. Also kamst du zu ganz an­de­ren An­nah­men. Des­we­gen sind sie aber nicht falsch, dir feh­len nur we­sent­li­che Tei­le des Puzz­les, und das ist so groß, dass wir noch ei­ni­ge Ge­sprä­che füh­ren müs­sen, da­mit du alle Tei­le zu­sam­men­be­kommst.«

Sa­rah sann über sei­ne Wor­te nach. Sie fühl­te sei­ne Ehr­lich­keit, und auch in sei­nen Au­gen konn­te sie kei­nen Wi­der­spruch dazu fin­den.

»Weißt du denn, was ich an­ge­nom­men habe?«

»Nur das, was ich dir schon sag­te, weil ich ei­gent­lich be­wusst dei­ne Ge­dan­ken in die­se Rich­tung ge­führt habe. Aber ich ver­mu­te, dass du dir schon eine be­stimm­te Er­klä­rung zu­recht­ge­legt hat­test, die durch un­ser Ge­spräch wäh­rend der Fahrt al­ler­dings nich­tig wur­de. Lass dir je­doch das eine sa­gen: Ich selbst habe das Rät­sel noch nicht ge­löst. Viel­leicht bin ich so­gar wei­ter da­von ent­fernt als du.«

Sa­rah schüt­tel­te den Kopf.

»Du irrst dich. Ich war die hal­be Nacht mun­ter, und dut­zen­de Er­klä­run­gen ka­men mir in den Sinn, doch eine er­schi­en mir un­wahr­schein­li­cher als die an­de­re. Ich hat­te ge­hofft, sie heu­te von dir zu er­hal­ten, und jetzt sagst du, dass du kei­ne hast.« Sie schloss die Au­gen und fuhr sich mit der Hand übers Ge­sicht. »Warum nimmst du an, dass ich der Lö­sung nä­her bin als du, wenn ich noch nicht ein­mal alle Tei­le zu­sam­men­ha­be?«

»Aus ei­nem star­ken in­ne­ren Ge­fühl he­r­aus und weil du al­les aus ei­nem an­de­ren Blick­win­kel siehst.«

Gün­ter füll­te sein Glas ein wei­te­res Mal und leer­te es in gie­ri­gen Zü­gen.

»Wel­che Ver­mu­tun­gen er­schie­nen dir denn bis­her am wahr­schein­lichs­ten?«, frag­te er sie un­ver­mit­telt.

Ein biss­chen über­rascht von der Fra­ge, sann sie einen Mo­ment nach.

»Ich dach­te an eine Wie­der­ge­burt dei­ner See­le oder dass du Er­in­ne­run­gen an ein frü­he­res Le­ben auf­ar­bei­test. Was ja ir­gend­wie zum Bud­dhis­mus passt, mit dem du in dei­nem neu­en Le­ben so in­ten­siv in Be­rüh­rung kamst. An­de­rer­seits sagst du, dass du die­sen Glau­ben nicht an­ge­nom­men hast, und sprichst auch von ei­nem fort­lau­fen­den Er­in­ne­rungs­strang, ei­nem lan­gen Le­ben. Was über­haupt nicht dazu pas­sen will. Heu­te be­rich­test du mir dann von meh­re­ren Iden­ti­tä­ten, ei­nem Dop­pel­le­ben, und al­les wird noch mys­te­ri­öser. Doch in mir gibt es seit ges­tern Stim­men. Sie spre­chen mit mir, aber ich kann sie nicht ver­ste­hen. Sie las­sen mich Din­ge wis­sen, die mir un­be­kannt sein müss­ten. Brin­gen mich dazu Tai-Chi aus­zu­füh­ren, ob­wohl ich es nur aus dei­ner Ge­schich­te ken­ne. Ich hing nie ir­gend­ei­nem Glau­ben an, was al­les nur noch schwe­rer zu ma­chen scheint.«

»Oder auch viel leich­ter«, warf Gün­ter ein.

»Wie meinst du das?«

»Du bist nicht ge­fan­gen in ir­gend­wel­chen Dog­men. Gehst un­vor­ein­ge­nom­men an die Sa­che ran und zwei­felst mei­ne Ge­schich­te nicht an.«

»Weil du sie mir auf eine Art ver­mit­telt hast, an die ich nie­mals glau­ben wür­de, wenn ich sie nicht selbst er­lebt hät­te.« Sa­rah hielt ihm ihr lee­res Glas hin und Gün­ter goss nach. »Ver­mut­lich hast du recht, denn mir feh­len wirk­lich noch zu vie­le Ein­zel­hei­ten, um mein Bild zu ver­voll­stän­di­gen. Es wäre mir auch lie­ber, wenn ich die wei­te­re Ge­schich­te so er­fah­ren könn­te wie die bis­he­ri­ge. Könn­ten wir nicht da wei­ter­ma­chen, wo wir am Abend ge­en­det ha­ben?«

Gün­ter schüt­tel­te den Kopf.

»Dazu fehlt mir im Mo­ment die Ruhe. Ich muss mich auf die nächs­ten Tage vor­be­rei­ten, und dazu brau­che ich mei­ne gan­ze Ener­gie.«

Die Mo­to­ren heul­ten auf, und die Ma­schi­ne setz­te sich lang­sam in Be­we­gung. Über die Laut­spre­che­r­an­la­ge for­der­te der Pi­lot die bei­den zum An­schnal­len auf und teil­te mit, dass sie gleich star­ten wür­den.

Sie folg­ten der Auf­for­de­rung, und Gün­ter ver­stau­te die Was­ser­fla­sche im Kühl­fach. Nach­dem Sa­rah ihr fast lee­res Glas in der Ver­tie­fung ab­ge­stellt hat­te, frag­te sie:

»Kannst du mir we­nigs­tens ver­ra­ten, warum wir so schnell nach Ägyp­ten müs­sen?«

Die Cess­na be­schleu­nig­te auf dem Roll­feld. Der Start ent­hob Gün­ter für we­ni­ge Mi­nu­ten der Ant­wort, denn Sa­rah er­fass­te ein leich­tes Schwin­del­ge­fühl, als sie aus dem Fens­ter sah. Sie fühl­te die Wär­me und Kraft, die ih­ren Kör­per durch­ström­te, als er ihre Hän­de er­griff, und öff­ne­te zag­haft die Au­gen.

»Dan­ke. Ich bin noch nicht oft ge­flo­gen, und der Start setzt mir im­mer wie­der zu.«

Er nick­te freund­lich.

»Al­les gut«, sag­te er und lehn­te sich wie­der zu­rück, »und um dei­ne Fra­ge zu be­ant­wor­ten: Ich habe heu­te Mor­gen die In­for­ma­ti­on er­hal­ten, dass ein Grab ge­fun­den wur­de und ge­öff­net wer­den soll. Das möch­te ich nach Mög­lich­keit ver­hin­dern oder we­nigs­tens die Ruhe der To­ten wah­ren.«

Sa­rah ver­gaß schlag­ar­tig, wo sie sich be­fand.

»Was für ein Grab? Und warum ist dir das so wich­tig?«

Gün­ter lös­te den Blick von ihr und wand­te sich dem Fens­ter zu.

»Das Grab ei­ner jun­gen Frau, die mein Le­ben eine Zeit lang be­glei­te­te. Sie muss­te viel er­lei­den, und kei­ner soll­te zu For­schungs­zwe­cken ihre Ruhe stö­ren.«

In Sa­rahs Kopf ras­ten die Ge­dan­ken: Eine jun­ge Frau und sie leb­ten zu­sam­men. Schon wie­der eine an­de­re. Und ob­wohl sie sich selbst sag­te, dass es kei­nen Grund da­für gab, er­wach­te so et­was wie Ei­fer­sucht in ihr.

Als ob er ihre Ge­dan­ken ge­hört hät­te, füg­te Gün­ter hin­zu:

»Sie war wie mei­ne Toch­ter. Ich habe sie groß­ge­zo­gen, be­hü­tet und war doch nicht in der Lage, sie im ent­schei­den­den Mo­ment zu be­schüt­zen. Das und die Fol­gen, die sich dar­aus er­ga­ben, habe ich mir lan­ge nicht ver­zie­hen.«

Die letz­ten Wor­te hat­te Sa­rah kaum noch ver­ste­hen kön­nen, so lei­se und trau­rig ka­men sie über die Lip­pen ih­res Ge­gen­übers. Scham über­kam sie we­gen der Ge­füh­le, die sie eben er­grif­fen hat­ten, und mit ge­senk­tem Blick war­te­te sie, ob er wei­ter­spre­chen wür­de. Mi­nu­ten spä­ter konn­te sie die Stil­le nicht mehr er­tra­gen und frag­te:

»Hast du sie ge­liebt?«

Ver­ständ­nis­los sah Gün­ter sie an.

»Ja, wie man eine Toch­ter liebt, auch wenn sie nicht die leib­li­che ist.«

Sa­rah ohr­feig­te sich in­ner­lich. Wie konn­te sie nur so eine Fra­ge stel­len? Das, was ihr Herz eben zu­sam­men­ge­zo­gen hat­te, war ihr noch nie pas­siert.

Gün­ter ging nicht wei­ter dar­auf ein und wand­te den Kopf wie­der zur Sei­te.

»Es gibt aber noch an­de­re Grün­de, aus de­nen ich die Öff­nung ver­hin­dern möch­te. Ein Bün­del in dem Grab könn­te für große Auf­re­gung und Ver­wir­rung sor­gen.«

Vie­les schwirr­te Sa­rah durch den Kopf, doch vor­erst ver­such­te sie ih­ren ra­sen­den Herz­schlag zu be­ru­hi­gen. Die Röte, die ihr Ge­sicht über­zo­gen hat­te, schwand lang­sam, als sie ihre Flug­hö­he er­reicht hat­ten. Der Pi­lot teil­te es mit, und sie lös­ten ihre Si­cher­heits­gur­te, doch noch be­vor Sa­rah sich auf­raf­fen konn­te, eine wei­te­re Fra­ge zu stel­len, stand Gün­ter auf und sag­te:

»Ich muss dich jetzt für den Groß­teil des Flug­es al­lein las­sen.« Auf ih­ren ver­ständ­nis­lo­sen Blick hin setz­te er hin­zu. »Wenn wir an­ge­kom­men sind, wirst du ver­ste­hen, warum.«

Ohne ein wei­te­res Wort ver­schwand er mit sei­ner Rei­se­ta­sche in dem hin­te­ren ab­ge­trenn­ten Be­reich.

Sa­rahs In­ners­tes war so auf­ge­wühlt, dass sie eine gan­ze Wei­le brauch­te, be­vor die Ein­sam­keit auf sie wirk­te. Auch wenn sie die Ab­la­ge mit den Zeit­schrif­ten und Zei­tun­gen be­merkt hat­te, nach sol­chen Ab­len­kun­gen stand ihr der Sinn nicht. Zu vie­les war ge­sche­hen, seit sie die­sen Mann ken­nen­ge­lernt hat­te. Sie sah auf die Wol­ken, über die sie jetzt flo­gen, doch ihr Blick war nach in­nen ge­rich­tet.

 

Der we­ni­ge Schlaf der letz­ten Nacht hat­te sei­ne Aus­wir­kun­gen ge­zeigt. Sa­rah war bei ih­ren Grü­belei­en ein­ge­schla­fen. Un­be­merkt war Gün­ter, kurz be­vor die Küs­ten­li­nie Ägyp­tens in Sicht kam, auf sei­nen Platz zu­rück­ge­kehrt. Er mus­ter­te sie nach­denk­lich und strich sich da­bei über sei­nen grau me­lier­ten Voll­bart.

Sa­rah spür­te sei­ne Bli­cke und öff­ne­te die Au­gen. Schlaf­trun­ken sah sie Gün­ter an und lä­chel­te, doch ir­gend­et­was schi­en an­ders zu sein. Mit ei­nem Ruck setz­te sie sich auf, und un­gläu­big ruh­ten ihre Au­gen auf dem Mann ihr ge­gen­über.

War das wirk­lich noch Gün­ter Kauf­mann? Dem Pass­bild des Ara­bers ent­sprach er, doch sie war mit ei­nem an­de­ren Mann ins Flug­zeug ge­stie­gen. Auf dem Sitz vor Sa­rah saß ein­deu­tig ein Be­dui­ne. In einen Kaftan gehüllt, ein Tuch auf dem Kopf, das von ei­nem Ring ge­hal­ten wur­de, schi­en er ge­ra­de­wegs von ei­nem Kos­tüm­fest zu kom­men. Der Bart ließ ihn äl­ter wir­ken, und nur die Au­gen, wa­ren noch die glei­chen.

Sa­rah schloss den Mund wie­der und schluck­te ver­nehm­lich.

»Ka­rim Al-Kis­met­bahr ist Ara­ber und muss auch so aus­se­hen«, sag­te die ge­wohn­te Stim­me.

Sa­rah brach­te im­mer noch kein Wort he­r­aus und nick­te nur.

»Ent­schul­di­ge bit­te, dass ich es dir nicht vor­her er­klärt habe, aber ich habe zu vie­le Fra­gen be­fürch­tet und woll­te ih­nen aus dem Weg ge­hen.«

Sa­rah fand ihre Stim­me wie­der.

»Warum so eine Mas­ke­ra­de? Ist das denn wirk­lich nö­tig?«

»Das ist kei­ne Mas­ke, so ist Ka­rims Aus­se­hen.«

Die Ant­wort är­ger­te Sa­rah, denn es war ja of­fen­sicht­lich, dass Gün­ter sein Äu­ße­res ver­än­dert hat­te. Et­was ge­reizt sag­te sie des­halb:

»Wenn du meinst. Für mich ist es aber so, denn wer sich einen Bart an­klebt, brau­nes Make-up auf­trägt und sich dann auch noch ver­klei­det, ver­steckt sich hin­ter ei­ner Mas­ke.«

Gün­ter lach­te kurz auf.

»Nur weil du mich an­ders kennst.«

Er wur­de wie­der ernst und setz­te sach­lich hin­zu:

»Was glaubst du, wie das bei ei­ner an­de­ren Iden­ti­tät funk­tio­niert? Denkst du, ich könn­te als Ara­ber ge­nau­so auf­tre­ten wie als Gün­ter Kauf­mann? Si­cher hast du mit ei­nem recht: Ich ver­ste­cke mich hin­ter ei­nem an­de­ren Äu­ße­ren. Aber al­les ist echt. Nichts ist auf­ge­tra­gen oder an­ge­klebt. Ich bin jetzt Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr und sehe aus wie er.«

Der Ernst, mit dem er das sag­te, ver­un­si­cher­te Sa­rah, aber sie konn­te nicht an­ders, als nä­her he­r­an­zu­rück­en und ihn ge­nau zu mus­tern. Trotz größ­ter Mühe konn­te sie nichts er­ken­nen, was auf ihre Ver­mu­tung hin­deu­te­te, und mit großen Au­gen sah sie ihn an.

»Die pe­ri­odi­sche Er­neue­rung mei­nes Kör­pers fin­det im­mer noch statt«, be­gann Gün­ter mit sei­ner Er­klä­rung. »Über die vie­len Jah­re habe ich ge­lernt, in ge­wis­sen Gren­zen, in sie ein­zu­grei­fen. Ich kann es ver­zö­gern, vor­zie­hen, Nar­ben ver­schwin­den las­sen oder hin­zu­fü­gen, Fal­ten im Ge­sicht hin­zu­fü­gen, die mich äl­ter ma­chen, und ei­ni­ges mehr. Ich kann auch klei­ne Ver­än­de­run­gen zu an­de­ren Zei­ten her­bei­füh­ren, aber auf die­se Wei­se nur das be­ein­flus­sen, was sich im Lau­fe des Le­bens so­wie­so ver­än­dert. Der Farb­ton der Haut zählt dazu. Er ver­än­dert sich, wenn ich öf­ter der Son­ne aus­ge­setzt bin. Auch Bart- und Haar­wuchs kann ich be­schleu­ni­gen. Es kos­tet mich je­doch Kon­zen­tra­ti­on und ei­ni­ge Kraft, wes­halb ich mich zu Be­ginn des Flug­es zu­rück­ge­zo­gen habe.«

Mit je­dem Wort wur­de Sa­rahs Er­stau­nen grö­ßer, und es ver­gin­gen ei­ni­ge Mi­nu­ten, bis sie sich zu ei­ner Ant­wort auf­raf­fen konn­te.

»Du ma­ni­pu­lierst dein Er­schei­nungs­bild?«

»Lei­der ist es in die­sem Jahr­hun­dert un­um­gäng­lich ge­wor­den, zu sol­chen Mit­teln zu grei­fen, doch auch da­mit ge­ra­te ich lang­sam an mei­ne Gren­zen. Durch DNA-Er­ken­nung und die welt­wei­te Ver­net­zung ist es nur eine Fra­ge der Zeit, bis mir je­mand auf die Spur kommt.« Er stöhn­te lei­se auf. »Wo und wie kann ich mich dann noch ver­ber­gen. Ich wür­de zum Ver­suchs­ka­nin­chen oder zum Spiel­ball der Mäch­ti­gen. Flucht wäre kaum noch mög­lich. Ich bin in ei­ner Zeit an­ge­kom­men, in der ich mir den Tod sehn­li­cher wün­sche, als je zu­vor, doch der wird mir ver­wei­gert.«

Die Ent­rüs­tung, die Sa­rah emp­fun­den hat­te, ver­ebb­te. Sie ver­setz­te sich in sei­ne Si­tua­ti­on und ahn­te, wie er sich fühl­te, aber stär­ker denn je mel­de­ten sich die Stim­men in ihr. Sie ver­such­te sie zu ver­ste­hen, doch es ge­lang ihr nicht.

Gün­ter hat­te sich ab­ge­wandt und schi­en auf die Land­schaft un­ter ih­nen zu bli­cken, doch er sah nicht, dass Kai­ro in Sicht kam. Sei­ne Ge­dan­ken hat­ten einen Punkt er­reicht, der ihn je­des Mal wie­der in Nie­der­ge­schla­gen­heit ver­setz­te.

Sa­rah horch­te im­mer noch in sich hi­n­ein, als sie auf­ge­for­dert wur­den, die Gur­te an­zu­le­gen. Die Lan­dung ver­lief pro­blem­los, und als der Pi­lot sie ver­ab­schie­de­te, fiel Sa­rah auf, dass ihn Gün­ters Aus­se­hen nicht im Min­des­ten zu ver­wun­dern schi­en.

»Kennt er dich und dei­ne Ver­gan­gen­heit?«, frag­te sie beim Ver­las­sen des Flug­zeu­ges.

»Wie kommst du denn dar­auf?«

»Er schi­en nicht er­staunt über dei­ne Ver­än­de­rung.«

»Als wir die Ma­schi­ne be­tra­ten, sah er mich so, wie ich jetzt bin.«

Bei der Ver­mu­tung, die ihr kam, stöhn­te Sa­rah lei­se auf.

»Du ma­ni­pu­lierst auch die Ge­dan­ken an­de­rer. Du setzt die Nin­ja­küns­te ein, die du einst ab­ge­lehnt hast.«

Ein Schau­er lief ihr über den Rücken, und zum wie­der­hol­ten Mal an die­sem Tag sah sie ihn mit Zwei­fel im Her­zen an.

Gün­ter blieb ste­hen und such­te den Blick­kon­takt zu ihr.

»Zeig mir einen an­de­ren Weg, und ich neh­me ihn ger­ne an.«

Sa­rah schwieg und las in sei­nem Ge­sicht, wäh­rend er fort­fuhr:

»Ich ver­su­che es zu ver­mei­den, wo es nur geht, doch wenn Eile ge­bo­ten ist oder Ge­fahr für mich und an­de­re be­steht, grei­fe ich bis­wei­len dar­auf zu­rück. Das ge­schieht aber nur, wenn an­de­re da­durch nicht zu Scha­den kom­men.«

Wie er es einst selbst ge­tan hat­te, als er mit die­sem Kön­nen kon­fron­tiert wur­de, frag­te Sa­rah mit leich­tem Vor­wurf in der Stim­me:

»Wo ziehst du die Gren­ze? Ist nicht schon der kleins­te An­satz frag­wür­dig?«

Gün­ter schloss die Au­gen und schüt­tel­te be­dau­ernd den Kopf, doch Sa­rah war noch nicht fer­tig.

»Machst du das auch mit mir? Muss ich mir Ge­dan­ken ma­chen, dass du mich zu Din­gen bringst, die ich ei­gent­lich nicht will?«

Sie sah die Trau­rig­keit in sei­nen Au­gen, als er sie wie­der an­blick­te, aber sie woll­te in die­sem Mo­ment nicht auf ihre Ge­füh­le hö­ren und mach­te eine auf­for­dern­de Ges­te.

»Es steht dir frei, nach Hau­se zu flie­gen. Der Pi­lot wird nach ei­ner vor­ge­schrie­be­nen Pau­se wie­der star­ten, und ich kann al­les Not­wen­di­ge ver­an­las­sen.«

Der Trotz in sei­ner Stim­me pass­te nicht zu sei­nem sons­ti­gen Ver­hal­ten.

»Da­von war kei­ne Rede. Ich habe dich nur et­was ge­fragt und er­war­te eine Ant­wort.«

»Und ich kann dir nur sa­gen, was du in dei­nem Her­zen wis­sen müss­test: Ich habe es nicht ge­tan und wer­de es nie­mals tun!« Er hol­te tief Luft. »Warum soll­te ich auch«, setz­te er mit trau­ri­ger Stim­me hin­zu.

Sa­rah nahm den Weg in Rich­tung Ter­mi­nal wie­der auf, doch die Miss­s­tim­mung, die sich zwi­schen ih­nen auf­ge­baut hat­te, war greif­bar.

 

Ein langes Leben

 

 

Dank Ka­rims Au­to­ri­tät war mit Sa­rahs Visa al­les pro­blem­los ver­lau­fen, und bald sa­ßen sie in ei­nem kli­ma­ti­sier­ten BMW, des­sen Fah­rer sie er­war­tet hat­te. Dun­kel­heit hat­te sich schon über das Land ge­senkt, und sie ka­men auf dem Au­to­bahn­ring zü­gig vor­an. Der Chauf­feur sah wie­der­holt ver­wun­dert in den Rück­spie­gel, denn so schweig­sam kann­te er sei­nen Fahr­gast nicht. Im­mer, wenn er Ka­rim Al-Kis­met­bahr ge­fah­ren hat­te, war die Zeit bei Ge­sprä­chen schnell ver­gan­gen. Doch dies­mal herrsch­te an­ge­spann­tes Schwei­gen. Es schi­en von der hüb­schen eu­ro­päi­schen Frau aus­zu­ge­hen, und Safi frag­te sich, warum der gute Freund sei­ner Fa­mi­lie, sie mit­ge­bracht hat­te.

Zu Be­ginn der Fahrt hat­te er im Auf­trag sei­nes Va­ters sei­nem För­de­rer und Chef Al-Kis­met­bahr ei­ni­ge wich­ti­ge Mit­tei­lun­gen ge­macht. Einen Teil da­von hat­te die­ser der Frau of­fen­sicht­lich über­setzt, doch bis auf eine Es­sens­be­stel­lung per Han­dy fie­len kei­ne wei­te­ren Wor­te. Des­halb war er froh, als sie das No­bel­vier­tel am Ran­de von Ker­da­sa er­reich­ten und er sei­ne Fahr­gäs­te bei Ka­rims An­we­sen ab­set­zen konn­te. Schnell half er das Ge­päck ins Haus tra­gen und nahm auch noch das be­stell­te Es­sen ent­ge­gen, das in die­sem Mo­ment ge­lie­fert wur­de. Nach­dem sie noch kurz den nächs­ten Tag be­spro­chen hat­ten, ver­ließ er auf­at­mend das Grund­stück.

Er wohn­te in der Nähe und war glück­lich über die­se An­stel­lung. Das ge­le­gent­li­che Chauf­fie­ren war nur ein klei­ner Teil sei­nes Jobs, war er doch an vie­len wich­ti­gen ge­schäft­li­chen Ak­ti­vi­tä­ten be­tei­ligt. In Zei­ten, die Al-Kis­met­bahr fern von Ägyp­ten ver­brach­te, lief al­les über ihn. Als Ver­bin­dungs­mann hat­te Safi weit­rei­chen­de Voll­mach­ten, und er war es ge­we­sen, der Ka­rim am Mor­gen an­ge­ru­fen hat­te. Er frag­te sich, warum sein Va­ter und Ka­rim so auf­ge­regt we­gen des al­ten Gra­bes wa­ren. Al­ler­ding gab es vie­le Ge­heim­nis­se, in die ihn die bei­den nicht ein­ge­weiht hat­ten. Viel­leicht war es auch bes­ser so, dach­te er, denn er woll­te nicht zu­rück zu dem Be­dui­nen­le­ben sei­nes Va­ters.

Safi Al-Me­schwesch hat­te sei­ne Woh­nung er­reicht. Er hol­te sich ein Bier aus dem Kühl­schrank und ließ sich in einen Ses­sel fal­len. Un­ter ei­nem genüss­li­chen Seuf­zer rann der ers­te Schluck durch sei­ne Keh­le. Die An­span­nung fiel von ihm ab, und er dach­te an den Abend, als ihn Ka­rim das ers­te Mal mit die­sem Ge­tränk in Be­rüh­rung ge­bracht hat­te.

Safi hat­te sich ge­schüt­telt, denn es er­schi­en ihm zu bit­ter, doch um Al-Kis­met­bahr nicht zu ver­let­zen, trank er die Fla­sche wi­der­wil­lig aus. Sie sa­ßen an ei­nem La­ger­feu­er am Ran­de der Wüs­te, und die Stil­le un­ter dem nächt­li­chen Ster­nen­him­mel hat­te sich be­ru­hi­gend auf sei­ne See­le ge­legt. Im Nach­hi­n­ein war ihm be­wusst ge­wor­den, dass Ka­rim Ort und Zeit mit Be­dacht ge­wählt hat­te. Es half Safi mit vie­lem zu ver­söh­nen und Tü­ren für Kom­pro­mis­se zu öff­nen.

An sei­nem zwei­und­zwan­zigs­ten Ge­burts­tag war Safi Al-Me­schwesch an ei­nem Tief­punkt sei­nes jun­gen Le­bens an­ge­kom­men. Der Kon­flikt mit sei­nem Va­ter, der schon län­ger un­ter der Ober­flä­che gär­te, es­ka­lier­te an die­sem Tag und führ­te zum Bruch mit sei­ner Fa­mi­lie. Doch nicht ge­nug da­mit, auch sei­nem Glau­ben, dem Is­lam, hat­te er ab­ge­schwo­ren. Über­stürzt ver­ließ er al­les, was er kann­te, und such­te sein Glück in der nächst­ge­le­ge­nen Stadt. Was folg­te, war ein Ab­sturz, wie er ihn nie­mals er­war­tet hat­te. Safi war mit­tel­los und zu stolz, an­de­re um Hil­fe zu bit­ten. Er schlug sich mit Ge­le­gen­heits­ar­bei­ten durch, doch da er kei­ner­lei Aus­bil­dung vor­wei­sen konn­te, war der Lohn ge­ring. Als Ka­rim ihn fand, haus­te er mit vier an­de­ren in ei­nem schmut­zi­gen Loch und hat­te kaum das Nö­tigs­te zum Le­ben. Die Ab­leh­nung, mit der er dem Freund sei­nes Va­ters be­geg­ne­te, hät­te je­den an­de­ren ver­trie­ben, doch Al-Kis­met­bahr schi­en es nur zu rei­zen, das Un­mög­li­che zu voll­brin­gen. Mit viel Ge­duld und Fein­ge­fühl ge­lang ihm die Ver­söh­nung von Va­ter und Sohn, aber eine Rück­füh­rung Sa­fis zu Al­lah war ihm nicht ge­glückt. Viel­leicht lag es dar­an, weil Safi bald be­merk­te, dass es auch nicht Ka­rims Glau­be war, doch dar­über mach­te er sich schon lan­ge kei­ne Ge­dan­ken mehr. Er ver­ehr­te mitt­ler­wei­le sei­nen Chef und hoff­te auf eine Freund­schaft, wie sie sein Va­ter mit die­sem pfleg­te. Auch wenn die bei­den Män­ner Ge­heim­nis­se ver­ban­den, in die er lie­ber nicht ein­ge­weiht wer­den woll­te, ging von ih­nen et­was aus, was ihn ma­gisch an­zog. Dar­in lag aber zu­gleich ein Grund für sei­ne Flucht.

Als äl­tes­ter Sohn soll­te er der nächs­te Füh­rer des Fa­mi­li­en­clans wer­den, und sein Va­ter be­ton­te zum wie­der­hol­ten Male, in wel­chem Sin­ne er das zu tun hät­te. Doch die Er­run­gen­schaf­ten der mo­der­nen Epo­che in­ter­es­sier­ten ihn mehr als die al­ten Sit­ten und Ge­bräu­che. Auch dass er dann die Ge­heim­nis­se er­ben wür­de, die das Ge­schlecht der Kis­met­bahr mit den Me­schwesch ver­band, mach­te ihm Angst. Safi wuss­te von den Alb­träu­men, die sei­nen Va­ter ein­mal im Jahr heim­such­ten und ihn schrei­en und wei­nen lie­ßen. Er hat­te ihn am Mor­gen nach ei­ner sol­chen Nacht be­ob­ach­tet und in dem zit­tern­den, ge­beug­ten Mann konn­te er den cha­ris­ma­ti­schen Stam­mes­füh­rer kaum wie­der­er­ken­nen. Als er sei­ne Mut­ter nach dem Grund frag­te, hat­te sie nur ge­sagt: Du wirst es noch früh ge­nug er­fah­ren. Die Trau­er und Hilf­lo­sig­keit in ih­rem Blick hat­te eine Furcht in ihm ge­weckt, die er nie wie­der los­wur­de. Doch dar­über hat­te er mit Ka­rim da­mals nicht ge­spro­chen. Safi hat­te alle Ge­dan­ken dar­an ver­drängt, weil er hoff­te, mit sei­ner Flucht von zu Hau­se die­sem Schick­sal zu ent­rin­nen.

Auf die­sen ers­ten Abend am La­ger­feu­er wa­ren noch vie­le ge­folgt. Manch­mal sa­ßen sie bis zum Mor­gen­grau­en, und Al-Kis­met­bahr sprach mit ihm über den Ge­ne­ra­tio­nen­kon­flikt, den es schon im­mer gab. Er führ­te ihn in die Denk­wei­se der Äl­te­ren ein, die das Er­run­ge­ne er­hal­ten woll­ten. Lenk­te sei­ne Ge­dan­ken auf die Wege, die sein Va­ter ge­gan­gen war, und Safi er­kann­te, dass er sich viel­leicht ähn­lich ver­hal­ten wür­de. Doch Ka­rim dräng­te ihm nichts auf. Er mach­te Pau­sen, in de­nen sie lan­ge Zeit schwei­gend die Flam­men des Feu­ers be­ob­ach­te­ten. Safi konn­te sich selbst fin­den, und er fand Ge­schmack am Bier. Ir­gend­wann war dar­aus ein Ri­tu­al ge­wor­den, das Safi mit dem Fei­er­abend ver­band. Doch mehr als eine oder zwei Fla­schen am Abend trank er nicht. Zum einen wuss­te er, dass sein Chef den Vor­rat, an dem Safi teil­ha­ben durf­te, von Deutsch­land ein­flie­gen ließ, und zum an­de­ren leg­te er kei­nen Wert dar­auf, be­trun­ken zu sein.

Bei die­sen Ge­dan­ken an­ge­kom­men, brach­te Safi die lee­re Fla­sche weg und ging zu Bett. Die nächs­ten Tage wür­den mit viel Ar­beit an­ge­füllt sein, hat­te ihm Al-Kis­met­bahr mit­ge­teilt, und er woll­te ihn un­ter­stüt­zen, so gut er konn­te.

 

Am nächs­ten Tag, kurz nach Son­nen­auf­gang, fuhr Safi mit dem Auto bei Ka­rims An­we­sen vor. Er traf sei­nen Chef und Sa­rah beim Früh­stück und zog sich gleich wie­der dis­kret zu­rück. Nur we­nig spä­ter wur­de er ge­ru­fen und setz­te sich, ein we­nig ner­vös we­gen der An­we­sen­heit der Frau, mit an den Tisch.

Al-Kis­met­bahr mus­ter­te ihn nach­denk­lich und frag­te mit ei­nem Stirn­run­zeln:

»Du weißt, dass wir nach Sak­ka­ra fah­ren und dort auch dei­nen Va­ter tref­fen wer­den?«

Safi war klar, dass er auf sei­ne west­li­che Klei­dung an­spiel­te, doch aus ei­nem ge­wis­sen Trotz he­r­aus hat­te er sich be­wusst so ge­klei­det.

»Ja, der Wa­gen ist voll­ge­tankt, und auch ich bin vor­be­rei­tet auf die Fahrt.«

An sei­nem Ton­fall er­kann­te Ka­rim, dass er ihn nur mit ei­ner An­wei­sung dazu brin­gen konn­te, sich an­ders an­zu­zie­hen, doch das lag nicht in sei­nem Sinn.

»Gut, dann bring bit­te noch ein paar Fla­schen Was­ser in die Kühl­box, wäh­rend wir uns be­reit ma­chen.«

»Ist schon ge­sche­hen. Ich wer­de in der Zwi­schen­zeit den Tisch ab­räu­men.«

Sa­rah war die Span­nung zwi­schen den bei­den nicht ent­gan­gen. Ka­rim über­setz­te aber nichts und sag­te zu ihr:

»Wir wer­den jetzt zu der Be­gräb­nis­stät­te fah­ren und uns dort mit dem Gra­bungs­team so­wie ei­ni­gen Re­gie­rungs­mit­glie­dern tref­fen. Ich habe um Auf­schub der Grab­öff­nung ge­be­ten, was das Team nicht ak­zep­tie­ren will. Es be­ruft sich auf die vor­lie­gen­de Ge­neh­mi­gung, doch ich hof­fe, dass ich alle Par­tei­en zu ei­ner Än­de­rung der Plä­ne be­we­gen kann.«

»Ging es in eu­rem Ge­spräch dar­um?«

Mit hoch­ge­zo­ge­nen Brau­en sah Ka­rim sie an.

»Nein, wie kommst du dar­auf?«

»Der Ton schi­en mir leicht ge­reizt, und ich dach­te des­halb ...«

Mit ei­nem leich­ten Kopf­schüt­teln stieß Ka­rim die Luft durch die Nase aus.

»Nein, das hat an­de­re Grün­de. Mein jun­ger Freund hier wird für Är­ger bei sei­nem Va­ter sor­gen, und ich hat­te ge­hofft, dass er sol­che Pro­vo­ka­tio­nen mitt­ler­wei­le un­ter­lässt«, sag­te er, ohne Safi mer­ken zu las­sen, dass es um ihn ging.

Als Sa­rah den Kopf wen­den woll­te, be­rühr­te Ka­rim sie an der Hand und gab ihr mit den Au­gen ein Zei­chen. Das Auf­leuch­ten in ih­ren Au­gen zeig­te, dass sie ihn ver­stand.

»Das Grab ist am Ran­de der Wüs­te, und es wird sehr warm wer­den. Zieh dir also bit­te et­was Ent­spre­chen­des an«, sag­te er, vom The­ma ab­len­kend.

»Aber wir ha­ben ja noch nichts be­sorgt«, ant­wor­te­te sie stirn­run­zelnd.

»Er ist auch nicht an­ders ge­klei­det, und es sind Eu­ro­pä­er in dem Team. Es wird sich kaum ei­ner dar­an sto­ßen.«

Der Sei­ten­blick auf Safi hat­te ihr ge­zeigt, was Ka­rim stör­te, und nach­denk­lich ging sie in ihr Zim­mer.

Al-Kis­met­bahr war­te­te, ge­klei­det, wie er am Vor­tag an­ge­kom­men war, an der Ein­gangs­tür, und als Sa­rah kam, hell­te sich sein Ge­sicht auf. Sie hat­te eine lan­ge bei­ge­far­be­ne Hose an, die sie bis kurz un­ter die Knie hoch­ge­krem­pelt hat­te. Die wei­ße Blu­se, de­ren wei­te Är­mel fast die El­len­bo­gen be­deck­ten, war bis oben zu­ge­knöpft, und einen eben­falls wei­ßen Schal, den sie sonst als Ac­ces­soire trug, hat­te sie tur­ban­ar­tig um den Kopf ge­schlun­gen.

»Bei der Blu­se kannst du ru­hig einen Knopf öff­nen, und nimm den Schal ab. Wenn wir ir­gend­wo län­ger in der Son­ne ste­hen, kann er nütz­lich sein, da­mit du kei­nen Son­nen­stich be­kommst, doch an die­sem Ort, den auch vie­le Tou­ris­ten auf­su­chen, brauchst du dein Haar nicht zu be­de­cken«, sag­te er mit ei­nem Lä­cheln.

Im Auto fiel Sa­rah zum ers­ten Mal auf, dass sich Safi un­wohl zu füh­len schi­en, wenn sie in sei­ne Nähe kam. Nach­denk­lich, aber dis­kret mus­ter­te sie ihn und frag­te sich, was ihn stör­te. Er schi­en ein mo­der­ner jun­ger Mann zu sein, doch ei­ni­ges an sei­nem Ver­hal­ten gab ihr Rät­sel auf. Als sie merk­te, dass er ih­ren Blick spür­te, wand­te sie sich schnell ab und be­gann ein Ge­spräch mit Ka­rim.

»Kannst du mir jetzt er­klä­ren, was es mit dem Grab auf sich hat? Ich mei­ne, au­ßer das eine Frau dar­in liegt, die dir na­he­stand.«

»Vie­les wird sich selbst er­klä­ren, wenn wir dort sind, und den Rest wer­de ich dir in den nächs­ten Ta­gen er­zäh­len.«

Er strich sich mit der Hand über die Au­gen, und sie wuss­te, dass es schwe­re Ge­dan­ken wa­ren, die ihn be­weg­ten.

»Wie willst du er­rei­chen, dass die Grab­öff­nung auf­ge­scho­ben wird?«

»Das ist nicht das ein­zi­ge Ziel. Ich möch­te auch ver­hin­dern, dass die To­ten­ru­he der Frau ge­stört wird. Und das wird ver­mut­lich das grö­ße­re Pro­blem sein«, ant­wor­te­te er ge­dan­ken­ver­lo­ren.

»Also wie?«, dräng­te sie wei­ter.

»Du wirst da­bei sein, und ich wer­de über­set­zen, was du nicht ver­stehst«, sag­te er ab­wei­send und dreh­te sei­nen Kopf zur Sei­te.

Sa­rah be­ob­ach­te­te ihn wei­ter, denn sie hoff­te, er wür­de mehr preis­ge­ben, doch bald wur­de ihr klar, dass er mit sei­nen Ge­dan­ken al­lein sein woll­te.

 

Sie fuh­ren bis ans süd­li­che Ende von Sak­ka­ra, und als in der Fer­ne Py­ra­mi­den und Grab­hü­gel auf­tauch­ten, be­gann Sa­rah zu ah­nen, dass Un­ge­wöhn­li­ches auf sie zu­kam. Als der Wa­gen in öst­li­che Rich­tung ab­bog und sie in den ver­win­kel­ten Stra­ßen ei­ner grö­ße­ren Ort­schaft die Ori­en­tie­rung ver­lor, be­ru­hig­te sie sich aber wie­der. Doch nur bis sie bei ei­nem Au­to­ver­leih in einen be­reit­ste­hen­den Ge­län­de­wa­gen stie­gen, den Ka­rim dann steu­er­te. Safi hat­te die Kühl­box mit den Was­ser­fla­schen um­ge­la­den, und sie fuh­ren zu­rück in Rich­tung Wüs­te. Am Ran­de des grü­nen Gür­tels, der vom Nil aus­ging, fuh­ren sie auf ei­ner Wüs­ten­stra­ße in nord­west­li­che Rich­tung. Wenn der leich­te Wind die Staub­fah­ne lich­te­te, die ihr Auto auf­wir­bel­te, konn­te sie nörd­lich im Dunst wie­der die Gra­b­an­la­gen se­hen. Sie wa­ren noch nicht sehr weit ge­fah­ren, als Ka­rim in die Wüs­te ein­bog. Sie fuh­ren in die Rich­tung der Py­ra­mi­den, die Sa­rah se­hen konn­te. Fahr­spu­ren zeig­ten, dass sie nicht die Ers­ten wa­ren, die die­sen Weg nah­men, und Sa­rahs Ver­wun­de­rung wur­de im­mer grö­ßer. Die Un­ge­wiss­heit des Be­vor­ste­hen­den mach­te ihr zu schaf­fen, doch Ka­rim hat­te eine Mau­er des Schwei­gens um sich ge­zo­gen, und Safi hat­te bis­her nur ara­bisch ge­spro­chen.

Die Fahr­spu­ren vor ih­nen hat­ten die Rich­tung er­neut ge­wech­selt und führ­ten jetzt ge­nau nach Nor­den. Die im Dunst ver­fal­len wir­ken­de Py­ra­mi­de, die sie zu­erst ge­se­hen hat­te, lag mitt­ler­wei­le hin­ter ih­nen. Nord­öst­lich kam eine grö­ße­re Py­ra­mi­de in Sicht, aber Ka­rim fuhr jetzt nach Wes­ten auf eine klei­ne Fels­for­ma­ti­on zu. Der Gra­bungs­schutt, der zu bei­den Sei­ten der Fahr­spur auf­ge­wor­fen war, zeig­te, dass vor nicht all­zu lan­ger Zeit auch hier eine Grab­su­che statt­ge­fun­den hat­te. Kurz be­vor sie den Fel­sen, der aus dem Wüs­ten­sand rag­te, er­reicht hat­ten, wur­den sie an ei­ner Ab­sper­rung ge­stoppt.

Die Wach­mann­schaft, die den Gra­bungs­be­reich vor Neu­gie­ri­gen ab­si­cher­te, woll­te sie nicht pas­sie­ren las­sen. Al-Kis­met­bahr zück­te schon sein Han­dy, um einen klä­ren­den An­ruf zu tä­ti­gen, als ein wei­te­rer Wa­gen ne­ben ih­nen stopp­te, aus dem drei für den Ort un­pas­send ele­gant ge­klei­de­te Män­ner aus­stie­gen. Zu­min­dest einen von ih­nen schi­en Al-Kis­met­bahr per­sön­lich zu ken­nen, denn die Be­grü­ßung war sehr herz­lich. Ein an­de­rer wies sich bei den Wa­chen als Re­gie­rungs­be­am­ter aus, der für die Gra­bungs­ge­neh­mi­gun­gen zu­stän­dig war, wor­auf­hin ih­nen der Zu­gang ge­stat­tet wur­de.