Traum oder wahres Leben: Gifuto - Das Geschenk - Joachim R. Steudel - E-Book
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Traum oder wahres Leben: Gifuto - Das Geschenk E-Book

Joachim R. Steudel

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Beschreibung

Die Welt der Samurai ist zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts im Umbruch. Viele verlieren den Sinn ihres Lebens, denn die Zeit der großen Kriege ist vorbei. Der Daimyo, Date Masamune, in seinen jungen Jahren ein erbarmungsloser, machtbesessener Samurai, passt sich an. Er erkennt, dass nun die Diplomatie am Zuge ist, und behauptet sich in dieser Kunst genauso gut wie auf dem Schlachtfeld. Günter Kaufmann, ein unter mysteriösen Umständen im chinesischen Shaolin-Kloster gestrandeter Deutscher, wird zu seinem Hatamoto, und lernt Kazuko, eine außergewöhnliche junge Frau, kennen. Das Glück scheint ihm endlich gewogen, doch Licht und Schatten liegen dicht beieinander. Wieder steht ein Wandel an. Der Protagonist wechselt in ein Umfeld von Kriegern, die nach außen hin nur Härte zeigen. Der Wunsch sich einzugliedern führt, von ihm unbemerkt, zur Änderung seines Wesens. Doch auch hier findet er wieder Freunde und Mentoren. Auch sie verhelfen ihm wieder zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Eine junge Frau, durch einen Kindheitsunfall leicht gehbehindert, tritt in sein Leben. Trotz, oder wegen ihrer Behinderung, wirkt sie stark, selbstbewusst und übernimmt auch oft die Führung. Tiefe Gefühle werden sein neuer Begleiter. Zweite Ausgabe mit neuem Cover und Beseitigung kleinerer Fehler im Text.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Joa­chim R. Steu­del

 

 

Traum oder wah­res Le­ben

 

 

Gi­fu­to - Das Ge­schenk

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In­halts­ver­zeich­nis

Ti­tel

Das Wie­der­se­hen

Nach dem Kampf

Das An­ge­bot

Fehl­ver­hal­ten mit Fol­gen

Nin­ja und Ka­zu­ko

Der Schmied

In­for­ma­tio­nen

Ge­fahr

Wech­sel­bad der Ge­füh­le

Zwei von vier Ta­gen

Gast­mahl und Heil­ver­such

Der Auf­trag des Dai­myo

Kampf und Ge­sprä­che

Feu­er in Ban­dai

Kin­der­wunsch und Ab­schied von Sen­dai

Die neue Hei­mat, Dau­er­re­gen und Ro­nin

Zeit der Trau­er

Glossar und Nach­be­mer­kung

Buch­lis­te

Impressum

Das Wie­der­se­hen

 

 

Schon seit ge­rau­mer Zeit lief die jun­ge Frau su­chend durch Lau­scha. Sie hat­te fast den gan­zen Ort durch­wan­dert und auf Grund der Ge­birgs­la­ge ei­ni­ge Stra­ßen auch mehr­fach er­kun­det. Nun lief sie zum zwei­ten Mal an die­ser Stra­ßen­bau­stel­le vor­bei, und die Män­ner dort blick­ten sie wie­der mit un­ver­hoh­le­ner Neu­gier an. So­fort stell­te sich bei ihr die­ses un­gu­te Ge­fühl ein. Sie fühl­te sich durch­schaut, er­kannt und er­nied­rigt.

Nur schnell vor­bei, dach­te sie, doch das soll­te ihr nicht ge­lin­gen. Ei­ner der Bau­ar­bei­ter steu­er­te di­rekt auf sie zu.

Nach­dem er sich mehr­fach be­wun­dernd über die jun­ge Frau ge­äu­ßert hat­te, wur­de er von sei­nen Kol­le­gen so lan­ge an­ge­sta­chelt, bis er al­len Mut zu­sam­men­nahm und auf sie zu­ging. Sie be­merk­te das und such­te ver­zwei­felt nach ei­nem Aus­weg. Am liebs­ten wäre sie im Erd­bo­den ver­sun­ken oder um­ge­kehrt, doch dazu war es be­reits zu spät.

»Hal­lo, Sie se­hen so su­chend aus, kann ich Ih­nen hel­fen?«

Oh, der scheint ja recht freund­lich und nicht nur auf eine dum­me An­ma­che aus zu sein, stell­te sie er­leich­tert fest.

»Ja, viel­leicht. Ich su­che das Haus ei­nes Be­kann­ten und habe dum­mer­wei­se sei­ne Ad­res­se nicht auf­ge­schrie­ben«, ant­wor­te­te sie aus­wei­chend.

»Wie heißt denn ihr Be­kann­ter? Lau­scha ist über­schau­bar, viel­leicht ken­ne ich ihn ja.«

Ihr Ge­sicht hell­te sich auf.

»Gün­ter Kauf­mann heißt er, und nach den Bil­dern, die er mir ge­zeigt hat, wohnt er in ei­nem re­la­tiv neu­en Ein­fa­mi­li­en­haus. Er hat vor et­was mehr als ei­nem Jahr sei­ne ge­sam­te Fa­mi­lie bei ei­nem schwe­ren Ver­kehrs­un­fall ver­lo­ren.«

Das Ge­sicht des Bau­ar­bei­ters ver­än­der­te sich schlag­ar­tig und mit ei­nem trau­ri­gen Blick deu­te­te er nach rechts den Hang hi­n­auf.

»Dort oben, hin­ter den zwei grö­ße­ren Häu­sern, ist eine schma­le Zu­fahrts­s­tra­ße, an der meh­re­re neue Ein­fa­mi­li­en­häu­ser ste­hen. Das vor­letz­te ge­hört Herrn Kauf­mann. Wenn Sie hier vorn rechts ein­bie­gen, sich an der nächs­ten Kreu­zung links hal­ten und an­schlie­ßend im­mer wie­der rechts ab­bie­gen, kön­nen Sie es nicht ver­feh­len.«

»Dan­ke!«, sag­te sie hoch­er­freut und woll­te sich auf den Weg ma­chen, doch der Bau­ar­bei­ter hielt sie noch ein­mal auf.

»War­ten Sie! Et­was muss ich Ih­nen noch sa­gen! Ich weiß nicht, wann und wo Sie Herrn Kauf­mann zum letz­ten Mal ge­se­hen ha­ben, doch seit dem Un­fall hat er sich sehr ver­än­dert. Ich woh­ne ganz in der Nähe, und wir ha­ben uns frü­her manch­mal ge­trof­fen, aber nach dem Tod sei­ner Fa­mi­lie war er nicht mehr der­sel­be. Erst war er to­tal am Bo­den und nur noch ein Schat­ten sei­ner selbst. Er hat sein Ge­schäft ver­nach­läs­sigt, und vie­le ha­ben schon be­fürch­tet, dass es den Bach run­ter­geht. Manch­mal ist er, ohne zu sa­gen wo­hin, ein­fach ver­schwun­den und Tage spä­ter erst wie­der auf­ge­taucht. Dann hat er ohne ir­gend­ei­ne Be­grün­dung sein Ge­schäft plötz­lich ab­ge­ge­ben. Man mun­kelt, er hät­te so eine Art Ak­ti­en­fonds ein­ge­rich­tet und die­sen un­ter sei­nen An­ge­stell­ten auf­ge­teilt. Die fä­higs­ten von ih­nen hat er zur Lei­tung der Fir­ma be­stimmt und ih­nen alle wei­te­ren Ent­schei­dun­gen über­las­sen. Er soll zwar bei Fra­gen und Pro­ble­men im­mer noch zur Ver­fü­gung ste­hen, aber an­sons­ten küm­mert er sich nicht mehr um das Ge­schäft.«

Er hol­te tief Luft und schüt­tel­te den Kopf.

»Ich sehe ihn noch ab und zu, doch ich habe das Ge­fühl, dass er jetzt ein ganz an­de­rer Mensch ist. Er mei­det den Kon­takt mit an­de­ren und sucht die Ein­sam­keit. Manch­mal habe ich ihn in den Ber­gen stun­den­lang still an ei­nem Fleck sit­zen se­hen, und er schi­en nichts um sich he­r­um wahr­zu­neh­men. Ir­gend­wie ist er sehr selt­sam ge­wor­den. Also wenn Sie ihn von frü­her her ken­nen, dann soll­ten Sie kei­nen über­schwäng­li­chen Emp­fang er­war­ten.«

Sie lä­chel­te ihn an und sag­te:

»Dan­ke für den Tipp, aber ich den­ke, er wird mich schon er­war­ten. Wir ha­ben uns erst vor ei­ni­gen Ta­gen zu­fäl­lig ge­trof­fen und hat­ten ein lan­ges und in­ter­essan­tes Ge­spräch. Also noch­mals dan­ke für al­les und: Auf Wie­der­se­hen!«

Mit die­sen Wor­ten wen­de­te sie sich ab und folg­te dem be­schrie­be­nen Weg.

Ihr nach­denk­lich nach­schau­end, ging der Bau­ar­bei­ter zu­rück zu sei­nen Kol­le­gen, und die­se emp­fin­gen ihn mit neu­gie­ri­gen Wor­ten:

»Eh, das war ja an­schei­nend eine sehr er­folg­rei­che An­ma­che! Du hast ihr wohl gleich den Weg zu dir nach Hau­se be­schrie­ben?«

»Quatsch­kopp, seh ich so aus, als ob so ne Frau auf mich flie­gen wür­de!? Ne, sie woll­te wis­sen, wo der Kauf­mann wohnt. Kennt ihn ir­gend­wo­her und will ihn be­su­chen.«

»Na, dann viel Spaß! Der lässt sich doch auf kein Ge­spräch mehr ein.«

»Glaub ich nicht! Sie scheint ihn erst vor kur­zem ge­trof­fen zu ha­ben. Auf alle Fäl­le kennt sie ihn recht gut, denn nichts von dem, was ich über ihn ge­sagt habe, hat sie wirk­lich über­rascht.«

»Viel­leicht ist das ja so ne Psy­cho-Tan­te, die ihn wie­der auf die Rei­he krie­gen will«, sag­te ein Drit­ter und schau­te ihr noch ein­mal hin­ter­her.

In die­sem Au­gen­blick bog die jun­ge Frau in die Sei­ten­stra­ße ein und ent­schwand ih­ren Bli­cken. Zü­gig schritt sie den be­schrie­be­nen Weg ent­lang, und als sie die Zu­fahrts­s­tra­ße er­reich­te, be­schlich sie das Ge­fühl, die­ses Bild schon ein­mal ge­se­hen zu ha­ben. Sie dach­te einen Au­gen­blick nach und er­in­ner­te sich an Bil­der aus der Ge­schich­te des Man­nes, den sie such­te. Nun brauch­te sie die Be­schrei­bung des Bau­ar­bei­ters nicht mehr. Schnell und si­cher streb­te sie dem Haus zu und er­kann­te es so­fort wie­der. Ein Blick auf die Klin­gel, und sie wuss­te, sie war rich­tig.

Sie hol­te tief Luft, drück­te auf den Klin­gel­knopf und schau­te er­war­tungs­voll zur Haus­tür. Doch nichts be­weg­te sich, kein Ge­räusch war zu hö­ren, und nie­mand war zu se­hen. Noch zwei­mal wie­der­hol­te sie die­sen Ver­such, dann war ihr klar, es war nie­mand zu Hau­se.

Was nun? Soll­te sie um­keh­ren und ein an­de­res Mal wie­der­kom­men? Aber da wä­ren die Chan­cen auch nicht bes­ser. Ge­nau­so gut konn­te sie war­ten, viel­leicht war er ja nur kurz weg­ge­gan­gen und kam bald zu­rück. Sie schau­te sich um und stell­te fest, dass das Haus in ei­ner sehr schö­nen Lage stand. Nicht weit hin­ter dem Haus be­gann der Wald, der sich über den ge­sam­ten rest­li­chen Hang bis zum Gip­fel des Ber­ges hin­zog. Nur noch ein Haus folg­te, und dann en­de­te die Stra­ße in ei­ner sanft ab­fal­len­den Wie­se. Die­ser streb­te sie nun zu. Das Gras war noch nicht lan­ge ge­mäht, und die jun­gen fri­schen Spit­zen ver­lie­hen der Wie­se eine saf­tig grü­ne Far­be. Nach­denk­lich setz­te sie sich und schau­te ins Tal.

Eine an­ge­neh­me Ruhe um­gab sie. Nur Vo­gel­stim­men und der leich­te Wind, der mit den Blät­tern der Bäu­me spiel­te, wa­ren zu hö­ren. Erst wenn man sich sehr an­streng­te, konn­te man die Ge­räusche aus der im Tal lie­gen­den Stadt wahr­neh­men. Die­se wirk­ten je­doch nicht stö­rend, im Ge­gen­teil, sie wa­ren lei­se und nah­men ei­nem das Ge­fühl der Ein­sam­keit.

Lang­sam wan­der­te ihr Blick über die schö­ne Land­schaft, und es dau­er­te nicht lan­ge, bis sie sich in die­sen Ort ver­liebt hat­te. Träu­me­risch schau­te sie von ei­nem Fleck zum an­de­ren, doch nach ei­ni­ger Zeit nahm sie nichts mehr da­von wahr. In ih­ren Ge­dan­ken tauch­ten Bil­der der Ge­schich­te auf, die sie hier­her ge­führt hat­te.

Sie konn­te nicht sa­gen, wie lan­ge sie so ge­ses­sen hat­te, als hin­ter ihr eine wohl­be­kann­te Stim­me er­tön­te.

»Wenn Sie kei­nen Son­nen­brand ha­ben wol­len, soll­ten Sie nicht so in der pral­len Son­ne sit­zen.«

Sie fuhr he­r­um und schau­te in das freund­li­che Ge­sicht des Man­nes, den Sie ge­sucht hat­te.

»Hal­lo!«, sag­te sie und stand auf. »Ich den­ke, Sie wer­den mich er­war­tet ha­ben, und ich möch­te ger­ne er­fah­ren, wie die­se Ge­schich­te aus­ge­gan­gen ist.«

Schmun­zelnd sah er sie an.

»Naja, sa­gen wir, ich habe ge­hofft, dass Sie nicht tun, was Sie auf die­sen Berg ge­führt hat­te, und wenn Sie es möch­ten, dann wer­de ich Ih­nen auch den Rest der Ge­schich­te er­zäh­len. Aber eins soll­ten Sie wis­sen. Es könn­te län­ger dau­ern.«

»Das hab ich mir schon ge­dacht, doch die Bil­der die­ser Ge­schich­te las­sen mich nicht mehr los, und ich den­ke auch, dass es nicht nur eine Ge­schich­te ist, son­dern ein ge­leb­tes Le­ben. Ich weiß zwar nicht, wie das mög­lich ist, doch viel­leicht wer­de ich es ja noch er­fah­ren.«

»Na, dann kom­men Sie mal mit. Wir kön­nen uns auf die Ter­ras­se hin­term Haus set­zen, dort ist es jetzt et­was schat­tig, und das dürf­te Ih­rer Haut gut­tun.«

Sie sah sich ihre schon leicht ge­röte­ten Arme an und stimm­te dank­bar zu. Auf dem Weg zum Haus mus­ter­te sie ihn prü­fend. Das Bild, das sie von ihm hat­te, und sei­ne Aus­strah­lung pass­ten so gar nicht zu dem, was der Bau­ar­bei­ter über ihn ge­äu­ßert hat­te. Doch wahr­schein­lich ist das so, wenn sich ein Mensch ge­än­dert hat und nicht mehr in die Scha­blo­ne passt, die man an­legt. Nur Au­ßen­ste­hen­de konn­ten sein neu­es und wah­res Ich er­ken­nen, alle an­de­ren hiel­ten ihn für über­ge­schnappt oder bes­ten­falls von den tra­gi­schen Er­eig­nis­sen ge­zeich­net.

Sie be­tra­ten den klei­nen Vor­gar­ten, und er führ­te sie um das Haus he­r­um zu der schön an­ge­leg­ten Ter­ras­se. Dort bat er sie, auf der Hol­ly­wood­schau­kel Platz zu neh­men, und rück­te einen klei­nen Tisch he­r­an. An­schlie­ßend schloss er die Tür auf, die von der Ter­ras­se ins Wohn­zim­mer führ­te. Von da ging er in die Kü­che, um Glä­ser und et­was zum Trin­ken zu ho­len.

»Was möch­ten Sie trin­ken? Ich habe gut ge­kühl­ten Ap­fel­saft, Oran­gen­li­mo­na­de und ein­fa­chen Spru­del«, rief er aus dem Haus he­r­aus.

»Viel­leicht den Ap­fel­saft. Oder war­ten Sie, brin­gen Sie den Spru­del doch mit. Mit Was­ser ver­dünn­ten Ap­fel­saft trink ich ei­gent­lich sehr ger­ne.«

Mit den bei­den Fla­schen und zwei Glä­sern in der Hand kam er wie­der he­r­aus. Nach­dem er ihr ein­ge­gos­sen hat­te, zog er einen Gar­ten­stuhl he­r­an und setz­te sich ihr ge­gen­über hin. Lan­ge und ein­dring­lich schau­te er sie an.

Selt­sa­mer­wei­se emp­fand sie die­sen Blick nicht als un­an­ge­nehm, son­dern es wur­de ihr da­bei rich­tig warm ums Herz. Sie hielt sei­nem Blick lan­ge stand, und erst als er sie an­sprach, griff sie zum Glas und trank in tie­fen Zü­gen.

»Was hat Ihre Mei­nung ge­än­dert? Was hat Sie be­wo­gen, doch das Le­ben zu wäh­len?«

»Ich kann es Ih­nen nicht ge­nau sa­gen! Zum einen si­cher­lich die Neu­gier­de, denn ich möch­te zu ger­ne wis­sen, wie die Ge­schich­te wei­ter­geht.«

Sie mach­te eine Pau­se und dach­te an­ge­strengt nach, doch als sie eine Wei­le spä­ter im­mer noch nicht fort­fuhr, frag­te er:

»Und zum an­de­ren?«

Ruck­ar­tig blick­te sie von dem Glas hoch, das sie an­ge­strengt fi­xiert hat­te.

»Ja, und zum an­de­ren hat mich ei­ni­ges nach­denk­lich ge­macht. Das, was Sie mir er­zählt ha­ben, oder bes­ser ge­sagt, was ich mit Ih­nen er­lebt habe, hat mich sehr be­schäf­tigt. Jetzt fra­ge ich mich, ob ich das Recht habe, ein­fach so aus mei­nem Le­ben zu flüch­ten. Viel­leicht kann ich die­sem ja ein neu­es Ziel ge­ben, einen neu­en Weg fin­den, um ein sinn­vol­les und er­füll­tes Le­ben zu füh­ren.«

Sie hol­te tief Luft, schüt­tel­te den Kopf und sah ihm in die Au­gen.

»Ich weiß es nicht. Doch ich möch­te ger­ne mehr hö­ren von Ih­rer Ge­schich­te. Sie ha­ben bei un­se­rem ers­ten Tref­fen so plötz­lich ab­ge­bro­chen und sind dann so schnell ver­schwun­den. Warum? Was hat Sie dazu ver­an­lasst?«

Nun war er es, der tief Luft hol­te und über­leg­te. Was und wie viel durf­te er ihr er­zäh­len? Schließ­lich schüt­tel­te er den Kopf und sag­te, sie da­bei an­lä­chelnd:

»Das ist schwie­rig zu er­klä­ren, aber ich mer­ke, dass ich das, was ich ein­mal be­gon­nen habe, auch ir­gend­wie zu Ende füh­ren muss. Ich hof­fe, Sie ha­ben ge­nü­gend Zeit mit­ge­bracht!?«

»Ja, na­tür­lich! Nur des­halb bin ich hier.«

»Gut, dann wür­de ich vor­schla­gen, wir las­sen das mit dem Sie sein, denn Sie, oder bes­ser ge­sagt, du tauchst so tief in mei­ne Welt ein und er­fährst so vie­le in­ti­me, per­sön­li­che Din­ge, dass es schon ein we­nig selt­sam klingt, wenn wir uns wei­ter sie­zen.«

»Ja doch! Ger­ne! Ich hei­ße Sa­rah, Sa­rah Lieb­herr, und wie soll ich dich nen­nen? Gün­ter Kauf­mann, Gü Mann, Xu Shen Po oder viel­leicht noch an­ders?«

»He, du kannst ja so­gar sar­kas­tisch sein!«, sag­te er mit ei­nem kur­zen Auf­la­chen. »Doch Spaß bei­sei­te, ich bin Gün­ter Kauf­mann, denn das ist der Name, den ich bei mei­ner Ge­burt er­hal­ten habe, al­les an­de­re war nur zweck­be­dingt und spielt kei­ne Rol­le im Jetzt und Hier.«

»Also Gün­ter, warum bist du letz­tens so schnell ver­schwun­den?«

»Du hast ja Leu­te ge­trof­fen, als du zu dei­nem Auto ge­lau­fen bist, und hast si­cher­lich auch ge­merkt, dass mit mir und um mich man­ches an­ders ist als bei an­de­ren.«

Sie nick­te und sah ihn ge­spannt an.

»Nun ja, es wa­ren zwar an­de­re Leu­te, als ich be­fürch­tet hat­te, aber auch sol­che kön­nen von dem, was sie ge­se­hen und ge­hört ha­ben, be­rich­ten. Durch die welt­wei­te Ver­net­zung und durch den pro­blem­lo­sen Zu­gang zu be­stimm­ten Me­di­en ge­langt eine Nach­richt dann sehr schnell von ei­nem zum an­de­ren. Es ist also bloß eine Fra­ge der Zeit, bis be­stimm­te Men­schen da­von er­fah­ren. In­zwi­schen ha­ben sich Grup­pen ge­bil­det, die je­dem un­ge­wöhn­li­chen Er­eig­nis nach­spü­ren, es aus­wer­ten, sich Mei­nun­gen dazu bil­den und dann ei­ner brei­ten Mas­se zu­gäng­lich ma­chen.«

Er lehn­te sich zu­rück und schloss kurz die Au­gen.

»Nun, stell dir vor, die­se Men­schen wür­den von mei­ner Ge­schich­te er­fah­ren. Was wür­de wohl ge­sche­hen? Wo könn­te ich noch in Frie­den le­ben, ohne dass mir stän­dig je­mand an den Fer­sen klebt? Und au­ßer­dem ...«

Mit ei­nem Ruck rich­te­te er sich wie­der auf und öff­ne­te die Au­gen. »Au­ßer­dem könn­te es ja auch nur ein Traum sein.«

Sie schüt­tel­te den Kopf, deu­te­te auf sei­ne lin­ke Brust und sag­te:

»Das glaub ich nicht! Dazu hab ich die­se Ge­schich­te viel zu deut­lich er­lebt und nicht nur ge­hört. Und da, auf dei­ner lin­ken Brust, dass könn­te die Nar­be sein, die von dem Trai­nings­un­fall in Wu­dang stammt.«

Auf Grund des war­men Som­mer­ta­ges hat­te er das Hemd weit auf­ge­knöpft, und nun war es im Sit­zen ver­rutscht. Da­durch war der Blick auf die pflau­men­große Nar­be, die auf sei­ner lin­ken Brust prang­te, frei ge­wor­den. Er schau­te hi­n­un­ter und knöpf­te lä­chelnd sein Hemd wei­ter zu.

»Gut auf­ge­passt! Aber es könn­te auch an­ders sein, und die Nar­be hat viel­leicht einen ganz an­de­ren Hin­ter­grund. Doch das spielt jetzt kei­ne Rol­le! Du sollst selbst fest­le­gen, was du glau­ben willst und was nicht. Ich den­ke, jede Ge­schich­te und je­des Le­ben ist es wert, dass man ge­nau­er dar­über nach­denkt. Viel­leicht kann man ja ei­ni­ges dar­aus ler­nen, für sich ver­wer­ten und mit die­sen Er­fah­run­gen et­was bes­ser ma­chen. Vie­les von dem, was das Le­ben und die Mensch­heit ver­än­dert hat, baut auf sol­chen Er­fah­run­gen auf.«

»Ich weiß, das hab ich schon bei den Ge­sprä­chen er­kannt, die du mit Han Li­ang Tian und Ti­ang Li Yang ge­führt hast. Was ist ei­gent­lich aus dei­nen chi­ne­si­schen Freun­den ge­wor­den? Du hast bei un­se­rem Ab­schied an­ge­deu­tet, dass du Chi­na dann ver­las­sen hast.«

»Ja, das war auch so, und von mei­nen Freun­den, die ich in die­ser Zeit ge­won­nen hat­te, habe ich bis auf Lei Cheng kei­nen mehr zu Ge­sicht be­kom­men. Doch das war viel, viel spä­ter und ein sehr großer Zu­fall. Aber die­se Ge­schich­te wer­de ich viel­leicht ein an­de­res Mal er­zäh­len. Jetzt möch­te ich erst ein­mal dort fort­fah­ren, wo wir bei un­se­rem letz­ten Tref­fen un­ter­bro­chen wur­den.«

Er beug­te sich vor und leg­te sei­ne Hand auf den Tisch.

»Gib mir dei­ne Hand, Sa­rah. Du weißt, dass du die Ge­schich­te so bes­ser er­le­ben kannst, und es ist auch ein­fa­cher für mich.“

Sie leg­te Ihre Hand in die sei­ne und schloss die Au­gen. Jetzt hat­te sie kei­ne Angst mehr da­vor, sich so zu er­ge­ben und fal­len zu las­sen. Beim ers­ten Mal war es eine neue be­ängs­ti­gen­de Er­fah­rung ge­we­sen, doch nun war­te­te sie mit Span­nung dar­auf, wie­der in die­se Ge­schich­te ein­zu­tau­chen.

Kaum hat­te sie ihre Hand in die sei­ne ge­legt, spür­te sie wie­der die­se Ruhe und Kraft, die sie durch­ström­te. Al­les um sie he­r­um ver­blass­te, und die Bil­der der letz­ten Er­eig­nis­se stie­gen in ihr auf, wäh­rend sie die er­klä­ren­den Ge­dan­ken von ihm wahr­nahm.

 

 

 

Nach dem Kampf

 

 

»Nach­dem wir die ja­pa­ni­sche Ge­sandt­schaft aus ih­rer ge­fähr­li­chen Lage be­freit hat­ten, habe ich mich an dem klei­nen Fluss ge­rei­nigt. Wang Lees Ver­su­che, mich zu be­ru­hi­gen, hat­ten nicht wirk­lich Er­folg. Es war für mich das ers­te Mal ge­we­sen, dass ich an ei­nem Kampf teil­ge­nom­men hat­te, bei dem Men­schen zu Tode ka­men. Mei­ne Ge­dan­ken kreis­ten dar­um, ob ich das Recht ge­habt hat­te, hier ein­zu­grei­fen. Nur der Um­stand, dass im an­de­ren Fall die Ja­pa­ner ver­mut­lich um­ge­kom­men wä­ren, be­ru­hig­te mich ein we­nig. Den­noch soll­te mich die­ses Ge­sche­hen noch lan­ge be­schäf­ti­gen.

Aber vor­erst hat­te ich kei­ne Zeit, mich die­sen Ge­dan­ken wei­ter hin­zu­ge­ben. Der ja­pa­ni­sche Fürst kam mit sei­nem Ge­folgs­mann auf mich zu. Als sie uns er­reicht hat­ten, neig­ten sie leicht den Kopf, und der Ge­folgs­mann des Dai­myo sprach mich an. Sein Chi­ne­sisch war ein we­nig ge­bro­chen, aber gut ver­ständ­lich.

›Fürst Date Ma­sa­mu­ne möch­te sich bei Ih­nen für Ihr hilf­rei­ches Ein­grei­fen be­dan­ken! Wir ste­hen tief in Ih­rer Schuld, und un­se­re Dank­bar­keit kann Ih­nen ge­wiss sein.‹

Die rech­te Hand senk­recht vor die Brust hal­tend, neig­te ich eben­falls den Kopf und grüß­te zu­rück.

›Je­der, der in Be­dräng­nis ge­rät, kann mei­ner Hil­fe ge­wiss sein, doch ich habe nichts ge­tan, was nicht auch alle an­de­ren Brü­der aus Shao­lin tun wür­den.‹

›Ja, wir ha­ben ge­merkt, dass das, was der Abt uns vor­spie­len ließ, nicht der Wahr­heit ent­spricht. Ihr seid große Kämp­fer und habt ein star­kes Chi. Ich habe auch be­merkt, dass schon die Kraft Eu­res Chi star­ke Krie­ger dazu brin­gen kann, ihre Schwer­ter zu sen­ken‹, sag­te er mit ei­nem hin­ter­grün­di­gen Lä­cheln.

Ich wuss­te, dass er auf den Zu­sam­men­sto­ss, den Wang Lee und ich mit zwei sei­ner Män­ner ge­habt hat­ten, an­spiel­te. Doch dar­auf woll­te ich nicht ein­ge­hen, und glück­li­cher­wei­se rich­te­te nun der Dai­myo sein Wort an mich. Da die­ser aber nicht Chi­ne­sisch sprach, muss­te sein Ge­folgs­mann über­set­zen.

›Fürst Date Ma­sa­mu­ne möch­te wis­sen, wie es kommt, dass ihr uns ge­folgt seid, und wer die­se An­grei­fer wa­ren!?‹

›Wer die­se An­grei­fer wa­ren, kann ich auch noch nicht sa­gen, doch wir wer­den ver­su­chen, es he­r­aus­zu­be­kom­men. Und dass wir hier­her ka­men, war ei­gent­lich Zu­fall. Ich woll­te eine län­ge­re Rei­se an­tre­ten, und mei­ne Freun­de ha­ben mich bis Deng­feng be­glei­tet. Als wir dort er­fuh­ren, dass Sie nicht durch die­sen Ort ge­kom­men wa­ren, war uns klar, dass et­was nicht stimm­te. Die­ser Weg hier ist der ein­zi­ge, den Sie noch neh­men konn­ten, doch er ist be­schwer­lich, man kommt nicht schnel­ler ans Ziel, und nur we­ni­ge ken­nen ihn. Als uns das be­wusst wur­de, ver­stärk­te sich mein un­gu­tes Ge­fühl, und wir be­eil­ten uns, Sie zu er­rei­chen. Auf hal­bem Weg fan­den wir dann einen Ih­rer ver­wun­de­ten Sol­da­ten, der Hil­fe ho­len woll­te, aber nicht wei­ter­kam.‹

Beim letz­ten Satz hat­te der Sa­mu­rai auf­ge­horcht und ließ sich den Sol­da­ten ge­nau be­schrei­ben. Er nick­te ver­ste­hend und über­setz­te das bis­her Ge­hör­te dem Dai­myo. Un­ge­dul­dig for­der­te mich die­ser durch den Über­set­zer auf wei­ter­zu­er­zäh­len. Ich ver­stand dies nicht ganz, kam aber schul­ter­zu­ckend sei­ner Auf­for­de­rung nach.

›Nun, da gibt es nicht mehr viel zu er­zäh­len. Aus den Ges­ten und dem Zu­stand des Sol­da­ten schloss ich, dass es einen Über­fall ge­ge­ben hat­te und dass Ihre Grup­pe drin­gend Hil­fe brauch­te. Ei­ner mei­ner Freun­de blieb zu­rück, um sich um den Ver­wun­de­ten zu küm­mern, und wir an­de­ren be­eil­ten uns, Sie zu er­rei­chen. Tja, den Rest ha­ben Sie ja mit­be­kom­men.‹

›Der Ver­wun­de­te, wie geht es ihm?‹, frag­te der Sa­mu­rai un­ge­dul­dig.

Ver­wun­dert über so viel An­teil­nah­me an ei­nem ein­fa­chen Sol­da­ten sah ich ihm und dem Dai­myo in die Au­gen. Sie schie­nen bei­de sehr be­sorgt um das Le­ben die­ses Man­nes zu sein, und ich kam ih­rem Wunsch nach:

›Er ist ein tap­fe­rer Mann und ob­wohl er so schwer ver­letzt ist, dass er sich nicht auf­rich­ten konn­te, blick­te ich erst ein­mal in sein Schwert. Ich den­ke, bei gu­ter Pfle­ge, und wir ha­ben im Klos­ter sehr gute Wund­hei­ler, wird er wie­der völ­lig ge­ne­sen. Es wird zwar et­was dau­ern, doch er wird sei­nen Dienst bei Ih­nen wie­der auf­neh­men kön­nen.‹

Der Sa­mu­rai be­eil­te sich, das Ge­hör­te sei­nem Fürs­ten zu über­set­zen, und die­ser schi­en sicht­lich er­leich­tert. Wie­der ver­neig­te er sich vor mir und rich­te­te ei­ni­ge Wor­te an mich. Mit ei­nem freund­li­chen Lä­cheln über­setz­te sie sein Ge­folgs­mann:

›Der Fürst ist Ih­nen nun noch mehr ver­pflich­tet, denn es ist sein Sohn, den Sie da ge­fun­den ha­ben. Er ist Ih­nen auch sehr dank­bar, dass gleich ei­ner Ih­rer Freun­de bei ihm ge­blie­ben ist, um ihn zu pfle­gen.‹

Ich war sehr er­staunt. Die­ser jun­ge Mann hat­te nicht den Ein­druck ei­ner hö­her­ge­stell­ten Per­son er­weckt. Er war im­mer mit den ein­fa­chen Sol­da­ten un­ter­wegs und im Klos­ter auch so un­ter­ge­bracht ge­we­sen. Sein Auf­tre­ten und sei­ne Be­hand­lung durch die an­de­ren hat­ten im­mer auf einen un­ter­ge­ord­ne­ten Sol­da­ten hin­ge­deu­tet. Der Grund da­für in­ter­es­sier­te mich sehr, und ich woll­te mich schon da­nach er­kun­di­gen. Doch ir­gend­wie hat­te ich das Ge­fühl, dass das jetzt nicht an­ge­bracht wäre. Des­halb beließ ich es vor­erst da­bei und sag­te in der Hoff­nung, spä­ter mehr zu er­fah­ren:

›Es gibt kei­nen Grund für be­son­de­re Dank­bar­keit, denn wie ich schon sag­te, je­der, der in Not ist, kann auf un­se­re Hil­fe zäh­len.‹

Die bei­den ver­neig­ten sich noch ein­mal ach­tungs­voll vor uns, und dann be­ga­ben wir uns zu den Ver­wun­de­ten. Chen Shi Mal war schon bei ih­nen und schau­te sich die Ver­let­zun­gen der Über­le­ben­den an. Au­ßer dem Dai­myo und dem Sa­mu­rai, der als Über­set­zer auf­trat, hat­ten nur noch zwei mit re­la­tiv ge­ring­fü­gi­gen Ver­let­zun­gen über­lebt. Die­se be­durf­ten un­se­rer Hil­fe nicht, und wir küm­mer­ten uns um die fünf Schwer­ver­letz­ten, die et­was wei­ter hin­ten in der Sei­ten­schlucht la­gen.

Sie hat­ten un­ter­schied­li­che, aber teil­wei­se sehr tie­fe und ge­fähr­li­che Wun­den da­von­ge­tra­gen. Eine Ge­mein­sam­keit ver­band sie aber alle. Sie hat­ten sehr viel Blut ver­lo­ren und wa­ren sehr schwach.

Vor­sich­tig tru­gen wir sie in das wei­te Tal und rich­te­ten dort ein pro­vi­so­ri­sches La­ger ein. Wir ver­sorg­ten die Ver­let­zun­gen, so gut das un­ter den der­zei­ti­gen Be­din­gun­gen mög­lich war, ka­men dann aber über­ein, dass wir Hil­fe be­nö­ti­gen wür­den. Des­halb be­rie­ten wir, wie das ge­sche­hen soll­te.

›Es muss je­mand zu­rück nach Shao­lin und Hil­fe ho­len, denn ins Klos­ter kön­nen wir die Ver­letz­ten nicht trans­por­tie­ren. Zum einen sind wir zu we­ni­ge dazu, und zum an­de­ren wür­den das ei­ni­ge nicht über­le­ben.‹

›Da stimm ich dir zu, Chen Shi Mal!‹, ant­wor­te­te ich. ›Ich bin der Schnells­te von uns, viel­leicht wäre es am bes­ten, ich wür­de mich gleich auf den Weg ma­chen. Wenn ich kei­ne Pau­se ein­le­ge, könn­te ich mor­gen Vor­mit­tag mit Hil­fe wie­der zu­rück sein.‹

Wang Lee mach­te ein be­denk­li­ches Ge­sicht und warf ein:

›Ich weiß nicht?! Habt Ihr euch die to­ten An­grei­fer ein­mal ge­nau­er an­ge­schaut? Ich hat­te den Ein­druck, ei­ni­ge die­ser Ge­sich­ter schon ein­mal ge­se­hen zu ha­ben, und zwar im Klos­ter.‹

›Stimmt, wenn ich mich nicht irre, ge­hör­te zu­min­dest ei­ner zu der Grup­pe, die mit Mao Lu Peng vom Kai­ser­hof zu­rück­kam. Ich hab die­se Män­ner aber nur kurz ge­se­hen, und ich kann mich auch täu­schen. Es gibt mitt­ler­wei­le so vie­le, die zu Kämp­fern aus­ge­bil­det wer­den, aber kei­ne Mön­che sind, dass man sich nicht mehr je­des Ge­sicht mer­ken kann‹, er­wi­der­te Chen Shi Mal.

Wang Lee nick­te be­stä­ti­gend.

›Und ge­nau aus die­sem Grund ist es viel­leicht nicht so gut, wenn Xu Shen Po noch ein­mal im Klos­ter auf­taucht. Alle den­ken, er hat es für im­mer ver­las­sen, und wenn Mao Lu Peng in die Sa­che ver­wi­ckelt sein soll­te, müs­sen wir ihn nicht dar­auf auf­merk­sam ma­chen, dass es viel­leicht nicht so lief, wie er es sich ge­wünscht hat.‹

Er­staunt sah ich ihn an.

›Wie kommst du denn dar­auf? Ich dach­te, das wä­ren Ban­di­ten ge­we­sen.‹

›Ich kann es dir nicht er­klä­ren! Doch ich habe ein un­gu­tes Ge­fühl bei der Sa­che, und wir müs­sen doch kein Ri­si­ko ein­ge­hen! Wenn Chen Shi Mal oder ich wie­der im Klos­ter auf­tau­chen, er­weckt das kei­nen Ver­dacht, und wir kön­nen ein paar we­ni­ge ver­trau­ens­wür­di­ge Leu­te mit­brin­gen. An­sons­ten soll­ten wir aber erst ein­mal Still­schwei­gen über die Vor­gän­ge von hier wah­ren.‹

Nach­denk­lich schau­te ich von ei­nem zum an­de­ren.

›Na ja. Wenn ihr denkt. Aber viel­leicht wäre es gut, wenn ihr zu­sam­men los­geht und ei­ner von euch dann mit Liu Shi Meng den ver­letz­ten Sohn des Fürs­ten hier­her bringt. Viel­leicht könnt ihr euch eine Tra­ge bau­en und ihn her­tra­gen. Ich bleib erst mal hier und küm­me­re mich so lan­ge um die an­de­ren Ver­letz­ten.‹

Die bei­den stimm­ten zu und bra­chen so­fort auf. An­schlie­ßend er­klär­te ich den Ja­pa­nern, was wir be­schlos­sen hat­ten.

Da der Dai­myo und sein Ge­folgs­mann mit der Pfle­ge der Ver­wun­de­ten nicht viel im Sinn hat­ten, war ich auf mich al­lein ge­stellt. Wäh­rend ich ver­such­te, al­les Wis­sen, das ich in die­ser Be­zie­hung von den Mön­chen er­hal­ten hat­te, aus mei­nem Ge­dächt­nis her­vor­zu­kra­men, mach­ten sich der Dai­myo mit sei­nen noch ak­ti­ons­fä­hi­gen Män­nern auf, um die Pfer­de wie­der ein­zu­fan­gen. Auch ihre ver­streut he­r­um­lie­gen­den Sa­chen sam­mel­ten sie wie­der ein.

Bald brach­ten sie mir ei­ni­ge Nah­rungs­mit­tel und Klei­dungs­stücke, aus de­nen ich Stoff­strei­fen zum Ver­bin­den mach­te. So ge­lang es mir, die Ver­wun­de­ten not­dürf­tig zu ver­sor­gen.

Als das letz­te Ta­ges­licht schon fast ge­schwun­den war, ka­men Wang Lee und Liu Shi Meng mit dem ver­letz­ten Sohn des Fürs­ten in un­se­rem La­ger an. Ich hat­te er­war­tet, dass der Dai­myo sich gleich um sei­nen Sohn küm­mern wür­de, doch er warf nur einen kur­zen Blick auf die­sen und be­ach­te­te ihn dann nicht wei­ter.

Das konn­te ich über­haupt nicht ver­ste­hen, und in ei­nem güns­ti­gen Au­gen­blick er­kun­dig­te ich mich bei dem chi­ne­sisch spre­chen­den Sa­mu­rai nach dem Grund die­ses Ver­hal­tens.

›Ge­stat­ten Sie eine Fra­ge?‹

›Na­tür­lich, warum denn nicht!?‹

›Nun, ich kann ei­ni­ges nicht ver­ste­hen, habe aber das Ge­fühl, dass es ein Ta­bu­the­ma ist.‹

›Wir wer­den se­hen!‹

›Als ich Ih­nen er­zähl­te, dass wir den Sohn des Fürs­ten schwer ver­letzt ge­fun­den hat­ten, schie­nen Sie bei­de sehr be­sorgt um ihn zu sein und wa­ren froh, dass er Pfle­ge er­hielt. Doch als er hier im La­ger an­kam, wur­de er von Ih­nen kaum ei­nes Blickes ge­wür­digt. Wie­so? Und warum ist er als Sohn des Fürs­ten un­ter den ein­fa­chen Sol­da­ten und wird von al­len auch so be­han­delt?‹

Im ers­ten Au­gen­blick ver­schloss sich die Mie­ne des Sa­mu­rai, und ich hat­te den Ein­druck, er wür­de mich auf­brau­send ab­wei­sen, aber dann be­sann er sich.

›Das lässt sich nicht so leicht be­ant­wor­ten, denn es be­steht ein recht ge­spann­tes Ver­hält­nis zwi­schen Va­ter und Sohn. Au­ßer­dem gibt es in un­se­rem Land einen an­de­ren Ver­hal­tens­ko­dex als in Ih­rem. Ehre und die Ver­pflich­tun­gen ge­gen­über Hö­her­ge­stell­ten wer­den bei uns an­ders be­wer­tet als bei Ih­nen.‹

›Das mag schon sein, doch ich habe die Sor­ge und die Lie­be zu sei­nem Sohn im Auge des Fürs­ten ge­se­hen. Was hin­dert ihn dar­an, ihm die­se auch zu zei­gen?‹

Der Sa­mu­rai hol­te tief Luft und stieß sie mit Druck wie­der aus.

›Sie ge­ben aber auch kei­ne Ruhe. Nun gut, ich wer­de ver­su­chen, Ih­nen die Si­tua­ti­on zu er­klä­ren.‹

Er schau­te sich kurz um, nick­te zu­frie­den und sag­te dann:

›Der zwei­t­äl­tes­te Sohn des Fürs­ten wur­de bis vor ei­nem Jahr be­han­delt, wie es ihm zu­kommt. Er er­hielt eine her­vor­ra­gen­de Aus­bil­dung und hat­te alle Pri­vi­le­gi­en, die ei­nem Sohn und Nach­fol­ger des Pro­vinz­fürs­ten zu­ste­hen. Sei­ne kämp­fe­ri­sche Aus­bil­dung ob­lag mir, und er war ein her­vor­ra­gen­der Schü­ler, der mir am Ende fast ge­wach­sen war. Doch all die­se Din­ge mach­ten ihn über­heb­lich, ar­ro­gant und herrsch­süch­tig. Er er­kann­te sei­ne Gren­zen nicht mehr und über­schritt stän­dig sei­ne Be­fug­nis­se. Nach Date Ma­sa­mu­nes Tod soll er der neue Dai­myo wer­den, und dann hät­te ein sol­ches Ver­hal­ten schwer­wie­gen­de Fol­gen. Die Pro­vinz­fürs­ten sind auf Ge­deih und Ver­derb dem Sho­gun ver­pflich­tet. Sie ha­ben seit ei­ni­ger Zeit nur noch ein­ge­schränk­te Rech­te, vie­le Pflich­ten, und ihr Le­ben ge­hört dem Sho­gun. Un­ter­wer­fung die­sem ge­gen­über ist obers­tes Ge­bot. Der Sohn des Fürs­ten be­gann sich für un­an­tast­bar zu hal­ten, und sein Le­ben wäre am Hofe des Sho­gun si­cher­lich bald ver­wirkt ge­we­sen. Als sich Date Ta­da­mu­ne im­mer öf­ter in Schwie­rig­kei­ten brach­te, er­bat der Fürst vom Sho­gun, sei­nen Sohn als ein­fa­chen Sol­da­ten in eine Trup­pe un­ter mei­nem Kom­man­do zu stel­len und nach Sen­dai, zur Burg des Fürs­ten, zu schi­cken. Da Date Ma­sa­mu­ne ein treu er­ge­be­ner Die­ner des Sho­gun ist, wur­de ihm dies ge­stat­tet. Of­fi­zi­ell han­del­te es sich um eine Be­stra­fung durch den Sho­gun für un­an­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten. Kei­nem au­ßer dem Fürst, dem Sho­gun, mir und jetzt Ih­nen sind die wah­ren Hin­ter­grün­de be­kannt. Nur eine Be­din­gung gab es: Der Fürst muss­te die­se Rei­se hier pla­nen und an­tre­ten.‹

Ich sah ihn er­staunt an, und er be­eil­te sich, sei­ne Wor­te ge­nau­er zu er­klä­ren:

›Nicht die­se hier nach Shao­lin, sie wur­de nur we­gen der Neu­gier­de des Fürs­ten un­ter­nom­men, der sehr viel über die Shao­lin-Kämp­fer am Kai­ser­hof ge­hört hat­te. Nein, die Rei­se an den chi­ne­si­schen Kai­ser­hof.‹

Da ich ihn im­mer noch fra­gend an­sah, fuhr er mit sei­nen Er­klä­run­gen fort:

›Mehr kann ich dar­über jetzt nicht sa­gen, nur eins noch: Der Sho­gun be­auf­trag­te Date Ma­sa­mu­ne da­mit, weil schon ein­mal ein Ge­folgs­mann von ihm eine di­plo­ma­ti­sche Rei­se an­ge­tre­ten hat­te. Ha­se­ku­ra Ts­une­n­a­ga war im Auf­trag des Sho­gun bis nach Me­xi­ko und Eu­ro­pa ge­reist. Der Sho­gun ver­traut nun dar­auf, dass Date Ma­sa­mu­ne das glei­che Ge­schick bei die­ser di­plo­ma­ti­schen Missi­on an den Tag le­gen wird. Au­ßer­dem weiß er, dass ich als sein Ge­folgs­mann mit da­bei bin und Date Ma­sa­mu­ne sich durch mei­ne Chi­ne­sisch­kennt­nis­se nicht auf einen frem­den Dol­met­scher ver­las­sen muss.‹

Ich horch­te auf. Hier gab es eine Ver­bin­dung zu Eu­ro­pa, und ob­wohl es eine ganz an­de­re Epo­che war, hat­te ich plötz­lich ein selt­sa­mes Ge­fühl. Ich war neu­gie­rig ge­wor­den und be­gie­rig, mehr dar­über zu er­fah­ren, doch vor­erst er­gab sich die­se Ge­le­gen­heit nicht. Der Sa­mu­rai fuhr aber mit sei­nen Er­klä­run­gen fort.

›Be­vor wir die­se Rei­se an­tra­ten, war es mir ge­lun­gen, den Sohn des Fürs­ten ein we­nig zur Ruhe zu brin­gen. Es fiel ihm schwer, sich un­ter­zu­ord­nen, doch er hat­te kei­ne an­de­re Wahl. Ich den­ke, dass sein Va­ter im rich­ti­gen Mo­ment die rich­ti­ge Ent­schei­dung ge­trof­fen hat. Er woll­te ihn De­mut leh­ren. Ihm zei­gen, dass auch er sich in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen un­ter­wer­fen muss, dass auch ihm Gren­zen ge­setzt sind und Will­kür und Hoch­mut schnell zum Ver­der­ben wer­den kön­nen.‹

Ich dach­te über das eben Ge­hör­te nach. Zum Teil konn­te ich den Fürs­ten ver­ste­hen, aber mich ir­ri­tier­te, dass er sich im­mer noch so ab­wei­send ver­hielt und sei­nem Sohn nicht zeig­te, wie sehr er ihn ei­gent­lich lieb­te.

›Ei­ni­ges kann ich nun bes­ser ver­ste­hen, doch warum schließt er jetzt im­mer noch kei­nen Frie­den mit ihm und ver­heim­licht ihm, wie be­sorgt er war?‹

›Zum einen ist er der Mei­nung, dass es noch zu früh dazu ist. Zum an­de­ren ist das eine Ei­gen­schaft un­se­res Vol­kes und un­se­res Stan­des. Es ist nicht so ein­fach, sei­ne Ge­füh­le ei­nem an­de­ren ge­gen­über zu zei­gen, ohne da­bei sein Ge­sicht zu ver­lie­ren, und ich wür­de Ih­nen ra­ten, mit dem Fürst vor­läu­fig nicht dar­über zu spre­chen. Date Ma­sa­mu­ne ist ein Toz­a­ma-Dai­myo, der aber ein ho­hes An­se­hen beim Sho­gun ge­nießt. Er ist also ein re­la­tiv un­ab­hän­gi­ger Fürst, und um die­se Stel­lung zu wah­ren und in den fol­gen­den Ge­ne­ra­tio­nen wei­ter aus­zu­bau­en, müs­sen auch sei­ne Söh­ne über je­den Ta­del er­ha­ben sein. Ich kann nicht sa­gen, was mich be­wo­gen hat, Ih­nen das al­les zu er­zäh­len, doch Sie kön­nen si­cher sein, dass es mein An­se­hen beim Fürs­ten ge­wal­tig un­ter­gräbt, wenn er da­von er­fährt.‹

Ich ver­sprach ihm, dar­über zu schwei­gen. Er war auch des­halb re­la­tiv be­ru­higt, da ich durch die Un­kennt­nis der ja­pa­ni­schen Spra­che im Mo­ment so­wie­so nur über ihn mit dem Fürst spre­chen konn­te.

Als wir wie­der im La­ger an­ge­kom­men wa­ren, ge­sell­te ich mich zu Wang Lee und Liu Shi Meng, doch vor­läu­fig herrsch­te nur Schwei­gen. Ich hing mei­nen Ge­dan­ken nach, und die bei­den merk­ten, dass mich et­was be­schäf­tig­te.

Ich mach­te mir Ge­dan­ken über das Ver­hal­ten des Fürs­ten und frag­te mich, ob es wirk­lich der rich­ti­ge Weg war, sei­nen Sohn zu er­zie­hen. Aber an­schei­nend hat­te er da­mit einen ge­wis­sen Er­folg. Au­ßer­dem war es ein an­de­res Land mit an­de­ren Sit­ten, da­her konn­te ich mei­ne Maß­stä­be nicht bei ih­nen an­le­gen. Mir hat­te der Wehr­dienst auch ge­hol­fen, selb­stän­dig und ver­ant­wor­tungs­be­wusst zu wer­den. Da man das hier fast ge­nau­so wer­ten konn­te, blieb nur das ge­spann­te Ver­hält­nis zwi­schen Va­ter und Sohn. Aber ich hat­te auch die Lie­be und Sor­ge un­ter der rau­en Scha­le be­merkt, und so schi­en das Gan­ze nach au­ßen schlim­mer zu sein, als es war.

In­zwi­schen hat­ten sich Wang Lee und Liu Shi Meng über die letz­ten Er­eig­nis­se un­ter­hal­ten, und die letz­ten Wor­te Liu Shi Mengs lie­ßen mich auf­hor­chen.

›Ich bin der Mei­nung, wir soll­ten so schnell wie mög­lich hier ver­schwin­den. Mei­ner An­sicht nach war die Ak­ti­on gut ge­plant und kein zu­fäl­li­ger Über­fall von ei­ner ein­zel­nen Ban­di­ten­grup­pe. Wenn be­merkt wird, dass sie ihr Ziel nicht er­reicht ha­ben, kom­men viel­leicht noch an­de­re, und dann ha­ben wir kei­ne Chan­ce mehr!‹

Da ich durch mein tie­fes Nach­sin­nen nichts vom vor­her­ge­hen­den Ge­spräch mit­be­kom­men hat­te, frag­te ich nach:

›Wie kommst du denn dar­auf?‹

›Ich kann es dir nicht er­klä­ren, aber ich habe kein gu­tes Ge­fühl hier. Mag sein, dass es an die­sem Ort mit den noch sicht­ba­ren Kampf­spu­ren liegt, wie Wang Lee meint, doch ich fin­de, wir soll­ten von hier ver­schwin­den!‹

›Wo willst du hin, ins Klos­ter kön­nen wir die Ver­wun­de­ten nicht schaf­fen, das ist zu weit, und ei­ni­ge von ih­nen wür­den die­sen lan­gen Trans­port si­cher nicht über­le­ben‹, fiel Wang Lee ein.

›Na ja, vor ei­ni­gen Jah­ren war mal ein al­ter Mann im Klos­ter. Er woll­te Me­di­zin für sei­ne kran­ke Toch­ter von Han Li­ang Tian er­bit­ten, doch der Abt ist da­mals gleich selbst mit­ge­gan­gen und hat sie ge­sund ge­pflegt. Als er zu­rück­kam, hat er uns er­zählt, dass er noch nie von die­sem klei­nen Dorf hier oben in den Ber­gen ge­hört hat­te und dass es si­cher­lich auch nicht so schnell von je­mand ge­fun­den wür­de. Wenn ich mich recht an sei­ne Orts­be­schrei­bung er­in­ne­re, dürf­te nicht weit von hier ein schma­ler Weg in die Ber­ge ab­zwei­gen, und et­was ver­steckt in ei­nem Sei­ten­tal ste­hen sechs oder sie­ben Hüt­ten.‹

›Sechs oder sie­ben Hüt­ten!? Liu Shi Meng, wo sol­len wir denn da mit all den Ver­letz­ten un­ter­kom­men? Die Leu­te hier in den Ber­gen ha­ben meist ge­ra­de mal ge­nug Platz für sich selbst, sie le­ben schon auf engs­tem Raum, da ist nie­mals Platz für uns alle.‹

›Ist schon rich­tig, aber wo willst du sonst hin. Selbst wenn nie­mand mehr hier­her kommt, auf die­ser Wie­se kön­nen wir die Ver­letz­ten nie­mals ge­sund pfle­gen.‹

›Da hast du schon recht‹, sag­te ich nach­denk­lich. ›Und selbst wenn wir in den Hüt­ten der Berg­bau­ern nicht un­ter­kom­men, könn­ten wir dort si­cher­lich bes­ser ein pro­vi­so­ri­sches La­ger ein­rich­ten als hier. Weißt du ge­nau, wo die­ses Dorf liegt?‹, frag­te ich Liu Shi Meng.

›Nein, nicht ge­nau. Doch ich wür­de mor­gen früh so zei­tig wie mög­lich auf­bre­chen und da­nach su­chen. Ihr müsst so­wie­so auf die an­de­ren war­ten, und erst dann kön­nen wir von hier ver­schwin­den. Bis das so weit ist, wer­de ich das Dorf si­cher ge­fun­den ha­ben.‹

Da uns nichts Bes­se­res ein­fiel, ei­nig­ten wir uns auf Liu Shi Mengs Vor­schlag, und nach­dem wir noch ein­mal nach den Ver­wun­de­ten ge­se­hen hat­ten, gin­gen wir zur Ruhe.

Die Nacht ver­lief ru­hig, und am Mor­gen küm­mer­ten wir uns als Ers­tes um die Ver­wun­de­ten. Der Zu­stand von zwei der Ver­letz­ten er­schi­en mir recht kri­tisch. Ich be­riet mich mit Wang Lee, und auch er war der Mei­nung, dass die bei­den schnells­tens Hil­fe be­nö­tig­ten.

Ei­ner von ih­nen hat­te eine klaf­fen­de Wun­de am Hals und sehr viel Blut ver­lo­ren. Die Blu­tung hat­ten wir zwar stil­len kön­nen, doch er war durch den ho­hen Blut­ver­lust so schwach, dass wir um sein Le­ben bang­ten. Der an­de­re hat­te eine Bauch­wun­de, und um ihn sorg­ten wir uns ei­gent­lich noch mehr, da wir nicht wuss­ten, ob auch in­ne­re Or­ga­ne ver­letzt wa­ren. Wir hat­ten zwar in Er­man­ge­lung an­de­rer Hilfs­mit­tel die Wun­drän­der mit dem Ver­band fest zu­sam­men­ge­presst, doch wür­de das rei­chen? Kei­ner von uns hat­te Er­fah­rung in der Be­hand­lung sol­cher Ver­let­zun­gen.

Der Dai­myo be­merk­te un­se­re Sor­ge und kam mit dem dol­met­schen­den Sa­mu­rai zu uns.

›Der Fürst Date Ma­sa­mu­ne möch­te wis­sen, wie es um die Ver­letz­ten steht.‹

Ich stand auf und ant­wor­te­te, den Fürst da­bei an­schau­end:

›Den Ver­wun­de­ten geht es so weit gut, nur um die­se bei­den hier ma­chen wir uns Sor­gen. Wir sind kei­ne Hei­ler, und uns fehlt die Er­fah­rung in der Be­hand­lung sol­cher Wun­den. Doch die Hil­fe aus dem Klos­ter müss­te heu­te im Lau­fe des Ta­ges ein­tref­fen, und wir hof­fen, dass es dann noch nicht zu spät ist.‹

Der Dai­myo sah auf die bei­den he­r­un­ter, nick­te, und der Sa­mu­rai über­setz­te uns dann sei­ne Wor­te:

›Date Ma­sa­mu­ne sagt: Es sind gute und star­ke Män­ner, sie wer­den so lan­ge durch­hal­ten wie nö­tig, und wenn es so weit ist, wer­den sie ge­hen, ohne zu kla­gen.‹

Ich sah mir den Fürst ge­nau­er an, denn er ver­wirr­te mich im­mer wie­der. Auf der einen Sei­te wirk­te er be­sorgt und auf­merk­sam sei­nen Män­nern ge­gen­über, doch nach au­ßen schi­en er über die­sen Din­gen zu ste­hen. Es sah im­mer so aus, als dürf­te kei­ner se­hen, dass in die­sem har­ten Mann auch ein wei­cher Kern steck­te. Die­ser Ein­druck wur­de noch durch sein Äu­ße­res ver­stärkt, denn ihm fehl­te das rech­te Auge. Im Klos­ter hat­te er eine Au­gen­klap­pe ge­tra­gen, doch jetzt sah man die ver­wach­se­ne lee­re Au­gen­höh­le, wäh­rend das an­de­re Auge auf­merk­sam al­les um sich he­r­um im Blick be­hielt. Spä­ter er­fuhr ich, dass er das Auge durch eine schwe­re Er­kran­kung ver­lo­ren hat­te, aber er för­der­te auch an­de­re Ge­rüch­te. Die­se und sei­ne Aus­strah­lung tru­gen dazu bei, dass er den Spitz­na­men ein­äu­gi­ger Dra­che er­hal­ten hat­te.

Wäh­rend­des­sen hat­te der Fürst wei­ter ge­spro­chen, und der Sa­mu­rai über­setz­te ge­wis­sen­haft sei­ne Wor­te:

›Date Ma­sa­mu­ne möch­te wis­sen, wie es wei­ter­ge­hen soll. Er fin­det den Platz hier nicht gut und möch­te so schnell wie mög­lich die­sen Ort ver­las­sen.‹

Also hat­te nicht nur Liu Shi Meng ein schlech­tes Ge­fühl.

›Wir ha­ben uns auch schon dar­über un­ter­hal­ten, und Liu Shi Meng möch­te ger­ne ein Dorf su­chen, das hier ganz in der Nähe sein muss‹, ant­wor­te­te ich.

Der Dai­myo nick­te und gab zu ver­ste­hen, dass er so schnell wie mög­lich wei­ter möch­te. Nach­dem ich ihm er­klärt hat­te, dass wir we­nigs­tens die Hil­fe vom Klos­ter ab­war­ten müss­ten und dass wir die Ver­letz­ten auch nicht sehr weit trans­por­tie­ren könn­ten, ging er miss­mu­tig da­von.

Der Sa­mu­rai war bei uns ge­blie­ben, und nach­dem der Fürst au­ßer Hör­wei­te war, sag­te er:

›Sie müs­sen Date Ma­sa­mu­ne ver­ste­hen, er macht sich Sor­gen um un­se­re Si­cher­heit. Au­ßer­dem un­ter­nah­men wir die­sen Ab­ste­cher ins Klos­ter nicht im Auf­trag des Sho­gun. Wenn sei­ne Missi­on jetzt des­halb ge­fähr­det ist, könn­te das sei­ne Stel­lung sehr ne­ga­tiv be­ein­flus­sen. Er macht sich Vor­wür­fe, dass er die­se Rei­se an­ge­tre­ten hat, denn das ei­gent­li­che Ziel war schon er­reicht.‹

›Ich kann das ja ver­ste­hen, doch es ist nun ein­mal ge­sche­hen, und wir müs­sen se­hen, dass wir das Bes­te dar­aus ma­chen. Liu Shi Meng wird auf­bre­chen und nach dem Dorf su­chen. Ich möch­te aber mit Wang Lees Hil­fe ver­su­chen, die­sen bei­den Ver­letz­ten noch ein we­nig Kraft zu ge­ben, da­mit sie durch­hal­ten, bis die an­de­ren ein­tref­fen.‹

Der Sa­mu­rai und auch Wang Lee, mit dem ich noch nicht dar­über ge­spro­chen hat­te, sa­hen mich er­staunt an.

›Was hast du vor? Du willst doch nicht etwa das­sel­be ver­su­chen wie da­mals Han Li­ang Tian bei Hu Kang?‹

›Doch, warum nicht? Schlim­mer kön­nen wir es nicht ma­chen, den­ke ich.‹

›Das weißt du nicht! Wir ha­ben es noch nie­mals ge­tan, und Han Li­ang Tian hat die­se Fä­hig­kei­ten nur im äu­ßers­ten Not­fall an­ge­wen­det.‹

›Ich weiß, aber ich habe Angst, dass die bei­den uns wegs­ter­ben, bis Hil­fe da ist.‹

Der Sa­mu­rai war neu­gie­rig ge­wor­den und un­ter­brach uns.

›Darf ich er­fah­ren, was Sie vor­ha­ben und warum Sie nicht si­cher sind, ob Sie es an­wen­den dür­fen?‹

Ich sah Wang Lee an, und die­ser zuck­te die Schul­tern mit ei­nem Blick, der sag­te: Nun sieh zu, wie du da wie­der raus­kommst, ich hab nicht da­von an­ge­fan­gen. Ich ent­schloss mich, dem Sa­mu­rai mei­ne Ab­sicht so gut wie mög­lich zu er­läu­tern.

›Es be­steht die Mög­lich­keit, an­de­ren Kraft zur Hei­lung zu ge­ben, doch es ge­hört ein sehr star­kes Chi dazu. Wir bei­de ha­ben es noch nicht ohne Hil­fe prak­ti­ziert. Ich habe zwar ein­mal an ei­ner sol­chen Sit­zung teil­ge­nom­men, aber un­auf­ge­for­dert und nur durch die Hil­fe ei­nes in die­sen Din­gen sehr er­fah­re­nen Man­nes mei­ne Kraft bei­steu­ern kön­nen. Wir wis­sen also, wie es funk­tio­niert, doch uns fehlt die Er­fah­rung.‹

›Ich ver­ste­he nicht, warum Sie sich scheu­en, es zu ver­su­chen? Ich habe schon vie­le ver­wun­de­te Män­ner ge­se­hen, und die­se bei­den hier ha­ben ohne so­for­ti­ge Hil­fe kei­ne Hoff­nung zu über­le­ben. So viel kann ich nach mei­nen Er­fah­run­gen ein­schät­zen. Also ver­su­chen Sie, was ih­nen mög­lich ist, auch wenn es eine mir noch un­be­kann­te Ge­fahr ber­gen soll­te. Mei­ner An­sicht nach kön­nen Sie es nicht schlim­mer ma­chen.‹

Ich dach­te ge­nau­so und sah Wang Lee fra­gend an.

›Wenn du meinst, dann ver­su­chen wir’s, ob­wohl ich Zwei­fel habe!‹

›So wird’s aber nichts, Wang Lee. Wenn du Zwei­fel hast, kannst du nicht dei­ne gan­ze Kraft bei­steu­ern, und wir sind von vorn­he­r­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt. Du musst an die Mög­lich­keit glau­ben und die gan­ze Kraft dei­nes Chi nut­zen!‹

›Ich weiß! Lass mich einen Au­gen­blick me­di­tie­ren, um mich auf die­se Auf­ga­be ein­zu­stim­men.‹

Ich nick­te ihm zu und ge­dach­te, das Glei­che zu tun. Bei­de lie­ßen wir uns nie­der und kon­zen­trier­ten uns auf die be­vor­ste­hen­de Auf­ga­be, doch zu­vor bat ich den Sa­mu­rai, da­für zu sor­gen, dass wir nicht ge­stört wur­den. Er nick­te und po­si­tio­nier­te sich so, dass er so­wohl uns als auch alle an­de­ren im Blick hat­te.

In­zwi­schen wa­ren wir in tiefer Me­di­ta­ti­on ver­sun­ken. Nach ei­ni­ger Zeit öff­ne­te ich die Au­gen, denn ich hat­te das Ge­fühl, dass Wang Lee so weit war, und rich­tig, er schau­te mich mit ei­nem ent­spann­ten und kon­zen­trier­ten Blick an.

Da wir gleich ne­ben dem Mann mit der Hals­wun­de sa­ßen, nah­men wir uns die­sen als Ers­ten vor. Wie ich es da­mals bei Han Li­ang Tian ge­se­hen hat­te, leg­te ich mei­ne Hän­de auf Stirn und Brust des Ver­letz­ten, und Wang Lee leg­te die sei­nen auf mei­ne. Nun kon­zen­trier­ten wir un­se­re gan­ze Kraft in den Wunsch, dem Schwa­chen Ener­gie von uns zu ge­ben. Ich ver­such­te es auf die glei­che Art, wie ich es da­mals an Hu Kangs Kran­ken­la­ger wahr­ge­nom­men hat­te, und dach­te im Gleich­klang mit Wang Lee:

›Nimm die­se Kraft von uns, nut­ze sie zu dei­ner Hei­lung! Nimm so viel, wie du brauchst, um wie­der ge­sund zu wer­den! Wir ge­ben dir ger­ne, was wir ge­ben kön­nen! Nimm von uns, um dei­nen Kör­per zu hei­len und die Kraft zu fin­den, dass dein Herz wei­ter­schlägt. Dass dei­ne Lun­ge wei­ter­ar­bei­tet und dein Kör­per das ver­lo­re­ne Blut wie­der er­setzt.‹

Bei die­sen Ge­dan­ken ver­such­te ich mich in den Kör­per des Ver­letz­ten hi­n­ein­zu­ver­set­zen und da­bei zu er­ken­nen, wo die Hil­fe am not­wen­digs­ten war. Nach ei­ni­ger Zeit ge­lang es mir fast so gut wie in mei­nem ei­ge­nen Kör­per, und ich er­kun­de­te die be­trof­fe­nen Stel­len. Die Wun­de am Hals wür­de wie­der hei­len, auch wenn Seh­nen und Mus­keln ver­letzt wa­ren und der Hals viel­leicht bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad steif blei­ben wür­de. Ich er­kann­te auch die Ur­sa­che für sei­nen rö­cheln­den Atem. Er hat­te Blut ver­schluckt und ei­ni­ges da­von in sei­ne Atem­we­ge be­kom­men. Aber sein Kör­per war zu schwach, um das Blut wie­der hi­n­aus­zu­be­för­dern.

Ohne mei­ne bis­he­ri­gen Ge­dan­ken zu un­ter­bre­chen, füg­te ich ih­nen noch den Be­fehl hin­zu, die Atem­we­ge wie­der frei zu ma­chen. Das kos­te­te mich und Wang Lee sehr viel Kraft, und ich ver­such­te wie da­mals Han Li­ang Tian, Ener­gie aus mei­ner ge­sam­ten Um­welt auf­zu­neh­men.

Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga, der Sa­mu­rai, der als Dol­met­scher fun­gier­te und nun da­für sor­gen soll­te, dass wir nicht ge­stört wur­den, be­ob­ach­te­te er­staunt, was vor­ging. Mu­te­te ihn die Hand­lungs­wei­se auch selt­sam an, so spür­te er doch die Kraft und Ener­gie, die uns wie eine Aura um­gab. Er be­merk­te, wie sich un­ser gan­zer Kör­per straff­te und sich alle Mus­keln und Seh­nen bis zum Zer­rei­ßen spann­ten, doch bis auf das leich­te Zit­tern der Hän­de und Zu­cken im Ge­sicht war nichts Äu­ßer­li­ches sicht­bar. Ge­bannt be­ob­ach­te­te er uns, und Date Ma­sa­mu­ne sah er erst, als die­ser uns fast er­reicht hat­te. Schnell sprang er auf und ver­neig­te sich vor ihm.

Im­mer noch ver­stimmt we­gen des Auf­ent­halts an die­sem un­güns­ti­gen Ort, frag­te der Dai­myo ge­reizt:

›Was geht hier vor?‹

›Mein Fürst, bit­te stö­ren Sie die­se bei­den nicht, sie wol­len ver­su­chen, dem Ver­let­zen bei der Hei­lung zu hel­fen.‹

›So? Wie soll das ge­hen?‹

›Ich weiß es nicht ge­nau, doch se­hen Sie, es scheint sich et­was zu tun.‹

Der Ver­letz­te hus­te­te und würg­te, und sein Ge­sicht wur­de pu­ter­rot vor An­stren­gung. Den bei­den Be­ob­ach­tern wur­de angst, denn sie fürch­te­ten um das Le­ben des Man­nes. Date Ma­sa­mu­ne war drauf und dran, un­se­re Ak­ti­on ab­zu­bre­chen, als der Ver­letz­te spu­ckend das Blut aus den Atem­we­gen würg­te. Der Fürst stock­te mit­ten in der Be­we­gung und war­te­te ab, was wei­ter ge­sche­hen wür­de.

Der Ver­wun­de­te schi­en schon frei­er zu at­men. Nach­dem sich die­ser Vor­gang mehr­fach wie­der­holt hat­te, sank der Mann gleich­mä­ßig at­mend zu­rück. Sei­ne Haut nahm eine ge­sün­de­re Far­be an, und als wäre er in einen hei­len­den Schlaf ge­fal­len, at­me­te er ru­hig ein und aus.

Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga be­ob­ach­te­te uns ge­bannt und er­war­te­te je­den Au­gen­blick, dass wir uns er­he­ben wür­den, als das nicht ge­schah, wand­te er sich wie­der dem Fürs­ten zu:

›An­schei­nend ha­ben sie Er­folg ge­habt. Warum und wie lan­ge sie jetzt noch fort­fah­ren, kann ich aber nicht sa­gen.‹

›Wir wer­den se­hen, doch ihr Wort­füh­rer scheint kein Chi­ne­se zu sein. Ich habe das da­mals im Klos­ter schon ge­dacht, weil er da aber im­mer mit den Mön­chen zu­sam­men war, mich nicht wei­ter dar­um ge­küm­mert. Ir­gend­ein Ge­heim­nis um­gibt ihn, und sei­ne Aus­strah­lung ist sehr groß. Ich möch­te, dass du ihn dar­auf an­sprichst, wenn sie das hier be­en­det ha­ben.‹

›Ja mein Fürst!‹, sag­te der Sa­mu­rai und schau­te dem Dai­myo hin­ter­her, der sich wie­der zu den an­de­ren be­gab.

Von all­dem hat­ten wir nichts mit­be­kom­men, und erst spä­ter hat mir Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga da­von er­zählt. Uns war aber nicht ent­gan­gen, dass wir eine Wir­kung er­zielt hat­ten. Nun woll­ten wir dem Mann noch Ener­gie für die wei­te­re Hei­lung mit­ge­ben und kon­zen­trier­ten uns auf die an­fäng­li­chen Ge­dan­ken.

Erst ge­rau­me Zeit spä­ter ver­stän­dig­te ich mich in Ge­dan­ken mit Wang Lee, und wir öff­ne­ten die Au­gen. Wir sa­hen nicht nur, dass es dem Ver­wun­de­ten bes­ser­ging, wir hat­ten es auch ge­spürt. Er­freut über den Er­folg, stan­den wir auf.

In die­sem Au­gen­blick merk­ten wir, wie viel Kraft uns die­se Ak­ti­on ge­kos­tet hat­te. Wang Lee tau­mel­te ei­ni­ge Schrit­te zur Sei­te, und ich muss­te die Au­gen schlie­ßen, da sich al­les zu dre­hen be­gann. Erst nach ei­ner Wei­le konn­te ich sie wie­der öff­nen, und auch Wang Lee kam, ein we­nig blass, wie­der zur Ruhe. Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga war in der Zwi­schen­zeit zu uns he­r­an­ge­kom­men und frag­te nun:

›Ist es so er­folg­reich ver­lau­fen, wie Sie ge­hofft hat­ten?‹

›Al­lem An­schein nach, ja. Für den Au­gen­blick ist die Ge­fahr ge­bannt, wie sich sein Zu­stand wei­ter­ent­wi­ckelt, kann ich aber nicht sa­gen.‹

›Ver­su­chen Sie es jetzt auch bei dem an­de­ren?‹

›Ich den­ke, so schnell geht das nicht! Wir müs­sen selbst erst ein­mal wie­der Kraft schöp­fen. Es hat uns mehr an­ge­strengt, als ich dach­te. Bit­te gön­nen Sie uns ein we­nig Ruhe, be­vor wir uns um den Zwei­ten küm­mern.‹

Der Sa­mu­rai nick­te und knie­te sich bei dem Mann nie­der, um den wir uns ge­ra­de be­müht hat­ten.

Da ich mich mit Wang Lee auch ohne Wor­te ver­stän­di­gen konn­te, ge­nüg­te ein kur­zer Blick, und wir such­ten uns eine ru­hi­ge Stel­le, um zu me­di­tie­ren. Ich ließ mich voll­kom­men fal­len und kon­zen­trier­te mich nur dar­auf, so schnell wie mög­lich wie­der zu Kräf­ten zu kom­men.

Als ich mich ei­ni­ge Zeit spä­ter, die Son­ne hat­te in­zwi­schen fast ih­ren höchs­ten Stand er­reicht, wie­der er­hob, merk­te ich schnell, dass die ver­brauch­te Ener­gie noch nicht wie­der voll­stän­dig auf­ge­füllt war. Wang Lee ging es nicht an­ders, und nun mach­ten wir uns Sor­gen, ob un­se­re Kraft rei­chen wür­de, um dem zwei­ten Mann zu hel­fen. Dum­mer­wei­se hat­ten wir uns ent­schie­den, dem zu­erst zu hel­fen, bei dem es leich­ter er­schi­en, und jetzt be­fürch­te­ten wir zu ver­sa­gen.

Wir gin­gen zu­erst noch ein­mal zu Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga, der im­mer noch bei dem zu­erst Ver­sorg­ten saß. Er stand auf und frag­te:

›Hel­fen Sie jetzt dem an­de­ren? Bei dem hier ha­ben Sie ein Wun­der be­wirkt. Er ist jetzt viel kräf­ti­ger, rö­chelt über­haupt nicht mehr und hat vor­hin schon die Au­gen ge­öff­net. Ich hof­fe, es war nicht falsch, dass ich ihm Was­ser ge­bracht habe, als er da­nach ver­langt hat?‹

›Nein, im Ge­gen­teil! Er hat sehr viel Blut ver­lo­ren und muss viel trin­ken, um den Flüs­sig­keits­ver­lust aus­zu­glei­chen.‹

Er at­me­te er­leich­tert aus, und ich be­ant­wor­te­te, mich dem mit der Bauch­wun­de zu­wen­dend, sei­ne an­de­re Fra­ge:

›Wir wer­den jetzt ver­su­chen, die­sem hier zu hel­fen, doch ich kann nicht sa­gen, ob un­se­re Kraft da­für noch aus­reicht. Bit­te sor­gen Sie wie­der da­für, dass wir nicht ge­stört wer­den!‹

Er nick­te be­stä­ti­gend, und wir ver­fuh­ren wie­der wie beim Ers­ten. Als wir uns nie­der­knie­ten und dem Mann ins Ge­sicht blick­ten, wur­de uns angst, denn sein Zu­stand schi­en sich sehr ver­schlech­tert zu ha­ben. Als ich in Wang Lees Au­gen sah, be­merk­te ich, dass er die Hoff­nung schon auf­ge­ge­ben hat­te, und ich setz­te mich in Ge­dan­ken mit ihm in Ver­bin­dung:

›Erst wenn wir al­les ver­sucht ha­ben, Wang Lee! Erst wenn wir all un­se­re Kraft ge­ge­ben ha­ben!‹

›Ich wer­de mich be­mü­hen, doch ich habe we­nig Hoff­nung.‹

›Den­ke an­ders, sonst wirkt es nicht, Wang Lee! Bit­te, denk an­ders!‹

›Ich be­mü­he mich!‹, ant­wor­te­te er, und ich spür­te, wie er sich kon­zen­trier­te.

Wir ver­fuh­ren auf die glei­che Wei­se wie bei un­se­rem ers­ten Pa­ti­en­ten. Aber nach ei­ner Wei­le merk­te ich, dass es nicht so lief wie beim ers­ten Mal. Wir dran­gen gar nicht rich­tig zu ihm vor, und er schi­en nicht in der Lage zu sein, un­se­re Hil­fe an­zu­neh­men. Er war so schwach, dass wir den Ein­druck hat­ten, er wäre schon halb in ei­ner an­de­ren Welt.

Nach ei­ni­ger Zeit ga­ben wir frus­triert auf. Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga, der das be­merkt hat­te, kam zu uns he­r­an und er­kun­dig­te sich be­sorgt:

›Was ist? Sie sind bei ihm so schnell fer­tig? Ich habe auch nicht wie vor­hin das Ge­fühl, dass sich sein Zu­stand ge­bes­sert hat.‹

Ich sah ihm in die Au­gen und sag­te:

›Ich weiß nicht, ob wir nicht mehr ge­nü­gend Kraft ha­ben oder ob er schon so schwach ist, dass er un­se­re Hil­fe nicht mehr an­neh­men kann. Auf je­den Fall drin­gen wir gar nicht mehr bis zu ihm vor.‹

›Steht es so schlecht um ihn?‹

›Ich den­ke, ja! Wir ken­nen lei­der nur die­se Me­tho­de, um je­mand Kraft zu ge­ben, und der Be­trof­fe­ne muss be­reit sein, sie an­zu­neh­men. Wenn es mög­lich wäre, ihm die Kraft auf eine an­de­re Art zu ge­ben, hät­ten wir viel­leicht Er­folg, aber so ...‹

Be­stützt sah der Sa­mu­rai auf den nur noch schwach at­men­den Mann. Ich hat­te den Ein­druck, dass ihm je­der die­ser Män­ner wirk­lich ans Herz ge­wach­sen war. Er wür­de sich ei­nem Ja­pa­ner ge­gen­über si­cher­lich nie­mals eine sol­che Emp­fin­dung an­mer­ken las­sen, doch bei uns schi­en ihm die­se Maß­nah­me nicht nö­tig zu sein.

›Ha­ben Sie al­les ver­sucht?‹

Ich nick­te nur be­stä­ti­gend.

›Dann wer­den wir ihn wohl auch noch ver­lie­ren‹, sag­te er trau­rig und wen­de­te sich ab.

Ich wuss­te nicht, was ich dar­auf ant­wor­ten soll­te, und auch Wang Lee, den ich rat­los an­sah, ging es nicht bes­ser. Das währ­te aber nur we­ni­ge Au­gen­bli­cke, dann sprach uns der Sa­mu­rai wie­der an:

›Sie ha­ben ge­hol­fen, so gut Sie konn­ten, und ohne Ihre Hil­fe wä­ren wir jetzt alle tot. Auch bei den Ver­wun­de­ten ha­ben Sie mehr ge­tan, als ich er­war­tet hat­te. Sei­en Sie ver­si­chert, dass wir das nie­mals ver­ges­sen wer­den!‹

Er ver­neig­te sich wie­der ein­mal leicht vor uns, und mir wur­de das lang­sam pein­lich, denn so viel Ehr­er­bie­tung schi­en mir un­an­ge­bracht.

›Sie brau­chen sich nicht im­mer vor uns zu ver­nei­gen. Wir sind nur ein­fa­che Mön­che, und Ihre Stel­lung ist viel be­deu­ten­der als die un­se­re.‹

Ge­schickt nutz­te Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga die Mög­lich­keit, um den Auf­trag sei­nes Herrn zu er­fül­len.

›Ich den­ke, auch in Chi­na ist es nicht un­üb­lich, ei­nem an­de­ren auf die­se Art und Wei­se sei­ne Dank­bar­keit zu zei­gen. Der Rang oder die Stel­lung spie­len da­bei nur eine un­ter­ge­ord­ne­te Rol­le. Doch ich habe, ob­wohl Sie chi­ne­sisch spre­chen, als wäre es Ihre Mut­ter­spra­che, den Ein­druck, dass Sie kein Chi­ne­se sind.‹

Wie soll­te ich jetzt re­agie­ren? Ich war un­si­cher, wie viel und was ich ihm über­haupt er­zäh­len soll­te oder durf­te. Mei­ne Un­si­cher­heit mit ei­nem Lä­cheln über­spie­lend, sag­te ich aus­wei­chend:

›Sie lie­gen nicht falsch, aber viel­leicht auch nicht ganz rich­tig mit Ih­rer Ver­mu­tung, aber das ist eine lan­ge Ge­schich­te, die wir uns für eine ru­hi­ge­re Zeit auf­he­ben soll­ten.‹

Ich woll­te erst ein­mal Zeit ge­win­nen, um mir über mei­ne wei­te­re Vor­ge­hens­wei­se klar zu wer­den. Glück­li­cher­wei­se er­for­der­ten in die­sem Mo­ment an­de­re Din­ge un­se­re Auf­merk­sam­keit. Von dem Weg, den wir am Vor­tag ge­kom­men wa­ren, dran­gen Ge­räusche zu uns. Schnell grif­fen die noch kampf­fä­hi­gen Ja­pa­ner zu ih­ren Waf­fen, und auch wir be­ob­ach­te­ten, auf al­les ge­fasst, die Weg­bie­gung.

Er­leich­tert at­me­te ich aus, als ich er­kann­te, dass Chen Shi Mal mit der Hil­fe aus dem Klos­ter kam. Zehn Mön­che hat­te er mit­ge­bracht, und un­ter ih­nen war der bes­te Wund­hei­ler des Klos­ters. Auch ei­ni­ge Pack­pfer­de, die ver­schie­de­ne Din­ge tru­gen, wa­ren da­bei, und ich schöpf­te wie­der Hoff­nung, dass wir dem Mann mit der Bauch­wun­de noch hel­fen konn­ten.

Als uns die­se Grup­pe fast er­reicht hat­te, be­merk­te ich Liu Shi Meng, der aus der an­de­ren Rich­tung auf uns zu­streb­te. Sei­nem Ge­sichts­aus­druck zu­fol­ge hat­te er Er­folg ge­habt, denn er wirk­te fröh­lich und ent­spannt.

Be­vor ich mit ihm spre­chen konn­te, er­reich­te uns aber Chen Shi Mal und be­rich­te­te, wie es ihm er­gan­gen war.

So schnell ihn sei­ne Bei­ne tra­gen konn­ten, war er zum Klos­ter ge­lau­fen und hat­te es spät in der Nacht er­reicht. Ohne Auf­merk­sam­keit zu er­re­gen, weck­te er den Abt, Hu Kang, und be­rich­te­te ihm von den letz­ten Er­eig­nis­sen. Die­ser über­leg­te nicht lan­ge, such­te zehn ver­trau­ens­wür­di­ge Mön­che aus und bat sie, Chen Shi Mal zu be­glei­ten. Nach­dem al­les Not­wen­di­ge ver­schnürt war, bra­chen sie mit den Pack­pfer­den auf. Ih­rer Mei­nung nach hat­te sie nie­mand be­merkt, und der Abt woll­te den wah­ren Grund ih­rer Ab­we­sen­heit auch erst ein­mal ge­heim hal­ten. So hoff­ten wir, selbst wenn die Ver­mu­tun­gen, die wir teil­wei­se heg­ten, zu­tra­fen, vor­läu­fig un­be­hel­ligt zu blei­ben.

Ich hielt die Ge­sprä­che sehr kurz, denn die Ver­sor­gung der Ver­letz­ten er­schi­en mir wich­ti­ger. Als Ers­tes führ­te ich den Wund­hei­ler zu dem Mann mit der Bauch­wun­de, den er ein­ge­hend un­ter­such­te. Nach­dem er den Ver­band ent­fernt und die Wun­de aus­gie­big be­gut­ach­tet hat­te, stand er mit ei­nem be­dau­ern­den Ge­sichts­aus­druck auf.

›Ich wer­de al­les ver­su­chen, was ich kann, doch ich ma­che mir we­nig Hoff­nung, dass die­ser Mann den mor­gi­gen Tag über­lebt. Selbst wenn ich so­fort zu Stel­le ge­we­sen wäre, hät­te er ver­mut­lich nicht über­lebt, denn es sind in­ne­re Or­ga­ne ver­letzt.‹

Ich sah hi­n­un­ter auf die frei­ge­leg­te Wun­de und er­schrak über de­ren Aus­se­hen. Die Wun­drän­der wa­ren zwar ver­klebt, doch es war al­les ge­rö­tet, und die gan­ze Haut des Ver­letz­ten hat­te eine un­ge­sun­de gel­be Far­be. Es sah aus, als wür­de je­den Au­gen­blick Ei­ter aus der Wun­de her­vor­bre­chen. Auch der all­ge­mei­ne Zu­stand des Man­nes schi­en sich von Mi­nu­te zu Mi­nu­te zu ver­schlech­tern. Ich mach­te mir im­mer mehr Vor­wür­fe, dass wir nicht zu­erst die­sem Mann ge­hol­fen hat­ten. Viel­leicht hät­te un­se­re Kraft aus­ge­reicht, um ihn zu ret­ten.

Der Mönch hat­te mich die gan­ze Zeit be­ob­ach­te­te, be­merk­te mei­nen See­len­kampf, konn­te sich aber nicht er­klä­ren, warum ich so be­drückt war.

›Wie­so be­drückt dich der Zu­stand die­ses Man­nes so sehr? Als wel­chem Grund bist du so nie­der­ge­schla­gen?‹

Aus mei­nen Ge­dan­ken hoch­ge­schreckt, sah ich ihn an.

›Ich ma­che mir Vor­wür­fe, dass ich viel­leicht einen Feh­ler be­gan­gen habe.‹

Er schüt­tel­te den Kopf und stand auf.

›Die Wun­de hät­tet ihr mit dem Wis­sen und den Mit­teln, die ihr habt, nicht bes­ser ver­sor­gen kön­nen. Selbst ich kann nichts an den in­ne­ren Ver­let­zun­gen ma­chen. Wenn der Kör­per sie nicht selbst hei­len kann, sind auch mir die Hän­de ge­bun­den.‹

›Ja, und ge­ra­de des­halb hät­ten wir erst die­sem hier hel­fen müs­sen, um ihm ge­nü­gend Kraft zur Selbst­hei­lung zu ge­ben!‹, sag­te ich trau­rig.

Rat­los sah er mich an und er­kun­dig­te sich dann nach dem, was wir ge­tan hat­ten, und warum ich so dach­te. Ich führ­te ihn zu dem Mann mit der Hals­ver­let­zung und schil­der­te ihm un­ser Vor­ge­hen. Mit je­dem Wort, das ich sag­te, wur­den sei­ne Au­gen grö­ßer. Er mus­ter­te mich und Wang Lee mit ei­ner Mi­schung aus Er­stau­nen und Hoch­ach­tung.

›Ich wuss­te nicht, dass Han Li­ang Tian sein Wis­sen um die­se Kräf­te wei­ter­ge­ge­ben hat und dass es ihm ge­lun­gen ist, je­mand zu fin­den, der die­se Kräf­te auch nut­zen kann. Ich selbst hat­te es ver­sucht, doch mir fehlt die in­ne­re Kraft, um das zu be­wir­ken, was ihr be­herrscht.‹

Er schau­te sich den Mann mit der Hals­ver­let­zung nä­her an und ließ sich den Ver­lauf noch ein­mal ge­nau schil­dern.

›Ich den­ke, ohne die Hil­fe, die ihr ihm ge­ge­ben habt, hät­te er nicht über­lebt. Das Blut, das er he­r­aus­würg­te, wäre nach und nach in die Lun­gen ge­ra­ten und hät­te ihm ein qual­vol­les Ende be­rei­tet. Ihr habt mit eu­rer Kraft et­was be­wirkt, was kein Hei­ler mit nor­ma­len Mit­teln er­rei­chen kann. Und ich bin si­cher, wenn ihr das erst bei dem an­de­ren ge­tan hät­tet, dann wäre Hil­fe bei die­sem hier nicht mehr mög­lich ge­we­sen.‹

Er schau­te noch ein­mal von ei­nem zum an­de­ren und schüt­tel­te wie­der mit dem Kopf.

›Nein, so grau­sam es klingt, ihr habt un­be­wusst die rich­ti­ge Ent­schei­dung ge­trof­fen, denn so hat we­nigs­tens ei­ner die Mög­lich­keit zu über­le­ben!‹

Ich spür­te, dass es ihm ernst war mit dem, was er sag­te, doch es be­ru­hig­te mich nur we­nig. Noch lan­ge mach­te ich mir Vor­wür­fe, dass ich zu die­sem Zeit­punkt eine falsche Ent­schei­dung ge­trof­fen hat­te.

Der Hei­ler ging wie­der zu dem mit der Bauch­ver­let­zung. Zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Mönch, der sich in der Zwi­schen­zeit schon um den Mann ge­küm­mert hat­te, rei­nig­ten und ver­ban­den sie die Wun­de noch ein­mal. Dann flöß­ten sie dem Mann einen stär­ken­den Trunk ein, doch fast un­mit­tel­bar da­nach wand er sich in Krämp­fen, bis er zit­ternd und schwach at­mend in eine tie­fe Ohn­macht fiel.

Da ich die Ver­letz­ten in gu­ten Hän­den wuss­te, ging ich zu Liu Shi Meng. Ihn hat­te ich seit sei­ner An­kunft noch nicht ge­spro­chen, und ich woll­te ger­ne wis­sen, wie sei­ne Su­che ver­lau­fen war.

Er stand bei Chen Shi Mal, und sie un­ter­hiel­ten sich ge­ra­de über die letz­ten Er­eig­nis­se.

›Warst du er­folg­reich Liu Shi Meng?‹, frag­te ich, als ich bei ih­nen an­kam.

›Ja, ich hat­te doch noch sehr gut in Er­in­ne­rung, wie Han Li­ang Tian mir da­mals den Weg in das Dorf be­schrie­ben hat­te. Als ich den Dorf­be­woh­nern von den letz­ten Er­eig­nis­sen be­rich­te­te und sie frag­te, ob sie uns hel­fen wür­den, ver­spra­chen sie es so­fort. Sie be­rei­ten al­les für un­se­re An­kunft vor, und Män­ner des Dor­fes wer­den mor­gen früh hier sein, um uns beim Trans­port zu hel­fen.‹

›Das ist wirk­lich eine gute Nach­richt! Nun müs­sen wir nur noch se­hen, dass wir auch be­reit sind, mor­gen früh auf­zu­bre­chen.‹

›Wie­so soll­ten wir nicht?‹, warf Chen Shi Mal ein.

›Nun, wir müs­sen uns ja noch um die To­ten küm­mern! Oder willst du sie ein­fach so lie­gen las­sen?‹

Chen Shi Mal sah sich er­staunt um, denn er hat­te die Lei­chen nir­gend­wo ge­se­hen. Das konn­te er auch nicht, denn die Ja­pa­ner hat­ten alle To­ten am Vor­tag in die Sei­ten­schlucht ge­tra­gen, aus der der klei­ne Fluss kam.

Wir mach­ten uns auf den Weg, um uns vor Ort einen Über­blick zu ver­schaf­fen, und kurz vor dem Ziel er­hiel­ten wir Ge­sell­schaft. Wang Lee, Date Ma­sa­mu­ne und der Dol­met­scher schlos­sen sich uns an.

Der Blick in die Sei­ten­schlucht öff­ne­te sich, und wir sa­hen die to­ten Ja­pa­ner, die, so gut das mit den vor­han­de­nen Mit­teln ging, eh­ren­voll auf­ge­bart wa­ren. Da­vor stand ei­ner der nur leicht ver­letz­ten Sol­da­ten und hielt Wa­che. In ei­ni­ger Ent­fer­nung an der Fels­wand wa­ren die to­ten Chi­ne­sen lieb­los auf einen Hau­fen ge­wor­fen. Es war ein trau­ri­ger An­blick, und ich stock­te kurz, um das zu ver­ar­bei­ten.

Der Fürst sah mich fra­gend an, und der Sa­mu­rai sprach aus, was die­ser dach­te:

›Fin­den Sie die Be­hand­lung der to­ten An­grei­fer un­ge­recht­fer­tigt?‹

Ihm in die Au­gen bli­ckend, ant­wor­te­te ich:

›So wür­de ich das nicht aus­drücken. Ich fin­de den sinn­lo­sen Tod so vie­ler Men­schen be­drückend und be­dau­re, dass Ih­nen und Ih­ren Män­nern so viel Leid zu­ge­fügt wur­de.‹

Ka­ta­ku­ra Shi­ge­na­ga nick­te und über­setz­te dem Fürs­ten mei­ne Ant­wort, um mir gleich dar­auf des­sen Wor­te zu über­mit­teln.

›Date Ma­sa­mu­ne be­dankt sich für Ihre freund­li­chen Wor­te und möch­te wis­sen, wie es wei­ter­geht.‹

Ich er­klär­te ihm, dass wir am nächs­ten Mor­gen in das Dorf auf­bre­chen woll­ten, uns aber vor­her noch um die To­ten küm­mern müss­ten. Der Fürst stimm­te zu und frag­te, ob es uns mög­lich wäre, sei­ne Lands­män­ner mit bud­dhis­ti­schen Bräu­chen zu be­stat­ten.

Ich be­riet mich kurz mit mei­nen Freun­den, und wir ka­men über­ein, dass Chen Shi Mal mit zwei wei­te­ren Mön­chen die Su­tren, also die Re­den des Bud­dha, vor­le­sen wür­de. Au­ßer­dem soll­te je­der, der ein we­nig Zeit hat­te, sich zu ih­nen ge­sel­len, um der To­ten zu ge­den­ken. Ich woll­te in der Zwi­schen­zeit mit Hil­fe von Wang Lee und Liu Shi Meng die Grä­ber am Fluss­rand aus­he­ben.

Als wir die Ja­pa­ner schließ­lich be­stat­tet hat­ten, häuf­ten wir über ih­ren Grä­bern klei­ne Stein­py­ra­mi­den an, da­mit die­ser Ort auch von zu­fäl­lig Vor­bei­kom­men­den ent­spre­chend ge­ehrt wur­de. An­schlie­ßend woll­ten wir die Chi­ne­sen da­ne­ben be­stat­ten, doch der Fürst ver­wahr­te sich ener­gisch da­ge­gen, und um kei­ne Miss­s­tim­mung auf­kom­men zu las­sen, wur­den sie an der Fels­wand be­gra­ben. Da es dort nicht mög­lich war, tief ge­nug in den Bo­den ein­zu­drin­gen, war es am Ende nur ein großer Stein­hau­fen, der das Grab kenn­zeich­ne­te.

Die Su­tren wur­den auch bei die­sen To­ten ge­le­sen, doch zu de­ren Ge­den­ken fand sich kei­ner au­ßer Wang Lee und mir ein. Je­der von uns bei­den hing stumm sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach.