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Die Welt der Samurai ist zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts im Umbruch. Viele verlieren den Sinn ihres Lebens, denn die Zeit der großen Kriege ist vorbei. Der Daimyo, Date Masamune, in seinen jungen Jahren ein erbarmungsloser, machtbesessener Samurai, passt sich an. Er erkennt, dass nun die Diplomatie am Zuge ist, und behauptet sich in dieser Kunst genauso gut wie auf dem Schlachtfeld. Günter Kaufmann, ein unter mysteriösen Umständen im chinesischen Shaolin-Kloster gestrandeter Deutscher, wird zu seinem Hatamoto, und lernt Kazuko, eine außergewöhnliche junge Frau, kennen. Das Glück scheint ihm endlich gewogen, doch Licht und Schatten liegen dicht beieinander. Wieder steht ein Wandel an. Der Protagonist wechselt in ein Umfeld von Kriegern, die nach außen hin nur Härte zeigen. Der Wunsch sich einzugliedern führt, von ihm unbemerkt, zur Änderung seines Wesens. Doch auch hier findet er wieder Freunde und Mentoren. Auch sie verhelfen ihm wieder zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Eine junge Frau, durch einen Kindheitsunfall leicht gehbehindert, tritt in sein Leben. Trotz, oder wegen ihrer Behinderung, wirkt sie stark, selbstbewusst und übernimmt auch oft die Führung. Tiefe Gefühle werden sein neuer Begleiter. Zweite Ausgabe mit neuem Cover und Beseitigung kleinerer Fehler im Text.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Joachim R. Steudel
Traum oder wahres Leben
Gifuto - Das Geschenk
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Wiedersehen
Nach dem Kampf
Das Angebot
Fehlverhalten mit Folgen
Ninja und Kazuko
Der Schmied
Informationen
Gefahr
Wechselbad der Gefühle
Zwei von vier Tagen
Gastmahl und Heilversuch
Der Auftrag des Daimyo
Kampf und Gespräche
Feuer in Bandai
Kinderwunsch und Abschied von Sendai
Die neue Heimat, Dauerregen und Ronin
Zeit der Trauer
Glossar und Nachbemerkung
Buchliste
Impressum
Schon seit geraumer Zeit lief die junge Frau suchend durch Lauscha. Sie hatte fast den ganzen Ort durchwandert und auf Grund der Gebirgslage einige Straßen auch mehrfach erkundet. Nun lief sie zum zweiten Mal an dieser Straßenbaustelle vorbei, und die Männer dort blickten sie wieder mit unverhohlener Neugier an. Sofort stellte sich bei ihr dieses ungute Gefühl ein. Sie fühlte sich durchschaut, erkannt und erniedrigt.
Nur schnell vorbei, dachte sie, doch das sollte ihr nicht gelingen. Einer der Bauarbeiter steuerte direkt auf sie zu.
Nachdem er sich mehrfach bewundernd über die junge Frau geäußert hatte, wurde er von seinen Kollegen so lange angestachelt, bis er allen Mut zusammennahm und auf sie zuging. Sie bemerkte das und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken oder umgekehrt, doch dazu war es bereits zu spät.
»Hallo, Sie sehen so suchend aus, kann ich Ihnen helfen?«
Oh, der scheint ja recht freundlich und nicht nur auf eine dumme Anmache aus zu sein, stellte sie erleichtert fest.
»Ja, vielleicht. Ich suche das Haus eines Bekannten und habe dummerweise seine Adresse nicht aufgeschrieben«, antwortete sie ausweichend.
»Wie heißt denn ihr Bekannter? Lauscha ist überschaubar, vielleicht kenne ich ihn ja.«
Ihr Gesicht hellte sich auf.
»Günter Kaufmann heißt er, und nach den Bildern, die er mir gezeigt hat, wohnt er in einem relativ neuen Einfamilienhaus. Er hat vor etwas mehr als einem Jahr seine gesamte Familie bei einem schweren Verkehrsunfall verloren.«
Das Gesicht des Bauarbeiters veränderte sich schlagartig und mit einem traurigen Blick deutete er nach rechts den Hang hinauf.
»Dort oben, hinter den zwei größeren Häusern, ist eine schmale Zufahrtsstraße, an der mehrere neue Einfamilienhäuser stehen. Das vorletzte gehört Herrn Kaufmann. Wenn Sie hier vorn rechts einbiegen, sich an der nächsten Kreuzung links halten und anschließend immer wieder rechts abbiegen, können Sie es nicht verfehlen.«
»Danke!«, sagte sie hocherfreut und wollte sich auf den Weg machen, doch der Bauarbeiter hielt sie noch einmal auf.
»Warten Sie! Etwas muss ich Ihnen noch sagen! Ich weiß nicht, wann und wo Sie Herrn Kaufmann zum letzten Mal gesehen haben, doch seit dem Unfall hat er sich sehr verändert. Ich wohne ganz in der Nähe, und wir haben uns früher manchmal getroffen, aber nach dem Tod seiner Familie war er nicht mehr derselbe. Erst war er total am Boden und nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hat sein Geschäft vernachlässigt, und viele haben schon befürchtet, dass es den Bach runtergeht. Manchmal ist er, ohne zu sagen wohin, einfach verschwunden und Tage später erst wieder aufgetaucht. Dann hat er ohne irgendeine Begründung sein Geschäft plötzlich abgegeben. Man munkelt, er hätte so eine Art Aktienfonds eingerichtet und diesen unter seinen Angestellten aufgeteilt. Die fähigsten von ihnen hat er zur Leitung der Firma bestimmt und ihnen alle weiteren Entscheidungen überlassen. Er soll zwar bei Fragen und Problemen immer noch zur Verfügung stehen, aber ansonsten kümmert er sich nicht mehr um das Geschäft.«
Er holte tief Luft und schüttelte den Kopf.
»Ich sehe ihn noch ab und zu, doch ich habe das Gefühl, dass er jetzt ein ganz anderer Mensch ist. Er meidet den Kontakt mit anderen und sucht die Einsamkeit. Manchmal habe ich ihn in den Bergen stundenlang still an einem Fleck sitzen sehen, und er schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Irgendwie ist er sehr seltsam geworden. Also wenn Sie ihn von früher her kennen, dann sollten Sie keinen überschwänglichen Empfang erwarten.«
Sie lächelte ihn an und sagte:
»Danke für den Tipp, aber ich denke, er wird mich schon erwarten. Wir haben uns erst vor einigen Tagen zufällig getroffen und hatten ein langes und interessantes Gespräch. Also nochmals danke für alles und: Auf Wiedersehen!«
Mit diesen Worten wendete sie sich ab und folgte dem beschriebenen Weg.
Ihr nachdenklich nachschauend, ging der Bauarbeiter zurück zu seinen Kollegen, und diese empfingen ihn mit neugierigen Worten:
»Eh, das war ja anscheinend eine sehr erfolgreiche Anmache! Du hast ihr wohl gleich den Weg zu dir nach Hause beschrieben?«
»Quatschkopp, seh ich so aus, als ob so ne Frau auf mich fliegen würde!? Ne, sie wollte wissen, wo der Kaufmann wohnt. Kennt ihn irgendwoher und will ihn besuchen.«
»Na, dann viel Spaß! Der lässt sich doch auf kein Gespräch mehr ein.«
»Glaub ich nicht! Sie scheint ihn erst vor kurzem getroffen zu haben. Auf alle Fälle kennt sie ihn recht gut, denn nichts von dem, was ich über ihn gesagt habe, hat sie wirklich überrascht.«
»Vielleicht ist das ja so ne Psycho-Tante, die ihn wieder auf die Reihe kriegen will«, sagte ein Dritter und schaute ihr noch einmal hinterher.
In diesem Augenblick bog die junge Frau in die Seitenstraße ein und entschwand ihren Blicken. Zügig schritt sie den beschriebenen Weg entlang, und als sie die Zufahrtsstraße erreichte, beschlich sie das Gefühl, dieses Bild schon einmal gesehen zu haben. Sie dachte einen Augenblick nach und erinnerte sich an Bilder aus der Geschichte des Mannes, den sie suchte. Nun brauchte sie die Beschreibung des Bauarbeiters nicht mehr. Schnell und sicher strebte sie dem Haus zu und erkannte es sofort wieder. Ein Blick auf die Klingel, und sie wusste, sie war richtig.
Sie holte tief Luft, drückte auf den Klingelknopf und schaute erwartungsvoll zur Haustür. Doch nichts bewegte sich, kein Geräusch war zu hören, und niemand war zu sehen. Noch zweimal wiederholte sie diesen Versuch, dann war ihr klar, es war niemand zu Hause.
Was nun? Sollte sie umkehren und ein anderes Mal wiederkommen? Aber da wären die Chancen auch nicht besser. Genauso gut konnte sie warten, vielleicht war er ja nur kurz weggegangen und kam bald zurück. Sie schaute sich um und stellte fest, dass das Haus in einer sehr schönen Lage stand. Nicht weit hinter dem Haus begann der Wald, der sich über den gesamten restlichen Hang bis zum Gipfel des Berges hinzog. Nur noch ein Haus folgte, und dann endete die Straße in einer sanft abfallenden Wiese. Dieser strebte sie nun zu. Das Gras war noch nicht lange gemäht, und die jungen frischen Spitzen verliehen der Wiese eine saftig grüne Farbe. Nachdenklich setzte sie sich und schaute ins Tal.
Eine angenehme Ruhe umgab sie. Nur Vogelstimmen und der leichte Wind, der mit den Blättern der Bäume spielte, waren zu hören. Erst wenn man sich sehr anstrengte, konnte man die Geräusche aus der im Tal liegenden Stadt wahrnehmen. Diese wirkten jedoch nicht störend, im Gegenteil, sie waren leise und nahmen einem das Gefühl der Einsamkeit.
Langsam wanderte ihr Blick über die schöne Landschaft, und es dauerte nicht lange, bis sie sich in diesen Ort verliebt hatte. Träumerisch schaute sie von einem Fleck zum anderen, doch nach einiger Zeit nahm sie nichts mehr davon wahr. In ihren Gedanken tauchten Bilder der Geschichte auf, die sie hierher geführt hatte.
Sie konnte nicht sagen, wie lange sie so gesessen hatte, als hinter ihr eine wohlbekannte Stimme ertönte.
»Wenn Sie keinen Sonnenbrand haben wollen, sollten Sie nicht so in der prallen Sonne sitzen.«
Sie fuhr herum und schaute in das freundliche Gesicht des Mannes, den Sie gesucht hatte.
»Hallo!«, sagte sie und stand auf. »Ich denke, Sie werden mich erwartet haben, und ich möchte gerne erfahren, wie diese Geschichte ausgegangen ist.«
Schmunzelnd sah er sie an.
»Naja, sagen wir, ich habe gehofft, dass Sie nicht tun, was Sie auf diesen Berg geführt hatte, und wenn Sie es möchten, dann werde ich Ihnen auch den Rest der Geschichte erzählen. Aber eins sollten Sie wissen. Es könnte länger dauern.«
»Das hab ich mir schon gedacht, doch die Bilder dieser Geschichte lassen mich nicht mehr los, und ich denke auch, dass es nicht nur eine Geschichte ist, sondern ein gelebtes Leben. Ich weiß zwar nicht, wie das möglich ist, doch vielleicht werde ich es ja noch erfahren.«
»Na, dann kommen Sie mal mit. Wir können uns auf die Terrasse hinterm Haus setzen, dort ist es jetzt etwas schattig, und das dürfte Ihrer Haut guttun.«
Sie sah sich ihre schon leicht geröteten Arme an und stimmte dankbar zu. Auf dem Weg zum Haus musterte sie ihn prüfend. Das Bild, das sie von ihm hatte, und seine Ausstrahlung passten so gar nicht zu dem, was der Bauarbeiter über ihn geäußert hatte. Doch wahrscheinlich ist das so, wenn sich ein Mensch geändert hat und nicht mehr in die Schablone passt, die man anlegt. Nur Außenstehende konnten sein neues und wahres Ich erkennen, alle anderen hielten ihn für übergeschnappt oder bestenfalls von den tragischen Ereignissen gezeichnet.
Sie betraten den kleinen Vorgarten, und er führte sie um das Haus herum zu der schön angelegten Terrasse. Dort bat er sie, auf der Hollywoodschaukel Platz zu nehmen, und rückte einen kleinen Tisch heran. Anschließend schloss er die Tür auf, die von der Terrasse ins Wohnzimmer führte. Von da ging er in die Küche, um Gläser und etwas zum Trinken zu holen.
»Was möchten Sie trinken? Ich habe gut gekühlten Apfelsaft, Orangenlimonade und einfachen Sprudel«, rief er aus dem Haus heraus.
»Vielleicht den Apfelsaft. Oder warten Sie, bringen Sie den Sprudel doch mit. Mit Wasser verdünnten Apfelsaft trink ich eigentlich sehr gerne.«
Mit den beiden Flaschen und zwei Gläsern in der Hand kam er wieder heraus. Nachdem er ihr eingegossen hatte, zog er einen Gartenstuhl heran und setzte sich ihr gegenüber hin. Lange und eindringlich schaute er sie an.
Seltsamerweise empfand sie diesen Blick nicht als unangenehm, sondern es wurde ihr dabei richtig warm ums Herz. Sie hielt seinem Blick lange stand, und erst als er sie ansprach, griff sie zum Glas und trank in tiefen Zügen.
»Was hat Ihre Meinung geändert? Was hat Sie bewogen, doch das Leben zu wählen?«
»Ich kann es Ihnen nicht genau sagen! Zum einen sicherlich die Neugierde, denn ich möchte zu gerne wissen, wie die Geschichte weitergeht.«
Sie machte eine Pause und dachte angestrengt nach, doch als sie eine Weile später immer noch nicht fortfuhr, fragte er:
»Und zum anderen?«
Ruckartig blickte sie von dem Glas hoch, das sie angestrengt fixiert hatte.
»Ja, und zum anderen hat mich einiges nachdenklich gemacht. Das, was Sie mir erzählt haben, oder besser gesagt, was ich mit Ihnen erlebt habe, hat mich sehr beschäftigt. Jetzt frage ich mich, ob ich das Recht habe, einfach so aus meinem Leben zu flüchten. Vielleicht kann ich diesem ja ein neues Ziel geben, einen neuen Weg finden, um ein sinnvolles und erfülltes Leben zu führen.«
Sie holte tief Luft, schüttelte den Kopf und sah ihm in die Augen.
»Ich weiß es nicht. Doch ich möchte gerne mehr hören von Ihrer Geschichte. Sie haben bei unserem ersten Treffen so plötzlich abgebrochen und sind dann so schnell verschwunden. Warum? Was hat Sie dazu veranlasst?«
Nun war er es, der tief Luft holte und überlegte. Was und wie viel durfte er ihr erzählen? Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte, sie dabei anlächelnd:
»Das ist schwierig zu erklären, aber ich merke, dass ich das, was ich einmal begonnen habe, auch irgendwie zu Ende führen muss. Ich hoffe, Sie haben genügend Zeit mitgebracht!?«
»Ja, natürlich! Nur deshalb bin ich hier.«
»Gut, dann würde ich vorschlagen, wir lassen das mit dem Sie sein, denn Sie, oder besser gesagt, du tauchst so tief in meine Welt ein und erfährst so viele intime, persönliche Dinge, dass es schon ein wenig seltsam klingt, wenn wir uns weiter siezen.«
»Ja doch! Gerne! Ich heiße Sarah, Sarah Liebherr, und wie soll ich dich nennen? Günter Kaufmann, Gü Mann, Xu Shen Po oder vielleicht noch anders?«
»He, du kannst ja sogar sarkastisch sein!«, sagte er mit einem kurzen Auflachen. »Doch Spaß beiseite, ich bin Günter Kaufmann, denn das ist der Name, den ich bei meiner Geburt erhalten habe, alles andere war nur zweckbedingt und spielt keine Rolle im Jetzt und Hier.«
»Also Günter, warum bist du letztens so schnell verschwunden?«
»Du hast ja Leute getroffen, als du zu deinem Auto gelaufen bist, und hast sicherlich auch gemerkt, dass mit mir und um mich manches anders ist als bei anderen.«
Sie nickte und sah ihn gespannt an.
»Nun ja, es waren zwar andere Leute, als ich befürchtet hatte, aber auch solche können von dem, was sie gesehen und gehört haben, berichten. Durch die weltweite Vernetzung und durch den problemlosen Zugang zu bestimmten Medien gelangt eine Nachricht dann sehr schnell von einem zum anderen. Es ist also bloß eine Frage der Zeit, bis bestimmte Menschen davon erfahren. Inzwischen haben sich Gruppen gebildet, die jedem ungewöhnlichen Ereignis nachspüren, es auswerten, sich Meinungen dazu bilden und dann einer breiten Masse zugänglich machen.«
Er lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.
»Nun, stell dir vor, diese Menschen würden von meiner Geschichte erfahren. Was würde wohl geschehen? Wo könnte ich noch in Frieden leben, ohne dass mir ständig jemand an den Fersen klebt? Und außerdem ...«
Mit einem Ruck richtete er sich wieder auf und öffnete die Augen. »Außerdem könnte es ja auch nur ein Traum sein.«
Sie schüttelte den Kopf, deutete auf seine linke Brust und sagte:
»Das glaub ich nicht! Dazu hab ich diese Geschichte viel zu deutlich erlebt und nicht nur gehört. Und da, auf deiner linken Brust, dass könnte die Narbe sein, die von dem Trainingsunfall in Wudang stammt.«
Auf Grund des warmen Sommertages hatte er das Hemd weit aufgeknöpft, und nun war es im Sitzen verrutscht. Dadurch war der Blick auf die pflaumengroße Narbe, die auf seiner linken Brust prangte, frei geworden. Er schaute hinunter und knöpfte lächelnd sein Hemd weiter zu.
»Gut aufgepasst! Aber es könnte auch anders sein, und die Narbe hat vielleicht einen ganz anderen Hintergrund. Doch das spielt jetzt keine Rolle! Du sollst selbst festlegen, was du glauben willst und was nicht. Ich denke, jede Geschichte und jedes Leben ist es wert, dass man genauer darüber nachdenkt. Vielleicht kann man ja einiges daraus lernen, für sich verwerten und mit diesen Erfahrungen etwas besser machen. Vieles von dem, was das Leben und die Menschheit verändert hat, baut auf solchen Erfahrungen auf.«
»Ich weiß, das hab ich schon bei den Gesprächen erkannt, die du mit Han Liang Tian und Tiang Li Yang geführt hast. Was ist eigentlich aus deinen chinesischen Freunden geworden? Du hast bei unserem Abschied angedeutet, dass du China dann verlassen hast.«
»Ja, das war auch so, und von meinen Freunden, die ich in dieser Zeit gewonnen hatte, habe ich bis auf Lei Cheng keinen mehr zu Gesicht bekommen. Doch das war viel, viel später und ein sehr großer Zufall. Aber diese Geschichte werde ich vielleicht ein anderes Mal erzählen. Jetzt möchte ich erst einmal dort fortfahren, wo wir bei unserem letzten Treffen unterbrochen wurden.«
Er beugte sich vor und legte seine Hand auf den Tisch.
»Gib mir deine Hand, Sarah. Du weißt, dass du die Geschichte so besser erleben kannst, und es ist auch einfacher für mich.“
Sie legte Ihre Hand in die seine und schloss die Augen. Jetzt hatte sie keine Angst mehr davor, sich so zu ergeben und fallen zu lassen. Beim ersten Mal war es eine neue beängstigende Erfahrung gewesen, doch nun wartete sie mit Spannung darauf, wieder in diese Geschichte einzutauchen.
Kaum hatte sie ihre Hand in die seine gelegt, spürte sie wieder diese Ruhe und Kraft, die sie durchströmte. Alles um sie herum verblasste, und die Bilder der letzten Ereignisse stiegen in ihr auf, während sie die erklärenden Gedanken von ihm wahrnahm.
»Nachdem wir die japanische Gesandtschaft aus ihrer gefährlichen Lage befreit hatten, habe ich mich an dem kleinen Fluss gereinigt. Wang Lees Versuche, mich zu beruhigen, hatten nicht wirklich Erfolg. Es war für mich das erste Mal gewesen, dass ich an einem Kampf teilgenommen hatte, bei dem Menschen zu Tode kamen. Meine Gedanken kreisten darum, ob ich das Recht gehabt hatte, hier einzugreifen. Nur der Umstand, dass im anderen Fall die Japaner vermutlich umgekommen wären, beruhigte mich ein wenig. Dennoch sollte mich dieses Geschehen noch lange beschäftigen.
Aber vorerst hatte ich keine Zeit, mich diesen Gedanken weiter hinzugeben. Der japanische Fürst kam mit seinem Gefolgsmann auf mich zu. Als sie uns erreicht hatten, neigten sie leicht den Kopf, und der Gefolgsmann des Daimyo sprach mich an. Sein Chinesisch war ein wenig gebrochen, aber gut verständlich.
›Fürst Date Masamune möchte sich bei Ihnen für Ihr hilfreiches Eingreifen bedanken! Wir stehen tief in Ihrer Schuld, und unsere Dankbarkeit kann Ihnen gewiss sein.‹
Die rechte Hand senkrecht vor die Brust haltend, neigte ich ebenfalls den Kopf und grüßte zurück.
›Jeder, der in Bedrängnis gerät, kann meiner Hilfe gewiss sein, doch ich habe nichts getan, was nicht auch alle anderen Brüder aus Shaolin tun würden.‹
›Ja, wir haben gemerkt, dass das, was der Abt uns vorspielen ließ, nicht der Wahrheit entspricht. Ihr seid große Kämpfer und habt ein starkes Chi. Ich habe auch bemerkt, dass schon die Kraft Eures Chi starke Krieger dazu bringen kann, ihre Schwerter zu senken‹, sagte er mit einem hintergründigen Lächeln.
Ich wusste, dass er auf den Zusammenstoss, den Wang Lee und ich mit zwei seiner Männer gehabt hatten, anspielte. Doch darauf wollte ich nicht eingehen, und glücklicherweise richtete nun der Daimyo sein Wort an mich. Da dieser aber nicht Chinesisch sprach, musste sein Gefolgsmann übersetzen.
›Fürst Date Masamune möchte wissen, wie es kommt, dass ihr uns gefolgt seid, und wer diese Angreifer waren!?‹
›Wer diese Angreifer waren, kann ich auch noch nicht sagen, doch wir werden versuchen, es herauszubekommen. Und dass wir hierher kamen, war eigentlich Zufall. Ich wollte eine längere Reise antreten, und meine Freunde haben mich bis Dengfeng begleitet. Als wir dort erfuhren, dass Sie nicht durch diesen Ort gekommen waren, war uns klar, dass etwas nicht stimmte. Dieser Weg hier ist der einzige, den Sie noch nehmen konnten, doch er ist beschwerlich, man kommt nicht schneller ans Ziel, und nur wenige kennen ihn. Als uns das bewusst wurde, verstärkte sich mein ungutes Gefühl, und wir beeilten uns, Sie zu erreichen. Auf halbem Weg fanden wir dann einen Ihrer verwundeten Soldaten, der Hilfe holen wollte, aber nicht weiterkam.‹
Beim letzten Satz hatte der Samurai aufgehorcht und ließ sich den Soldaten genau beschreiben. Er nickte verstehend und übersetzte das bisher Gehörte dem Daimyo. Ungeduldig forderte mich dieser durch den Übersetzer auf weiterzuerzählen. Ich verstand dies nicht ganz, kam aber schulterzuckend seiner Aufforderung nach.
›Nun, da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Aus den Gesten und dem Zustand des Soldaten schloss ich, dass es einen Überfall gegeben hatte und dass Ihre Gruppe dringend Hilfe brauchte. Einer meiner Freunde blieb zurück, um sich um den Verwundeten zu kümmern, und wir anderen beeilten uns, Sie zu erreichen. Tja, den Rest haben Sie ja mitbekommen.‹
›Der Verwundete, wie geht es ihm?‹, fragte der Samurai ungeduldig.
Verwundert über so viel Anteilnahme an einem einfachen Soldaten sah ich ihm und dem Daimyo in die Augen. Sie schienen beide sehr besorgt um das Leben dieses Mannes zu sein, und ich kam ihrem Wunsch nach:
›Er ist ein tapferer Mann und obwohl er so schwer verletzt ist, dass er sich nicht aufrichten konnte, blickte ich erst einmal in sein Schwert. Ich denke, bei guter Pflege, und wir haben im Kloster sehr gute Wundheiler, wird er wieder völlig genesen. Es wird zwar etwas dauern, doch er wird seinen Dienst bei Ihnen wieder aufnehmen können.‹
Der Samurai beeilte sich, das Gehörte seinem Fürsten zu übersetzen, und dieser schien sichtlich erleichtert. Wieder verneigte er sich vor mir und richtete einige Worte an mich. Mit einem freundlichen Lächeln übersetzte sie sein Gefolgsmann:
›Der Fürst ist Ihnen nun noch mehr verpflichtet, denn es ist sein Sohn, den Sie da gefunden haben. Er ist Ihnen auch sehr dankbar, dass gleich einer Ihrer Freunde bei ihm geblieben ist, um ihn zu pflegen.‹
Ich war sehr erstaunt. Dieser junge Mann hatte nicht den Eindruck einer höhergestellten Person erweckt. Er war immer mit den einfachen Soldaten unterwegs und im Kloster auch so untergebracht gewesen. Sein Auftreten und seine Behandlung durch die anderen hatten immer auf einen untergeordneten Soldaten hingedeutet. Der Grund dafür interessierte mich sehr, und ich wollte mich schon danach erkundigen. Doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das jetzt nicht angebracht wäre. Deshalb beließ ich es vorerst dabei und sagte in der Hoffnung, später mehr zu erfahren:
›Es gibt keinen Grund für besondere Dankbarkeit, denn wie ich schon sagte, jeder, der in Not ist, kann auf unsere Hilfe zählen.‹
Die beiden verneigten sich noch einmal achtungsvoll vor uns, und dann begaben wir uns zu den Verwundeten. Chen Shi Mal war schon bei ihnen und schaute sich die Verletzungen der Überlebenden an. Außer dem Daimyo und dem Samurai, der als Übersetzer auftrat, hatten nur noch zwei mit relativ geringfügigen Verletzungen überlebt. Diese bedurften unserer Hilfe nicht, und wir kümmerten uns um die fünf Schwerverletzten, die etwas weiter hinten in der Seitenschlucht lagen.
Sie hatten unterschiedliche, aber teilweise sehr tiefe und gefährliche Wunden davongetragen. Eine Gemeinsamkeit verband sie aber alle. Sie hatten sehr viel Blut verloren und waren sehr schwach.
Vorsichtig trugen wir sie in das weite Tal und richteten dort ein provisorisches Lager ein. Wir versorgten die Verletzungen, so gut das unter den derzeitigen Bedingungen möglich war, kamen dann aber überein, dass wir Hilfe benötigen würden. Deshalb berieten wir, wie das geschehen sollte.
›Es muss jemand zurück nach Shaolin und Hilfe holen, denn ins Kloster können wir die Verletzten nicht transportieren. Zum einen sind wir zu wenige dazu, und zum anderen würden das einige nicht überleben.‹
›Da stimm ich dir zu, Chen Shi Mal!‹, antwortete ich. ›Ich bin der Schnellste von uns, vielleicht wäre es am besten, ich würde mich gleich auf den Weg machen. Wenn ich keine Pause einlege, könnte ich morgen Vormittag mit Hilfe wieder zurück sein.‹
Wang Lee machte ein bedenkliches Gesicht und warf ein:
›Ich weiß nicht?! Habt Ihr euch die toten Angreifer einmal genauer angeschaut? Ich hatte den Eindruck, einige dieser Gesichter schon einmal gesehen zu haben, und zwar im Kloster.‹
›Stimmt, wenn ich mich nicht irre, gehörte zumindest einer zu der Gruppe, die mit Mao Lu Peng vom Kaiserhof zurückkam. Ich hab diese Männer aber nur kurz gesehen, und ich kann mich auch täuschen. Es gibt mittlerweile so viele, die zu Kämpfern ausgebildet werden, aber keine Mönche sind, dass man sich nicht mehr jedes Gesicht merken kann‹, erwiderte Chen Shi Mal.
Wang Lee nickte bestätigend.
›Und genau aus diesem Grund ist es vielleicht nicht so gut, wenn Xu Shen Po noch einmal im Kloster auftaucht. Alle denken, er hat es für immer verlassen, und wenn Mao Lu Peng in die Sache verwickelt sein sollte, müssen wir ihn nicht darauf aufmerksam machen, dass es vielleicht nicht so lief, wie er es sich gewünscht hat.‹
Erstaunt sah ich ihn an.
›Wie kommst du denn darauf? Ich dachte, das wären Banditen gewesen.‹
›Ich kann es dir nicht erklären! Doch ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache, und wir müssen doch kein Risiko eingehen! Wenn Chen Shi Mal oder ich wieder im Kloster auftauchen, erweckt das keinen Verdacht, und wir können ein paar wenige vertrauenswürdige Leute mitbringen. Ansonsten sollten wir aber erst einmal Stillschweigen über die Vorgänge von hier wahren.‹
Nachdenklich schaute ich von einem zum anderen.
›Na ja. Wenn ihr denkt. Aber vielleicht wäre es gut, wenn ihr zusammen losgeht und einer von euch dann mit Liu Shi Meng den verletzten Sohn des Fürsten hierher bringt. Vielleicht könnt ihr euch eine Trage bauen und ihn hertragen. Ich bleib erst mal hier und kümmere mich so lange um die anderen Verletzten.‹
Die beiden stimmten zu und brachen sofort auf. Anschließend erklärte ich den Japanern, was wir beschlossen hatten.
Da der Daimyo und sein Gefolgsmann mit der Pflege der Verwundeten nicht viel im Sinn hatten, war ich auf mich allein gestellt. Während ich versuchte, alles Wissen, das ich in dieser Beziehung von den Mönchen erhalten hatte, aus meinem Gedächtnis hervorzukramen, machten sich der Daimyo mit seinen noch aktionsfähigen Männern auf, um die Pferde wieder einzufangen. Auch ihre verstreut herumliegenden Sachen sammelten sie wieder ein.
Bald brachten sie mir einige Nahrungsmittel und Kleidungsstücke, aus denen ich Stoffstreifen zum Verbinden machte. So gelang es mir, die Verwundeten notdürftig zu versorgen.
Als das letzte Tageslicht schon fast geschwunden war, kamen Wang Lee und Liu Shi Meng mit dem verletzten Sohn des Fürsten in unserem Lager an. Ich hatte erwartet, dass der Daimyo sich gleich um seinen Sohn kümmern würde, doch er warf nur einen kurzen Blick auf diesen und beachtete ihn dann nicht weiter.
Das konnte ich überhaupt nicht verstehen, und in einem günstigen Augenblick erkundigte ich mich bei dem chinesisch sprechenden Samurai nach dem Grund dieses Verhaltens.
›Gestatten Sie eine Frage?‹
›Natürlich, warum denn nicht!?‹
›Nun, ich kann einiges nicht verstehen, habe aber das Gefühl, dass es ein Tabuthema ist.‹
›Wir werden sehen!‹
›Als ich Ihnen erzählte, dass wir den Sohn des Fürsten schwer verletzt gefunden hatten, schienen Sie beide sehr besorgt um ihn zu sein und waren froh, dass er Pflege erhielt. Doch als er hier im Lager ankam, wurde er von Ihnen kaum eines Blickes gewürdigt. Wieso? Und warum ist er als Sohn des Fürsten unter den einfachen Soldaten und wird von allen auch so behandelt?‹
Im ersten Augenblick verschloss sich die Miene des Samurai, und ich hatte den Eindruck, er würde mich aufbrausend abweisen, aber dann besann er sich.
›Das lässt sich nicht so leicht beantworten, denn es besteht ein recht gespanntes Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Außerdem gibt es in unserem Land einen anderen Verhaltenskodex als in Ihrem. Ehre und die Verpflichtungen gegenüber Höhergestellten werden bei uns anders bewertet als bei Ihnen.‹
›Das mag schon sein, doch ich habe die Sorge und die Liebe zu seinem Sohn im Auge des Fürsten gesehen. Was hindert ihn daran, ihm diese auch zu zeigen?‹
Der Samurai holte tief Luft und stieß sie mit Druck wieder aus.
›Sie geben aber auch keine Ruhe. Nun gut, ich werde versuchen, Ihnen die Situation zu erklären.‹
Er schaute sich kurz um, nickte zufrieden und sagte dann:
›Der zweitälteste Sohn des Fürsten wurde bis vor einem Jahr behandelt, wie es ihm zukommt. Er erhielt eine hervorragende Ausbildung und hatte alle Privilegien, die einem Sohn und Nachfolger des Provinzfürsten zustehen. Seine kämpferische Ausbildung oblag mir, und er war ein hervorragender Schüler, der mir am Ende fast gewachsen war. Doch all diese Dinge machten ihn überheblich, arrogant und herrschsüchtig. Er erkannte seine Grenzen nicht mehr und überschritt ständig seine Befugnisse. Nach Date Masamunes Tod soll er der neue Daimyo werden, und dann hätte ein solches Verhalten schwerwiegende Folgen. Die Provinzfürsten sind auf Gedeih und Verderb dem Shogun verpflichtet. Sie haben seit einiger Zeit nur noch eingeschränkte Rechte, viele Pflichten, und ihr Leben gehört dem Shogun. Unterwerfung diesem gegenüber ist oberstes Gebot. Der Sohn des Fürsten begann sich für unantastbar zu halten, und sein Leben wäre am Hofe des Shogun sicherlich bald verwirkt gewesen. Als sich Date Tadamune immer öfter in Schwierigkeiten brachte, erbat der Fürst vom Shogun, seinen Sohn als einfachen Soldaten in eine Truppe unter meinem Kommando zu stellen und nach Sendai, zur Burg des Fürsten, zu schicken. Da Date Masamune ein treu ergebener Diener des Shogun ist, wurde ihm dies gestattet. Offiziell handelte es sich um eine Bestrafung durch den Shogun für unangemessenes Verhalten. Keinem außer dem Fürst, dem Shogun, mir und jetzt Ihnen sind die wahren Hintergründe bekannt. Nur eine Bedingung gab es: Der Fürst musste diese Reise hier planen und antreten.‹
Ich sah ihn erstaunt an, und er beeilte sich, seine Worte genauer zu erklären:
›Nicht diese hier nach Shaolin, sie wurde nur wegen der Neugierde des Fürsten unternommen, der sehr viel über die Shaolin-Kämpfer am Kaiserhof gehört hatte. Nein, die Reise an den chinesischen Kaiserhof.‹
Da ich ihn immer noch fragend ansah, fuhr er mit seinen Erklärungen fort:
›Mehr kann ich darüber jetzt nicht sagen, nur eins noch: Der Shogun beauftragte Date Masamune damit, weil schon einmal ein Gefolgsmann von ihm eine diplomatische Reise angetreten hatte. Hasekura Tsunenaga war im Auftrag des Shogun bis nach Mexiko und Europa gereist. Der Shogun vertraut nun darauf, dass Date Masamune das gleiche Geschick bei dieser diplomatischen Mission an den Tag legen wird. Außerdem weiß er, dass ich als sein Gefolgsmann mit dabei bin und Date Masamune sich durch meine Chinesischkenntnisse nicht auf einen fremden Dolmetscher verlassen muss.‹
Ich horchte auf. Hier gab es eine Verbindung zu Europa, und obwohl es eine ganz andere Epoche war, hatte ich plötzlich ein seltsames Gefühl. Ich war neugierig geworden und begierig, mehr darüber zu erfahren, doch vorerst ergab sich diese Gelegenheit nicht. Der Samurai fuhr aber mit seinen Erklärungen fort.
›Bevor wir diese Reise antraten, war es mir gelungen, den Sohn des Fürsten ein wenig zur Ruhe zu bringen. Es fiel ihm schwer, sich unterzuordnen, doch er hatte keine andere Wahl. Ich denke, dass sein Vater im richtigen Moment die richtige Entscheidung getroffen hat. Er wollte ihn Demut lehren. Ihm zeigen, dass auch er sich in bestimmten Situationen unterwerfen muss, dass auch ihm Grenzen gesetzt sind und Willkür und Hochmut schnell zum Verderben werden können.‹
Ich dachte über das eben Gehörte nach. Zum Teil konnte ich den Fürsten verstehen, aber mich irritierte, dass er sich immer noch so abweisend verhielt und seinem Sohn nicht zeigte, wie sehr er ihn eigentlich liebte.
›Einiges kann ich nun besser verstehen, doch warum schließt er jetzt immer noch keinen Frieden mit ihm und verheimlicht ihm, wie besorgt er war?‹
›Zum einen ist er der Meinung, dass es noch zu früh dazu ist. Zum anderen ist das eine Eigenschaft unseres Volkes und unseres Standes. Es ist nicht so einfach, seine Gefühle einem anderen gegenüber zu zeigen, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren, und ich würde Ihnen raten, mit dem Fürst vorläufig nicht darüber zu sprechen. Date Masamune ist ein Tozama-Daimyo, der aber ein hohes Ansehen beim Shogun genießt. Er ist also ein relativ unabhängiger Fürst, und um diese Stellung zu wahren und in den folgenden Generationen weiter auszubauen, müssen auch seine Söhne über jeden Tadel erhaben sein. Ich kann nicht sagen, was mich bewogen hat, Ihnen das alles zu erzählen, doch Sie können sicher sein, dass es mein Ansehen beim Fürsten gewaltig untergräbt, wenn er davon erfährt.‹
Ich versprach ihm, darüber zu schweigen. Er war auch deshalb relativ beruhigt, da ich durch die Unkenntnis der japanischen Sprache im Moment sowieso nur über ihn mit dem Fürst sprechen konnte.
Als wir wieder im Lager angekommen waren, gesellte ich mich zu Wang Lee und Liu Shi Meng, doch vorläufig herrschte nur Schweigen. Ich hing meinen Gedanken nach, und die beiden merkten, dass mich etwas beschäftigte.
Ich machte mir Gedanken über das Verhalten des Fürsten und fragte mich, ob es wirklich der richtige Weg war, seinen Sohn zu erziehen. Aber anscheinend hatte er damit einen gewissen Erfolg. Außerdem war es ein anderes Land mit anderen Sitten, daher konnte ich meine Maßstäbe nicht bei ihnen anlegen. Mir hatte der Wehrdienst auch geholfen, selbständig und verantwortungsbewusst zu werden. Da man das hier fast genauso werten konnte, blieb nur das gespannte Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Aber ich hatte auch die Liebe und Sorge unter der rauen Schale bemerkt, und so schien das Ganze nach außen schlimmer zu sein, als es war.
Inzwischen hatten sich Wang Lee und Liu Shi Meng über die letzten Ereignisse unterhalten, und die letzten Worte Liu Shi Mengs ließen mich aufhorchen.
›Ich bin der Meinung, wir sollten so schnell wie möglich hier verschwinden. Meiner Ansicht nach war die Aktion gut geplant und kein zufälliger Überfall von einer einzelnen Banditengruppe. Wenn bemerkt wird, dass sie ihr Ziel nicht erreicht haben, kommen vielleicht noch andere, und dann haben wir keine Chance mehr!‹
Da ich durch mein tiefes Nachsinnen nichts vom vorhergehenden Gespräch mitbekommen hatte, fragte ich nach:
›Wie kommst du denn darauf?‹
›Ich kann es dir nicht erklären, aber ich habe kein gutes Gefühl hier. Mag sein, dass es an diesem Ort mit den noch sichtbaren Kampfspuren liegt, wie Wang Lee meint, doch ich finde, wir sollten von hier verschwinden!‹
›Wo willst du hin, ins Kloster können wir die Verwundeten nicht schaffen, das ist zu weit, und einige von ihnen würden diesen langen Transport sicher nicht überleben‹, fiel Wang Lee ein.
›Na ja, vor einigen Jahren war mal ein alter Mann im Kloster. Er wollte Medizin für seine kranke Tochter von Han Liang Tian erbitten, doch der Abt ist damals gleich selbst mitgegangen und hat sie gesund gepflegt. Als er zurückkam, hat er uns erzählt, dass er noch nie von diesem kleinen Dorf hier oben in den Bergen gehört hatte und dass es sicherlich auch nicht so schnell von jemand gefunden würde. Wenn ich mich recht an seine Ortsbeschreibung erinnere, dürfte nicht weit von hier ein schmaler Weg in die Berge abzweigen, und etwas versteckt in einem Seitental stehen sechs oder sieben Hütten.‹
›Sechs oder sieben Hütten!? Liu Shi Meng, wo sollen wir denn da mit all den Verletzten unterkommen? Die Leute hier in den Bergen haben meist gerade mal genug Platz für sich selbst, sie leben schon auf engstem Raum, da ist niemals Platz für uns alle.‹
›Ist schon richtig, aber wo willst du sonst hin. Selbst wenn niemand mehr hierher kommt, auf dieser Wiese können wir die Verletzten niemals gesund pflegen.‹
›Da hast du schon recht‹, sagte ich nachdenklich. ›Und selbst wenn wir in den Hütten der Bergbauern nicht unterkommen, könnten wir dort sicherlich besser ein provisorisches Lager einrichten als hier. Weißt du genau, wo dieses Dorf liegt?‹, fragte ich Liu Shi Meng.
›Nein, nicht genau. Doch ich würde morgen früh so zeitig wie möglich aufbrechen und danach suchen. Ihr müsst sowieso auf die anderen warten, und erst dann können wir von hier verschwinden. Bis das so weit ist, werde ich das Dorf sicher gefunden haben.‹
Da uns nichts Besseres einfiel, einigten wir uns auf Liu Shi Mengs Vorschlag, und nachdem wir noch einmal nach den Verwundeten gesehen hatten, gingen wir zur Ruhe.
Die Nacht verlief ruhig, und am Morgen kümmerten wir uns als Erstes um die Verwundeten. Der Zustand von zwei der Verletzten erschien mir recht kritisch. Ich beriet mich mit Wang Lee, und auch er war der Meinung, dass die beiden schnellstens Hilfe benötigten.
Einer von ihnen hatte eine klaffende Wunde am Hals und sehr viel Blut verloren. Die Blutung hatten wir zwar stillen können, doch er war durch den hohen Blutverlust so schwach, dass wir um sein Leben bangten. Der andere hatte eine Bauchwunde, und um ihn sorgten wir uns eigentlich noch mehr, da wir nicht wussten, ob auch innere Organe verletzt waren. Wir hatten zwar in Ermangelung anderer Hilfsmittel die Wundränder mit dem Verband fest zusammengepresst, doch würde das reichen? Keiner von uns hatte Erfahrung in der Behandlung solcher Verletzungen.
Der Daimyo bemerkte unsere Sorge und kam mit dem dolmetschenden Samurai zu uns.
›Der Fürst Date Masamune möchte wissen, wie es um die Verletzten steht.‹
Ich stand auf und antwortete, den Fürst dabei anschauend:
›Den Verwundeten geht es so weit gut, nur um diese beiden hier machen wir uns Sorgen. Wir sind keine Heiler, und uns fehlt die Erfahrung in der Behandlung solcher Wunden. Doch die Hilfe aus dem Kloster müsste heute im Laufe des Tages eintreffen, und wir hoffen, dass es dann noch nicht zu spät ist.‹
Der Daimyo sah auf die beiden herunter, nickte, und der Samurai übersetzte uns dann seine Worte:
›Date Masamune sagt: Es sind gute und starke Männer, sie werden so lange durchhalten wie nötig, und wenn es so weit ist, werden sie gehen, ohne zu klagen.‹
Ich sah mir den Fürst genauer an, denn er verwirrte mich immer wieder. Auf der einen Seite wirkte er besorgt und aufmerksam seinen Männern gegenüber, doch nach außen schien er über diesen Dingen zu stehen. Es sah immer so aus, als dürfte keiner sehen, dass in diesem harten Mann auch ein weicher Kern steckte. Dieser Eindruck wurde noch durch sein Äußeres verstärkt, denn ihm fehlte das rechte Auge. Im Kloster hatte er eine Augenklappe getragen, doch jetzt sah man die verwachsene leere Augenhöhle, während das andere Auge aufmerksam alles um sich herum im Blick behielt. Später erfuhr ich, dass er das Auge durch eine schwere Erkrankung verloren hatte, aber er förderte auch andere Gerüchte. Diese und seine Ausstrahlung trugen dazu bei, dass er den Spitznamen einäugiger Drache erhalten hatte.
Währenddessen hatte der Fürst weiter gesprochen, und der Samurai übersetzte gewissenhaft seine Worte:
›Date Masamune möchte wissen, wie es weitergehen soll. Er findet den Platz hier nicht gut und möchte so schnell wie möglich diesen Ort verlassen.‹
Also hatte nicht nur Liu Shi Meng ein schlechtes Gefühl.
›Wir haben uns auch schon darüber unterhalten, und Liu Shi Meng möchte gerne ein Dorf suchen, das hier ganz in der Nähe sein muss‹, antwortete ich.
Der Daimyo nickte und gab zu verstehen, dass er so schnell wie möglich weiter möchte. Nachdem ich ihm erklärt hatte, dass wir wenigstens die Hilfe vom Kloster abwarten müssten und dass wir die Verletzten auch nicht sehr weit transportieren könnten, ging er missmutig davon.
Der Samurai war bei uns geblieben, und nachdem der Fürst außer Hörweite war, sagte er:
›Sie müssen Date Masamune verstehen, er macht sich Sorgen um unsere Sicherheit. Außerdem unternahmen wir diesen Abstecher ins Kloster nicht im Auftrag des Shogun. Wenn seine Mission jetzt deshalb gefährdet ist, könnte das seine Stellung sehr negativ beeinflussen. Er macht sich Vorwürfe, dass er diese Reise angetreten hat, denn das eigentliche Ziel war schon erreicht.‹
›Ich kann das ja verstehen, doch es ist nun einmal geschehen, und wir müssen sehen, dass wir das Beste daraus machen. Liu Shi Meng wird aufbrechen und nach dem Dorf suchen. Ich möchte aber mit Wang Lees Hilfe versuchen, diesen beiden Verletzten noch ein wenig Kraft zu geben, damit sie durchhalten, bis die anderen eintreffen.‹
Der Samurai und auch Wang Lee, mit dem ich noch nicht darüber gesprochen hatte, sahen mich erstaunt an.
›Was hast du vor? Du willst doch nicht etwa dasselbe versuchen wie damals Han Liang Tian bei Hu Kang?‹
›Doch, warum nicht? Schlimmer können wir es nicht machen, denke ich.‹
›Das weißt du nicht! Wir haben es noch niemals getan, und Han Liang Tian hat diese Fähigkeiten nur im äußersten Notfall angewendet.‹
›Ich weiß, aber ich habe Angst, dass die beiden uns wegsterben, bis Hilfe da ist.‹
Der Samurai war neugierig geworden und unterbrach uns.
›Darf ich erfahren, was Sie vorhaben und warum Sie nicht sicher sind, ob Sie es anwenden dürfen?‹
Ich sah Wang Lee an, und dieser zuckte die Schultern mit einem Blick, der sagte: Nun sieh zu, wie du da wieder rauskommst, ich hab nicht davon angefangen. Ich entschloss mich, dem Samurai meine Absicht so gut wie möglich zu erläutern.
›Es besteht die Möglichkeit, anderen Kraft zur Heilung zu geben, doch es gehört ein sehr starkes Chi dazu. Wir beide haben es noch nicht ohne Hilfe praktiziert. Ich habe zwar einmal an einer solchen Sitzung teilgenommen, aber unaufgefordert und nur durch die Hilfe eines in diesen Dingen sehr erfahrenen Mannes meine Kraft beisteuern können. Wir wissen also, wie es funktioniert, doch uns fehlt die Erfahrung.‹
›Ich verstehe nicht, warum Sie sich scheuen, es zu versuchen? Ich habe schon viele verwundete Männer gesehen, und diese beiden hier haben ohne sofortige Hilfe keine Hoffnung zu überleben. So viel kann ich nach meinen Erfahrungen einschätzen. Also versuchen Sie, was ihnen möglich ist, auch wenn es eine mir noch unbekannte Gefahr bergen sollte. Meiner Ansicht nach können Sie es nicht schlimmer machen.‹
Ich dachte genauso und sah Wang Lee fragend an.
›Wenn du meinst, dann versuchen wir’s, obwohl ich Zweifel habe!‹
›So wird’s aber nichts, Wang Lee. Wenn du Zweifel hast, kannst du nicht deine ganze Kraft beisteuern, und wir sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Du musst an die Möglichkeit glauben und die ganze Kraft deines Chi nutzen!‹
›Ich weiß! Lass mich einen Augenblick meditieren, um mich auf diese Aufgabe einzustimmen.‹
Ich nickte ihm zu und gedachte, das Gleiche zu tun. Beide ließen wir uns nieder und konzentrierten uns auf die bevorstehende Aufgabe, doch zuvor bat ich den Samurai, dafür zu sorgen, dass wir nicht gestört wurden. Er nickte und positionierte sich so, dass er sowohl uns als auch alle anderen im Blick hatte.
Inzwischen waren wir in tiefer Meditation versunken. Nach einiger Zeit öffnete ich die Augen, denn ich hatte das Gefühl, dass Wang Lee so weit war, und richtig, er schaute mich mit einem entspannten und konzentrierten Blick an.
Da wir gleich neben dem Mann mit der Halswunde saßen, nahmen wir uns diesen als Ersten vor. Wie ich es damals bei Han Liang Tian gesehen hatte, legte ich meine Hände auf Stirn und Brust des Verletzten, und Wang Lee legte die seinen auf meine. Nun konzentrierten wir unsere ganze Kraft in den Wunsch, dem Schwachen Energie von uns zu geben. Ich versuchte es auf die gleiche Art, wie ich es damals an Hu Kangs Krankenlager wahrgenommen hatte, und dachte im Gleichklang mit Wang Lee:
›Nimm diese Kraft von uns, nutze sie zu deiner Heilung! Nimm so viel, wie du brauchst, um wieder gesund zu werden! Wir geben dir gerne, was wir geben können! Nimm von uns, um deinen Körper zu heilen und die Kraft zu finden, dass dein Herz weiterschlägt. Dass deine Lunge weiterarbeitet und dein Körper das verlorene Blut wieder ersetzt.‹
Bei diesen Gedanken versuchte ich mich in den Körper des Verletzten hineinzuversetzen und dabei zu erkennen, wo die Hilfe am notwendigsten war. Nach einiger Zeit gelang es mir fast so gut wie in meinem eigenen Körper, und ich erkundete die betroffenen Stellen. Die Wunde am Hals würde wieder heilen, auch wenn Sehnen und Muskeln verletzt waren und der Hals vielleicht bis zu einem gewissen Grad steif bleiben würde. Ich erkannte auch die Ursache für seinen röchelnden Atem. Er hatte Blut verschluckt und einiges davon in seine Atemwege bekommen. Aber sein Körper war zu schwach, um das Blut wieder hinauszubefördern.
Ohne meine bisherigen Gedanken zu unterbrechen, fügte ich ihnen noch den Befehl hinzu, die Atemwege wieder frei zu machen. Das kostete mich und Wang Lee sehr viel Kraft, und ich versuchte wie damals Han Liang Tian, Energie aus meiner gesamten Umwelt aufzunehmen.
Katakura Shigenaga, der Samurai, der als Dolmetscher fungierte und nun dafür sorgen sollte, dass wir nicht gestört wurden, beobachtete erstaunt, was vorging. Mutete ihn die Handlungsweise auch seltsam an, so spürte er doch die Kraft und Energie, die uns wie eine Aura umgab. Er bemerkte, wie sich unser ganzer Körper straffte und sich alle Muskeln und Sehnen bis zum Zerreißen spannten, doch bis auf das leichte Zittern der Hände und Zucken im Gesicht war nichts Äußerliches sichtbar. Gebannt beobachtete er uns, und Date Masamune sah er erst, als dieser uns fast erreicht hatte. Schnell sprang er auf und verneigte sich vor ihm.
Immer noch verstimmt wegen des Aufenthalts an diesem ungünstigen Ort, fragte der Daimyo gereizt:
›Was geht hier vor?‹
›Mein Fürst, bitte stören Sie diese beiden nicht, sie wollen versuchen, dem Verletzen bei der Heilung zu helfen.‹
›So? Wie soll das gehen?‹
›Ich weiß es nicht genau, doch sehen Sie, es scheint sich etwas zu tun.‹
Der Verletzte hustete und würgte, und sein Gesicht wurde puterrot vor Anstrengung. Den beiden Beobachtern wurde angst, denn sie fürchteten um das Leben des Mannes. Date Masamune war drauf und dran, unsere Aktion abzubrechen, als der Verletzte spuckend das Blut aus den Atemwegen würgte. Der Fürst stockte mitten in der Bewegung und wartete ab, was weiter geschehen würde.
Der Verwundete schien schon freier zu atmen. Nachdem sich dieser Vorgang mehrfach wiederholt hatte, sank der Mann gleichmäßig atmend zurück. Seine Haut nahm eine gesündere Farbe an, und als wäre er in einen heilenden Schlaf gefallen, atmete er ruhig ein und aus.
Katakura Shigenaga beobachtete uns gebannt und erwartete jeden Augenblick, dass wir uns erheben würden, als das nicht geschah, wandte er sich wieder dem Fürsten zu:
›Anscheinend haben sie Erfolg gehabt. Warum und wie lange sie jetzt noch fortfahren, kann ich aber nicht sagen.‹
›Wir werden sehen, doch ihr Wortführer scheint kein Chinese zu sein. Ich habe das damals im Kloster schon gedacht, weil er da aber immer mit den Mönchen zusammen war, mich nicht weiter darum gekümmert. Irgendein Geheimnis umgibt ihn, und seine Ausstrahlung ist sehr groß. Ich möchte, dass du ihn darauf ansprichst, wenn sie das hier beendet haben.‹
›Ja mein Fürst!‹, sagte der Samurai und schaute dem Daimyo hinterher, der sich wieder zu den anderen begab.
Von alldem hatten wir nichts mitbekommen, und erst später hat mir Katakura Shigenaga davon erzählt. Uns war aber nicht entgangen, dass wir eine Wirkung erzielt hatten. Nun wollten wir dem Mann noch Energie für die weitere Heilung mitgeben und konzentrierten uns auf die anfänglichen Gedanken.
Erst geraume Zeit später verständigte ich mich in Gedanken mit Wang Lee, und wir öffneten die Augen. Wir sahen nicht nur, dass es dem Verwundeten besserging, wir hatten es auch gespürt. Erfreut über den Erfolg, standen wir auf.
In diesem Augenblick merkten wir, wie viel Kraft uns diese Aktion gekostet hatte. Wang Lee taumelte einige Schritte zur Seite, und ich musste die Augen schließen, da sich alles zu drehen begann. Erst nach einer Weile konnte ich sie wieder öffnen, und auch Wang Lee kam, ein wenig blass, wieder zur Ruhe. Katakura Shigenaga war in der Zwischenzeit zu uns herangekommen und fragte nun:
›Ist es so erfolgreich verlaufen, wie Sie gehofft hatten?‹
›Allem Anschein nach, ja. Für den Augenblick ist die Gefahr gebannt, wie sich sein Zustand weiterentwickelt, kann ich aber nicht sagen.‹
›Versuchen Sie es jetzt auch bei dem anderen?‹
›Ich denke, so schnell geht das nicht! Wir müssen selbst erst einmal wieder Kraft schöpfen. Es hat uns mehr angestrengt, als ich dachte. Bitte gönnen Sie uns ein wenig Ruhe, bevor wir uns um den Zweiten kümmern.‹
Der Samurai nickte und kniete sich bei dem Mann nieder, um den wir uns gerade bemüht hatten.
Da ich mich mit Wang Lee auch ohne Worte verständigen konnte, genügte ein kurzer Blick, und wir suchten uns eine ruhige Stelle, um zu meditieren. Ich ließ mich vollkommen fallen und konzentrierte mich nur darauf, so schnell wie möglich wieder zu Kräften zu kommen.
Als ich mich einige Zeit später, die Sonne hatte inzwischen fast ihren höchsten Stand erreicht, wieder erhob, merkte ich schnell, dass die verbrauchte Energie noch nicht wieder vollständig aufgefüllt war. Wang Lee ging es nicht anders, und nun machten wir uns Sorgen, ob unsere Kraft reichen würde, um dem zweiten Mann zu helfen. Dummerweise hatten wir uns entschieden, dem zuerst zu helfen, bei dem es leichter erschien, und jetzt befürchteten wir zu versagen.
Wir gingen zuerst noch einmal zu Katakura Shigenaga, der immer noch bei dem zuerst Versorgten saß. Er stand auf und fragte:
›Helfen Sie jetzt dem anderen? Bei dem hier haben Sie ein Wunder bewirkt. Er ist jetzt viel kräftiger, röchelt überhaupt nicht mehr und hat vorhin schon die Augen geöffnet. Ich hoffe, es war nicht falsch, dass ich ihm Wasser gebracht habe, als er danach verlangt hat?‹
›Nein, im Gegenteil! Er hat sehr viel Blut verloren und muss viel trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen.‹
Er atmete erleichtert aus, und ich beantwortete, mich dem mit der Bauchwunde zuwendend, seine andere Frage:
›Wir werden jetzt versuchen, diesem hier zu helfen, doch ich kann nicht sagen, ob unsere Kraft dafür noch ausreicht. Bitte sorgen Sie wieder dafür, dass wir nicht gestört werden!‹
Er nickte bestätigend, und wir verfuhren wieder wie beim Ersten. Als wir uns niederknieten und dem Mann ins Gesicht blickten, wurde uns angst, denn sein Zustand schien sich sehr verschlechtert zu haben. Als ich in Wang Lees Augen sah, bemerkte ich, dass er die Hoffnung schon aufgegeben hatte, und ich setzte mich in Gedanken mit ihm in Verbindung:
›Erst wenn wir alles versucht haben, Wang Lee! Erst wenn wir all unsere Kraft gegeben haben!‹
›Ich werde mich bemühen, doch ich habe wenig Hoffnung.‹
›Denke anders, sonst wirkt es nicht, Wang Lee! Bitte, denk anders!‹
›Ich bemühe mich!‹, antwortete er, und ich spürte, wie er sich konzentrierte.
Wir verfuhren auf die gleiche Weise wie bei unserem ersten Patienten. Aber nach einer Weile merkte ich, dass es nicht so lief wie beim ersten Mal. Wir drangen gar nicht richtig zu ihm vor, und er schien nicht in der Lage zu sein, unsere Hilfe anzunehmen. Er war so schwach, dass wir den Eindruck hatten, er wäre schon halb in einer anderen Welt.
Nach einiger Zeit gaben wir frustriert auf. Katakura Shigenaga, der das bemerkt hatte, kam zu uns heran und erkundigte sich besorgt:
›Was ist? Sie sind bei ihm so schnell fertig? Ich habe auch nicht wie vorhin das Gefühl, dass sich sein Zustand gebessert hat.‹
Ich sah ihm in die Augen und sagte:
›Ich weiß nicht, ob wir nicht mehr genügend Kraft haben oder ob er schon so schwach ist, dass er unsere Hilfe nicht mehr annehmen kann. Auf jeden Fall dringen wir gar nicht mehr bis zu ihm vor.‹
›Steht es so schlecht um ihn?‹
›Ich denke, ja! Wir kennen leider nur diese Methode, um jemand Kraft zu geben, und der Betroffene muss bereit sein, sie anzunehmen. Wenn es möglich wäre, ihm die Kraft auf eine andere Art zu geben, hätten wir vielleicht Erfolg, aber so ...‹
Bestützt sah der Samurai auf den nur noch schwach atmenden Mann. Ich hatte den Eindruck, dass ihm jeder dieser Männer wirklich ans Herz gewachsen war. Er würde sich einem Japaner gegenüber sicherlich niemals eine solche Empfindung anmerken lassen, doch bei uns schien ihm diese Maßnahme nicht nötig zu sein.
›Haben Sie alles versucht?‹
Ich nickte nur bestätigend.
›Dann werden wir ihn wohl auch noch verlieren‹, sagte er traurig und wendete sich ab.
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und auch Wang Lee, den ich ratlos ansah, ging es nicht besser. Das währte aber nur wenige Augenblicke, dann sprach uns der Samurai wieder an:
›Sie haben geholfen, so gut Sie konnten, und ohne Ihre Hilfe wären wir jetzt alle tot. Auch bei den Verwundeten haben Sie mehr getan, als ich erwartet hatte. Seien Sie versichert, dass wir das niemals vergessen werden!‹
Er verneigte sich wieder einmal leicht vor uns, und mir wurde das langsam peinlich, denn so viel Ehrerbietung schien mir unangebracht.
›Sie brauchen sich nicht immer vor uns zu verneigen. Wir sind nur einfache Mönche, und Ihre Stellung ist viel bedeutender als die unsere.‹
Geschickt nutzte Katakura Shigenaga die Möglichkeit, um den Auftrag seines Herrn zu erfüllen.
›Ich denke, auch in China ist es nicht unüblich, einem anderen auf diese Art und Weise seine Dankbarkeit zu zeigen. Der Rang oder die Stellung spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Doch ich habe, obwohl Sie chinesisch sprechen, als wäre es Ihre Muttersprache, den Eindruck, dass Sie kein Chinese sind.‹
Wie sollte ich jetzt reagieren? Ich war unsicher, wie viel und was ich ihm überhaupt erzählen sollte oder durfte. Meine Unsicherheit mit einem Lächeln überspielend, sagte ich ausweichend:
›Sie liegen nicht falsch, aber vielleicht auch nicht ganz richtig mit Ihrer Vermutung, aber das ist eine lange Geschichte, die wir uns für eine ruhigere Zeit aufheben sollten.‹
Ich wollte erst einmal Zeit gewinnen, um mir über meine weitere Vorgehensweise klar zu werden. Glücklicherweise erforderten in diesem Moment andere Dinge unsere Aufmerksamkeit. Von dem Weg, den wir am Vortag gekommen waren, drangen Geräusche zu uns. Schnell griffen die noch kampffähigen Japaner zu ihren Waffen, und auch wir beobachteten, auf alles gefasst, die Wegbiegung.
Erleichtert atmete ich aus, als ich erkannte, dass Chen Shi Mal mit der Hilfe aus dem Kloster kam. Zehn Mönche hatte er mitgebracht, und unter ihnen war der beste Wundheiler des Klosters. Auch einige Packpferde, die verschiedene Dinge trugen, waren dabei, und ich schöpfte wieder Hoffnung, dass wir dem Mann mit der Bauchwunde noch helfen konnten.
Als uns diese Gruppe fast erreicht hatte, bemerkte ich Liu Shi Meng, der aus der anderen Richtung auf uns zustrebte. Seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er Erfolg gehabt, denn er wirkte fröhlich und entspannt.
Bevor ich mit ihm sprechen konnte, erreichte uns aber Chen Shi Mal und berichtete, wie es ihm ergangen war.
So schnell ihn seine Beine tragen konnten, war er zum Kloster gelaufen und hatte es spät in der Nacht erreicht. Ohne Aufmerksamkeit zu erregen, weckte er den Abt, Hu Kang, und berichtete ihm von den letzten Ereignissen. Dieser überlegte nicht lange, suchte zehn vertrauenswürdige Mönche aus und bat sie, Chen Shi Mal zu begleiten. Nachdem alles Notwendige verschnürt war, brachen sie mit den Packpferden auf. Ihrer Meinung nach hatte sie niemand bemerkt, und der Abt wollte den wahren Grund ihrer Abwesenheit auch erst einmal geheim halten. So hofften wir, selbst wenn die Vermutungen, die wir teilweise hegten, zutrafen, vorläufig unbehelligt zu bleiben.
Ich hielt die Gespräche sehr kurz, denn die Versorgung der Verletzten erschien mir wichtiger. Als Erstes führte ich den Wundheiler zu dem Mann mit der Bauchwunde, den er eingehend untersuchte. Nachdem er den Verband entfernt und die Wunde ausgiebig begutachtet hatte, stand er mit einem bedauernden Gesichtsausdruck auf.
›Ich werde alles versuchen, was ich kann, doch ich mache mir wenig Hoffnung, dass dieser Mann den morgigen Tag überlebt. Selbst wenn ich sofort zu Stelle gewesen wäre, hätte er vermutlich nicht überlebt, denn es sind innere Organe verletzt.‹
Ich sah hinunter auf die freigelegte Wunde und erschrak über deren Aussehen. Die Wundränder waren zwar verklebt, doch es war alles gerötet, und die ganze Haut des Verletzten hatte eine ungesunde gelbe Farbe. Es sah aus, als würde jeden Augenblick Eiter aus der Wunde hervorbrechen. Auch der allgemeine Zustand des Mannes schien sich von Minute zu Minute zu verschlechtern. Ich machte mir immer mehr Vorwürfe, dass wir nicht zuerst diesem Mann geholfen hatten. Vielleicht hätte unsere Kraft ausgereicht, um ihn zu retten.
Der Mönch hatte mich die ganze Zeit beobachtete, bemerkte meinen Seelenkampf, konnte sich aber nicht erklären, warum ich so bedrückt war.
›Wieso bedrückt dich der Zustand dieses Mannes so sehr? Als welchem Grund bist du so niedergeschlagen?‹
Aus meinen Gedanken hochgeschreckt, sah ich ihn an.
›Ich mache mir Vorwürfe, dass ich vielleicht einen Fehler begangen habe.‹
Er schüttelte den Kopf und stand auf.
›Die Wunde hättet ihr mit dem Wissen und den Mitteln, die ihr habt, nicht besser versorgen können. Selbst ich kann nichts an den inneren Verletzungen machen. Wenn der Körper sie nicht selbst heilen kann, sind auch mir die Hände gebunden.‹
›Ja, und gerade deshalb hätten wir erst diesem hier helfen müssen, um ihm genügend Kraft zur Selbstheilung zu geben!‹, sagte ich traurig.
Ratlos sah er mich an und erkundigte sich dann nach dem, was wir getan hatten, und warum ich so dachte. Ich führte ihn zu dem Mann mit der Halsverletzung und schilderte ihm unser Vorgehen. Mit jedem Wort, das ich sagte, wurden seine Augen größer. Er musterte mich und Wang Lee mit einer Mischung aus Erstaunen und Hochachtung.
›Ich wusste nicht, dass Han Liang Tian sein Wissen um diese Kräfte weitergegeben hat und dass es ihm gelungen ist, jemand zu finden, der diese Kräfte auch nutzen kann. Ich selbst hatte es versucht, doch mir fehlt die innere Kraft, um das zu bewirken, was ihr beherrscht.‹
Er schaute sich den Mann mit der Halsverletzung näher an und ließ sich den Verlauf noch einmal genau schildern.
›Ich denke, ohne die Hilfe, die ihr ihm gegeben habt, hätte er nicht überlebt. Das Blut, das er herauswürgte, wäre nach und nach in die Lungen geraten und hätte ihm ein qualvolles Ende bereitet. Ihr habt mit eurer Kraft etwas bewirkt, was kein Heiler mit normalen Mitteln erreichen kann. Und ich bin sicher, wenn ihr das erst bei dem anderen getan hättet, dann wäre Hilfe bei diesem hier nicht mehr möglich gewesen.‹
Er schaute noch einmal von einem zum anderen und schüttelte wieder mit dem Kopf.
›Nein, so grausam es klingt, ihr habt unbewusst die richtige Entscheidung getroffen, denn so hat wenigstens einer die Möglichkeit zu überleben!‹
Ich spürte, dass es ihm ernst war mit dem, was er sagte, doch es beruhigte mich nur wenig. Noch lange machte ich mir Vorwürfe, dass ich zu diesem Zeitpunkt eine falsche Entscheidung getroffen hatte.
Der Heiler ging wieder zu dem mit der Bauchverletzung. Zusammen mit einem anderen Mönch, der sich in der Zwischenzeit schon um den Mann gekümmert hatte, reinigten und verbanden sie die Wunde noch einmal. Dann flößten sie dem Mann einen stärkenden Trunk ein, doch fast unmittelbar danach wand er sich in Krämpfen, bis er zitternd und schwach atmend in eine tiefe Ohnmacht fiel.
Da ich die Verletzten in guten Händen wusste, ging ich zu Liu Shi Meng. Ihn hatte ich seit seiner Ankunft noch nicht gesprochen, und ich wollte gerne wissen, wie seine Suche verlaufen war.
Er stand bei Chen Shi Mal, und sie unterhielten sich gerade über die letzten Ereignisse.
›Warst du erfolgreich Liu Shi Meng?‹, fragte ich, als ich bei ihnen ankam.
›Ja, ich hatte doch noch sehr gut in Erinnerung, wie Han Liang Tian mir damals den Weg in das Dorf beschrieben hatte. Als ich den Dorfbewohnern von den letzten Ereignissen berichtete und sie fragte, ob sie uns helfen würden, versprachen sie es sofort. Sie bereiten alles für unsere Ankunft vor, und Männer des Dorfes werden morgen früh hier sein, um uns beim Transport zu helfen.‹
›Das ist wirklich eine gute Nachricht! Nun müssen wir nur noch sehen, dass wir auch bereit sind, morgen früh aufzubrechen.‹
›Wieso sollten wir nicht?‹, warf Chen Shi Mal ein.
›Nun, wir müssen uns ja noch um die Toten kümmern! Oder willst du sie einfach so liegen lassen?‹
Chen Shi Mal sah sich erstaunt um, denn er hatte die Leichen nirgendwo gesehen. Das konnte er auch nicht, denn die Japaner hatten alle Toten am Vortag in die Seitenschlucht getragen, aus der der kleine Fluss kam.
Wir machten uns auf den Weg, um uns vor Ort einen Überblick zu verschaffen, und kurz vor dem Ziel erhielten wir Gesellschaft. Wang Lee, Date Masamune und der Dolmetscher schlossen sich uns an.
Der Blick in die Seitenschlucht öffnete sich, und wir sahen die toten Japaner, die, so gut das mit den vorhandenen Mitteln ging, ehrenvoll aufgebart waren. Davor stand einer der nur leicht verletzten Soldaten und hielt Wache. In einiger Entfernung an der Felswand waren die toten Chinesen lieblos auf einen Haufen geworfen. Es war ein trauriger Anblick, und ich stockte kurz, um das zu verarbeiten.
Der Fürst sah mich fragend an, und der Samurai sprach aus, was dieser dachte:
›Finden Sie die Behandlung der toten Angreifer ungerechtfertigt?‹
Ihm in die Augen blickend, antwortete ich:
›So würde ich das nicht ausdrücken. Ich finde den sinnlosen Tod so vieler Menschen bedrückend und bedaure, dass Ihnen und Ihren Männern so viel Leid zugefügt wurde.‹
Katakura Shigenaga nickte und übersetzte dem Fürsten meine Antwort, um mir gleich darauf dessen Worte zu übermitteln.
›Date Masamune bedankt sich für Ihre freundlichen Worte und möchte wissen, wie es weitergeht.‹
Ich erklärte ihm, dass wir am nächsten Morgen in das Dorf aufbrechen wollten, uns aber vorher noch um die Toten kümmern müssten. Der Fürst stimmte zu und fragte, ob es uns möglich wäre, seine Landsmänner mit buddhistischen Bräuchen zu bestatten.
Ich beriet mich kurz mit meinen Freunden, und wir kamen überein, dass Chen Shi Mal mit zwei weiteren Mönchen die Sutren, also die Reden des Buddha, vorlesen würde. Außerdem sollte jeder, der ein wenig Zeit hatte, sich zu ihnen gesellen, um der Toten zu gedenken. Ich wollte in der Zwischenzeit mit Hilfe von Wang Lee und Liu Shi Meng die Gräber am Flussrand ausheben.
Als wir die Japaner schließlich bestattet hatten, häuften wir über ihren Gräbern kleine Steinpyramiden an, damit dieser Ort auch von zufällig Vorbeikommenden entsprechend geehrt wurde. Anschließend wollten wir die Chinesen daneben bestatten, doch der Fürst verwahrte sich energisch dagegen, und um keine Missstimmung aufkommen zu lassen, wurden sie an der Felswand begraben. Da es dort nicht möglich war, tief genug in den Boden einzudringen, war es am Ende nur ein großer Steinhaufen, der das Grab kennzeichnete.
Die Sutren wurden auch bei diesen Toten gelesen, doch zu deren Gedenken fand sich keiner außer Wang Lee und mir ein. Jeder von uns beiden hing stumm seinen eigenen Gedanken nach.